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EDUARD von HARTMANN
Neukantianismus, Schopenhauerianismus
und Hegelianismus

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"Der Materialismus setzt die Materie als Prinzip, und ist deshalb nur unter der Voraussetzung einer realistischen Erkenntnistheorie möglich, welche die Annahme einer unabhängig vom Bewußtsein real seienden Materie zulässig macht; die idealistische Erkenntnistheorie dagegen führt notwendig zum Spiritualismus, da sie die Materie zur subjektiven Erscheinung für das Bewußtsein und damit zu einem Produkt des Geistes herabsetzt."

"Ist nämlich Vaihingers subjektivistisches Dogma richtig daß es unserem Denken gar nicht möglich ist, zur Realit zu gelangen, oder das eigentlich seiende, supponierte Objekt herauszuschälen, dann gibt es keine andere Realität mehr für uns als die empirische, kein anderes Sein mehr als das der subjektiven Erscheinung, dann ist Sein = Vorgestelltweren oder Sein und Denken sind unmittelbar identisch."


A. Die Philosophie als Wissenschaft
7. Der Kritizismus als
Identitätsphilosophie

Nach diesen Erörterungen ist die Frage nicht schwer zu beantworten, ob LANGE seine Absicht einer Verschmelzung des Materialismus mit dem subjektiven Idealismus erreicht hat. Materialismus und subjektiver Idealismus sind eben Gegensätze, die sich schlechterdings ausschließen und keine Versöhnung zulassen. Alles, was gegen den Konfusionismus dieser Vereinigung bei SCHOPENHAUER geltend gemacht ist (am nachdrücklichsten von MORITZ VENETIANER in seinem Werk "Schopenhauer als Scholastiker"), bleibt auch gegen LANGE gültig. Der Materialismus setzt die Materie als Prinzip, und ist deshalb nur unter der Voraussetzung einer realistischen Erkenntnistheorie möglich, welche die Annahme einer unabhängig vom Bewußtsein real seienden Materie zulässig macht; die idealistische Erkenntnistheorie dagegen führt notwendig zum Spiritualismus, da sie die Materie zur subjektiven Erscheinung für das Bewußtsein und damit zu einem Produkt des Geistes herabsetzt. Dem Materialismus gilt der Geist als eine aus dem Mechanismus der matieriellen Elemente resultierende Erscheinung; dem subjektiven Idealismus dagegen ist die Materie nichts als eine aus dem psychologischen Prozeß resultierende Erscheinung. Wer beides festhalten will, setzt die Materie wie den Geist als die Wirkung einer Ursache, deren Ursache sie zugleich sein soll. Es gibt aus diesem Konfusionismus nur drei Auswege: entweder man hält den Materialismus fest und läßt den subjektiven Idealismus fallen, oder man hält den subjektiven Idealismus fest und läßt den Materialismus fallen, oder man setzt beide zu aufgehobenen Momenten in einem transzendentalen Realismus herab.

VAIHINGER schriebt auf Seite 58:
    "Lange behauptet, daß alle, auch die höchsten psychischen Funktionen auf einem physischen Mechanismus beruhen. Dies klingt materialistischt. Allein gewöhnlich vergißt man den Nachsatz, daß ja auch dieser ganze physische Mechanismus nur unsere Vorstellung ist, gebildet aufgrund unbekannter Ursachen. Hier schlägt also der Materialismus in Idealismus um."
Auf derselben Seite oben sagt er ferner, daß jener mechanische Vorgang nur zunächst als etwas Äußerliches gilt, "bei tieferer Betrachtung aber selbst auch nur als subjektiv erkannt wird." Hier steht der Konfusionismus LANGEs noch in voller Blüte. Ist der mechanische Vorgang, auf dem mein Vorstellen beruhen soll, nur etwas Subjektives, nur meine Vorstellung, so soll das Produkt meiner Geistestätigkeit zugleich deren Grundlage, Bedingung oder Voraussetzung sein. Dieser Konfusion wird erst dann abgeholfen, wenn unzweideutig anerkannt wird, daß es grundfalsch ist, zu sagen, die subjektive Erscheinung des mechanischen Vorgangs hat mit der psychischen Funktion irgendeine direkte Beziehung, und wenn eingestanden wird, daß eine solche Beziehung höchstens zwischen den unbekannten transzendenten Ursachen einerseits unserer subjektiven Erscheinung und andererseits unserer bewußten psychischen Funktion angenommen werden kann. Die letztere Annahme ist aber der Übergang vom subjektiven Idealismus zum transzendentalen Realismus, und VAIHINGER selbst sieht sich zu diesem Schritt unabweislich hingedrängt, indem er sich bemüht, den Konfusionismus LANGEs zu berichtigen. Er erkennt ausdrücklich an, daß die mechanische Kausalreihe und die psychologische Reihe ganz getrennt voneinander zu halten sind, daß dieselben für uns gar nichts miteinander zu schaffen haben, und daß keinerlei Übergang oder Kausalzusammenhang zwischen denselben stattfindet (Seite 118-119). Damit ist die Auffassung LANGEs, daß die psychologischen Funktionen im materialistischen Sinn auf mechanischen Vorgängen im Gehirn beruhen, allerdings in stringenter Form widerrufen, zugleich aber auch der Dualismus von Materialismus und Spiritualismus (mechanischer und psychologischer Reihe) wiederhergestellt. Will VAIHINGER als Skeptiker bei der Behauptung, daß "das Verhältnis beider Reihen uns unerklärlich ist" (Seite 118), als bei einem Letzten stehen bleiben, so erklärt er damit auch den Dualismus von Materialismus und Spiritualismus für unüberwindlich, für eine notwendige und unlösbare Antinomie; will er aber über diesen von ihm verpönten Dualismus hinaus, so kann er dies nur durch die von ihm noch mehr verpönte (Seite 67) Identitätsphilosophie.

Die Identitätsphilosophie kann in doppelter Weise verstanden werden, je nachdem man die Identität von Denken und Sein im Sinne des subjektiven Idealismus oder im Sinne eines transzendenten Realismus faßt. Ist nämlich VAIHINGERs subjektivistisches Dogma richtig "daß es unserem Denken gar nicht möglich ist, zur Realit zu gelangen" (Seite 55), oder "das eigentlich seiende, supponierte Objekt herauszuschälen (56), dann gibt es keine andere Realität mehr für uns als die empirische, kein anderes Sein mehr als das der subjektiven Erscheinung, dann ist "Sein = Vorgestelltweren" oder Sein und Denken sind unmittelbar identisch. Ist dagegen das subjektivistische Dogma unhaltbar, sind "Erscheinung und Wesen", "Vorstellungsobjekt und Ding-ansich", nicht bloß subjektive Kategorien, sondern Begriffe von objektiver Gültigkeit und transzendenter Wahrheit, dann und nur unter dieser transzendentalistischen Voraussetzung - "sind diese beiden parallelen Reihen in der Welt der Dinge ansich identisch" (Seite 118) Die erstere würde den absoluten Jllusionismus inaugurieren, wie die letztere den transzendentalen Realismus installiert; indem VAIHINGER die letztere für "höchstwahrscheinlich" erklärt, erkennt er mittelbar zugleich den transzendentalen Realismus als höchstwahrscheinlich an, widerruft also seinen negativ-dogmatischen Subjektivismus ebenso wie seinen Skeptizismus, und tritt auf den von mir vertretenen und von ihm so hartnäckig bekämpften Standpunkt hinüber. Er behauptet nun weder mit dem Materialismus, daß der mechanische Prozeß der Materie den Geistesfunktionen zugrunde liegt, noch mit dem subjektiven Idealismus, daß die subjektive Geistesfunktion der Erscheinung der Materie zugrunde liegt, sondern er statuiert mit dem transzendentalen Realismus "ein unbekanntes Drittes, das eben sowohl den materiellen wie den geistigen Erscheinungen zugleich zugrunde liegt." (Seite 22)

Indem er diese Anschauungsweise ausdrücklich als diejenige des Kritizismus hervorhebt (Seite 22), erkennt er an, daß mein Standpunkt Kritizismus ist, und sein Skeptizismus es nicht ist; indem er "Geistiges und Materielles als verschiedene Erscheinungsweisen ein und desselben Dritten faßt" (Seite 124), gibt er zu, daß beide nur der Erscheinung nach verschieden, dem Wesen nach aber identisch sind (vgl. Seite 118, Zeile 13-15 von unten) und daß SCHELLING mit seiner zu SPINOZA zurückkehrenden und "Kant mit Spinoza verbindenden" Identitätsphilosophie auf dem richtigen Weg war, - nur daß er "Lange" statt "Schelling" sagt (Seite 124). Ist es aber "höchstwahrscheinlich", daß wir mit diesem identischen Wesen der äußeren und inneren Erscheinung, des Daseins und Bewußtseins, das wahrhaft Seiende ergriffen haben, welches die transzendente Ursache nach der subjektiven wie nach der objektiven Seite auch für die Entstehung unserer Wahrnehmungen bildet, so sind wir ja mitten drinn in der positiven Spekulation, welche selbst als bloß "wahrscheinliche" von VAIHINGER perhorresziert [abgelehnt - wp] wurde. Ist dies Kritizismus, so ist eben auch der Skeptizismus kein Kritizismus, und es fragt sich nur, ob wir beim ersten Schritt stehen bleiben dürfen.

Soll das "unbekannte Dritte" den materiellen mechanischen Vorgängen wie den psychischen Funktionen, und zwar den ersteren als transzendente Ursache im objektiven Sinn, den letzteren als transzendente Ursache in einem subjektiven Sinn, "zugrunde liegen", so muß es notwendig von derjenigen Beschaffenheit sein, daß es so verschiedenartige Wirkungen erzielen kann, daß es z. B. dem mein Gehirn sezierenden Anatomen als mechanischer Nervenprozeß, mir aber als Empfindung erscheinen kann. Nun erscheint es aber mir unmittelbar, dem Anatomen dagegen nur mittelbar, nämlich vermittelt durch die Vorstellungen, welche sein Gehirnwesen aufgrund der von dem meinigen empfangenen Affektion produziert. Dies läßt schon vermuten, daß die innere Erscheinung der Empfindung dem Wesen näher steht als diejenige subjektive Erscheinung, welche wir äußere nennen; die Empfindung berührt sozusagen unmittelbar das empfindende Wesen, die Wahrnehmung aber steht nur in einem mittelbaren Konnex mit dem wahrgenommenen Wesen. Hieraus läßt sich zweierlei entnehmen: erstens, daß das Wesen mit der psychischen Erscheinung enger verwandt sein wird, als mit dem "mechanischen Vorgang", und zweitens, daß wir auch das Mittelglied nicht vernachlässigen dürfen, durch welches z. B. mein Gehirnwesen mit der Vorstellung des Anatomen von meinem Gehirn verbunden wird, nämlich die transzendente Kausalität, mit welcher mein Gehirnwesen auf das Gehirnwesen des dasselbe sezierenden Anatomen affizierend einwirkt. Dieses Mittelglied wird von der idealistischen Schule ebenso vernachlässigt, wie es übersehen wird, daß das "unbekannte Dritte" mit der psychischen Funktion in einer engeren Verwandtschaft steht als mit dem mechanischen Vorgang.

Die Summe der Mittelglieder nun, durch welche mein Gehirnwesen mit dem Bewußtsein aller möglichen Beobachter in Beziehung tritt, die Summe aller transzendent-kausalen Einwirkungen, welche es sowohl auf die Sinne der Beobachter als auf alle übrigen Wesen im Universum übt, nenne ich seine objektive Erscheinung. Erscheinung nenne ich sie, weil in ihr erst das Wesen aus seinem Ansichsein heraustritt, also sich manifestiert; objektive Erscheinung aber nenne ich sie im Gegensatz zu den subjektiven Erscheinungen, welche die Gehirnwesen anderer Beobachter produzieren, wenn sie von diesen Einwirkungen affiziert werden. Was also durch die subjektive Erscheinung im Bewußtsein nachgebildet oder repräsentiert wird, ist nicht sowohl das Wesen als solches, welches ja unräumlich und unzeitlich in Ruhe verharrt, sondern die Summe seiner Manifestationen, oder wie ich es nenne, die objektive Erscheinung. Darum ist die objektive Erscheinung das transzendente Korrelat des Wahrnehmungsobjekts, oder das Ding-ansich; nicht aber gilt dies vom Wesen selbst, welches in ruhender Einheit als Substanz verharrt, während es in einer Vielheit von objektiven Erscheinungen sich manifestiert. (10)

Die objektive Erscheinung ist die Erscheinung des Wesens, auch wenn kein wahrnehmendes Subjekt vorhanden ist, welches durch sie affiziert und zur Produktion einer subjektiven Erscheinung angeregt wird; sie ist schon dadurch Erscheinung des Wesens, daß sie auf andere objektive Erscheinungen einwirkt, auch wenn dieselben einer Subjektivität entbehren sollten. Wesen und objektive Erscheinung verhalten sich, oder gelangen zur Erscheinung, sobald andere Kräfte da sind, mit deren Äußerungen sie kollidieren können, gleichviel ob Jemand da ist, der dieses objektive Spiel der aneinander zur Erscheinung kommenden Kräfte subjektiv wahrnimmt oder nicht. Als eines, als abolutes Subjekt genommen, erscheint das Wesen dadurch, daß seine Totalfunktion sich in sich in eine Summe von Partialfunktionen gliedert, welche miteinander in Kollision sind. Es erscheinen also die Partialfunktionen des absoluten Wesen in einem objektiven Sinn aneinander, ohne daß sie deshalb auch schon dem Wesen ls solchem in einem subjektiven Sinn erscheinen.

Dies alles hat VAIHINGER gar nicht verstanden (Seite 37); er verdreht meinen Ausdruck "objektive Erscheinung" hartnäckig in den völlig widersinnigen Ausdruck: "objektiver Schein" und wundert sich dann über den Widersinn, den er mir aufbürdet (Seite 225). Schein ist eine Erscheinung, welche die Erscheinung eines Wesens nur zu sein scheint, ohne es wirklich zu sein; der Schein kann also seinem Begriff nach niemals objektiv sein, sondern nur aus dem Subjekt stammen. Erscheinung dagegen ist das Heraustreten des Wesens aus der reinen Wesenheit ins Werden, aus dem Übersein in das wirkliche Sein, oder aus dem metaphysischen Sein ins Dasein, also ein völlig objektiver Vorgang. Jenseits der objektiven Erscheinung ist kein reales Dasein mehr (wie VAIHINGER mir Seite 40 irrtümlich unterstellt), sondern nur Übersein oder Wesen; die Wirklichkeit liegt nur im Wirken, d. h. im objektiven Erscheinen. Realität und Phänomenalität in einem objektiven Sinn sind daher strikte Wechselbegriff und VAIHINGERs Tüfteln und Deuteln an der Realität meines transzendentalen Realismus (Seite 33, 39-40) ist ebenso verkehrt wie sein mir oktroyierter Musterbegriff des "objektiven Scheins".


8. Der Kritizismus als Philosophie
des Unbewußten und Psychismus.

Sagt nun VAIHINGER wirklich gar nichts aus über das Wesen? Ist es ihm ein völlig unbekanntes? Doch wohl nicht, denn er nennt es ja das "unbekannte Dritte". Ein Drittes wäre es aber nicht, wenn es mit dem Ersten oder Zweiten identisch wäre. Der Kritizismus fiele in den Materialismus zurück, wenn er das Dritte selbst als materiell setzt; er fiele in einen anthropomorphen Spiritualismus zurück, wenn er es als bewußt setzen würde. Wenn Materie und Bewußtsein Erscheinungen eines Dritten sein sollen, so muß das Dritte, sofern es noch nicht als Erscheinung, sondern als Wesen genommen wird, ein immaterielles Unbewußtes sein, oder der Kritizismus muuß einerseits Immaterialismus, andererseits Philosophie des Unbewußten dieses Resultat liegt in VAIHINGERs Worten, ich lege es nicht hinein. VAIHINGER kommt also genau auf meinen Standpunkt heraus, den er aus barem Mißverständnis bekämpft. Die Philosophie des Unbewußten ist die höhere Synthese des Materialismus und des anthropomorphen Spiritualismus.

Daß mir das Unbewußte als Wesen immateriell ist, gibt VAIHINGER keinen Grund, meinen Standpunkt als Spiritismus zu verhöhnen (Seite 85), da er mit dem seinigen in dieser Hinsicht identisch ist. Weit mehr Grund hätte ich, ihn als Spiritisten zu denunzieren; denn er leugnet ja die reale Materie und läßt nur einen subjektiven Schein derselben gelten, behauptet also, daß der geistige Prozeß ohne das Korrelat eines realen materiellen Prozesses vor sich geht. Meiner Ansicht nach kann das Unbewußte gar nicht aktuell sein, ohne sich eo ipso [schlechthin - wp] real zu materialisieren und kann das individuelle Bewußtsein nur resultieren aus einem realen materiellen Organismus und dessen mechanischen Prozessen; nach VAIHINGER dagegen besteht die Welt aus einer Anzahl von individuellen Bewußtseinen mit unbewußten psychischen Hintergründen, aus denen unter anderem für jedes dieser Bewußtseins auch der Schein eines materiellen Prozesses ausstrahlt. Nach mir verkehren die verschiedenen Bewußtseine durch die Vermittlung einer transzendentalen Kausalität einer einzigen, für alle gemeinsamen, objektiv-realen, materiellen Welt; nach VAIHINGER sind alle Vorstellungen der Bewußtseine über eine solche transzendentale Vermittlung untereinander nur subjektiver Schein ohne objektive Wahrheit, und es kann demnach unter den verschiedenen Bewußtseinen nur entweder gar keine, oder eine mystisch-magische direkte Beziehung bestehen. Ich denke doch, daß das Spiritismus von der klobigsten Sorte ist, während mein Standpunkt dem Spiritismus, d. h. dem Glauben an die Existenz reiner Geister, oder körperloser Bewußtseinsindividuen, so fern wie möglich steht. Es ist dabei ganz einflußlos, wenn VAIHINGER sich zu einer "Psychologie ohne Seele" bekennt (Seite 119); denn mag man über den substantiellen Träger der psychischen Funktionen denken wie man will, so kann doch kein Mensch bestreiten, daß das Leben eines individuellen Bewußtseins ein bewußter Individualgeist genannt werden darf und muß.

So wenig es der Frage, was ein geistiges Individuum seinem Wesen nach ist, präjudiziert, wenn wir die Summe der bewußten psychischen Funktionen, die zu einem Bewußtsein gehören, unter dem Kollektivnamen Geist zusammenfassen, so wenig greift es der metaphysischen Untersuchung des Problems, was die Seele ist, vor, wenn wir die Summe der unbewußten psychischen Funktionen, welche den Hintergrund eines Bewußtseins bilden, unter dem Kollektivnamen der unbewußten Psyche vereinigen. VAIHINGER erkennt an, daß unser Bewußtseinsinhalt durchweg aus unbewußten psychischen Prozessen resultiert, die sich nach bestimmten Gesetzen vollziehen (so z. B. für den Raum Seite 59-60); er erkennt damit an, daß die Summe dieser unbewußten psychischen Prozesse einerseits den bewußten psychischen Funktionen und andererseits der äußeren materiellen Erscheinungsreihe zugrunde liegt. Das beiden Reihen "zugrunde Liegende" aber ist ja das gesuchte "unbekannte Dritte", und es passen beide für letzteres ermittelten Merkmale: die Immaterialität und die Unbewußtheit, vollkommen auf diese unbewußten psychischen Prozesse. VAIHINGER wird also nicht umhin können, die Identität der unbewußten Psyche mit dem "unbekannten Dritten" einzuräumen, d. h. zuzugestehen, daß der Kritizismus eo ipso ein Psychismus ist, was ich immer behauptet habe, und was er bei mir so hartnäckig bekämpft.

Die unbewußten psychischen Funktionen müssen, um sowohl die äußere wie auch die innere Erscheinung hervorbringen zu können, dasjenige sein oder besitzen, was in sich in beiden offenbart, nämlich einerseits Aktivität, Energie, Kraft oder Wille und andererseits repräsentative Antizipation eines noch nicht Seienden, oder eine ideelle Prädetermination des Werdenden, oder Vorstellung. Mit diesen beiden Attributen ausgerüstet, sind sie mit allem versehen, um hier die gesetzmäßige Veränderung der Ortsbeziehung von Atomen, dort die höchsten Leistungen des Heroen oder des Genies hervorzubringen. Der Umstand, daß diese unbewußten psychischen Funktionen den bewußten psychischen Funktionen näher verwandt zu sein scheinen als den materiellen Vorgängen, muß uns als Bestätigung ihrer Identifizierung mit dem "unbekannten Dritten" dienen, da wir oben sehen, daß wir dieses Merkmal vom letzteren erwarten mußten.

Allerdings bleibt vorläufig der Unterschied zwischen VAIHINGER und mir bestehen, daß sein Psychismus individualistisch und subjektivistisch, der meinige universalistisch und absolut ist; dieser Unterschied entspringt daraus, daß nach VAIHINGER die Materie als subjektiver Schein für jedes Bewußtsein besonders von seiner unbewußten Psyche produziert wird, während nach mir die Materie als objektive Erscheinung für alle Bewußtseine gemeinsam von der Panpsyche produziert wird. Wenn VAIHINGER aber konsequenterweise gezwungen sein sollte, vom subjektiven Idealismus zum transzendentalen Realismus und damit von der Auffassung der Materie als subjektivem Schein zu derjenigen als objektiver Erscheinung fortzuschreiten, so ergibt sich der Fortgang vom individualistischen Psychismus zum Panpsychismus.


9. Die Realität der Gattung

Daß Vaihinger wirklich zu diesem Fortgang gezwungen ist, ist schon durch die ganze Erörterung über das "höchstwahrscheinliche" unbekannte Dritte erwiesen: denn diese ganze Annahme ist, wie gezeigt, nur unter der Voraussetzung des transzendentalen Realismus zulässig, beim Festhalten am subjektiven Idealismus oder am Skeptizismus dagegen unmöglich. Aber der Nachweis, daß VAIHINGER im Grunde seines Herzens ebenso gut wie ich transzendentaler Realist ist, ruht nicht etwa bloß auf diesem einen Argument, daß das unbekannte Dritte etwas Transzendentes und doch kein negativer Grenzbegriff ist, sondern ein ganz positive Hypothese zur "Erklärung" der gesamten Wirklichkeit (inneren und äußeren Erscheinung). Noch viel weiter im transzendenten Realismus geht sein Zugeständnis, daß der Philosophierende doch nur ein einzelnes Exemplar der Gattung Mensch ist, von der es neben und außer ihm (also nicht bloß in seinem Bewußtsein) noch viele andere Exemplare gibt. Dieses Zugeständnis ist enthalten erstens in der Erklärung, daß die sogenannte Wirklichkeit, d. h. die äußere Welt der Erscheinung, zwar nur subjektiver Schein, aber doch nicht bloß ein individueller, sondern ein genereller Schein, eine Erscheinung für die Gattung, ein idolum tribus [Idol des Stammes - wp] (Seite 25) und zweitens in der geschichtsphilosophischen Behauptung,
    "daß ein Rückschritt der Kultur immer dann vorhanden ist, wenn der Egoismus und der atomistische Individualismus über den Gemeinsinn siegt",

daß also der eigentliche Strom des Fortschritts, auf für die Gegenwart, "allein in der Richtung des Gemeinsinns liegt." (Seite 188).

Soll Gemeinsinn möglich sein, so muß er sich auf andere Individuen derselben Gattung beziehen, und eine Wechselwirkung zwischen denselben möglich sein; soll die subjektive Erscheinungswelt nicht bloß ein individueller, sondern ein genereller Schein für die ganze Gattung Mensch sein, so mußt die Gattung mehr Individuen als das eine umfassen, welches gerade philosophiert. Diese Individuen sollen zwar als materielle Erscheinungen bloßer Schein (wenngleich genereller Schein) sein, aber als geistige Individuen sollen sie eine Existenz an und für sich haben, die nicht bedingt ist davon, ob sie von einem anderen Individuum ihrer Gattung vorgestellt werden, und doch soll diese Existenz von mir vorgestellt werden können, denn sonst könnte ich ja nicht behaupten, Exemplar einer Gattung zu sein. Mit anderen Worten: die übrigen Individuen meiner Gattung sind etwas außerhalb der Sphäre meines Bewußtseins Gelegenes, nicht meinem Bewußtsein Immanentes, also für mich erkenntnistheoretisch Transzendentes oder Transsubjektives, d. h. Dinge-ansich.

Das ganze geistige Individuum meines Freundes in seiner Totalität ist für mich das Ding-ansich oder positive X. Ich unterscheide aber an demselben nach Analogie meiner selbst drei Sphären: erstens die Sphäre seines Bewußtseins, welche sowohl die bewußt-psychischen Funktionen als seine subjektive Erscheinungswelt umfaßt, zweitens die Sphäre seiner unbewußten psychischen Funktionen, und drittens den Träger all dieser bewußten und unbewußten Funktionen, dasjenige, was VAIHINGER in sich selbst als das dem X des Dings-ansich subjektiv korrespondieren Y, oder mit LANGE als die physisch-psychische Organisation bezeichnet (Seite 57). So wird das, was mir an mir Y ist, meinem Freund zum X; wenn aber dem letzteren dieses X etwas Positives ist, so kann mir das Y auch nicht mehr bloß ein negativer Grenzbegriff sein. Wenn meine Vorstellung von der geistigen Persönlichkeit meines Freundes eine transsubjektive Bedeutung, eine transzendente Wahrheit hat, so ist eben die Behauptung VAIHINGERs, daß wir unseren Vorstellungen unter keiner Bedingung eine transsubjektive Bedeutung beimessen dürfen, weil wir ja aus der Sphäre der Subjektivität auf keine Weise hinauskönnen, tatsächlich aufgegeben und desavouiert (Seite 56), und für das gesamte Gebiet der Erkenntnis menschlicher geistiger Persönlichkeiten der transzendentale Realismus in optima forma installiert.

Will er dies nicht, so darf er auch nicht von einem generellen Schein reden, sondern muß dabei stehen bleiben, daß die Welt ein rein individueller Schein ist, in welchem ja immerhin neben so vielen anderen Jllusionen auch die Jllusion ihren Platz finden mag, daß es andere Menschen neben uns gibt, welche den gleichen Gesetzen der Vorstellungsproduktion unterworfen sind. Es bleibt ja dem Skeptizismus auch in meiner Philosophie eingeräumt, daß dieser Standpunkt des Solipsismus, den selbst SCHOPENHAUER, der subjektive Idealist, ins Tollhaus verwiesen hat, möglich ist; ich verlange nur von VAIHINGER das Zugeständnis, daß er höchstunwahrscheinlich ist, und daß dagegen die reale Existenz anderer Menschen nicht bloß eine schätzbare und praktisch wertvolle Dichtung meiner Phantasie, sondern aus dem Gesichtspunkt des Kritizismus höchstwahrscheinlich ist.

Gibt er das zu, so gibt er den transzendentalen Realismus in seinem ganzen Umfang zu, wie ich sogleich zeigen werden; gibt er das nicht zu, so zerreißt er den letzten dünnen Faden, der seinen Skeptizismus mit der Vernunft verbindet.

Da die Zahl der Menschen auf der Erde auf 1,3 Milliarden geschätzt wird (1877), so haben wir mit der Anerkennung der Existenz der lebenden Mitmenschen schon eine so erkleckliche Anzahl positiver Dinge-ansich, daß wir die Zahl der Gestorbenen nicht erst heranzuziehen brauchen. Ob 1,3 Milliarden oder Quadrillionen "Dinge-ansich" zugestanden werden, ist am Ende für die Wahrheit des transzendentalen gleichgültig; die transzendental Gültigkeit der Kategorien der Realität und Vielheit sind damit ohnehin schon anerkannt.

Aber es scheint logisch unzulässig, den Buschmann als positives Ding-ansich anzuerkennen und dem Gorilla diese Ehre zu verweigern, - das neugeborene Kind als etwas Ansichseiendes zu achten, und den Fötus als bloßen negativen Grenzbegriff für die Vorstellungen eines Fötus gelten zu lassen, welche die Schwangere oder ihr Hausarzt von demselben haben. Freilich der materielle Organismus des Gorilla kann keine höheren Ansprüche erheben als der des Buschmanns; beide sollen also vorläufig nur als subjektiver Schein in Bewußtseinen existieren. Aber wenn der Buschmann als geistiges Individuum und als individuelle unbewußte Psyche eine von jedem Vorgestelltwerden unabhängige Existenz hat, wie sollte dasselbe nicht auch von einem Gorilla behauptet werden müssen? Und wenn der Säugling trotz seiner geringen Entfaltung bewußter psychischer Funktionen doch schon wegen seiner unbewußten Psyche als Persönlichkeit anerkannt wird, wie dürfte man dem Fötus, bei dem die bewußten psychischen Funktionen auf einen Minimum zusammenschrumpfen, die gleiche Anerkennung versagen? Wenn der blinde Bettler seinen letzten treuen Freund und Helfer, seinen Hund, nicht mehr als ein positives Ding-ansich achten soll, wie soll er es dann gegenüber einem Fremden, der als subjektive Erscheinung bei ihm vorbei geht, ohne sich seiner Not zu erbarmen?

Soll es nur eine real existierende Gattung in der Welt geben, den Menschen, und alle anderen Gattungen mit all den von ihnen umfaßten Individuen nur subjektiver Schein für jene erstere sein? VAIHINGER steht hier vor der Entscheidung über die transzendentale Realität des Tierreichs: verneint er dieselbe, so behauptet er zwischen Mensch und Tier eine vollständige Heterogenität, wie sie zwischen Sein und Schein besteht, und schlägt allen Anschauungen der modernen Naturwissenschaft, der Deszendenztheorie [Abstammungs- | wp] und der vergleichenden Psychologie ins Gesicht; bejaht er dieselbe, so vollzieht er damit den großen Schritt von FICHTEs Wissenschaftslehre zu SCHELLINGs Naturphilosophie, und erkennt die Wahrheit des transzendenten Realismus für die gesamte beseelte und belebte Natur an. Denn wenn die höheren Tiere positive Dinge-ansich sind, so sind es auch die niederen; eine feste Grenze ist in der Natur nicht zu ziehen, und die Protisten [Einzeller - wp] und Pflanzen fallen mit unter den Gesichtspunkt einer unbewußten Psyche, die (wie beim Fötus) in höherem oder geringerem Maße bewußter psychischer Aktionen fähig ist.


10. Die Wechselwirkung zwischen
geistigen Individuen.

Mit all dem wäre aber nichts weniger als dem Kritizismus Genüge geschehen; ein transzendentaler Realismus, zu dem man sich nur deshalb bekennt, um sich nicht für übergeschnappt halten zu müssen, wäre doch ein bloßer Dogmatismus. Der Kritizismus verlangt zu wissen, wie ich dazu komme, zu den verschiedenen Vorstellungsobjekten von Menschen, Affen, Hunden usw., welche sich in der von mir produzierten subjektiven Erscheinungswelt vorfinden, transzendente Korrelate zu supponieren, welche als real existierende Menschen, Affen, Hund usw. wirklich die Summe geistiger und psychischer Eigenschaften besitzen, welche ich ihnen transzendental zuschreibe.

Diese Übereinstimmung zwischen meinen Vorstellungen und den transzendenten Korrelaten ist nun entweder eine von innen oder eine von außen bestimmte und hervorgebrachte. Im ersteren Fall gehört die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Individuen zum subjektiven Schein, dem keine transzendente Realität entspricht, während sie im letzteren Fall die subjektive Erscheinung einer transzendenten Wechselwirkung der realen Individuen ist. Im ersteren Fall würde also die Übereinstimmung zwischen meiner Vorstellung von der geistigen Persönlichkeit meines Freundes und dieser selbst, sowie die Übereinstimmung zwischen den Veränderungen in den subjektiven Erscheinungswelten mehrerer Zeugen desselben realen Vorgangs nur Folgen einer prästabilierten [vorgefertigten - wp] Harmonie sein, im letzteren Fall dagegen Folgen einer transzendenten Kausalität. Gegen die prästabilierte Harmonie (11) habe ich hier nur das eine zu bemerken, daß, wenn dieselbe bestehen würde, die Existenz der von mir vorgestellten Individuen auf mich und meinen Vorstellungsablauf ohne jeden Einfluß wäre, und mich nicht anders dastehen ließe als im Solipsismus. Wäre selbst die prästabilierte Harmonie wahr, so wäre sie uns doch unerkennbar, und wir müßten auch dann beim Solipsismus, als der strengeren Form des subjektiven Idealismus stehen bleiben. Deshalb gibt es nur in dem einzigen Fall eine Möglichkeit zur Überwindung des reinen Subjektivismus, das ist, wenn unsere Vorstellung von der Wechselwirkung der Individuen ein subjektives Abbild einer realen transzendentalen Wechselwirkung zwischen denselben ist.

Wenn z. B. VAIHINGER meine Schriften liest und ich die seinigen, so sind wir durch unsere Organisation genötigt, anzunehmen, daß sich dabei eine Wechselwirkung zwischen unseren Geistern vollzieht. Wäre aber diese Vorstellung bloß ein subjektiver Schein, so müßte meine Vorstellung von der philosophischen Leistung VAIHINGERs ohne jede direkte oder indirekte Relation zwischen uns zustande gekommen sein, etwa wie ich mir im Traum einbilde, einen philosophischen Entwurf von ihm zu hören. Dann ist es aber für mich völlig indifferent, ob eine Persönlichkeit "Vaihinger" wirklichkeit existiert oder nicht, und ob dieselbe auf gleiche Weise meine Gedanken produzier, ohne von mir tatsächlich beeinflußt zu sein. Wir gehen dann jeder unseren Weg, ohne des andern zu bedürfen, da jeder selbständig die Gedanken des Andern in sich und aus sich produziert; wir sind also ein Jeder genau so gestellt, als ob Jeder von uns nur allein existiert, und sind deshalb auch außerstande, aus unseren Vorstellungen übereinander darauf zu schließen, ob der andere nun wirklich existiert oder nicht. Das Gleiche würde aber für den Fall gelten, daß wir zwar eine transzendente Einwirkung aufeinander üben, aber eine direkte magisch-mystische Einwirkung von Seele zu Seele, welche sich unserem Bewußtsein gänzlich entzieht, und mit der Art von Vermittlung, die unsere subjektive Erscheinungswelt uns vorspiegelt (Schreiben und Lesen von Schriften), weder Ähnlichkeit noch Beziehung hätte. Auch in diesem Fall würde die vorgestellte Vermittlung der Wechselwirkung ein wahrheitsloser subjektiver Schein sein, und da die reale transzendentale Vermittlung uns völlig unbewußt bliebe, so würde auch in diesem Fall uns jede kritische Berechtigung fehlen, auf die Existenz des Andern zu schließen.

Es gibt also nur einen Fall, in welchem es nicht unkritisch ist, die Existenz anderer Personen zu behaupten, das ist der, wenn es kritisch gerechtfertigt ist, unsere Vorstellung von der zwischen den Personen bestehenden Wechselwirkung als subjektives Abbild der zwischen ihnen wirklich bestehenden transzendenten Vermittlung anzusehen. Nun sind wir aber durch unsere geistige Organisation genötigt, alle Wechselwirkung zwischen Personen als eine durch materielle mechanische Vorgänge vermittelte zu denken; wenn es also unkritisch ist, zu diesen materiellen Bindegliedern in unserer subjektiven Erscheinungswelt transzendente Korrelate zu supponieren, so ist es auch unkritisch, die Existenz anderer Personen anzunehmen. Der Geist übt alle seine Wirkungen auf andere Geister durch den Körper, ist es nun unkritisch, zu meiner Vorstellung von VAIHINGERs Körper ein entsprechendes positives Ding-ansich und eine transzendente Kausalität dieses Dings-ansich auf das Ding-ansich meines Körpers zu supponieren, so ist es erst recht unkritisch, zu meiner Vorstellung von VAIHINGERs geistiger Persönlichkeit ein entsprechendes positives Ding-ansich und eine Einwirkung desselben auf meine Gedanken anzunehmen. Diesen Fehler begeht aber VAIHINGER; er will zwar ans andere Ufer gelangen, aber bricht die einzige Brücke ab, die dahin führt, und sein transzendentaler Realismus ist deshalb ein dogmatischer, ein Rückfall in ein positives Dogma.

Nun hindert ihn aber gar nichts daran, denselben mit eine Schlag zu einem kritisch-befestigten Besitz zu machen, als das Mißverständnis meines Begriffs der objektiven Erscheinung, und die Einsicht, daß die absolut getrennten subjektiven Erscheinungswelten verschiedener Bewußtseins nur durch die reale Existenz der einen, objektiven Erscheinungswelt miteinander korrespondieren können, welche zugleich die Welt der Dinge-ansich für alle unsere Vorstellungsobjekte materieller Art ist. Metaphysisch gesprochen haben wir von den Protistenseelen und den Zellenseelen, die in den Pflanzen schon gruppenweise ein äußeres Individuum konstituieren, zu jener einfachsten Gestalt hinabzusteigen, in welcher die unbewußte Psyche im konstituierenden Element der Materie, im Atom, sich darstellt. Das Ding-ansich der subjektiven Erscheinung eines materiellen Dings ist also ein Gruppe von Atomseelen, welche gesetzmäßige räumliche Kraftäußerungen von sich gibt, und dadurch auch die unseren Organismus, speziell unsere Sinnesorgane konstituierenden Gruppen von Atomseelen mit transzendentaler Kausalität affiziert.

Ist meine subjektive Erscheinung von VAIHINGERs Buch, dessen Lektüre mich zu dieser Auseinandersetzung veranlaßt, bloß subjektiver Schein ohne ein mich affizierendes Ding-ansich dahinter, dann ist auch meine ganze Vorstellung von VAIHINGER ein bloßer subjektiver Schein ohne ein Ding-ansich dahinter. Verlangt VAIHINGER, daß ich ihm seine eigene Existenz zugestehe, so muß er mir vorher die transzendente Realität des von mir gelesenen Exemplars seines Buches einräumen. Der transzendentale Realismus in Bezug auf geistige Persönlichkeiten wird erst dadurch dem Dogmatismus entrückt, daß seine Wahrheit auch für materielle Dinge anerkannt wird. An dieser letzteren Anerkennung aber wird derjenige durch nichts mehr gehindert, der mit dem unbegründeten negativen Dogma von der "bloß" subjektiven Gültigkeit der Anschauungs- und Denkformen doch einmal gebrochen hat, indem er die Kategorien auf transzendente Individuen seiner Gattung anwendet.

Auf halbem Weg stehen zu bleiben, nachdem man mit den Prinzipien gebrochen hat, ist unmöglich; man muß entweder wieder umkehren (d. h. zum Solipsismus zurückgehen) oder vorwärts schreiten (zur allgemeinen Gültigkeit des transzendenten Realismus, die erst dadurch eine kritisch begründete wird). Der subjektive Idealismus wie der Skeptizismus haben sich somit in jeder Hinsicht als erkenntnistheoretische Durchgangsstufen erwiesen, bei denen sich zu beruhigen nur der Inkonsequenz oder dem energielosen Denken möglich ist; die konsequente logische Penetration führt überall über diese Halbheiten und schiefen Einseitigkeiten hinaus und findet ihren endgültigen Abschluß allein im transzendentalen Realismus, der sich eben damit als das erkenntnistheoretische Resultat des Kritizismus enthüllt. Nicht unsere Organisation ist eine widerspruchsvolle, sondern die Standpunkte des subjektiven Idealismus und Skeptizismus beruhen auf verkehrten, in sich widerspruchsvollen Voraussetzungen, und nur darum verstrickt sich ein aus diesen Gesichtspunkten konstruierte Weltanschauung in lauter Widersprüche, die im transzendentalen Realismus und seinem widerspruchslosen Weltbild verschwinden.

Die Hinneigung FICHTEs, SCHELLINGs und HEGELs zur dialektischen Methode, d. h. zu dem Versuch, die Widersprüche zwar anzuerkennen, aber logisch zu überwinden, war vielleicht mitbedingt durch ihre erkenntnistheoretische Unklarheit (ihr nominelles Festhängen am erkenntnistheoretischen Idealismus, den sie tatsächlich durch ihre Metaphysik längst überwunden hatten); es spricht zumindest das dafür, daß SCHELLING in seiner letzten Periode, als er sich offen und entschieden vom transzendentalen Idealismus losgesagt hat, auch der dialektischen Methode den Rücken kehrte. Sollte es VAIHINGERs Skeptizismus gelingen, für seine Lehre von der durchweg widerspruchsvollen Beschaffenheit unserer Organisation und des aus ihr hervorgehenden Weltbildes Anhänger zu gewinnen, so würde dies geschichtlich nichts weiter als eine Vorbereitung für einen neuen Aufschwung von HEGELs Dialektik darstellen; denn auch das ist eine Notwendigkeit, die aus unserer geistigen Organisation entspringt, daß es uns unmöglich ist, uns beim Widerspruch zu beruhigen und daß wir nicht aufhören können, nach seiner Überwindung zu trachten. Sträubt sich der Eigensinn oder das Vorurteil gegen die wahrhafte Beseitigung der vermeintlichen Widersprüche durch die Korrektur der ihnen zugrunde liegenden irrtümlichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, so klammert er sich an eine illusorische Überwindung durch logische Synthesen, wie HEGELs Dialektik sie lehrt.
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, Leipzig 1914
    Anmerkungen
    10) Es ist also ein Irrtum Vaihingers, wenn er mir hinter der subjektiven und objektiven Erscheinungsreihe noch eine dritte Reihe, "eine wahre Wesensreihe im metaphysischen Sein" zuschreibt (Seite 36).
    11) Dieser Begriff umfaßt hier sowohl eine von Ewigkeit her prästabilierte Ordnung (Leibniz), als auch eine in jedem Augenblick erst von Gott hergestellte (Malebranche und Berkeley).