p-4 M. WalleserE. LaasR. WillyO. Kuelpe     
 
ARTHUR DREWS
Das Ich als
Grundproblem der Metaphysik

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"Kant ist nur ein Glied in der Kette jener Entwicklung bildet, die aus dem Cogito ergo sum hervorgegangen ist und sich gegenwärtig erschöpft und ausgelebt hat. Man pflegt zwar gewöhnlich diese Entwicklung mit Kant abzuschließen und von ihm eine neue Epoche in der Philosophie zu datieren; und zweifellos laufen ja auch die beiden Gabelungen aus der Wurzel des Cogito ergo sum, der Rationalismus und Empirismus, in ihm zusammen. Nur überschätzt man die Bedeutung Kants gewaltig, wenn man meint, daß sie in ihm zur Versöhnung gekommen seien und daß überhaupt mit der kantischen Philosophie ein neuer Grund für das philosophische Denken gelegt sei, der für unsere Zeit noch irgendwelche positive Bedeutung habe."

Vorwort

Daß der Kern einer jeden Weltanschauung durch nichts so sehr wie durch die Stellung zum Ichproblem bedingt ist, wird keinem Widerspruch begegnen. Ein Versuch, die wesentlichsten Prinzipien der Metaphysik aus dieser Wurzel abzuleiten, ihre Verästelungen bis in die äußersten Enden zu verfolgen und die Beziehungen jener Prinzipien zum Ich nachzuweisen, wird daher kaum etwas Auffälliges haben. Indem ich mich in dem vorliegenden Werk bemüht habe, das gesamt Gebiet der Spekulation aus diesem einen Gesichtspunkt zu beleuchten, und die Grundfragen aller Metaphysik dabei wenigstens im Allgemeinen erörtert habe, so mag sich dasselbe wohl mit Recht als eine  Einführung in die spekulative Philosophie  bezeichnen.

Seit DESCARTES sein Cogito ergo sum gesprochen hatte, kann keine Behandlung des Ichproblems umhin, in irgendeiner Weise an ihn anzuknüpfen. Hängt doch die Lösung des fraglichen Problems letzten Endes nur von der Stellung ab, die man zu jenem Satz einnimmt. Ich gestehe nun frei, daß ich mich niemals von der Wahrheit desselben habe überzeugen können. Ich vermag nicht einzusehen, wie beim vorstellungsartigen Charakter unserer Wahrnehmungen der Gegenstand der inneren Wahrnehmung hiervon eine Ausnahme machen und unmittelbar von uns erkannt werden sollte, und ich wundere mich umso mehr über eine solche Behauptung im Munde derjenigen, die von der Höhe des Kritizismus herab nur mit mitleidigem Spott von der "intellektuellen Anschauung" sprechen und die "Identität des Ideellen und Realen" für ein phantastisches Hirngespinst der Metaphysiker halten. Tatsächlich ist dann auch die Wahrheit des Cogito ergo sum bisher fast immer nur von den Gegnern der Metaphysik bestritten worden, wohingegen die Metaphysiker, wie weit auch im übrigen ihre Gedanken auseinander gegangen sind, ihre Abhängigkeit von jenem Prinzip nicht haben verleugnen können. Das gilt nicht bloß von den unmittelbaren Nachfolgern des DESCARTES, die sich selbst dabei auf ihn berufen haben, wie SPINOZA und LEIBNIZ, sondern es gilt auch von denjenigen Metaphysikern, die sich ihres Zusammenhanges mit dem Kartesianismus nicht bewußt gewesen sind, ja, einen solchen wohl gar ausdrücklich bestritten haben, wie FICHTE, SCHELLING, HEGEL, SCHOPENHAUER, WUNDT und BAHNSEN.

Diese Abhängigkeit der modernen Spekulation vom kartesianischen Grunddogma bei den Hauptträgern derselben nachzuweisen und damit die Bedeutung des Cogito ergo sum für die neuere Philosophie ins rechte Licht zu setzen, dafür dürfte die Zeit gerade jetzt gekommen sein. Die Aufgabe der Metaphysik besteht meiner Ansicht nach darin, das Wesen des realen Seins im Unterscheid vom ideellen, d. h. von unseren Vorstellungen, zu bestimmen. Wenn sich nun herausstellen sollte, daß jeder Versuch, diese Bestimmung von der unmittelbar erkannten Realität des eigenen Ich aus zu treffen, durch eine Art von immanenter Dialektik zur gänzlichen Leugnung des Realen hinführt, so wäre damit der schlagende Beweis geliefert, daß jene Voraussetzung selbst unhaltbar sein muß und daß wir auch im eigenen Ich nicht mehr als eine bloße Vorstellung des realen Seins besitzen. Nun zeigt sich aber ferner, daß auch die Gegner der Metaphysik, die zugleich die Wahrheit des Cogito ergo sum bestreiten, mögen sie sich nun Empiristen, Sensualisten, subjektive transzendentale Idealisten oder Positivisten nennen, trotzdem die Berechtigung für ihre Weltanschauung im Grunde nur aus jenem Satz schöpfen. Damit erweitert sich die Kritik des letzteren zu einer  Kritik der gesamten modernen Philosophie,  vor welcher die verschiedenen Standpunkte derselben nur als ebenso viele Möglichkeiten erscheinen, das Cogito ergo sum auszudeuten.

Vielleicht ist hierin der tiefste Grund zu suchen, wodurch die allgemeine Entmutigung auf philosophischem Gebiet und der Niedergang der Spekulation in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts bedingt sind. Die im Cogito ergo sum implizit enthaltenen Möglichkeiten sind expliziert, und jede von ihnen ist in einem besonderen Standpunkt durchgearbeitet, aber dem Realen ist man damit nicht näher gekommen, und das Gefühl ist allgemein, daß die Philosophie, die vom Zentrum des Cogito ergo sum aus dem Realen zustrebt, sich nur im Kreis des ideellen Seins herumbewegt, ohne irgendwo über die Peripherie desselben hinauszukommen. Der erkenntnistheoretische Idealismus und Skeptizismus mit ihrem Verbot, jene Grenze zu überschreiten, und ihrem Unglauben an die Leistungsfähigkeit des menschlichen Verstandes sind nur der wissenschaftlich formulierte Ausdruck für die Unzulänglichkeit des erwähnten Ausgangspunktes. Aber wer heißt uns denn, uns in jenen Kreis überhaupt erst hineinzustellen, wenn wir innerhalb desselben nicht bleiben können und eine Durchbrechung seiner Grenzen nicht möglich ist? DESCARTES zog sich auf das Zentrum des Bewußtseins zurück, weil er glaubte, in ihm die gesuchte Realität gefunden zu haben. Wir müssen das Reale von vornherein  außerhalb  des Bewußtseins suchen, nachdem die Entwicklung bewiesen hat, daß sich  im  Bewußtsein kein Reales findet. Bisher haben die Philosophen geglaubt, dem Sein das Prädikat der Bewußtheit zuerteilen zu müssen, weil sie in Übereinstimmung mit DESCARTES im Selbstbewußtsein das Reale unmittelbar erkannt zu haben glaubten. Wenn aber alles Sein, sofern es Inhalt des Bewußtseins ist, eben deshalb nur Bewußt-Sein oder ideelles Sein ist, so folgt, daß das wirkliche reale Sein nur ein außerbewußtes,  unbewußtes  sein kann.

Diese selbstverständliche Konsequenz ist bisher noch so gut wie gar nicht beachtet worden. Denn in der Gegnerschaft gegen das sogenannte Unbewußte stimmen alle verschiedenen Richtungen der zeitgenössischen Philosophie zusammen. Zumal die Psychologen sich bisher am abfälligsten über den Begriff des unbewußt-Seelischen ausgesprochen haben. Gilt doch bei ihnen gegenwärtig fast allgemein die Ansicht, daß wir unser eigenes Inneres unmittelbar, so, wie es ist, erkennen, wohingegen wir die äußeren Gegenstände mittelbar, nur als Erscheinungen erkennen. Dies führt dazu, die Psychologie als eine bloß empirische aufzufassen, und umgekehrt zwingt die Aufstellung einer rein empirischen Psychologie zur Annahme der Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung. So kommen diese Psychologen dazu, den ganzen Inhalt unseres Seelenlebens aus bloßen Bewußtseinselementen abzuleiten und die Hypothese des unbewußt-Seelischen in das Reich metaphysischer Phantastereien zu verweisen. Daß ihre eigenen sich korrelativ bedingenden Voraussetzungen nur die verschiedenen Seiten sind, wie das Cogito ergo sum sich darstellt, und sie folglich selbst ohne nähere Kritiker einer im Grunde metaphysischen Annahme huldigen, dessen sind sie sich so wenig bewußt, daß die meisten empirischen Psychologen ihre Gegnerschaft gegen die Metaphysik als etwas sich von selbst Verstehendes betrachten oder doch jedenfalls ihre metaphysische Weltanschauung für unabhängig von ihrer psychologischen Grundansicht halten. (1) Bedächten diese Psychologen nur, daß der Streit, ob es ein unbewußt-Psychisches gibt, ganz wesentlich durch das kartesianische Grunddogma bedingt ist und folglich nur auf metaphysischem Boden ausgefochten werden kann, dann würden sie gewiß auch etwas zurückhaltender sein, sich selbst als kompetente Richter in dieser Frage aufzuwerfen, dann würden sie doch vielleicht Bedenken tragen, das Unbewußte deshalb zu verwerfen, weil es innerhabl des empirischen Gebietes der Psychologie nicht vorkommt. Jetzt sehen wir Psychologen auf die Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung schwören, die trotzdem zugleich Metaphysiker sind, und Metaphysiker sich gegen die Anerkennung des unbewußt-Psychischen sträuben, die in der Psychologie von der Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung nichts wissen wollen.

Ein Ende dieser Verwirrung ist nur dadurch möglich, daß man die Grenzen der unmittelbaren Selbstwahrnehmung überschreitet und ein unbewußt-Psychisches  in einem absoluten Sinn  (nicht bloß als ein Unter- oder relativ Bewußtes) annimmt. Nur so ist zugleich eine Reihe der wichtigsten Probleme lösbar, womit sich die Psychologie bisher vergeblich abgemüht hat. Fragen, wie die nach der Einteilung der "Seelenvermögen", die mit der anderen verwandt ist, welche psychischen Elemente als primäre und welche als sekundäre anzunehmen seien, lassen sich auf dem bisherigen Boden der Psychologie überhaupt nicht beantworten. Oder kann es wohl etwas Auffälligeres geben als den Umstand, daß trotz der behauptet "Unmittelbarkeit" ihrer Selbstwahrnehmung die Psychologen sich noch immer nicht darüber geeinigt haben, ob die Vorstellung oder das Gefühl oder ob der Wille die Wurzel und das Grundelement unserer Seele bildet? Wie kommt es, daß die Einen allen Inhalt des Psychischen auf bloße Willenselemente zurückzuführen streben, wohingegen die Anderen mit der gleichen Zuversicht die reale Existenz des Willens überhaupt bestreiten? Wie soll man sich erklären, daß die Intellektualisten im Allgemeinen die Substantialität des psychischen Seins behaupten und hiervon eine "unmittelbare" Erkenntnis zu besitzen glauben, während die Voluntaristen aufgrund derselben Unmittelbarkeit über das "starre Klötzschen" der Seelensubstanz ihren Spott ausgießen und den "aktuellen" Seelenbegriff für die einzige wissenschaftlich haltbare Auffassung unserer Psyche ausgeben? Man pflegt den spekulativen Philosophen vorzuwerfen, daß sie immanente psychologische Begriffe zu transzendenten metaphysischen Potenzen emporschrauben. Ich glaube, die Metaphysiker können den heutigen Psychologen darauf mit Recht erwidern, daß sie selbst metaphysische Potenzen zu psychologischen Begriffen stempeln. Denn diejenigen Vorstellungen und Willensakte, die nach ihrer Ansicht das Grundgerüst des seelischen Daseins bilden sollen, sind absolut unbewußte seelische Faktoren und folglich auch kein Gegenstand einer unmittelbaren Selbstwahrnehmung. Diejenigen jedoch, die sich unmittelbar in unserem Bewußtsein finden, sind bloß die subjektiven Repräsentanten oder ideellen Abspiegelungen der realen seelischen Faktoren und folglich nicht der Kern und das Grundgerüst unserer psychischen Gebilde. Solange man die nicht anerkennt, werden alle Bemühungen der Psychologen fruchtlos sein, die Vorstellung aus dem Willen oder den Willen aus der Vorstellung oder beide aus Gefühlen, Empfindungen usw. abzuleiten - man kann es aber solange nicht anerkennen, als die Frage nicht erledigt ist, ob wir wirlich in der Selbstwahrnehmung die Gegenstände, wie sie ansich sind, erkennen.

Unsere Psychologen operieren heute mit der Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung, als ob darüber gar kein Zweifel bestehen könnte, ohne zu bedenken, daß sie mit dieser Behauptung einer intellektuellen Anschauung des psychischen Seins eigentlich gar keine psychologische, sondern eine metaphysische Behauptung aussprechen. Es zeigt sich hier, wie unmöglich es ist, auf irgendeinem Gebiet der Philosophie ohne metaphysische Voraussetzungen auszukommen. Sogar die Psychologie, die scheinbar so selbständig ist, weist trotzdem schon im Hinblick auf ihre Methode auf eine Annahme zurück, die als solche eigentlich aus den Grenzen ihres eigenen Gebietes herausfällt. Denn ob sie rein empirisch in dem Sinne sein muß, daß sie ohne alle transzendenten Hypothesen auskommt, wie die sogenannte Assoziationspsychologie, oder ob sie in gewissen Fällen auf solche Hypothesen zurückgreifen darf, nämlich dann, wenn die unmittelbar erkannten Inhalte unserer Selbstwahrnehmung zur Erklärung der psychischen Erscheinungen nicht hinreichen, das ist ohne eine bestimmte Stellungnahme zum metaphysischen Cogito ergo sum nicht zu entscheiden. Die heutige Psychologie hält an der ersten Annahme, wie an etwas Selbstverständlichem, fest, weil der allgemeine Niedergang der Metaphysik und das Mißtrauen gegen diese sie selbst erst in die Höhe gebracht hat. Aber muß denn dieser Zustand von Dauer sein, und könnte nicht gerade das erneute Interesse an der Metaphysik sich feindlich gegen die heutige kartesianische Grundvoraussetzung der Psychologen kehren?

Ich habe früher in meiner Schrift über KANT versucht, die Beziehungen der Naturwissenschaft zur Metaphysik klarzustellen und in der Untersuchung des Begriffs der Materie die Grundlinien einer modernen Naturphilosophie zu ziehen. (2) Im vorliegenden Werk ging mein Streben dahin, die allgemeinsten Grundzüge einer  Philosophie der Psychologie  oder metaphysischen Unterlage dieser Wissenschaft zu liefern. Der Gedanke, der mich dabei leitete, war der, daß die weit verbreitete Abneigung gegen die spekulative Philosophie nicht so sehr im Wesen der Sache selbst begründet , als vielmehr durch gewisse Zeitströmungen und Verhältnisse bedingt ist und daher unmöglich von langer Dauer sein kann. Es scheint mir nicht wertlos, die empirischen Wissenschaften von Zeit zu Zeit auf ihren Zusammenhang mit dem allgemeinen Zentrum allen Wissens hinzuweisen, zumal wenn sich dieselben, wie die moderne Psychologie, ganz und gar auf ihre eigenen Füße stellen wolen und ihre Prinzipien, um die Erscheinungen zu erklären, ausschließlich im Bereich der Erfahrung suchen. Die Psychologie hat sich erst vor noch nicht allzu langer Zeit selbständig gemacht und ist aher auch weit entfernt, die Notwendigkeit eines solchen Hinweises einzusehen. Ihre Vertreter werden unter diesen Umständen ein Unternehmen, wie das vorliegende, mit Mißtrauen ansehen und darin vielleicht nur einen reaktionären Versuch erblicken, die kaum errungene Freiheit wieder in Frage zu stellen. Erst muß das Gebiet der inneren Erfahrung noch viel gründlicher durchforscht und die Probe noch viel häufiger gemacht sein, wie weit mit bloß empirischen Erklärungen zu gelangen ist, bevor die Psychologen selbst ein Bedürfnis empfinden werden, den zerrissenen Faden mit der Metapyhysik wieder anzuknüpfen. Allein das darf doch nicht daran hindern, die Beziehungen zwischen beiden anzuerkennen und darzulegen, wenn solche tatsächlich vorhanden sind. Wie die Naturwissenschaft schon jetzt von ihren stolzen Ansprüchen einer Welterklärung mehr und mehr zurückkommt und der Wunsch nach Vertiefung derselben zur Naturphilosophie heute bereits von ihren Vertretern selbst erhoben wird, so wird auch für die Psychologie die Stunde kommen, wo sie ihren Blick wieder nach der alten Mutter Metaphysik richtet, und die Einsicht in die Unzulänglichkeit der rein empirischen Erklärungsweise sie weider Anschluß bei der Spekulation wird suchen lassen. Ihr dann ein blindes Umhertappen zu ersparen und ihr den Weg zu einer geeigneten Metaphysik offen zu halten, das schein mir ein des Philosophen nicht unwürdiges Unternehmen.

Denn darüber braucht man sich keiner Täuschung hinzugeben: die bisherige Metaphysik, die Metaphysik, wie sie auf dem Boden des Cogito ergo sum erwachsen ist, hat der heutigen Psychologie keine geeignete Grundlage anzubieten. Gewisse Tatsachen des Seelenlebens, die das Interesse der Psychologen besonders auf sich gezogen haben, wie die Vorgänge des Traums und der Hypnose, die Teilung der Persönlichkeit, überhaupt alle diejenigen Erscheinungen, die man als Schwankungen des Ich bezeichnen kann, und die auf eine quantitative Beschaffenheit der Seele schließen lassen, sind mit dem bisherigen qualitativen Seelenbegriff nicht vereinbar, wodurch uns die ursprüngliche substantielle Einheit der Seele durch unser Ich verbürgt sein soll. Die Psychologie hat daher versucht, von der Seelensubstanz überhaupt gänzlich zu abstrahieren, den gesamten Inhalt des psychischen Seins aus den einfachsten seelischen Elementen, den Gefühlen, Empfindungen usw., zu erbauen und dabei auch das Ich als Produkt eines rein quantitativen Prozesses aufzufassen. Allein so wenig die quantitative Weltbetrachtung der Naturwissenschaft zur Erklärung der verwickelten Erscheinungen, vor allem des geistigen Lebens ausreicht, so wenig ist es bisher auch der Psychologie gelungen, die höheren seelischen Gebilde aus bloßer Assoziation und Summation der niederen Gebilde abzuleiten. Wie der Materialismus sich genötigt sieht, seine stofflichen Atome mit immer höheren Kräften und Qualitäten auszustatten, um den Tatsachen der Erfahrung gerecht zu werden, so muß auch die positivistische Assoziationspsychologie zu immer geheimnisvolleren Beziehungen zwischen den ursprünglichen Bewußtseinselementen ihre Zuflucht nehmen, um nur überhaupt über die einfachsten seelischen Erscheinungen hinauszukommen, ohne daß sie doch bisher imstande gewesen wäre, die zerstörte Einheit des Ich aus der Vielheit seiner Elemente wieder aufzubauen. Mehr und mehr drängt sich den Psychologen die Überzeugung auf, daß die höheren seelischen Gebilde nicht bloß Summationsphänomene sein oder aus bloßen bewußtseinsimmanenten Assozisationsvorgängen hervorgehen können, sondern die Annahme einer  psychischen Synthese  fordern. Wenn aber diese nach Beseitigung des alten Seelenbegriffs nicht die Tätigkeit eines substantiell gedachten Bewußtseins sein kann, wenn vielmehr die ursprünglichsten Bewußtseinselemente selbst den Stoff der aufbauenden Tätigkeit bilden sollen, woraus das Gesamtbewußtsein erst hervorgeht, was bleibt übrig, als die Synthesis als vorbewußte und unbewußte aufzufassen?

So drängt gerade die Psychologie, deren Vertreter sich bisher am heftigsten gegen die Anerkennung der unbewußten Geistestätigkeit gesträubt haben, am meisten auf diese Annahme hin und dürfte sie sich gerade hier von besonderer Fruchtbarkeit erweisen. Der Grund dieser Abneigung liegt, wie gesagt, nur im Cogito ergo sum, unter dessen Bann heute noch all diejenigen Philosophen stehen, die dem Bewußtsein irgendwelche reale und prinzipielle Bedeutung zuschreiben.

Man hat in unserer Zeit das Heil der Philosophie im Kritizismus gesucht und gemeint, indem man auf KANT zurückging, den Ausgangspunkt gefunden zu haben, um die Philosophie aus der Sackgasse, worin sie sich verrannt hat, wieder herauszuführen. Ich glaube, die Resultate, zu denen man gelangt ist, sprechen nicht dafür, daß man sich damit auf dem richtigen Weg befindet. Ich bin weit davon entfernt, das Gute zu verkennen, was das erneuere Studium KANTs für die Philosophie gehabt hat. Es hat zunächst unser historisches Verständnis des Kritizismus in einer Weise gefördert, wie es ohne die Hoffnung, in KANT zugleich die Grundlage für eine moderne Weltanschauung zu finden, wohl schwerlich im gleichen Maße der Fall gewesen wäre. Es hat die Flamme des philosophischen Denkens lebendig erhalten zu einer Zeit, wo sie unter dem Ansturm der empirischen Wissenschaften gänzlich zu verlöschen drohte, und dem Materialismus im transzendentalen Idealismus ein Gegengewicht geboten, als derselbe bereits anfing, die feinsten Blüten unserer geistigen Kultur zu bedrohen. Es hat endlich der Philosophie die Veranlassung gegeben, dasjenige nachzuholen, was die Spekulation unmittelbar nach KANT versäumt hatte, nämlich die Klarstellung und Durcharbeitung der erkenntnistheoretischen Probleme. Nur was man von ihm ursprünglich erwartet hatte, die Förderung einer wahrhaft modernen Weltanschauung, das hat uns der Kritizismus nicht gebracht; im Gegenteil hat das Mißverständnis, als  ob KANT  die Unmöglichkeit der Metaphysik bewiesen habe, die Bemühungen um eine solche lange hintangehalten und den spekulativen Trieb unterbunden zu einer Zeit, die dessen gerade am wenigsten entbehren konnte. (3)

Dieses Ergebnis ist nur selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß auch KANT nur ein Glied in der Kette jener Entwicklung bildet, die aus dem Cogito ergo sum hervorgegangen ist und sich gegenwärtig erschöpft und ausgelebt hat. Man pflegt zwar gewöhnlich diese Entwicklung mit KANT abzuschließen und von ihm eine neue Epoche in der Philosophie zu datieren; und zweifellos laufen ja auch die beiden Gabelungen aus der Wurzel des Cogito ergo sum, der Rationalismus und Empirismus, in ihm zusammen. Nur überschätzt man die Bedeutung KANTs gewaltig, wenn man meint, daß sie in ihm zur Versöhnung gekommen seien und daß überhaupt mit der kantischen Philosophie ein neuer Grund für das philosophische Denken gelegt sei, der für unsere Zeit noch irgendwelche positive Bedeutung habe. Im Vorwort meiner Schrift über "Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems" habe ich gesagt, daß, wenn man, um eine positive philosophische Grundlage zu gewinnen, an KANT anknüpfen wolle, man von KANT, dem Erkenntnistheoretiker, abstrahieren und auf KANT, den Naturphilosophen und Metaphysiker, zurückgreifen müsse. Hier behaupte ich, daß, wenn man schon eine neue philosophische Weltanschauung durch Anknüpfung an die Vergangenheit gewinnen will, daß man dann  überhaupt nicht auf Kant, sondern auf die ursprüngliche Quelle auch des kantischen Gedankensystems, nämlich auf Descartes zurückgehen muß.  Das hat ANTON GÜNTHER zuerst eingesehen und seine Schule seitdem mit Recht gegenüber den verschiedenen Richtungen der modernen Philosophie vertreten. Laufen doch im Cogito ergo sum alle Fäden zusammen, woran diese Philosophie bisher gesponnen hat - nur daß seit HEGELs und SCHOPENHAUERs Tod ein wirklicher Fortschritt in der Philosophie nicht mehr erreicht ist, von denjenigen wenigstens nicht erreicht ist, die sich bewußter- oder unbewußterweise auf DESCARTES bezogen haben. Jeder Versuch, auf der Grundlage des Cogito ergo sum eine neue Weltanschauung zu errichten, ist daher schon  im Prinzip verfehlt  und führt nur dazu, die Menge von philosophischen Systemen und Gesichtspunkten zu vermehren, die Philosophie in die Breite auszudehnen, aber nicht, sie auf eine höhere Stufe emporzuheben. Ein wirklicher Fortschritt beruth nur auf dem  völligen Bruch mit dem Cogito ergo sum,  in der Einsicht, daß die Entwicklung aus dem letzteren an den Punkt gelangt ist, wo sie notwendig in ihr Gegenteil umschlagen muß, und daß das Ergebnis dieses dialektischen Prozesses kein anderes als - das Unbewußte ist.



LITERATUR - Arthur Drews, Das Ich als Grundproblem der Metaphysik, Tübingen 1897
    Anmerkungen
    1) So zählt WUNDT in einem Aufsatz "Über die Definition der Psychologie" (Philosophische Studien Bd. XII) unter den besonderen Vorzügen seiner Auffassung der letzteren, als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, auch den Umstand auf, daß sie gar keine metaphysische Voraussetzung mache und darum ansich mit jeder metaphysischen Anschauung vereinbar sei (a. a. O. Seite 22). Als ob seine eigene Metaphysik, wie ich an seiner Stelle zeigen werde, nicht ganz offenbar durch jene psychologische Grundanschauung bedingt und seine Annahme der realen Natur der Bewußtseinsinhalte nicht selbst schon Metaphysik im höchsten Sinne wäre! Angesichts jener angeführten Behauptung nimmt es sich seltsam aus, wenn WUNDT gegen den "völlig unwissenschaftlichen, höchstens für die Konstruktionen einer mystischen Metaphysik brauchbaren Begriff des Unbewußten" polemisiert (ebd. Seite 34f). Oder zeigt es nicht, daß seine Auffassung der Psychologie metaphysischen Theorien gegenüber keineswegs so duldsam ist, wie WUNDT dies annimmt?
    2) DREWS, Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems, 1894
    3) Vgl. meinen Aufsatz "Zur modernen Kantbewegung" in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 86, Heft 1