p-4von EhrenfelsErnst MallyHans Cornelius    
 
THEODOR LIPPS
Zu den "Gestaltqualitäten"

"Cornelius Erklärung ist, wie wir sie auch betrachten mögen, ein Circulus vitiosus."

I. Es sei mir hier eine kurze Bemerkung verstattet zu CORNELIUS' Aufsatz über "Gestaltqualitäten" im Band XXII, Heft 2 dieser Zeitschrift. CORNELIUS erklärt zunächst, die Aufmerksamkeit auf die Tiefe eines Tones  A  mit Abstraktion von den anderen Merkmalen eines Tones, sei nichts anderes, als die Erkenntnis seiner Ähnlichkeit mit den Inhalten einer Ähnlichkeitsgruppe. Gemeint ist in diesem speziellen Fall zweifellos die Ähnlichkeitsgruppe, die aus gleich oder ähnlich tiefen, im übrigen aber beliebig beschaffenen Tönen besteht. Ich frage: wie  entsteht  für uns diese Ähnlichkeitsgruppe. Wie komme ich dazu, Töne lediglich mit Rücksicht auf die Tiefe zu einer Gruppe zusammen zu ordnen? Die Antwort hierauf liegt in der Frage. Ich komme dazu, indem ich lediglich auf die Tiefe Rücksicht nehme, d. h. indem ich bei der Zusammenordnung lediglich auf die Tiefe achte oder lediglich auf die Tiefe meine Aufmerksamkeit richte. Jene Erklärung dreht sich also im Kreis. Weiter: Ich erkenne, so sagt CORNELIUS, die Ähnlichkeit des  A  mit der Gruppe. Aber das  A  ist den Gliedern der Gruppe nicht nur ähnlich, sondern auch, nämlich hinsichtlich der Stärke und Klangfarbe,  unähnlich.  Warum nun entsteht mir, indem ich  A  mit der Gruppe zusammenhalte, ein Ähnlichkeits- und nicht ein Unähnlichkeitsbewußtsein? Gewiß entstände mir ein Unähnlichkeitsbewußtsein, wenn ich auf die Stärke und Klangfarbe meine Aufmerksamkeit richtete. Ebenso gewiß entsteht mir ein Ähnlichkeitsbewußtsein - und nur ein Unähnlichkeitsbewußtsein - wenn ich lediglich auf die Tiefe meine Aufmerksamkeit richte. Hier haben wir denselben Zirkel noch einmal.

Weiter: In der Ähnlichkeitsgruppe werden doch auch Töne vorkommen, die dem  A  nicht nur hinsichtlich der Tiefe, sondern  auch  in  anderer  Hinsicht, etwa hinsichtlich der Klangfarbe ähnlich sind. Erkenne ich auch diese Ähnlichkeit? Dann heißt dies nach CORNELIUS, ich  achte  auch auf die  Klangfarbe  von  A.  Der Voraussetzung nach achte ich aber nur auf die Tiefe des  A.  Ich erkenne also die Ähnlichkeit der Klangfarben nicht. Und warum? Weil ich bei meinem Urteilen über Ähnlichkeit lediglich die Tiefe in Betracht ziehe, oder lediglich darauf meine Aufmerksamkeit richte. Da haben wir den gleichen Zirkel zum dritten Mal.

Kurz, CORNELIUS Erklärung ist, wie wir sie auch betrachten mögen, ein Circulus vitiosus. Ich muß leider bemerken, daß ich einen ähnlichen Circulus vituosus auch sonst in CORNELIUS' "Psychologie als Erfahrungswissenschaft" und zwar mehrfach begegne. Das Achten auf abstrakte Merkmale oder die Tatsache der Abstraktion läßt sich eben auf nichts sonst zurückführen. Das Achten ist kein Ähnlichkeitsbewußtsein und bedarf  erfahrungsgemäß  keines solchen.

II. Nun die "Gestaltqualitäten". Zweifellos besteht eine Ähnlichkeit zwischen zwei "gleichen" Melodien, auch wenn sie keinen Ton gemein haben. Dies heißt zunächst: Ich habe beim Vergleich der beiden Melodien ein Ähnlichkeitsbewußtsein. Um dieses Ähnlichkeitsbewußtsein willen nun statuiert CORNELIUS eine gemeinsame "Gestaltqualität" der Melodien als "besondere Merkmale" dieser "Komplexe". CORNELIUS meint damit, wenn ich recht verstehe, ebenso wie EHRENFELS, Merkmale, die am Gesamt bewußtseinsinhalt,  den ich Melodie nenne, als  solchem  vorgefunden werden. Aberdaß das Ähnlichkeitsbewußtsein auf Übereinstimmung in den  Bewußtseinsinhalten  beruhen müsse, dies ist lediglich ein Vorurteil. Ich wage die gegenteilige Behauptung: Das Ähnlichkeitsbewußtsein beruht  niemals  auf Übereinstimmung von Bewußtseinsinhalten, sondern letzten Endes immer auf Übereinstimmung der den Bewußtseinsinhalten unmmittelbar zugrunde liegenden "psychischen Vorgängen" oder Erregungszuständen oder der Beziehungen zwischen solchen. Diese Übereinstimmung  kann  gewiß, aber sie  muß  nicht eine Übereinstimmung in den zugehörigen Bewußtseinsinhalten zum Bewußtseinskorrelat haben. "Gestaltqualitäten", ich meine, das was man so nennt, sind, sofern darunter nicht zeitliche Bestimmungen oder räumliche Formen gemeint sind, immer Weisen der psychischen Beziehung zwischen physischen Vorgängen, die als solche im Bewußtsein nicht gegeben sind.

Die Eigenart dieser Beziehungen hat nun freilich ihr Bewußtsseinssymptom in  Gefühlen.  Soweit also die - nicht räumlichen oder zeitlichen - "Gestaltqualitäten" für das Bewußtsein vorhanden sind, genauer, soweit sie ihr Dasein im Bewußtsein ankündigen, sind sie Gefühle. CORNELIUS meint, er könne einen bestimmten Lust- und Unlustcharakter an Gestaltqualitäten durchaus nicht überall entdecken. Aber es ist wiederum lediglich ein Vorurteil, daß Gefühle einen Lust- oder Unlustcharakter haben müssen oder daß sie gar im Gegensatz von Lust und Unlust sich erschöpfen. Das Ähnlichkeitsbewußtsein ist eine der vielen Gegeninstanzen. Das Erlebnis, das ich so nenne, besteht in einer Weise, wie ich beim Vergleich zweier Objekte, genauer beim Sicheinandermessen zweier psychischer Vorgänge mich affiziert fühlte.

Umgekehrt meint CORNELIUS, die Gefühle seien Gestaltqualitäten. Aber das sind sie eben  nicht.  Die "Gestaltqualität" der Melodie meint eine Qualtität oder ein Merkmal der Melodie. Die Lust aber ist nicht eine Qualität der Melodie oder irgendeines gegenständlichen Bewußtseinsinhaltes, sondern eine Qualität  meiner,  eine Ichqualität. Ich fühle jederzeit  mich  und niemals eine Melodie, lustgestimmt, sowie ich jederzeit nur mich und niemals eine Melodie strebend, hoffend, fürchtend, bejahend, verneinend, überrascht, enttäuscht etc. fühle. Es gibt aber gar keinen fundamentaleren Gegensatz als den zwischen "mir" und den gegenständlichen Bewußtseinsinhalten.

Die "Gestaltqualitäten" haben einen guten Sinn. So aber, wie CORNELIUS sie verwendet, sind sie ein Wort zur Verhüllung der Tatsachen und Probleme.
LITERATUR - Theodor Lipps, Zu den "Gestaltqualitäten", Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22, Leipzig 1903