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JOHANNES HEINRICH WITTE
Über Anschaulichkeit in den
Sinnen und Anschaulichkeit im Denken


"Wenn die notwendige Vermittlung aller Erkenntnis von dem, was im Dasein bereits gegeben ist und was nicht etwa erst praktisch hervorgebracht werden soll, auf den Sinnen und dem Denken beruth, so ist es einleuchtend, welche Bedeutung es hat, diese beiden Erkenntnismittel auf ihre Anschaulichkeit hin zu prüfen."

Der sehr verehrten philosophischen Gesellschaft einen Vortrag zu halten, ist eine angenehme und lohnende Aufgabe für jeden, der sich mit der Erforschung der letzten und wesenhaften Gründe des Daseins, soweit dieser menschlicher Einsicht zugänglich ist, beschäftigt. Ist doch der Kreis der für eine ernste philosophische Betrachung empfänglichen Wahrheitsfreunde in aller Welt heutzutage nur zu klein; umso bereitwilliger dürfte jeder Philosophierende die ihm dargebotene Gelegenheit benutzen, sich vor einer in gleichem Sinne wie er interessierten Gesellschaft über das, was ihm hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Bestrebungen vor allem am Herzen liegt, auszusprechen. Der seltene Wert einer solchen willkommenen Gelegenheit erhöht aber zugleich die Verpflichtung, von ihr einen angemessenen Gebraucht zu machen und die ehrenvolle Nachfrage durch in ihr entsprechendes Angebot zu befriedigen. Es wäre anmaßend, zu behaupten, daß mir dieses in irgendwie erheblichem Grad durch meinen nachfolgenden Vortrag gelingen dürfte; nur daß die Erörterung der in ihm angeregten Fragen in der Richtung nach jenem Ziel meinen Kräften gemäß sich zu bewegen bemüht ist, möchte ich anerkannt wissen. Denn was die Wahl des Gegenstandes für meinen Vortrag betrifft, über welche allein ich einige einleitende Bemerkungen für nötig erachte, so glaubte ich, daß derselbe imstande sein dürfte, bei den verschiedenen in unserem Verein vertretenen Standpunkten in gleicher Weise auf Teilnahme rechnen zu können. Über "Anschaulichkeit in den Sinnen und Anschaulichkeit im Denken" zu sprechen, habe ich mich nämlich deshalb bereit erklärt, weil auf die verschiedene Art, wie man zu jenen beiden durchstreifenden Grundlagen aller Erfahrungserkenntnis, zu den Sinnen und zum Denken, Stellung nimmt, sich auch im Übrigen die Übereinstimmung wie die Abweichung philosophischer Grundanschauungen zurückführen läßt.

Ja, falls es sich herausstellen sollte, daß Anschaulichkeit nur da vorhanden ist, wo das Sein irgendeines Gegenstandes unserer Auffassung unmittelbar zugänglich gemacht wird, so würde es auch einleuchten, welche Bedeutung die angeregte Frage für Wahrheit unserer Erkenntnis hat.

Diese nämlich beruth überall auf der Übereinstimmung unserer Gedanken mit dem Sein. Denn ich erkenne durchaus an, was hierüber FRIEDRICH HARMS in seiner Abhandlung "Über den Begriff der Wahrheit" ausführt. Es sagt dort (1):
    "Falls die formalen Wahrheiten in der Erkenntnis des Seins angewandt werden können, sind sie zugleich reale Wahrheiten in der Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein. In diesem Fall gilt der ursprüngliche Grundsatz der Metaphysik, was notwendig gedacht wird, ist wahr, wie ich denken muß, so ist es. Das Sein ist ein Element nicht bloß der realen, sondern auch der formalen oder idealen Wahrheit, weil sie Anwendung haben in der Erkenntnis des Realen" ... "Alle formalen Wahrheiten denken nur ein Mögliches und für sich nichts Wirkliches. Aber das Mögliche ist entweder der Inhalt des Wirklichen oder selbst eine Folge des Wirklichen, welches der Grund des Möglichen ist. Also müssen auch alle formalen oder idealen Wahrheiten anwendbar sein in der Erkenntnis des Wirklichen, und die Wahrheit selbst ist die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein und sie allein ist die Wahrheit."
Nur möchte ich zugleich die Vereinbarkeit dieser Behauptung mit dem kantischen Kritizismus betonen. Dieser hat zwar nicht die Zuversicht des dogmatischen Idealismus zu unseren Erkenntniskräften, da er nicht der Meinung ist, daß wir durch reines Denken das absolut Seiende unmittelbar zu erfassen vermögen. Auch ist er nicht der Ansicht, daß dieses Reich des absoluten und übersinnlichen Seins eine intelligible Welt ausmacht, im Vergleich mit welcher die Sinnenwelt nur Schein ist. Der kritische Idealismus glaubt vielmehr, daß in der Sinnenwelt das wahrhaft Seiende uns zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar zugänglich ist, daß sie zwar nur eine Erscheinung der eigentlichen und vollen Wirklichkeit, aber doch keineswegs Schein ist. Darum ist, zumal wir selbst dieser Sinnenwelt unserem individuellen Dasein nach angehören, die Welt des Seins uns nur soweit erkennbar, als sie sich in der Erscheinung darstellt.

Wahrheit als Übereinstimmung mit dieser Erscheinung ist also Übereinstimmung mit dem Sein, soweit es erscheint. Wer KANT vorhalten wollte, daß diese Ansicht zum Skeptizismus führt, der würde übersehen, daß Wirklichkeit und Erscheinung nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern letztere nur der uns zugängliche Teil des Wirklichen ist, der aber für mit Gewißheit erkennbar gelten muß, wenn er den apriorischen Gesetzen der Vernunft gemäßt aufgefaßt wird.

Alle diese Auffassungen sind aber für die als ein fertiges Dasein oder Werden uns gegebene Welt eine individuell vermittelte; sie bedarf der Erfahrung durch die Sinne und durch Denkprozesse. Und KANTs Verdienst besteht eben darin, daß er trotz der Anerkennung der Unentbehrlichkeit dieser individuellen Vermittlung nicht übersehen hat, daß diese nur die Gelegenheitsursachen enthält, bei der jene eigentlichen Gründe zu einem klaren Bewußtsein kommen, auf denen das Wesen und die universelle Natur unbedingt gültiger Gewißheit beruth.

KANT hat nie behauptet und würde niemals behauptet haben, was HARMS ihn anstelle des Grundsatzes: "was notwendig gedacht wird, ist wahr", substituieren [unterschieben - wp] läßt, nämlich: "wie ich denken muß, ist es nicht, sondern so erscheint nur der Gegenstand im Denken". Er würde höchstens sagen: wie ich etwas denken muß, so ist etwas auch, und zwar als ein Teil der Wirklichkeit, die mit mittels meiner Begriffe und Sinne erscheint, falls bei der Auffassung desselben durch die letzteren beiden die ursprünglichen in der Vernunft liegenden Bedingungen zu Bewußtsein gekommen sind, denen gemäß jedwede Erscheinung in der Notwendigkeit ihres eigenen Wesens und ihres Zusammenhangs mit Anderem erkannt wird. Daraus folgt zugleich, daß der Standpunkt KANTs und der des kritischen Idealismus nicht etwa eine Gewißheit von anthropologischer Beschränktheit, sondern von universeller Bedeutung erreicht, und daß durch ihn durchaus nicht der Grad der Gewißheit, sondern nur der Umfang der menschlichen Gewißheit Erkenntnis eingeschränkt wird. Was der Mensch mit Gewißheit erkennt, ist auch universell gültig; aber er ist nicht imstande, alles zu erkennen, wovon es für anders organisierte Wesen ebenfalls eine universell gültige Erkenntnis geben mag. Nur was er nicht überhaupt mit Gewißheit aufzufassen vermag, hat für ihn eine zufällige und anthropologisch-, ja oft sogar nur individuell-beschränkte Wahrheit. Demnach liegt vom kritischen Standpunkt aus auch kein Grund vor, den folgenden Sätzen von HARMS zu widersprechen, wie ihn dann auch der von diesem erhobene Vorwurf des Formalismus im Denken nicht trifft. HARMS sagt nämlich ganz mit Recht:
    "Die formalen Wahrheiten entspringen aus der Gesetzmäßigkeit des Denkens, woraus das Bewußtsein der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit in der Verbindung und Übereinstimmung der Begriffe miteinander entsteht. Die Gesetzmäßigkeit des Denkens liegt in der Anwendung der Grundsätze der Identität und des Widerspruchs in der Erkenntnis der Dinge. Die Anerkennung von der Gültigkeit dieser Grundsätze des Denkens in der Erkenntnis der Gegenstände ist die zweite Bedingung für die Möglichkeit der Erkenntnis und der Wissenschaften. Die erste besteht in der Anerkennung der Realität der Erfahrung, ohne welche das Denken keinen Gegenstand hat."
Wenn nun aber die notwendige Vermittlung aller Erkenntnis von dem, was im Dasein bereits gegeben ist und was nicht etwa praktisch erst hervorgebracht werden soll, auf den Sinnen und dem Denken beruth, so ist es einleuchtend, welche Bedeutung es hat, diese beiden Erkenntnismittel auf ihre Anschaulichkeit hin zu prüfen, besonders, wenn wir auch noch Folgendes bedenken: Unter dem Einfluß der modernen Naturforschung und ihrer in der Tat gewaltigen Fortschritte ist es nämlich meines Erachtens geschehen, daß demjenigen Mittel seelischer Auffassung, an das nur um ihres eigentümlichen Gegenstandes willen die mannigfachen Disziplinen jener heutzutage herrschenden Wissenschaft vorzugsweise gewiesen sind, eine übertriebene Bedeutung zugeschrieben wird, ja sogar eine ausschließliche.

Experiment und Beobachtung allein, - so meint man - sind wertvolle Untersuchungsmittel. Beruhen sie doch auf sinnlicher Auffassung, gewähren sie doch Anschaulichkeit, während das von ihnen absehende Denken sich in leeren und nichtssagenden Abstraktionen bewegt.

Man stellt also der Konkretheit und Fülle der Auffassung durch die Sinne die Allgemeinheit und Leerheit des Denkens gegenüber. Man meint, nur durch jene könne man etwas Seiendes besitzen, durch letzteres aber reiße man sich los von der Wirklichkeit und begebe sich auf das Gebiet der leeren Hirngespinste. Aber sollte das Denken wirklich in jeder Beziehung so abstrakt sein, sollte es ihm in der Tat an jeder ihm selbst eigentümlichen Anschaulichkeit gebrechen? Und andererseits, sind die Sinne wirklich für sich allein stets geeignet, die Erscheinungen in anschaulicher Weise und in ihrem wahren Sein aufzufassen?

Es dürfte schon den allgemein bekannten Ergebnissen geschichtsphilosophischer Entwicklung zufolge auf diese Fragen niemand mit einem unbedingten Ja zu antworten geneigt sein. Die aufgeworfenen Fragen sind freilich so alt, wie die Philosophie. Im Gegensatz der Anschauungen des PLATO zu denen des ARISTOTELES gewann das, worum es sich bei ihrer Beantwortung handelt, zum erstenmal einen scharfen Ausdruck. Ich meine nun aber, daß der Standpunkt heutiger erkenntnistheoretischer Untersuchungen dahin geführt hat, denselben in der Weise zu formulieren, wie es in meinem Thema geschehen ist, wenn ich Anschaulichkeit im Denken der in den Sinnen entgegengesetzt habe. Ich will darum zwar noch gar nicht behaupten, daß man in gleicher Bedeutung von einer Anschaulichkeit im Denken wie von einer solchen in den Sinnen reden kann, wogegen ja, genau genommen, schon die Fassung meines Themas spricht; ja selbst, ob man überhaupt irgendwie von letzterer in einem eigentlichen Sinn sprechen darf, will ich vorläufig dahingestellt sein lassen.

Vom Standpunkt des Sprachgebrauchs jedoch scheint hiergegen nichts eingewendet werden zu dürfen. Bei JAKOB GRIMM zumindest finde ich zwar keinen Artikel über Anschaulichkeit, aber unter dem Artikel "anschauen" macht er Bemerkungen, die sich zu meinen Gunsten deuten lassen, wenn er z. B. als lateinisch gleichbedeutend hinzufügt: aspicere, contemplari, intueri und es erklärt durch "ansehen, betrachten". "Doch" sagt GRIMM - "ist anschauen feierlicher und inniger als ansehen, sinnlicher als betrachten und diesem vorausgehend; erst wird angeschaut, dann länger betrachtet. "Schaue mich recht an" ist soviel wie "sieh' mich an, betrachte mich." Von den klassischen Stellen, die er für den Sprachgebrauch beibringt, interessieren uns vielleicht folgende am meisten, nämlich eine aus GELLERT, der da irgendwo sagt: "Ich wollte wünschen, daß sie eine anschauende Erkenntnis davon hätte". Aus WIELAND führt er an diese Worte: "Von dem anschauenden Begriffe der kleinen Kolonie, in welcher er aufgewachsen war" und "eine ausführliche und anschauende Erkenntnis von all den Mißbräuchen"; aus GOETHE lesen wir den Satz: "Das muß die Seele erweitern, reinigen und ihr zuletzt den höchsten anschauenden Begriff von Natur und Kunst geben."

Wenn selbst KANT an einem bei GRIMM angeführten Ort des Ausdrucks "Gründe faßlich und anschaulich darstellen" sich bedient, so werden wir den Philosophen hier nicht bloß hinsichtlich seiner Ausdrucksweise, sondern auch der Sache nach in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch finden, wobei letzteres in folgendem Satz aus der "Kritik der reinen Vernunft" nicht mehr der Fall ist, wo er behauptet:
    "Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben wäre, würde anschauen, der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen."
Denn aus den übrigen mitgeteilten Wendungen klassischer Autoren geht, wie schon aus GRIMMs eigener Erläuterung von "anschauen" sowohl durch das sinnliche "ansehen" als auch durch das mehr geistige "betrachten" hervor, daß die Bedeutung des Wortes durchaus nicht auf das Sinnliche beschränkt ist, und daß GRIMM nach weiteren den Schriften KANTs entlehnten Stellen gewiß nicht ohne Ursache auf die Philosophen schilt, wenn er sagt: "Dieses Wort haben die Philosophen dem Sprachgebrauch ohne Not erschwert." Anschauen erstreckt sich zuerst auf sinnliche, dann auf übersinnliche geistige Gegenstände, gerade wie intuieri, contemplari, und nicht weil der Sinn von "Anschauen" sich mit dem Wesen des Inhalts des Wortes "Begriff" nicht verträgt, sondern weil "anschauend" Partizip ist und aktiv, wie intuens, verwirft er das auch von guten Schriftstellern gebrauchte "anschauender Begriff" und "anschauend machen" und verlangt dafür "anschaulicher Begriffe" und "anschaulich machen". GRIMM würde also auch nichts gegen "anschauliche Erkenntnis" haben und, was zwar nicht durchaus folgt, vielleicht ebensowenig gegen "anschaulich denken" einwenden.

Trotzdem möchte ich, wie gesagt, um nicht von vornherein einen unnützen und voreiligen sachlichen Widerspruch hervorzurufen, bitten, zunächst die Worte meines Themas so aufzufassen, als sollte nur in einem übertragenen Sinn von "Anschaulichkeit im Denken" die Rede sein. Lassen wir uns auch nur von dieser so beschränkten Auffassung leiten, so dürfte sie dennoch Anlaß bieten, uns auf Betrachtungen von Beschaffenheiten und Vorgängen des Denkens zu führen, bei denen es sich, wie von selbst herausstellen wird, ob man für das letztere ebenfalls die Anschaulichkeit in einer mehr als übertragenen Bedeutung in Anspruch zu nehmen berechtigt ist. Jene Beschränkung überhebt uns aber zugleich der für einen Vortrag etwas schwerfälligen und lästigen Aufgabe, das Thema in vollem Umfang und in der durch die Rücksicht auf die uns hier zugemessene Zeit verbotenen erschöpfenden Vollständigkeit zu besprechen und es etwa gar durch alle üblichen Hauptteile der traditionellen Philosophie zu verfolgen, indem wir ganz rite [ordnungsgemäß - wp] die psychologische, logische und erkenntnistheoretische und metaphysische Seite erwägen würden.

Darauf verzichtend und mehr in der Absicht, Betrachtungen über mein Thema anzuregen als abzuschließen, wende ich mich nun der Sache selbst des Näheren zu. -

Zuerst einmal frage ich: Was verstehen wir unter Anschaulichkeit nicht bloß im Sinne des volkstümlichen Sprachgebrauchs, sondern in wissenschaftlicher Bedeutung. Meine Antwort lautet dahin: Anschaulichkeit ist Gegenständlichkeit, Klarheit und Bestimmtheit der Auffassung, und zwar meine ich, daß letztere beiden Merkmale der Hauptsache nach bereits im ersten enthalten sind. Anschaulichkeit ist also wesentlich eine Gegenständlichkeit der Auffassung.' Schon hierin liegt, daß bei ihr in der Hauptsache zweierlei in Betracht kommt: erstens der aufgefaßte Gegenstand, zweitens das Auffassungsvermögen. Da unser Thema nur mit Rücksicht auf letzteres die Anschaulichkit zu prüfen veranlaßt - denn die Sinne und das Denken sind jedenfalls Vermögen der seelischen Auffassung -, so wollen wir von letzterer aus die Sache in Erwägung ziehen.

Als Gegenständlichkeit der Auffassung bezeichnet man alsdann den Umstand, daß diese dem Wesen von etwas insofern gerecht gerecht wird, als sie dasselbe in der Selbständigkeit und Eigentümlichkeit seiner Erscheinung ergriffen hat. Was einer solchen Selbständigkeit und Eigentümlichkeit ermangelt, ist ansich anschaulich überhaupt nicht vorstellbar, sondern nur, falls wir ihm eine solche künstlich unterlegen und leihen, und sofern wir dazu imstande sind.

Derjenige also, für welchen die Gesamtheit der Tatsachen in unserer inneren Erfahrung denen der äußeren gegenüber nur etwas Akzidentielles [Zufälliges - wp], in keiner Weise etwas Substantielles ist, muß bestreiten, daß dieselbe und so auch das Denken, als ein Akt der letzteren, irgendwie anschaulich faßbar sein kann.

Anschaulichkeit in den Sinnen bedeutet somit die Fähigkeit der letzteren, etwas in seiner Selbständigkeit und Eigentümlichkeit aufzufassen und die Anschaulichkeit im Denken würde dieselbe Fähigkeit für den Verstand in Anspruch nehmen.

Unter den Sinnen aber verstehe ich nicht nur die Sinneswerkzeuge, sondern vielmehr auch die unterschiedenen Kräfte der Seele, die sich mittels jener zugeführten Reize als innere Eindrücke und eigenen Besitz auf eigentümliche Art anzueignen. Die Sinne sind also hier aufgefaßt als Inbegriff des Vermögens äußerer Empfindung oder Wahrnehmung, wobei letztere von ersterer ja nur dadurch unterschieden ist, daß bei ihr das Moment der Aufmerksamkeit hinzugetreten ist als ein Ferment für die Entstehung des individuellen Wissens um den Inhalt des Aufgefaßten.

Der Verstand und seine allgemeine Funktion, die zu denken, hingegen ist, hinsichtlich seiner wesentlichen Beschaffenheit, die Fähigkeit der Seele, etwas auf die Einheit des Selbstbewußtseins zu beziehen. -

Es handelt sich jetzt weiter darum, sowohl die Anschaulichkeit in den Sinnen als auch die im Denken im Besonderen zu betrachten. Worauf also beruth zunächst jene, die der Sinne? Ich behaupte: Auf der Gegenwart äußerer Gegenstände. Und zwar sind beide hier angegebenen Bedingungen erforderlich. Wo eins dieser Momente fehlt, sodaß die Gegenstände, Vorgänge, Zustände uns weder gegenwärtig noch auch äußerlich auffaßbar sind, ist es den Sinnen unmöglich, zur Anschaulichkeit zu gelangen. Anschaulich ist meinen Sinnen nur ein Gegenstand, solange er ihnen gegenwärtig ist oder sofern er mir gegenwärtig gewesen ist und ich eine die Gegenwart völlig ersetzende Erinnerung an ihn bewahre. Es mag mir jemand noch so trefflich den selber gehabten Anblick eines äußeren Gegenstandes, z. B. eines Standbildes vom großen Kurfürsten in Berlin beschreiben, sehe ich ihn selber nicht oder in einem anderen Fall höre ich die Melodie nicht selber und bekomme sie auch nie zu sehen, zu hören oder dergleichen, so wird meine Auffassung davon niemals eine wahrhaft anschauliche sein. Und Gegenstände oder Zustände, die uns zwar gegenwärtig sind, wie die rein seelischen und augenblicklichen Vorgänge der inneren Wahrnehmung: z. B. daß ich vorstelle oder etwa, daß ich nach einem Wort für einen Gedanken suche, daß ich aufmerke, daß ich a : b = c : d denkt, sind trotz dieses Umstandes der Gegenwärtigkeit nicht anschaulich, weil sie als solche eben nicht äußerlich auffaßbar sind und für sie in der Tat auch sonst nichts vorliegt, was diesen Mangel ersetzen könnte.

Das Gegenwärtigsein eines Gegenstandes allein genügt hiernach so wenig zur Anschaulichkeit wie die Fähigkeit äußerlich auffaßbar zu sein. Beides muß vielmehr, um jene Eigenschaft hervorzubringen, sich vereinigen. Welches dieser Momente erscheint dann aber als das wesentlichere? Da bin ich nun ganz überzeug, daß dies vom ersteren gilt. Denn die Äußerlichkeit vermag nur dadurch anschaulich zu werden, daß sie in die Gegenwart des Bewußtseins eingeht, und das, was sie damit tut, ist ein Dienst, den sie dem letzteren und seiner gedachten Beschaffenheit leistet.

Nicht das Äußere der Gegenstände wird durch ihr Eintreten in die Gegenwart des Bewußtseins verändert, sondern dies und seine Gegenwärtigkeit gewinnt dadurch in jenem einen kontinuierlichen Bestand. Diese Gegenwärtigkeit im Bewußtsein ist nämlich die räumliche Bestimmtheit der in ihm enthaltenen sinnlichen Gegenstände. Man behauptet häufig, daß auf der Äußerlichkeit das Wesen der Anschaulichkeit in den Sinnen beruth: als ob die diskrete Zerstreutheit als solche nur irgendwie der Geschlossenheit eines einigenden Bewußtseins zugänglich sein könnte, die sich auch schon in den Sinnen geltend machen muß! Vielmehr liegt die Sache ganz anders. Sonst wären die letzteren verworren, und könnte man geneigt sein, mit LEIBNIZ im Gegensatz zu ihnen nur dem Verstand Klarheit zuzuschreiben. Allein wenn nicht die Äußerlichkeit, sondern eben die räumliche Bestimmtheit dem mittels der Sinne ergriffenen Erscheinungen zu einer beständigen Gegenwärtigkeit im Bewußtsein verhilft, so ist es ja etwas, was selbst gar nichts Äußerliches ist, worauf sich die Anschaulichkeit derselben gründet. Denn der Raum ist seinem Wesen nach nit etwas in der Erfahrung Enthaltenes, sondern ihr Vorangehendes, und zwar im Besonderen die allem Mannigfaltigen der äußeren Erfahrung als solchem vorausgegebene allgemeine, seine generelle Eigentümlichkeit bedingende Grundlage. Der Raum ist etwas Geistiges, weil er ein allgemeines Verhältnis ist. Der Raum ist nämlich das Verhältnis des Zusammenseins auseinander befindlicher Erscheinungen, die die Zeit dasjenige des Nacheinanderseins einer Reihe und des Zugleichsein mehrerer Reihnen aufeinander folgender Erscheinungen. Formen sind Zeit und Raum daher, aber freilich nur im Verstand apriorischer Bedingungen, wie ich das anderenorts gezeigt habe und der letztere ist als eine solche Ursache davon, daß wir alles Äußere in einer unmittelbaren Gesamtvorstellung von einer geordneten Mannigfaltigkeit zusammenfassen und überschauen. Es ist somit weder etwas in der Äußerlichkeit der Erfahrung, noch etwas im Begriff der Erfahrung als solcher Begründetes, was den äußeren Erfahrungen den Vorzug der Anschaulichkeit verleiht. Wäre letzteres der Fall, so würde dieselbe ja sicherlich den inneren wie allen äußeren Erfahrungen anhaften. Müßten wir ersteres anerkennen, so würden wir auch von vornherein darauf zu verzichten haben, für die inneren nach einer irgendwie entsprechenden Beschaffenheit zu suchen.

Weil die auf die räumliche Bestimmtheit sich gründende Beschaffenheit der Dauerhaftigkeit der Erfahrung über äußere Gegenstände einen außerhalb der letzteren gelegenen Grund hat, kommt auch dieselbe nicht allen äußeren Erfahrungen zu. Es gibt auch solche äußeren Gegenstände, die in keiner für uns erkennbaren äußeren Ordnung stehen und auch sogar manche, denen es überhaupt an einer solchen gebricht. Bei diesen sind die räumlichen Verhältnisse nicht bestimmt oder doch noch nicht für uns bestimmt.

Nicht die Räumlichkeit des Äußeren, so ergibt sich nun weiter, sondern die räumliche Bestimmtheit und Festigkeit der Beziehungen im Auseinandersein verhilft erst den Erfahrungen über das Mannigfaltige in diesem zur Dauerhaftigkeit. Solche Erfahrungen ermöglichen nur die Erscheinungen, welche ein im Raum relativ beharrliches Dasein haben, und sich nur die Veränderungen in denselben, welche auf bleibende räumliche Beziehungen jener Erscheinungen, die sich als relativ feste Punkte darstellen, zurückführen lassen. Solche Beziehungen sind der Ort, die Lage, die Ausdehnung, die Größe und die Entfernung der Abgrenzungen oder der Einschränkungen im Raum, d. h. der Körper. Denn ein abgegrenzter Raumteil, sofern er ohne Rücksicht auf die Art seiner Erfüllung betrachtet wirdd, nur als Einschränkung des Raumganzen angesehen, heißt Körper. Es gibt keinen Punkt im Raum, wo dessen Einschränkung ansich Halt machen müßte; er ist ohne Ende teilbar, und diese Eigenschaft des Raumes, daß keine kleinsten Teile in ihm vorstellbar sind, ist seine Stetigkeit oder Kontinuität. Daß der Raum überhaupt irgendwie erfüllt ist, ist freilich eine notwendige Voraussetzungen, aber eine solche, die der ganzen Betätigung unseres Bewußtseins vorausgeht, und auf welche sich die apriorische Tatsache der Affektion, der Möglichkeit der Empfindung überhaupt gründet, die allem Bewußtsein vorausgeht. Sie verhilft daher nicht den sinnlichen Gegenständen äußerer Erfahrung zur Anschaulichkeit; das tun allein die unserem Bewußtsein zugänglichen festen Beziehungen der räumlichen Verhältnisse. - Ich kann dieselben hier nicht im Einzelnen erläutern. Aber es ist ohne Weiteres klar, so wie man durch eigenen Selbstbesinnung oder durch die anderer auch nur darauf hingewiesen wird, daß alle Anschaulichkeit der Sinne darauf hinausläuft, daß wir die Erscheinungen der Außenwelt als nach Ort, Lage, Ausdehnung, Entfernung im Raum scharf bestimmt unmittelbar auffassen, um sie hinterher diesen Beschaffenheiten gemäß miteinander vergleichen und messen zu können. Eine solche Anschaulichkeit haben hinsichtlich der unorganischen Natur die großen körperlichen Massen, deren Veränderungen erst im Laufe von Jahrtausenden merkbar werden, z. B. die Berge, auch ausgedehnte, aber übersehbare Flächen; in der organischen Natur aber tritt uns anschaulich das Typische entgegen, was zwar nicht im Raum gegründet ist, aber zum Trotz der Veränderungen in ihm als gleichbleibend gerade im Gegensatz zu diesem erscheint, und was wir als substantielle Form und systematisch gleichen Habitus im Sinne der Klassifikationen der Naturerscheinungen auffassen. Aus angegebenen Grund ist uns das Ruhende anschaulicher als das Bewegliche und dieses überhaupt nur anschaulich in der Regelmäßigkeit wiederholter Bewegungen, das Feste mehr als das Flüssig. Eben darauf beruth es, daß diejenigen Eindrücke, welche durch die Mitwirkung solcher Sinneswerkzeuge, die zur Entwicklung des Raumsinnes keine geringe Beziehung haben, entstehen, fast jeder Anschaulichkeit entbehren: nämlich die Geruchs- und die Geschmacksempfindungen. Die Eindrücke desjenigen Sinnes aber, dessen Werkzeuge für die empirische Ausbildung der Raumvorstellung, obwohl nicht für die Entstehung des Raumes, am trefflichsten eingerichtet sind, die des Gesichts, sind auch die anschaulichsten; demnächst die des Tastsinnes, während das sonst psychologisch wichtigere Gehör nur für die Musiker eine gleiche Anschaulichkeit der Empfindung hat. - Nicht die Räumlichkeit, sondern die räumliche Bestimmtheit - nur dies klarzustellen, sollten die eben gemachten Bemerkungen dienen - ermöglicht Festigkeit und Dauerhaftigkeit der äußeren Erfahrung und daraus hervorgehende Anschaulichkeit. Diese Art Bestimmtheit ist aber eine so allgemeine, daß sie über die einzelnen Erscheinungen der hier vorliegenden Erfahrung hinausgeht. Mittels ihrer erhebe ich mich über eine Mehrheit einzelner äußerer Erscheinungen ganz unmittelbar und gewinne einen Ausbilck auf ihre Gesamtheit von einem umfassenden und erhöhten Standpunkt aus. -

Wenn es eine gleiche Bestimmtheit gibt für die inneren Erfahrungen, so werden auch letztere eine dauerhafte und anschauliche Auffassung ermöglichen. Denn wie die Anschaulichkeit in den Sinnen weder auf ihrer Äußerlichkeit noch auf ihrer Sinnlichkeit, sondern auf der reinen Form der letzteren beruth, nämlich auf der Bestimmtheit ihrer Objekte gemäß einer der apriorischen Bedingungen derselben, so kann es auch für das Denken und in ihm eine derartige Beschaffenheit geben, sofern dasselbe bestimmt wird durch solche apriorische Grundformen, die der Gegenwärtigkeit seiner Objekte eine Kontinuität zu verschaffen vermögen und sofern dieselben in ihm zu einem eigentümlichen Ausdruck gelangen. Das Denken in seiner Betätigung als einzelner flüchtiger Akt der inneren Erfahrung ist daher freilich nicht anschaulich; es ist es so wenig wie die niemals anschaulichen inneren Wahrnehmungen. Denn die Tatsachen der letzteren sind eben gemäß der ihnen eigentümlichen apriorischen Bedingung, der der Zeit, im Gegensatz zu denen der äußeren ganz fließende und vorübergehende Vorgänge. Andererseits sind die Denkakte, gerade als innere Tatsachen auch nicht äußerlich und darum weiter nicht räumlich auffaßbar, weil sie keiner Kombinierung mit der allgemeinen Bedingung fähig sind, durch sie eine der Konstanz im Raum vergleichbare Festigkeit für das Bewußtsein zu erlangen vermögen.

Das Denken geht jedoch über das innere Wahrnehmen noch hinaus und hat alsdann andere apriorische Grundlagen, durch welche es eigentümlich inhaltliche Konstanz sowohl selber gewinnt als auch einem besonderen gegebenen Inhalt gegenüber zum Ausdruck bringt. Das sind die Kategorien.

Anschaulich ist demnach nicht jeder einzelne Denkakt, es ist überhaupt niemals der einzelne Denkakt als solcher und auch ohne weiteres nicht das Denken als bloß formales Tun im Sinne der gemeinen Logik; anschaulich aber ist das einen Inhalt mit ursprünglicher Notwendigkeit in seinem Dasein bestimmende Denken als ein konstantes, einer Reihe gewisser Seelenvorgänge zugrunde liegendes Vermögen, - es ist anschaulich dieses Denken als eine solche Kraft, die sich als Fähigkeit in bestimmter Richtung erregt zu werden darstellt und überdies als eine solche, deren Betätigung stets an gewisse Formen gebunden ist, durch die geleitet sie einen Inhalt in seinem vernünftig bestimmten Wesen erfaßt und auf die Einheit des Bewußtseins bezieht.

Nicht das abstrahierende Denken, das zunächst einseitig und willkürlich einen Gegenstand auffaßt und dann allerdings rein formal logischen Gesetzen gemäß in notwendiger Weise sich an ihm betätigen mag, sondern das synthetische, ddieses allseitige Erfassen eines Objektes in seinem notwendig-bestimmten, vernünftigen Inhalt, ist anschaulich.

Anschaulich ist das kategorial bestimmte Denken, zumindest für denjenigen, der um diese Bestimmtheit weiß. Bringt es doch das, was nicht nur im Bewußtsein, sondern in allem Sein die Selbständigkeit und Wirklichkeit zuletzt und im tiefsten Grund verbürgt, zur klaren Erkenntnis. Auf ihm beruth es, daß es eine allgemeine Bestimmtheit der Auffassung von Dingen gibt, die den Inhalt derselben in der Weise trifft, daß sie nicht auf das, was sich einer äußeren Erfahrung darbietet, beschränkt bleibt. Dieselbe muß sich natürlich auch logisch ausdrücken lassen, ist aber nicht aus den logischen Gesetzen erklärbar, verleiht vielmehr auch der Anwendung der letzteren selber, soweit diese von ihr geleitet wird, Anschaulichkeit.

Diese Bestimmtheit ist diejenige, welche auf der Konstanz des Selbstbewußtseins beruth und sich auf der ursprünglichen Einheit desselben, die in verschiedener sich gleichbleibender Weise behauptet und geltend macht gegenüber der mannigfaltigen Art, wie im einzelnen Fall beim Urteilen die Vorstellungen ihrem Inhalt nach aufeinander bezogen werden. Denn diese konstanten Weisen des Verhaltens in der Beziehung eines Mannigfaltigen auf die ursprüngliche Einheit des Bewußtseins sind eben das, was die Kategorien ausdrücken, als die allgemeinsten Formen der Aussage des synthetisch urteilenden Verstandes über die wesenhafte Bestimmtheit alles Seienden.
LITERATUR - J. H. Witte, Über Anschaulichkeit in den Sinnen und Anschaulichkeit im Denken [Vortrag gehalten in der "Philosophischen Gesellschaft" Berlin], Verhandlungen der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 12, Leipzig 1879
    Anmerkungen
    1) vgl. "Abhandlungen der philosophisch-historischen Klasse der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin", Jahrgang 1876, Seite 189.