SeydelCorneliusStaudingerWindelbandBusse | |||
Das Ding ansich [4/4]
Wie ist das Ergebnis der Deduktion mit der Möglichkeit empirischer Gesetze in Einklang zu bringen? Kaum sind wir zum Schluß der Deduktion gelangt, und schon erhebt sich eine Schwierigkeit, an der das ganze Gebäude der kantischen Erkenntnistheorie zu zerschellen droht. es ist dies das nämliche Problem, das uns schon bei der Auseinandersetzung über die transzendentale Ästhetik beschäftigt hat, jedoch mit einer kleinen Modifikation. Dort interesierte uns hauptsächlich die Frage, ob und wie die bunte Mannigfaltigkeit der empirischen Formen aus der reinen Form der Anschauung abgeleitet werden kann. Hier hingegen ist die Frage der Ableitung gegenstandslos, denn das bloße Vorhandensein einer empirischen Gesetzmäßigkeit bereitet die hier in Betracht kommenden Schwierigkeiten. Am Schluß beider Deduktionen sagt KANT:
Bevor wir dieses neue Prinzip in Betracht ziehen, wollen wir noch untersuchen, ob vielleicht KANTs Lehre von der doppelten Kausalität uns irgendeine Aufklärung über unser Problem zu geben vermag. die Affinität der Erscheinungen Die dritte Antinomie behandelt bekanntlich den Widerstreit der Vernunft hinsichtlich der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen. Das Gesetz der Kausalität besagt, daß alles, was geschieht, etwas voraussetzt, wonach es nach einer Regel folgt. Auf diesem Gesetz baut sich die dritte Antinomie auf. Sie wird dadurch gegeben, daß nach einer ersten Ursache gefragt wird. Die Thesis behauptet: es muß neben der Kausalität nach Gesetzen der Natur noch eine Kausalität durch Freiheit angenommen werden. Wir haben z. B. eine Reihe von Erscheinungen a, b, c ..., die eine Kausalreihe bildet, indem a die Ursache von b, b die von c usw. darstellt. Wenn wir von a aus einen Regressus unternehmen wollen, so würden wir eine ganze Unendlichkeit von Ursachen und deren Vorursachen durchlaufen, ohne jemals zu einer bestimmten Ursache zu gelangen.
Die Antithesis dagegen behauptet: es gibt keine andere Kausalität als die der Naturnotwendigkeit. Denn mit dem Moment, wo man eine erste Ursache setzt, hat man das Kausalgesetz durchbrochen und man hat kein allgemeingültiges Prinzip mehr zur durchgängigen Erklärung des Naturgeschehens. KANT löst diese Antinomie auf, indem er zeigt, daß sowohl Thesis wie Antithesis Recht behalten, wenn beide von den richtigen Standpunkten aus gedacht sind. Die Ästhetik hat gezeigt, daß die Gegenstände der Erfahrung nur Erscheinungen sind, die ansich in ihrer räumlich-zeitlichen Bestimmtheit gar nicht existieren. Sie sind bloße Vorstellungen von Dingen-ansich, von denen die sinnlichen Formen gar nicht prädiziet werden können. Wird diese dort festgelegte Unterscheidung von Ding-ansich und Erscheinung eingehalten, so ist die Möglichkeit vorhanden, die Antinomie zu beseitigen. Die Antithesis, die unter keinen Umständen eine Unterbrechung in der Kausalreihe zuläßt, ist gültig, solange von Erscheinungen gehandelt wird. Der Regressus kann uns aber zu keiner zeitlich ersten Ursache führen, weil die Zeit die Form unserer Anschauung ist. Daher wird, so oft etwas erscheint, es in der Zeit auftreten, ohne daß jemals ein erster Anfang gegeben werden könnte. Die Erscheinungen sind jedoch nur die eine Seite des Seins. Ihnen liegen Dinge ansich zugrunde. Von diesen dürfen wir zwar nichts erkennen; es liegt jedoch nichts im Weg, auch von ihnen sich eine Art Kausalität zu denken. Von vornherein ist klar, daß diese Kausalität von allem Empirischen frei sein wird, denn mit der Zeitlichkeit ist zugleich jede Veränderung, jedes Geschehen von den Dingen-ansich ausgeschlossen. Man wird sich daher von ihnen eine Kausalität durch Freiheit zu denken haben. Durch die Annahme einer derartigen Kausalität würde aber mit einem Schlag zwei Probleme gelöst werden. Erstens würde dadurch die kosmologische Freiheit ermöglicht werden, d. h. das Vermögen der Dinge-ansich einen Zustand von selbst anzufangen. Würde aber diese Art von Freiheit zugelassen, so bedürfte es nur noch eines weiteren Schrittes, um
Diese Auflösung unserer Antinomie fordert zum Nachdenken auf. Es ist zunächst unverständlich, warum KANT diese Antinomie nicht in der gleichen Weise aufgelöst hat, wie die beiden mathematischen. Jener Widerstreit wurde aufgehoben, indem gezeigt wurde, daß jede Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt als Ganzes müßig ist, da Raum und Zeit lediglich subjektive Formen unserer Sinnlichkeit sind. Es hat deshalb keinen Sinn zu fragen, ob etwas, was uns niemals in seiner Totalität als Erscheinung gegeben werden kann, endlich oder unendlich ist, da es als Nicht-Erscheinung nicht einmal räumlich oder zeitlich ist. (8) Ganz analog hätte die Frage nach der Kausalität desjenigen, was dem Geschehen zugrunde liegt, beantwortet werden können. Wenn die mathematischen Antinomien durch die Berufung auf den transzendentalen Idealismus aufgelöst werden konnten, so hätten beide dynamischen (9) durch den Hinweis auf das Resultat der Analytik beseitigt werden können. Hat nämlich die Ästhetik gezeigt, daß Raum und Zeit keine Eigenschaften der Dinge selbst sind, - so war es der Grundgedanke der kritischen Grenzbestimmung unserer Erkenntnis in der Analytik, daß Kategorien von keinem anderen als empirischem Gebrauch sein dürfen. (10) Wie kann demnach nach der Kausalität des Unbedingten gefragt werden - denn nur darum ist es in den dynamischen Antinomien zu tun - wenn Ursachsein nur bei Erscheinungen stattfindet, die ganze Frage also müßig ist? Eine derartige Lösung unseres Problems hätte den Vorzug gehabt, daß sie erstens zu keiner problematischen Annahme - wie KANT dies selbst hervorhebt - einer intelligiblen Kausalität Zuflucht zu nehmen brauchte. Andererseits würde aus der so aufgefaßten dynamischen Antinomie ein indirekter Beweis für die kritische Tendenz der Analytik herfließen, ähnlich wie die mathematischen Antinomien eine mittelbare Bestätigung der Lehre der transzendentalen Ästhetik abgegeben haben. Es müssen daher wichtige Gründe vorhanden gewesen sein, die KANT veranlaßt haben, die vorliegende unerwartete Auflösung anstelle der vom kritischen Standpunkt allein berechtigten vorzunehmen. Solche Gründe lassen sich in der Tat finden. Auch hier war es das praktische Interesse, das das theoretische überwog. (11) Mit dem Problem der kosmologischen Kausalität war für KANTs Bewußtsein dasjenige der praktischen Freiheit unzertrennlich verbunden. Die psychologische Seite unseres Problems ist es ja gerade, die von jeher der Philosophie die größten Schwierigkeiten bereitet hat. Die praktische Freiheit war jedoch ohne die Annahme einer intelligiblen Kausalität gar nicht zu retten. (12) Aber das kosmologische Problem selbst hat für KANT eine besondere Bedeutung gewonnen. Die dritte Antinomie durfte nicht anders gelöst werden, sollte der transzendentale Idealismus in seinem ganzen Umfang aufrechterhalten bleiben. Die Voraussetzung einer intelligiblen Welt als Ursache der phänomenalen - die, wie wir gesehen haben, KANT niemals verlassen hatte - hat es erforderlich gemacht, die Art ihrer Einwirkung auf das wahrnehmende Subjekt in irgendeiner Weise zu erklären. Die gewöhnliche, empirische Kausalität mußte sich zu dieser Erklärung als untauglich erweisen. Kategorien dürfen nur auf Erscheinungen angewandt werden, weil das Zeitmoment, das in jedem empirischen Geschehen enthalten ist, bei einem intelligiblen Gegenstand wegfallen muß. Mit der Setzung der Dinge-ansich war also zugleich stillschweigend eine intelligible Kausalität angenommen, die jetzt gleichzeitig zur Lösung des Problems der praktischen Freiheit gedient hat. Um nun zu unserer besonderen Frage, des Verhältnisses der empirischen Affinität der Erscheinungen zur Kausalität durch Freiheit zu gelangen, ist es notwendig, einen Punkt zu besprechen, der, soweit ich sehe, von der Interpretation niemals mit genügender Deutlichkeit hervorgehoben worden ist. Die größte Schwierigkeit in der Lehre von der doppelten Kausalität hat von jeher der Umstand bereitet, daß man sich nicht vorstellen konnte, wie es möglich ist, ein und dasselbe Geschehen einerseits als frei, andererseits als dem Naturgesetz gehorchend anzusehen. Man verstand KANTs Lehre so, als ob nach ihm unter den Dingen-ansich selbst Freiheit herrscht; dasselbe Verhältnis aber ins Empirische übersetzt, durch die empirische Kausalität ausgedrückt wird. Indessen trifft diese Auffassung nur die Lehre von der praktischen Freiheit: die kosmologische Kausalität muß anders aufgefaßt werden. Der richtige Sinn dieser letzten Kausalität kann nur verstanden werden, wenn man sich streng an die Definition der Freiheit hält. Freiheit im kosmologischen Sinn bedeutet das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen. Daraus geht aber hervor, daß diese Freiheit nicht die Kausalität der Dinge-ansich untereinander, sondern ihre Kausalität im Verhältnis zum affizierten Subjekt bedeutet. Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung eine Anmerkung KANTs in den Prolegomena:
Der raum-zeitlichen empirischen Kausalreihe steht also ein X gegenüber. Beide stehen wiederum zueinander in einem kausalen Verhältnis, in welchem das X die Ursache, die empirische Welt die Wirkung ist. Eigentlich ist das X mit der empirischen Welt identisch. Denn nur für das wahrnehmende Subjekt spaltet es sich ein eine phänomenale und eine unerkennbare Welt, indem es diesem affizierten Subjekt in der Gestalt der Erfahrung erscheint. Dies alles war, mehr oder weniger deutlich, bereits in der transzendentalen Ästhetik vorgetragen. Werden aber diese Prämissen angenommen, so brauchen wir, um zur intelligiblen Kausalität zu gelangen, gar keine neue Annahme zu machen, sondern können auf rein analytischem Weg das Verhältnis der Dinge-ansich zur Erscheinung bestimmen. Dieses Verhältnis, haben wir gesagt, ist kausal: das X ist die Ursache der Empirie. Diese Kausalität ist jedoch keine empirische, denn die Ursache ist nicht in der Zeit. Dadurch zeigt sie aber die Fähigkeit, einen Zustand von selbst anzufangen, ohne selbst eine andere Ursache zu ihrer eigenen Entstehung zu bedürfen, weil sie ja als zeitlos gar nicht entsteht. Also ist die Kausalität, die das Verhältnis des Dings-ansich zur Erscheinung ausdrückt, eine Kausalität durch Freiheit (14). Wenn also die Kausalreihe ... un un+1 un+2 ... betrachten, so ist es nur Schein, wenn wir glauben, un+1 ist die Wirkung von un, denn sowohl un wie un+1 sind keine Dinge, sondern bloße Vorstellungen von Dingen, als solche können sie aber einander gar nicht hervorbringen. Vielmehr ist die ganze Kette von Erscheinungen mit samt ihrer gesetzmäßigen Verknüpfung nur eine unmittelbare Wirkung eines - oder mehrerer - ihnen zugrunde liegenden X. Die ganze Empirie ist der unmittelbare Ausdruck der intelligiblen Welt. Wenn wir demnach einen Regressus zur ersten Ursache unternehmen wollten, so würden wir umsonst die Reihe von un bis zu un-∞ durchzulaufen suchen - wir würden immer nur subalterne Ursachen bekommen. Hingegen genügt der Rückgang zur wirklichen Ursache der Erscheinung - zum Ding-ansich. Wir haben dann keinen weiten Weg zurückzulegen, wenn wir uns auch gestehen müssen, daß wir einen Sprung in die Transzendenz unternommen haben. - Das ist die durchaus begreifliche und - solange nur als problematische Ansicht vorgetragen - vom kritischen Standpunkt zulässige Lösung des Problems der kosmologischen Freiheit. Sie führt, wie gesagt, nichts Neues ein, sie ist nur eine Konsequenz der bereits in der Ästhetik vollzogenen Scheidung der Gegenstände in Phänomena und Noumena. Ganz anders verhält sich die Sache, wenn man diese Lösung auf das Problem der praktischen oder psychologischen Freiheit überträgt. Dann erheben sich Schwierigkeiten, die den scharfsinnigen Erklärungsversuchen Trotz bieten. Die Lehre von der praktischen Freiheit hat dann auch von Anfang an (15) den eigentlichen Stein des Anstoßes in der Antinomienlehre gebildet. Zwar klingt es sehr plausibel, wenn KANT sagt, daß, wenn man einmal ein Vermögen angenommen hat, das imstande ist, eine Reihe von selbst anzufangen, dann nichts im Weg steht, auch "mitten im Lauf der Welt verschiedene Reihen der Kausalität von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln". Will man aber die Konsequenz dieser weiteren Annahme mit in Kauf nehmen, so scheint es, daß die Naturnotwendigkeit überhaupt geopfert werden muß. (16) Solange nur gesagt wird, die ganze empirische Kausalkette sei der phänomenale Ausdruck einer intelligiblen Kausalität, so ist dagegen nichts einzuwenden. Sollen aber in dieser Kette selbst hie und da frei handelnde Subjekte eingeschaltet werden, so ist es unbegreiflich, wie das Naturgesetz in seiner Integrität gewahrt bleiben kann. Wenn die praktische Freiheit nur darin bestehen soll, daß unter den sonstigen Dingen-ansich unsere Vernunft ebenfalls als Noumenon von selbst zu handeln anfängt, so ist nicht einzusehen, warum die Handlungen der Vernunft gegenüber der Naturnotwendigkeit eine besondere Wertung erhalten sollten, da doch alles, was geschieht, eigentlich nur der Ausdruck frei handelnder Dinge-ansich ist. Ferner ist das Sollen im Gegensatz zu dem, was bereits geschehen ist, unverständlich, denn es ist nach KANTs ausdrücklicher Lehre nicht möglich, daß die Sinnlichkeit auf eine Vernunft, die Noumenon ist, irgendeine Wirkung ausüben könnte, um deren Handlung unfrei zu machen. Schließlich scheinen die Beweise, die KANT für diesen Punkt anführt, nicht zwingend zu sein. Wenn unsere abfällige Beurteilung einer bösen Tat als Beweis für die Möglichkeit freier Handlungen angeführt und behauptet wird: "wenn wir sagen, daß ungeachtet seines ganzen bis dahin geführten Lebenswandels der Täter die Lüge doch hätte unterlassen können, so bedeutet dies nur, daß ... die Vernunft in ihrer Kausalität keinen Bedingungen der Erscheinung ... unterworfen ist" (17), - so kann demgegenüber geltend gemacht werden, daß aus eben dieser Zurechnung mit nicht geringer Evidenz hervorgeht, daß unsere Beurteilung menschlicher Handlungen falsch ist. Übrigens, was bedeuten eigentlich die hier oft angeführten "Bedingungen der Erscheinung", sind sie etwas anderes als der phänomenale Ausdruck einer intelligiblen Gesetzmäßigkeit? Wir brauchen jedoch die Schwierigkeiten, die der Begriff der praktischen Freiheit mit sich führt, nicht weiter auszuführen. Für unseren Zweck müssen wir vielmehr den Sinn der kosmologischen Kausalität näher ins Auge fassen. Zu diesem Zweck wollen wir unser obiges Schema noch einmal anführen: Wir haben gesagt, daß die Kausalität durch Freiheit nur das Verhältnis des Intelligiblen zur Reihe der Erscheinungen ausdrücken kann. Dieses Verhältnis wurde durch die vertikalen Pfeile angedeutet. Hingegen haben wir zwei andere Verhältnise außer Betracht gelassen: das Verhältnis der Erscheinungen untereinander und dasjenige der Dinge selbst zueinander. Die kosmologische Freiheit als solche kann auf die Art dieser Verhältnisse keinen Einfluß üben. Nun wissen wir - a priori oder durch Erfahrung, bleibt sich hier gleich -, daß unter den Erscheinungen eine kausale Notwendigkeit herrscht (sie wird in unserem Schema durch die unteren horizontalen, nach rechts gerichteten Pfeile ausgedrückt). Was für Verhältnisse unter den Dingen-ansich herrschen, können wir nicht wissen. Das eine wissen wir jedoch, daß Gesetzmäßigkeit kein ausschließlich empirischer Begriff ist. Man lese noch einmal:
und die empirischen Gesetze Das Problem der empirischen Gesetze hat KANT in der Kr. d. r. V. selbst noch nicht beunruhigt. Dort heißt es noch:
In einem Brief an HERZ, der für MAIMON bestimmt war, heißt es:
Es wäre jedoch übereilt, anzunehmen, daß durch die Betonung dieser Harmonie die Schwierigkeit, die das Vorhandensein empirischer Gesetze der kantischen Erkenntnislehre bereitet, tatsächlich beseitigt worden ist. Denn KANT bringt hier zwei Fragen zusammen, die miteinander nichts zu tun haben. Es ist für die Erkenntnistheorie von gar keiner Bedeutung, "warum wir gerade eine solche Art der Sinnlichkeit und eine solche Natur des Verstandes haben", so wenig wie es uns interessieren kann, warum wir gerade zwölf Kategorien haben, oder warum der intelligible Charakter gerade diesen empirischen gibt. Derartige Fragen wurden auch schon in der Kritik und in den Prolegomena gestreift. Nicht minder belanglos ist es, nach dem letzten Grund der Übereinstimmung des Verstandes mit der Sinnlichkeit zu fragen, wenn die Erkenntnislehre nur gezeigt hat, daß sie miteinander übereinstimmen müssen. Von größter Bedeutung ist jedoch die Frage, vom Verhältnis der empirischen zur reinen Erkenntnis. Hier darf KANT sich nicht auf die Beschränktheit unserer Einsicht berufen. Denn wird dieses Verhältnis nicht genau bestimmt und wird nicht gezeigt, wie empirische Gesetze neben den reinen möglich sind, so ist die Deduktion selbst nicht zu begreifen. Zur Erklärung der Möglichkeit "einer Erfahrung von der Natur unter ihren mannigfachen besonderen und bloß empirischen Gesetzen, von denen uns der Verstand a priori nichts lehrt", genügt es aber nicht eine Harmonie zwischen den Erkenntniskräften unseres Gemüts anzunehmen. Es müßte vielmehr gezeigt werden, wie es zugeht, daß "alle empirischen Gesetze" trotz ihrer Aposteriorität "nur Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes" sein müssen. Am leichtesten könnte diese Frage dadurch gelöst werden, wenn man eine Vorherbestimmung der Dinge außereinander [dem Ort nach verschieden - wp] annehmen würde. Diesen Ausweg mußte KANT jedoch mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Denn die Annahme einer derartigen Harmonie würde dir Rückkehr zum dogmatischen Rationalismus bedeuten. Aber auch die kritische Lösung unseres Problems kann nicht ganz befriedigen. Die strikte Durchführung des "Kopernikanischen Gedankens", daß die Dinge sich nach den Begriffen richten müssen, hätte zu dem Ergebnis führen müssen, daß jede Bewegung, Lage oder jedes besondere Verhältnis unter den Erscheinungen durch den spontanen Verstand geschaffen werden. Denn das Erfahrungsmaterial müßte uns völlig ungeordnet gegeben werden, damit es sich den apriorischen Formen fügt. Dann dürfte es aber gar keine empirische Gesetzmäßigkeit, sondern nur reine Erkenntnisse geben. Oder aber es müßte der aposteriorische Charakter der besonderen Gestaltungen der Materie und ihrer empirischen Verhältnisse auf die Unbewußtheit der entsprechenden Funktionen der Kräfte unseres Gemüts zurückgeführt werden, was jedoch zu gewagt gewesen wäre. Denn erstens war für eine derartige Annahme kein Beweis zu erbringen; zweitens wäre nicht einzusehen, warum man bei der Schöpfung der besonderen Formen stehen bleiben, und nicht auch die Hervorbringung der Materie dem unbewußt schaffenden Verstand zuschreiben soll. Dies wäre jedoch weder mit dem Realismus KANTs, noch mit seinen praktischen Intentionen zu versöhnen gewesen. KANT hat deshalb auch die Konsequenz seiner Lehre von der "Revolution der Denkart" niemals so weit ausgeführt. Das Problem der empirischen Gesetze bliebt deshalb ungelöst. Denn so wenig wie der Übergang von der transzendentalen Einheit der Apperzeption zu den einzelnen Kategorien durch eine lückenlose Deduktion geschehen ist, so wenig ist es KANT gelungen, die empirischen Gesetze aus diesen Kategorien abzuleiten und mit ihrer Apriorität in Einklang zu bringen. KANT ist sich dieser Lücke und dieses Widerspruchs in seinem System niemals ganz klar bewußt geworden. Trotzdem war das eigentliche und wichtigste Ziel seiner Untersuchungen erreicht. Aus seinen unumstößlichen Prämissen folgt mit völliger Sicherheit, "daß aller Gebrauch der reinen Vernunft niemals auf etwas anderes, als auf Gegenstände der Erfahrung gehen kann, und, weil in Grundsätzen a priori nichts Empirisches die Bedingung sein kann, sie nichts weiter als Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sein können. Dies allein ist das wahre und hinlängliche Fundament der Grenzbestimmung der reinen Vernunft, aber nicht die Aufgabe:
Von den Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen Die Lehre von den Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen gehört bekanntlich zu denjenigen, die von jeher der Interpretation die größten Schwierigkeiten bereitet haben. Ich glaube jedoch, daß ein erheblicher Teil dieser Schwierigkeiten beseitigt wird, wenn man nur genau feststellt, was KANT eigentlich mit dieser seiner Einteilung bezwecken wollte. Ein Wahrnehmungsurteil ist eine Synthesis von Wahrnehmungen in einem Subjekt. Wenn ich z. B. das Urteil fälle: der Zucker ist süß, so geschieht dies aufgrund der Empfindungen, die der Zucker in mir hervorruft. Was ich mit einem derartigen Urteil zunächst aussagen will, ist nicht die Qualitätsbezeichnung des Zuckers, sondern die Konstatierung der Empfindung, die beim Genuß des Zuckers in meinem Subjekt auftritt. Zwar ist das erwähnte Urteil der Form nach objektiv, jedoch dem Inhalt nach ist es nicht weniger subjektiv wie das Urteil: es friert mich. Derartige Urteile haben deshalb nur Gültigkeit für mich und meinen gegenwärtigen Zustand; ob ein anderer Mensch und ob ich selbst morgen beim Genuß des Zuckers dieselben Empfindungen haben werde, kann ich nicht vorausbestimmen. Anders verhält es sich beim Urteil: die Luft ist elastisch. Auch dieses Urteil ist zunächst nur eine Wahrnehmungsurteil, es kann aber unter gewissen Umständen ein Erfahrungsurteil werden, d. h. ein Urteil, das vom Objekt, hier von der Luft gilt; denn was mich Erfahrung unter gewissen Umständen lehrt, muß sie mich immer und auch jedermann lehren. Wie kommt es aber, daß ein und dasselbe Urteil das eine Mal nur subjektive und momentane, das andere Mal einen allgemeine Gültigkeit besitzt? KANTs Antwort lautet: Eine Wahrnehmung wird in eine Erfahrung verwandelt, wenn ein Verstandesbegriff zum Wahrnehmungsurteil hinzutritt. Zur Erläuterung gibt KANT folgendes Beispiel:
2. gibt KANT hier eine Anweisung, wie man aus subjektiven notwendige und allgemeingültige Urteile schafft, und zwar durch die Anwendung des Verstandesbegriffs, in unserem Fall der Kategorie der Ursache. Aber wie oft sehen wir, daß Urteile, die einen Verstandesbegriff enthalten, falsch sind. Die Geschichte der Wissenschaften kann eine Unmenge derartiger falscher Urteile aufweisen. 3. Das Charakteristische der Erfahrungsurteile ist die Beziehung auf ein Objekt, diese Urteile sind allgemeingültig. Nun sind neun Zehntel unserer Urteile objektiv, d. h. sie beziehen ihre Prädikate auf einen Gegenstand, aber wie selten sind sie notwendige Urteile? 4. Wie kann selbst das Urteil in unserem Beispiel: die Sonne erwärmt den Stein als notwendig angesehen werden? Lehrt doch KANT ausdrücklich, daß in jeder Erkenntnis nur soviel Wissenschaft enthalten ist, wie Mathematik in ihr Verwendung findet?
In der Analytik der Grundsätze, in der "Kritik" heißt es:
Ob der Gedanke, der der Einteilung der Urteile in Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile zugrunde liegt, richtig ist; ob ein Wahrnehmungsurteil, wie es in der kantischen Fassung dasteht, überhaupt möglich ist, da doch jedes Urteil bereits eine Verbindung durch Kategorien voraussetzt; ob schließlich die Beziehung auf ein Objekt erst mittels apriorischer Kategorien möglich wird, ist eine andere Frage. Das letzte ist jedoch keine Spezialität der Prolegomena, sondern eine Ansicht KANTs, die er in der Kritik sehr energisch vertreten mußte, da sie ihm zum Hauptbeweis für die Apriorität der Grundsätze gedient hat.
1) Kr. d. r. V. Seite 165 2) Kr. d. r. V. Seite 127 3) Besonders klar drückt KANT dies in folgender Stelle aus: "Wie können wir uns die Position der Postulate der Synthesis a prior vorstellen. Es sind drei Funktionen der Apprehension [Zusammenfassung - wp], welche beim Denken unseres Zustandes überhaupt angetroffen werden und worunter alle Erscheinung deswegen passen muß, weil in ihr keine Synthesis ansich liegt, wenn das Gemüt solche nicht hinzufügt oder aus den Datis derselben macht." (Lose Blätter 20) 4) Über Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile vgl. man den Anhang. 5) Kr. d. r. V. Seite 474 6) Der Beweis der Thesis scheint mir nicht ganz zwingend zu sein. Er basiert auf der eben zitierten Fassung der Definition des Kausalgesetzes, wonach jede Ursache eine a priori bestimmte sein muß. Da wir es aber (beim Regressus) immer nur mit subalternen [untergeordneten - wp] und nicht a priori bestimmten Ursachen zu tun haben, so widerspricht der Grundsatz sich selbst. Nun ist es wohl richtig, daß für uns, für unser Erkennen hier, wie in vielen anderen Fällen die Ursache unbestimmt bleibt. Eine derartige Bestimmbarkeit ist aber auch gar nicht notwendig. Der Grundsatz verlangt nur, daß die Ursache hinsichtlich ihrer Wirkung die bestimmte ist, daß nämlich jede Wirkung ihre bestimmte Ursache haben soll. Dies ist aber bei jedem Geschehen erfüllt. - Den richtigen Grund oder vielmehr den psychologischen Zwang zur Annahme einer Kausalität durch Freiheit hat KANT in der Begründung der Thesis der vierten Antinomie angegeben. Dort sagt er: "Nun setzt ein jedes Bedingte, was gegeben ist ... eine vollständige Reihe von Bedingungen ... voraus." Hier beruft sich KANT einfach auf das Bedürfnis der Vernunft, eine Totalität zu haben, mithin nach einer ersten Ursache, nach dem Unbedingten zu fragen, indem sie den festen Punkt sucht, an dem sie Halt machen könnte. Es kommt aber darauf gar nicht an, ob Thesis und Antithesis auch wirklich bewiesen werden können, vielmehr darauf, daß sowohl die These wie die Antithese unserer Vernunft keine Befriedigung zu verschaffen vermag. KANTs scholastische Schulung hat es mit sich gebracht, daß er für die Antinomien Beweise gesucht hat und daß er sich für ihre Richtigkeit sogar verbürgt hat. 7) Kr. d. r. V., Seite 478 8) Dasselbe gilt hinsichtlich der Einfachheit oder Zusammengesetzheit der Substanzen. 9) Es sei bemerkt, daß für den Common sense die dritte Antinomie - soweit nur die kosmologische Seite in Betracht kommt - mit der vierten zusammenfällt. Hat er einmal mit der Thesis der vierten Antinomie ein notwendiges Wesen gesetzt, so kann dies von ihm zugleich als die zeitlich und kausal erste Ursache des Geschehens angesehen werden. Man hat dann einen ersten Beweger und kann die Welt ihren eigenen Lauf nehmen lassen. Nach KANT sind aber die Gegenstände der Erfahrung bloße Vorstellungen, als solche können sie nicht aufeinander wie Dinge wirken. Eine Erscheinung kann eine andere Erscheinung hervorbringen. Neben dem ersten Beweger mußten daher wirkende Dinge-ansich als Ursachen der Erscheinungen und mit ihnen eine besondere Art von Kausalität angenommen werden, falls man nicht zu BERKELEY zurückkehren will. 10) Um dies scheinbare Inkosequenz KANTs zu rechtfertigen, daß er trotz dem eigenen Verbot, von Kategorien einen transzendentalen Gebrauch zu machen, selbst die Kategorien der Substanz, Realität und Kausalität auf die Dinge-ansich anwendet, - hat man versucht, den Kategorien im Gegensatz zu Raum und Zeit einen mehr objektiven Wert einzuräumen. Tatsächlich stehen die Kategorien hinsichtlich ihrer Subjektivität nicht in derselben Reihe wie Raum und Zeit. Zwar wird auch von ihnen gesagt, daß sie "bloß subjektive Formen der Verstandeseinheit" (Kr. d. r. V. 343) sind, wie Raum und Zeit nur als subjektive Formen der Sinnlichkeit angesehen werden müssen: aber die Subjektivität der Verstandesbegriffe und mit ihr ihre Unanwendbarkeit auf intelligible Gegenstände rührt nur daher, daß Kategorien ohne sinnliche Schemata keine andere als logische Bedeutung haben. Man hat deshalb untersucht, ob vielleicht doch einige Kategorien die sinnliche Anschauung entbehren können, wodurch die von KANT angeblich vollzogene Anwendung auf Dinge-ansich gerechtfertigt sein könnte. - Alle diese Versuche scheitern jedoch an der Tatsache, daß KANT selbst wiederholt betont, daß keine von den Kategorien hierbei eine Ausnahme erleidet, und daß er gerade die hier in Frage kommenden Verstandesbegriffe herausgreift, um an ihnen zu exemplifizieren, daß sie ohne Anschauung gar keine Bedeutung haben (man vgl. z. B. Kr. d. r. V. Seite 291f). KANT begeht aber auch gar nicht die ihm zur Last gelegte Inkonsequenz. Solange er spekulativ über die Dinge-ansich denkt, denkt er sie durch gar keine Kategorie, zumindest ist er sich ihres Gebrauchs nicht bewußt. So heißt es Kr. d. r. V. Seite 344: "Der Verstand denkt sich einen Gegenstand ansich, aber nur als transzendentales Objekt, das die Ursache der Erscheinung ... ist, und weder als Größe noch als Realität noch als Substanz usw. gedacht werden kann (weil diese Begriffe immer sinnliche Formen erfordern...)." Hier wird also für KANTs Bewußtsein nur von der Kausalität Gebrauch gemacht. Damit er aber dies tun darf, hat er eine neue Art von Kausalität eingeführt, wie dies gleich des Näheren erörtert werden soll. 11) Schon GARVE hat dies gefühlt, wenn er in seiner Rezension des kantischen Werks über die dritte Antinomie urteilt: "Es ist unmöglich, die Vereinigung, die Herr KANT stiften will, deutlich mit kurzen Worten vorzustellen, unmöglich, glaube ich, sie deutlich einzusehen. Aber das ist deutlich, daß der Verfasser gewisse Sätze für höher und heiliger hält als sein System und daß er bei gewissen Entscheidungen mehr Rücksicht auf die Folgen nahm, die er durchaus stehen lassen wollte, als auf die Prinzipien, die er festgesetzt hatte." Zitiert bei ERDMANN, Kants Kritizismus, Seite 100 aus der "Allgemeinen Bibliothek", Anhang zu Bd. 37-52, Bd. II, Seite 838f. 12) Die Verquickung beider Probleme bei KANT hat es bedingt, daß ihm während der ganzen Auflösung der dritten Antinomie das frei handelnde Subjekt vorgeschwebt und zum Schema gedient hat, und zwar nicht nur da, wo er die willkürliche Handlung des Menschen direkt als Beispiel anwendet. Man vergleiche z. B. Kr. d. r. V. Seite 572f. 13) Prolegomena, § 53, Anmerkung 14) Es sei mir gestattet, trotz der Unanschaulichkeit des zu behandelnden Gegenstandes, folgendes Schema aufzustellen: 15) siehe Anmerkung 11 16) Diese Schwierigkeit scheint ERDMANN anzudeuten, wenn er sagt, er wolle nicht untersuchen, "ob nicht die praktische Freiheit mit dem kosmologischen Begriff derselben ebenso unverträglich ist, wie das theoretische mit dem praktischen A-priori"; a. a. O., Seite 159. 17) Kr. d. r. V. Seite 584 18) Man vgl. außerdem Kr. d. r. V. 164: "Dingen-ansich würde ihre Gesetzmäßigkeit notwendig ... zukommen." 19) Kr. d. r. V. Seite 572 20) Kr. d. r. V. Seite 584 21) Kr. d. r. V. Seite 128 22) Intellektion = "Einstimmung der Erscheinungen untereinander" (Lose Blätter 37) 23) Lose Blätter 111 24) Der Versuch einer Erklärung, die KANT an einem anderen Ort gibt, ist lediglich eine Konstatierung der Tatsache. "Die intellektuellen Funktionen machen den Anfang bei der Apprehension, allein die Spezifikation gibt uns die Regel der Anwendung dieses Begriffs, daher können bestimmte Regeln der Synthesis nur durch Erfahrung gegeben werden, die allgemeine Norm derselben aber a priori. " (Lose Blätter 39) 25) Man vgl. KUMETARO SASAO, Prolegomena zur Bestimmung des Gottesbegriffes bei Kant, Halle a. d. Saale, 1871, Seite 29 26) Brief an HERZ vom 26. Mai 1789 27) "Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll", gegen Ende 28) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede, Werke IV, Seite 476 Anm. 29) Reflexion Nr. 1164 30) Das scheint auch eine Aufzeichnung bei REICKE anzudeuten: "Die bloße Apprehension", heißt es dort, "erklärt schon, daß hinter der Erscheinung eine Substanz, Ursache oder Zusammensetzung sein muß ..." (Lose Blätter 39). 31) Man vgl. Kr. d. r. V. Seite 344 32) Man vgl. Lose Blätter 209. "Daß die Idealität des Raumes und der Zeit ... nicht den realen Idealismus enthält, der vorgibt, daß der Wahrnehmung ... gar kein Gegenstand ... gegeben ist, sondern daß diesem Gegenstand oder diesen äußeren Gegenständen (welches unausgemacht bleibt) nur nicht dieselbe Form des Raums ansich zukommt ..." Und an einer anderen Stelle sagt KANT: "Viele Leser der Kritik stehen noch immer in dem Wahn, daß wenn ich sage, dem Zusammengesetzten im Raum liegt das intelligible Einfache zugrunde, als ob ich sagen wollte: so viele Punkte, so viele Monaden." (Lose Blätter 230) 33) Prolegomena § 20, Anm. 34) Prolegomena § 19. 35) Prolegomena § 20. 36) Kr. d. r. V. Seite 244 37) Kr. d. r. V. Seite 242 38) Kr. d. r. V. Seite 203 39) Vorrede 2, Seite XVIKr. d. r. V. Seite 242 40) Kr. d. r. V. Seite 257 41) Prolegomena § 20 42) Prolegomena § 19 |