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Die phänomenale Sphäre [Eine Studie zur phänomenologischen Betrachtungsweise] [2/2]
V. Erinnerung und "Erinnerungsbedeutung" Wir betrachten zuerst den Fall einer Erinnerung: und das, woran wir uns erinnern, soll irgendetwas von dem sein, was HUSSERL ein reelles Bestandstück des Bewußtseins nennt, also etwa eine Tonempfindung. Es kommt dabei für die folgende Betrachtung nicht im Mindesten darauf an, was für ein psychologischer Standpunkt hier des Näheren eingenommen wird: Es ist gleichgültig , ob man mit HUSSERL das bloße "Präsentsein eines Sinnesinhaltes in der Erlebniskomplexion" (18) eine Empfindung nennt oder mit BRENTANO den Akt des Empfinden (das Hören eines Tons) vom empfindenden Inhalt (dem gehörten Ton) trennt oder ob man endlich mit WUNDT und anderen alle derartigen Scheidungen für bloße durch die Tatsachen keineswegs geforderten Konstruktionen erklärt. Man nehme nur das heraus, was man von seinem jeweiligen Standpunkt aus in möglichst typischem Sinn einen rein psychischen Vorgang nennen muß, mag man es nun näher als Akt, als Erlebnis oder schlechthin als Bewußtseinsinhalt bezeichnen. Es ist sogar gleichgültig, ob man statt der Empfindung ein Gefühl wählt oder etwa auch den psychischen Vorgang des Urteilens oder Beachtens oder sonst etwas ähnliches. Ja, noch mehr: wer da glaubt, es sei eine Erinnerung an dgl. nicht direkt, sondern nur auf dem Umweg über einen erscheinenden Inhalt möglich, der mag auch einen solchen wählren: es bedeutet auch das keine allzu wesentliche Störung unserer Untersuchung. Bleiben wir nun der Einfachheit halber bei unserer Tonempfindung, die also nicht direkt, sondern als erinnerte Tonempfindung gegeben ist. Dann ist nichts so zweifellos, als daß die Tatsache des Gegebenseins im Erinnerungsakt nichts für die Wirklichkeit der erinnerten Empfindung beweist. Es gibt bekanntlich so etwas wie Erinnerungstäuschungen. Das heißt: trotzdem es im Wesen der Erinnerung zu liegen scheint, auf wirklich Erlebtes (als Echtreales) zu gehen, kann es gelegentlich Erinnerungen geben die - keine Erinnerungen sind, denen es also ähnlich geht wie den unechten Diamanten und falschen Tatsachen. Logisch macht das, sobald man den Unterschied attributiver und modifizierender Rede berücksichtigt, gar keine Schwierigkeiten. Gleichwohl muß man zugestehen, daß eine solche Fehlerinnerung rein isoliert genommen ohne den Vergleich mit anderen Erinnerungen sich in nichts von einer echten Erinnerung unterscheidet. Es bedarf eben auch hier wie bei allen Wirklichkeitsfeststellungen erst des empirisch-induktiven Verfahrens. Oder: das jeweils Erinnerte wird zwar so, wie es uns durch den betreffenden Erinnerungsakt gegeben ist, für wirklich gehalten, aber keineswegs besteh ein Wesenszusammenhang zwischen dem, wodurch sich dieses Erinnerte sonst noch bestimmt oder charakterisiert, und seiner Wirklichkeit. Also: an der in der Erinnerung gegebenen Tonempfindung (bzw. auch ihrem "Inhalt") kann ich allerlei Feststellungen machen, deren Evidenz unbezweifelbar ist, z. B. daß die Höhe des so erinnerten Tones zugleich eine gewisse Intensität involviert und dgl. mehr: Feststellungen, die im Übrigen ganz den Ideenrelationen HUMEs oder den vérités de raison [Vernunftwahrheiten - wp] des LEIBNIZ entsprechen. Es schließt - mit anderen Worten - jeder in der Erinnerung adäquat und in voller Anschaulichkeit gegebene Gegenstand eben einfach durch dieses sein Gegebensein eine Fülle von Sachverhalten in sich ein, die uns lediglich aufgrund dieses Gegebenseins auf irgendeine Weise (19) evident gemacht zu werden vermag. Eines aber schließt nun das so gegebene trotz seiner Adäquation ganz gewiß nicht ein: daß es zugleich auch wirklich (echt-real) ist. Ähnlich verhält es sich ja etwa auch mit einer in der Erinnerung gegebenen geometrischen Figur: auch hier kann ich Tausende von evidenten Festellungen machen, die für diese und nur für diese Figur Geltung haben, nur eben wieder darüber, ob uns die Erinnerung als solche nicht täuscht, ob also die nunmehr in der Erinnerung gegebene Figur auch die wirkliche war, kann ich nicht mit Sicherheit aussagen - wobei wir von den möglicherweise schon in den vorangegangenen Wahrnehmungen liegenden Täuschungen absehen. Vielleicht zeigte die Erinnerung mit aller wünschenswerten Bestimmtheit und Anschaulichkeit ein reguläres Sechseck, während die als wirklich wahrgenommene Figur ein Fünfeck war. Genauso können wir auch von einem in der Erinnerung uns vorschwebenden früheren Erlebnis trotz genauester anschaulicher Bestimmtheit und Klarheit nie mit Evidenz feststellen, ob es auch in der Tat ein wirkliches früheres Erlebnis war und demnach in der objektiven Zeit seine Stelle hatte, sondern müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß es vielleicht einmal für uns auf den Rang einer bloßen Fiktion herabsinken wird. Das sollte der Satz besagen, daß kein Wesenszusammenhang besteht zwischen den sonstigen Bestimmtheiten eines erinnerten Etwas und seiner Wirklichkeit. Selbstverständlich ist hierbei das erinnerte Etwas und speziell das erinnerte Erlebnis nicht etwa das sogenannte "Gedächtnisbild". Ich erinnere mich ja ganz gewiß nicht an das Gedächtnisbild, sondern an die Tonempfindung selbst. Und das ist auch dann nicht der Fall, wenn ich mich getäuscht habe: auch hier war ich auf eine Empfindung innerlich gerichtet, wenn auch auf eine Empfindung, der es an echter Realität fehlte: ob ich mich heute oder gestern oder sonst wann auf sie richte, immer ist die eine Empfindung, die gemeint ist, während von den entsprechenden Gedächtnisbildern natürlich beliebig viele vorhanden sein können. Das führt sofort auf etwas sehr Wichtiges. Zunächst wissen wir natürlich, wie bedenklich und fragwürdig überhaupt der Ausdruck "Gedächtnisbilder" ist. Vor allem erklärt er nichts: er ist selbst nur ein Bild und der Gefahr aller Bilder, die Probleme zu verschleiern, in hohem Maß ausgesetzt. Das Problem aber ist dieses: wie kommt es, daß etwas Vergangenes - speziell etwas früher Erlebtes - also jedenfalls nicht mehr Seiendes, trotzdem in gewisser und ganz eigenartiger Weise noch für ein erlebendes Bewußtsein vorhanden sein kann, so daß es möglich wird, darauf gewissermaßen hinzublicken und es sich (was häufig übersehen wird) unbeschadet seines Charakters als eines Vergangenen und näher dieses bestimmten Vergangenen zu "vergegenwärtigen"? Ein Problem allerdings liegt hier vielleicht nur der Formulierung nach vor: in Wahrheit wird es sich um eine letzte nicht weiter reduzierbare Tatsache handeln: eben die Tatsachen der Erinnerung. Allerdings nicht nur der Erinerung. Man beachte: ein tatsächlich nicht Vorhandenes "erscheint" gleichwohl vorhanden, ein nicht Gegenwärtiges ist gleichwohl als ein in gewissem Sinn gegenwärtig gewordenes "gegeben" - in einer ganz und gar eigenartigen, nicht beschreibbaren, sondern eben nur erlebbaren Weise. Diese Weise des Gegebenseins kommt offenbar nicht bloß dem Erinnerten, sondern jedwedem Vorgestellten (wir denken dabei zuerst an die sogenannten anschaulichen Vorstellungen) überhaupt zu: auch der gestiefelte kater, den ich jetzt vorstelle, ist ein in Wahrheit Nichtvorhandenes, das aber in jener eigentümlichen Art dennoch gleichsam vorhanden ist oder bewußtseinsmäßig vorhanden zu sein scheint. Dies nun und nichts anderes ist es, was die Rede von den Bildern (den Phantasie-, den Gedächtnis-, den Bewußtseinsbildern überhaupt) nicht erklären, sondern eben durch ein Bild bezeichnen will. Und man kann sie sich so verstanden recht gut gefallen lassen. Aber auch nur dann. Der "Gedächtnisbilder" unserer Tonempfindung sind - so sagte ich vorhin - beliebig viele. Aber sie sind gleich. Und zwar natürlich sofern sie alle dasselbe "darstellen". Das ihnen allen Gemeinsame ist der dargestellte Gegenstand. Doch diese Ausdrucksweise verschleiert das Wichtigste. Die Gemeinsamkeit des Dargestellten ist ja keine reale: es sist nicht als reelles Bestandstück in ihnen enthalten, sondern gemeinsam ist lediglich ein ideelles Moment, gemeinsam ist all den vielen einzelnen Gedächtnisbildern, daß sie die eine Empfindung ideell fixieren, sie ideell bedeuten oder auf sie ideell hinweisen. Es ist ihnen etwas gemeinsam, was macht, daß die längst vergangene (oder gar nie dagewesene) Empfindung doch noch "geistig von uns erblick" werden kann. Dagegen wäre es natürlich ein Unsinn zu sagen, daß die reelle Empfindung selbst und als solche ihnen gemeinsam ist. Und dieses ideelle (20) Etwas ist uns ganz unmittelbar gegeben, wir können es uns jederzeit "zum Bewußtsein" bringen, wenn auch in der Regel das Gegenteil geschieht. Denn das tägliche Leben und nicht minder die meisten Wissenschaften fordern natürlich gerade die vorwiegende Beachtung nicht dieses ideellen Etwas, sondern dessen, was durch es erfaßt wird, und das der erfaßte Gegenstand genannt werden kann, meist aber der Gegenstand schlechthin genannt wird: man hat sich dann nur gegenwärtig zu halten, daß das Wort Gegenstand jetzt einen engeren Sinn gewinnt als den ursprünglich von mir festgelegten (siehe weiter oben). Und was ist nun dieses ideelle Etwas näher? Es steht in der für uns jetzt in Frage kommenden Hinsicht auf ganz gleicher Stufe mit den Wortbedeutungen. Auch die Wortbedeutung Sokrates (21) ist ideell. Sie ist ja weder SOKRATES selbst, noch das jeweilige psychische Vorkommnis, in dem er erfaßt wird (diese sind beide real), sondern sie ist das all jenen Vorkommnissen Gemeinsame, durch das nun ermöglicht wird, daß der längst verstorbene SOKRATES doch noch geistig von uns erblickt werden kann. Für HUSSERL (22) wird aus diesem Grund die ideelle Wortbedeutung geradezu zur Spezies: genauso wie all den einzelnen Rotrealitäten in der Welt das außerzeitliche Rot als Spezies ideell gemeinsam ist, genauso ist auch den einzelnen Bedeutungserlebnissen die außerzeitliche Bedeutungseinheit als Spezies ideell gemeinsam. Ich glaube nicht so weit gehen zu dürfen: ich meine vielmehr, daß umgekehrt alles, was Spezies, ja schließlich alles, was überhaupt ein Allgemeines genannt werden kann, in der eigentümlichen Tatsache der Bedeutung wurzelt. Und ich meine ferner, daß die Wortbedeutungen nur eine relativ nebensächliche Gruppe dessen darstellen, was prinzipiell als mit ihnen gleichartig betrachtet werden muß. Auch die Erinnerungsbedeutungen (damit meine ich eben mein vorhin spezieller herausgearbeitetes "ideelles Etwas") stellt mir noch nicht die tiefste und letzte Wurzel der Bedeutungstatsache dar. Bleiben wir aber zunächst bei den Erinnerungsbedeutungen. Ich nehme dabei an, daß sie ihren Gegenstand in vollster anschaulicher Fülle meinen: - also (wie auch ich ganz unbeschadet meines Standpunktes sagen kann) ohne alle interpretierende oder symbolische Auffassung. Erinnerungsbedeutung speziell im Hinblick auf ein Erlebnis wäre dann jenes Nichtreale, aber unmittelbar gegebene Etwas, durch das ein vergangenes Erlebnis für das erlebende Indiviuum so fixiert ist, daß es unbeschadet seines Vergangenheitscharakters von ihm in der Weise, wie es das Wesen der Erinnerungen (und der Vorstellungen überhaupt) ausmacht, erblickt oder angeschaut werden kann. Die Bedeutung ist niemals real, also auch kein reelles Bestandstück des erlebenden Bewußtseins. Natürlich schwebt sie deshalb nicht in der Luft. Es ist ja selbstverständlich, daß in jedem Moment, in dem dem Erlebenden etwas "gegeben" ist, auch "im Bewußtsein" etwas geschieht oder daß doch zumindest irgendwelche psychischen oder, wenn man lieber will, psychophysischen Prozesse im Erlebenden ablaufen. Und in diesen Prozessen - die nun als solche natürlich nicht mehr "gegeben" sind - befindet sich dann auch das jeweilige reale Korrelat der ideellen Bedeutungen und damit natürlich auch indirekt dessen, was durch diese Bedeutungen fixiert oder gegeben ist: der Gegenstände und in unserem speziellen Fall des erinnerten Tonerlebnisses. Ohne dieses reale psychische oder psychophysische Korrelat kann es freilich keinerlei Bedeutungen und somit keinerlei durch sie fixiertes Gegenständliches geben: wir wissen das erfahrungsgemäß. Aber eben darum gehört es auch nicht selbst zum Gegebenen. Um jedes Mißverständnis auszuschalten, erläutern wir den Gedanken noch etwas anders. Wir nehmen irgendein beliebiges Individuum an: einen Menschen mit Eigenschaften, wie sie Menschen eben haben. Mag nun dieses Individuum echt oder nur fiktiv real sein, jedenfalls nehme alle seine Teile und Eigenschaften an dieser seiner Realitätsart teil: seine Größe, seine Schwere, seine Haarfarbe, aber auch sein Charakter, sein Gedächtnis, sein Denken, sein Wollen: all das ist, wenn es ihm nur wahrhaft zukommt, genauso real wie er selbst: die Seinsstufe beider ist notwendig dieselbe. Aber das ihm Gegebene, die Gegenstände, die er denkt oder vorstellt, sie können wohl, aber sie brauchen durchaus nicht dieselbe Seinsstufe zu haben wie er selbst. Es liegt ebensowenig ein Widerspruch darin, einen fingierten Menschen (in einem Märchen etwa), objektiv Wirkliches vorstellend zu denken, wie umgekehrt: einen objektiv Wirklichen Fingiertes. Also: die Schicht oder Sphäre der Gegebenheit und die Schicht der Wirklichkeit - das sind zwei ganz und gar getrennte Schichten: es besteht kein Wesenszusammenhang zwischen beiden: die Möglichkeit eines teilweisen tatsächlichen Zusammenhangs ist damit nicht ausgeschlossen: wie angedeutet kann der erfaßte Gegenstand wirklich sein, aber er braucht es nicht notwendigerweise zu sein. Nur das Gegebene, durch das ein Gegenstand erfaßt wird, also unsere ideellen oder phänomenalen Bedeutungen (die Begriffe in vager, aber innerhalb des vulgären Wortvorrats noch am wenigsten mißverständlicher Redeweise) ist seiner Natur nach nie und nimmer wirklich oder auch nur in irgendeinem Sinn real. und die Zeitauffassung. Aber wir haben das alles bisher nur im Hinblick auf die Erinnerungen dargelegt. Es soll aber für alles Gegebene überhaupt erwiesen werden. Natürlich sind mit Absicht gerade die Erinnerungen in den Vordergrund gestellt worden. Von dem nichterinnerungsgemäß, sondern in "bloßen Vorstellungen" und insbesondere Phantasievorstellungen Gegebenen leuchtet es ja noch viel leichter und einfacher ein, daß es ansich genommen einer anderen Sphäre als der der Wirklichkeit zugehört. Anders dagegen scheint es mit den Empfindungen und den unmittelbar gegebenen Erlebnissen überhaupt zu stehen. Hier scheint nach der üblichen Ansicht ein Übergang von der einen Sphäre in die andere vorzuliegen: hier scheint (23) das Reale und das Gegebene eins zu sein. Und man pflegt gerade im Hinblick darauf die Empfindungen und die aktuellen Erlebnisse den Erinnerungen gegenüberzustellen. Ihnen, sagt man (und das erscheint zunächst sogar geradezu selbstverständlich), fehlt durchaus das für die Erinnerungen (und Vorstellungen überhaupt) eigentlich Typische: eben die "Intention" auf ein aktuell nicht Vorhandenes, die symbolische Funktion (24) oder wie man sich sonst ausdrückt. In der Erinnerung, die ich jetzt aktuell habe, ist - durch die entsprechende Bedeutung - etwas "gemeint": in unserem Fall das frühere Tonempfindungserlebnis. Beim Empfindungserlebnis selbst kann - wie allgemein (25) geglaubt wird - davon keine Rede sein. Unsere Meinung ist nun genau die entgegengesetzte: gerade im Hinblick auf diesen hier allein in Frage kommenden Punkt besteht kein irgendwie wesentlicher Unterschied zwischen aktuell gegebenen Erlebnissen und Erinnerungen. Das Problem der Reproduktion und alles, was damit zusammenhängt, braucht uns - so groß seine Wichtigkeit ansich und besonders für die induktive Psychologie ist - hier gar nichts anzugehen. Für uns ist vielmehr die Erinnerung lediglich durch jene Intention auf ein Vergangenes und als schon vordem erlebt Vermeintes charakterisiert - in der im Übrigen schon erläuterten Weise. Durch welche speziellen Vorkommnisse jeweils die Aktualisierung einer solchen Intention erreicht wird, kann uns dabei ganz gleichgültig sein. Darin liegt aber eingeschlossen, daß auch die sogenannten primären Gedächtnisbilder (26) (zu denen auch FECHNERs Erinnerungsnachbilder zu rechnen sein dürften) für den Umkreis unserer Problemstellung mit den eigentlichen Erinnerungen solidarisch sind. Doch besser reden wir gleich in Beispielen. Ich höre rasch hintereinander - sagen wir in Pausen von 0,3 Sekunden - drei Taktschläge. Jetzt wähle ich den Moment, in dem der letzte Taktschlag aufgenommen wird, heraus. Was ist in diesem Moment meinem Bewußtsein von den gehörten Taktschlägen gegeben? Zunächst ohne Frage der letzte, zugleich aber auch die vorangegangenen. Natürlich: es ist uns ja zweifellos bei den angegebenen Versuchsbedingungen eine Reihe und genauer eine Dreiheit von Schlägen bewußt. Aber keine simultane Dreiheit. Sondern: der unmittelbar vorangegangene Taktschlag ist uns durchaus auch als dieser vorangegangene bewußt oder gegeben. Die beiden Schläge sind gewiß "zusammen" da. Aber es handelt sich da um ein ganz eigenartiges Zusammen. Es ist ja bei Betrachtungen über den Umfang des Bewußtseins, über die Zeitauffassung, über psychische Präsenz (27) usw. oft genug auf diese Eigenartigkeit hingewiesen worden. Was da vorliegt, ist - so pflegt man wohl zu sagen - ein Zusammen im Bewußtsein, aber kein Bewußtsein des Zusammen (28). Im Gegenteil: ein Bewußtsein des Auseinander. So ist es natürlich: aber im Grunde sind doch Ausdrücke wie "zusammen im Bewußtseins" und dgl. bereits irreführend - falls nämliche (was doch der nächstliegende Sinn ist) das aktuelle und das vergangene Erleben als im Bewußtsein real gegenwärtig gefaßt werden. Denn real gegenwärtig ist selbstverständlich nur das aktuelle Erleben: ich zumindest wüßte nicht, was man unter der jeweiligen realen Gegenwart anderes verstehen könnte, als das, was im jeweiligen Gegenwartspunkt existiert oder geschieht. Doch das bedarf wohl noch einer näheren Erörterung. Es handelt sich da um eine im Grunde so einfache Sache, daß sie eben um ihrer Einfachheit willen oft übersehen wird. Wir nehmen irgendeinen beliebigen realen Vorgang, einen physischen oder einen psychischen. Was an ihm ist in einem strengen Sinn gegenwärtig? Oder fragen wir lieber erst nach dem vagen Sinn von Gegenwart. Ich spreche von den gegenwärtigen Ministern und meine die, die es vielleicht schon jahrelang sind, ich spreche von der Geschichte der Gegenwart und meine damit Jahrzehnte, oder ich spreche gar von der gegenwärtigen Erdperiode und meine damit ungeheure Zeiträume. Es gibt also im vagen Sinn eine oft sehr verschieden lange Gegenwart. Aber: der vage Sinn setzt allemal den strengen Sinn voraus. Denn warum nenne ich diese grundverschiedenen Zeiträume dennoch gegenwärtig? Offenbar, weil sie unbeschadet jener Verschiedenheit doch ein Gemeinsames haben. Und dieses Gemeinsame ist ein gewisser Zeitpunkt und zwar eben der ganz eigenartige Zeitpunkt, der uns als das Jetzt oder die Gegenwart in strengem Sinn wohl bekannt ist. Und zur Gegenwart im weiteren Sinn wird eine, sei es auch noch so lange Zeitstrecke nur dadurch, daß sie von allen anderen vergleichsweise in Frage kommenden Zeitstrecken dem eigentlichen Gegenwartspunkt am nächsten liegt, falls sie ihn nicht (wie meist) sogar mit einschließt: die gegenwärtigen Minister sind diejenigen, die ihre Stellung vielleicht unglaublich lange, aber jedenfalls bis in den gegenwärtigen Zeitpunkt inne haben, und die Geschichte der Gegenwart ist die Geschichte der Zeitepoche, die von allen einer geschichtlichen Behandlung überhaupft fähigen Epochen dem Gegenwartspunkt am nächsten liegt. FRIEDRICH SCHUMANN allerdings (29) ist in seinem, übrigens sehr gehaltvollen Aufsatz über das Zeitbewußtsein der Meinung, die aktuelle Gegenwart oder das "Jetzt" ist in Wahrheit eine zeitliche Strecke. Natürlich kann man das Jetzt allemal so fassen; man kann z. B., wie SCHUMANN es im Anschluß an eine von ihm postulierte "gewöhnliche Meinung" tut, darunter die zum Aussprechen des Jetzt nötige Zeit verstehen: nur ist es ein Irrtum, wenn man glaubt, damit der Annahme eines punktuellen Jetzt entgangen zu sein. Denn: eine zeitliche Strecke - auch die Jetzt-Strecke - involviert doch wohl den Gegensatz des Früheren und des Späteren: der Begriff der Zeitstrecke wird sinnlos, wenn darunter nicht etwas zeitlich Abgestuftes verstanden wird, es muß sich die Strecke notwendigerweise in eine Reihe kleinerer Strecken einteilen lassen, von denen eine die früheste und eine die späteste ist und von denen die dazwischenliegenden entsprechende Unterschiede aufweisen. Und zwar gilt das von jedweder zeitlichen Strecke, von der größten wie von der allerkleinsten, also auch von jenen Teilstrecken, von denen eben die Rede war (30). Wir müssen also sagen: jede Zeitstrecke ist kontinuierlich-zeitlich abgestuft: ihr spätester Punkt oder ihr Endpunkt läßt sich deshalb abstrahierend herausheben. Und wodurch kennzeichnet sich nun eine (beliebig klein zu denkende) solche Strecke als Jetzt-Strecke? Doch nur dadurch, daß deren spätester Punkt mit dem Gegenwartspunkt zusammenfällt. Wollte man die Gegenwart eine Strecke nennen, so müßte man eine frühere und eine spätere Gegenwart unterscheiden - die späteste Gegenwart ist aber die Gegenwart im eigentlichsten Sinn, sie ist das, wonach sich jeder andere Gegenwartsbegriff erst orientiert. Gewiß: hier klingen metaphysische und bis jetzt ungelöste Probleme an, Probleme, denen viele gerna aus dem Weg gehen. Mögen sie das tun (und unsere Fragestellung erlaubt das noch immer) - nie aber sollte die Scheu vor diesen Problemen so weit gehen, daß man die Tatsachen leugnet, die auf sie führen. Auch die Infinitesimalrechnung führt ja auf solche Probleme - und doch fällt es niemandem ein, sie zu leugnen oder ihre Berechtigung anzuzweifeln. Also bleiben wir dabei: gegenwärtig im eigentlichen Sinn ist nur das in den jeweiligen Gegenwartspunkten fallende Sein oder Geschehen. Das "ist" gewinnt dadurch eine prägnant strenge Präsens-Bedeutung; denn das Wirkliche, was nicht in diesen Gegenwartspunkt fällt, das "ist" im fraglichen Sinn nicht, sondern "war" wirklich. Und von einem individuellen und objektiv-wirklichen physikalischen Vorgang darf nicht gesagt werden: er "ist", sondern höchstens: "er ist und war". Man sieht: eine solche Redeweise ist äußerst unbequem, und darin liegt natürlich ein völlig zulänglicher Grund für ihre Ungebräuchlichkeit. Dafür hat aber die übliche Redeweise ihre Gefahren: sie hilft die im Grunde ganz banale Tatsache zu verschleiern, daß alles, was nicht dem aktuellen Gegenwartspunkt angehört, also alles, was da "war" nun eben auch wirklich und ganz und gar aufgehört hat als das, was es gewesen ist, zu existieren, also unwiederbringlich verloren ist. Sie hilft mit anderen Worten die banale Tatsache der eigentlichen Nichtexistenz alles Vergangenen zu verschleiern. Wir leben freilich so intensiv "in der Vergangenheit", daß es oft erst einer sehr fühlbaren Besinnung bedarf, um diese höchst einfache Tatsache mit der wünschenswerten Deutlichkeit vor Augen zu haben. Und doch besteht sie unzweifelhaft: die Erde befindet sich auf ihrer Bahn an der Stelle, die sie eben jetzt einnimmt, in diesem aktuellen Moment, in dem die Vergangenheit aufhört und die Zukunft noch nicht ist: und zwischen dieser jetzigen "Bewegungsphase" und allen ihren früheren gähnt eine schlechterdings unüberbrückbare Kluft. Alles, was war und also nicht mehr ist, ist eben damit überhaupt nicht: es ist ansich, d. h. ohne die Beziehung auf sein früheres Sein betrachtet schlechterdings nichts - d. h. hier natürlich nichts Echt-reales oder Wirkliches. Ohne diese Beziehung steht es mit irgendeinem beliebigen "Phantasiegebilde" auf gleicher Seinsstufe. Die Sachlage ändert sich erst durch die Hinzunahme jener Beziehung. Nunmehr zeigt sich allerdings, daß diesem so oder so beschaffenen Etwas noch die besondere Bestimmtheit zukommt, daß es früher einmal in die aktuelle Gegenwart gefallen ist - und dadurch dokumentiert es sich dann erst als ein zwar nicht wirklich Seiendes, aber doch wirklich Gewesenes oder - ohne die strenge Präsensbedeutung - schließlich doch auch wirklich Seiendes. Es liegt darin auch noch dieses: das (im strengen Sinn) Real-gegenwärtige ist das einzig Seiende, bei dem es an und für sich (nämlich unbeschadet einer etwaigen schließlich anders lautenden metaphysischen Ausdeutung) recht viel unmittelbarer Einleuchtendes hat, daß ihm selbständige, d. h. ohne das Medium irgendeines (wie auch immer gefaßten) Bewußtseins, dessen Gegenstand es ist, eine vermittelte Existenz zukommt: denn das läßt sich natürlich nicht vom Real-vergangenen und erst recht nicht vom Fiktiv-realen und Ideellen behaupten. Gehen wir aber auf unsere Taktschläge zurück. Auch hier müssen wir mit der Auffassung Ernst machen, daß das aktuelle erleben als das, was es ist (also als aktuelles Erleben) aufgehört hat, zu existieren, sobald es nicht mehr real-gegenwärtig ist. Es kann also das aktuelle Erleben des letzten Taktschlags (genauer seiner letzten Phase) und das des vorangegangenen unmöglich beides real "zusammen" im Bewußtsein vorhanden sein. Sondern es ist das "jetzt" Vorangegangene prinzipiell nicht anders im Bewußtsein wie etwa das gestern Vorangegangene, also wie der Taktschlag oder das entsprechende Erleben, das gestern war und an das ich mich augenblicklich erinnere. Der Unterschied ist nur, daß das gestrige Erleben nicht nur, wie sich das von selbst versteht, in seinem aktuellen Dasein, sondern außerdem auch noch in seinem Dasein für ein Bewußtsein erloschen ist. Erst infolge irgendeiner Kausation (und speziell eines Reproduktionsprozesses) kann es dann wieder für mein Bewußtsein gegeben sein: d. h. in eben jener "bildlichen" Weise, die für die Erinnerung charakteristisch ist: es wird nicht selbst von Neuem aktuell, sondern bleibt an seiner früheren zeitlichen Stelle - nur kann ich nun von Neuem darauf "hinblicken". Anders im Falle unserer Taktschläge. Unser vorletzter Schlag ist für mein Bewußtsein noch keineswegs erloschen; sondern: unmittelbar nach dem Erlöschen seines aktuellen Daseins (Erlebens) beginnt sogleich das "Hinblicken" darauf, beginnt also sein Dasein für mein Bewußtsein, d. h. jenes Dasein, bei dem sich die zeitliche Stelle des Daseienden nicht mehr verändert. Auch das aktuelle Dasein im erlebenden Bewußtsein kann allerdings in gewissem Sinne "verharren": dann aber handelt es sich um etwas ganz und gar anderes: um all das nämlich, was man im weitesten Sinn als "nachbildartiges" Erleben bezeichnen kann: der erste Taktschlag (ein besseres Beispiel wäre hier bekanntermaßen eine Lichtempfindung) kann ja unter Umständen aktuell noch erlebt werden, während bereits das Erleben des zweiten beginnt, so daß eine teilweise Übereinanderlagerung der beiden Eindrücke die Folge ist. Eben die Tatsache einer solchen Übereinanderlagerung oder Mischung zeigt, daß hier die zeitliche Stelle des ersten Eindrucks nicht festgehalten ist, sondern daß dieser als ein reales Etwas durch eine gewisse Zeit hindurch bestehen bleibt, ähnlich wie ein beliebiges Ding, etwa die Lampe vor mir, auch durch die Zeit hindurch besteht: deren Dasein - so läßt sich auch sagen - rückt beständig mit der Zeit zugleich weiter. Anders der Taktschlag in unserem früheren Beispiel: er (bzw. sein Empfinden, Erleben) vergeht, wie die Lampe vergehen würde, wenn man sie vernichtet hätte. Freilich bleiben in beiden Fällen reale Bestände oder Reste übrig. Aber im Fall der Lampe sind diese etwas ganz anderes als die Lampe selbst, im Fall des Schallerlebnisses sind sie - allerdings auch etwas anderes als das betreffende reale Erleben, als dieses Eindringen des Schalles in das Bewußtsein, sie sind psychische oder psychophysische Realitäten, die aber an und für sich ganz gleichgültig sind und nur dadurch von so eminenter Wichtigkeit werden, daß sie (übrigens den "wiederbelebten" Erinnerungspositionen vergleichbar) ein Korrelat haben, durch das uns jetzt jenes Schallerlebnis gewissermaßen jenseits von einem beständigen Vorrücken der Zeit erhalten bleibt: ich kann darauf "hinblicken" in einer Weise, die meiner Lampe gegenüber ganz unmöglich wäre, denn dies ändert natürlich ihre Stelle in der Zeit während des Hinblickens fortwährend. Es ist also ganz offenbar während dieses eigentümlichen Hinblickens etwas da, das den betreffenden Schlag fortgesetzt für mich als diesen Schlag fixiert und das eben deshalb notwendigerweise immer identisch dasselbe bleibt - nicht realiter natürlich, sondern ideell oder (vielleicht noch besser gesagt) phänomenal: es ist das vollständige Analogon der uns schon von den Erinnerungen her wohlbekannten Bedeutung, ja es fällt prinzipiell genommem mit ihm zusammen: wir können es zum Unterschied von der Wortbedeutung vielleicht besser den "phänomenalen Hinweis", den "phänomenalen Zeiger" oder, um für die neue Sache ein neues Wort zu prägen, den "phänomenalen Aufweis" nennen. Es ist nun ferner sofort einzusehen, daß mit dem Gegebensein des vorletzten Taktschlages auch das des drittletzten und eventuell viertletzten usw. in ihrer richtigen zeitlichen Reihenfolge verbunden sein muß. Zunächst ist nicht der mindeste Grund ersichtlich, weshalb von allem mit ihm gleichzeitig im Bewußtsein vorhanden Gewesenen es gerade allein der Taktschlag sein sollte, auf den hingeblickt wird. Offenbar wird auf das ganze damalige konkrete Erleben hingeblickt, aus dem nur einiges (und darunter besonders der Taktschlag) mehr beachtet wird als anderes. Wird aber auf das ganze Erleben hingeblickt, so eo ipso auch mehr oder weniger deutlich auf das in ihm Gegebene. Genauso wird ja auch, wenn ich mich an ein Erinnerungserlebnis erinnere, das in ihm Erinnerte zugleich mit hervortreten. In unserem Fall aber gehört zu diesem so indirekt Gegebenen in erster Linie natürlich der wiederum vorangegangene drittletzte Taktschlag, der ja für diesen Moment gerade so gegeben war, wie der vorletzte für den jetzigen Moment (d. h. den des letzten Schlags). Es ist also der drittletzte Schlag sekundär mit dem letzten mitgegeben. Das wiederholt sich dann für den viertletzten usw. Es handelt sich also um eine Art von sich immer weiter fortsetzender "Einschachtelung". Aus der Stufenfolge der einzelnen Einschachtelungen ergibt sich dann ohne weiteres die zeitliche Stellung der betreffenden Schläge. Nun ist natürlich die Zeitdifferenz zwischen den Schlägen willkürlich. Vergrößern wir sie, so treten schließlich empirisch-psychologische Gesetze in Kraft, die es unmöglich machen, daß sich ohne Hinzutritt reproduzierend wirkender Faktoren mit dem Dasein des einen Schlages noch eine Gegebenheit der anderen verbindet: es fehlt das direkte Sukzessionsbewußtsein. An der prinzipiellen Sachlage aber ist damit offenbar gar nichts geändert. Wichtiger sind die Ausblicke, die der Fall der Verkleinerung der Intervalle gewährt. Auch hier kann sich natürlich prinzipiell unmöglich etwas ändern. Aber das ist gerade das Interessante dabei. Auch wenn wir die Intervalle gleich 0 setzen und damit die einzelnen Schläge zu einer kontinuierlichen Empfindung werden lassen, findet also die Einschachtelung ebenfalls noch statt. Natürlich! Und darin eben liegt die Erklärung der zweifellos doch bestehenden völlig durchsichtigen zeitlichen Abstufung jeder gegebenen Empfindung (31), der Tatsache also, daß jeder auch noch so kleine Abschnitt einer solchen seine unverwechselbar klare zeitliche Stellung hat, daß wir also nicht in Verlegenheit kommen, etwa die einzelnen zeitlichen Teile einer kontinuierlichen Empfindung für simultan zu halten oder umgekehrt. Das gilt nun aber von jeder, auch von der kürzesten Empfindung (32): auch sie ist zeitlich different und muß es sein, gemäß unserer Betrachtung. Allerdings folgt dann auch, daßw wir noch eine Unklarheit zu beseitigen haben. Wir haben anfänglich die einzelnen Schläge behandelt, als ob sie selbst ohne unmittelbar gegebene zeitliche Ausdehnung sind: natürlich sind sie das nicht und zwar gerade aufgrund des von uns eben Festgestellten. Es gilt daher von der Gegebenheitsweise jedes einzelnen Taktschlages prinzipiell bereits das, was wir von der ganzen Reihe gezeigt haben. Jeder von ihnen ist uns jeweils durch ein solches System eingeschachtelter phänomenaler Zeiger oder Aufweise und demnach als ein Sukzedierendes gegeben. Auch ist gleichgültig, ob es sich nun gerade um Taktschläge und überhaupt Empfindungen handelt - nur daß ganz allgemein irgendein Erlebnis gegeben ist, wird gefordert. Immer folgt - wenn wir uns einmal vulgär ausdrücken dürfen - aus der einfachen Tatsache, daß im jeweils gegenwärtigen Moment, also dem einzigen, der überhaupt in dieser Zeit Wirklichkeit hat, die "Erinnerung" an den unmittelbar vorangegangenen noch nicht erloschen ist, das Gegebensein des betreffenden Erlebnisses und zugleich dessen ihm stets immanente Zeitlichkeit (33). Also, in etwas anderer Weise gefaßt: in jedem Moment unseres bewußten Daseins (im jeweiligen Gegenwartspunkt) tritt irgendetwas in das Bewußtsein ein, um dann sofort in den unmittelbar darauf folgenden Zeitpunkt "gegeben" zu sein: es verschwindet also de facto, es verschwindet aus der Sphäre des realen Seins, umsogleich in einer ganz anderen Sphäre wieder aufzutauchen: es "ist" jetzt nicht mehr wirklich, sonder es "ist gegeben" und erscheint als eben Gewesenes. Inzwischen ist gleichzeitig irgendetwas Neues ins Bewußtsein getreten: auch dieses geht denselben Weg, d. h. es springt (wenn solche höchst inkorrekte Ausdrücke erlaubt sind) ebenfalls in jene eigenartige Sphäre hinüber, die es in den allerschroffsten Gegensatz zu allem Seienden der realen Welt setzt, indem sie bewirkt, daß es nunmehr "erscheint", ohne dabei in der Zeit weiterzurücken. Das alles sind, wie gesagt, inkorrekte Ausdrücke - sie sollen aber nur zur Veranschaulichung dienen. Von einem "Hinüberspringen" aus der einen Sphäre in die andere ist selbstverständlich keine Rede. Sondern es muß in Wahrheit heißen: in dem Moment, in dem unser aktuelles Bewußtseinsgeschehen aufgehört hat, real vorhanden zu sein, genau in diesem Moment wird ein neues aktuelles Bewußtseinsgeschehen real, dem unter anderem nun die Funktion zufällt, das eben real-gegenwärtige Geschehen - natürlich auf dem Weg der Bedeutung oder des Aufweises (als ihres Korrelates) - als gegeben erscheinen zu lassen, sie phänomenal zu fixieren und dadurch unser wohlbekanntes "Hinblicken" zu ermöglichen. Aber auch dieses Geschehen vergeht sofort und macht einem dritten Geschehen Platz, in dem nun wieder das zweite und damit sekundär auch das erste phänomenal gegeben ist. Zusammenfassung. Aus meinen letzten Ausführungen ergibt sich also Folgendes: Es sind zwei ganz verschiedene Betrachtungen möglich: Ich kann erstens auf die realen Bewußtseinsgeschehnisse selbst gerichtet sein, zweitens aber auf das in ihnen Gegebene. In beiden Fällen allerdings habe ich es anscheinend mit ganz demselben Gegenstand zu tun: mit Erlebnissen. Gewiß: aber das Wort Erlebnis unterliegt bereits einer Äquivokation [Mehrdeutigkeit - wp]: es bezeichnet einmal das erlebte Erlebnis, dann aber auch das Erleben des Erlebnisses. Gerade unsere Betrachtungen zeigen das mit Evidenz. Das erlebte Erlebnis ist natürlich unser gegebenes und gemäß seiner Gegebenheit zugleich zeitlich abgestuftes Erlebnis. Das Erleben des Erlebnisses sind die kontinuierlich aufeinanderfolgenden realen Akte oder Aktphasen selbst, in denen das zeitlich ausgedehnte Erlebnis erfaßt wird. Exemplifizieren wir wieder an der Empfindung. Ein Mensch hat eine Emfpindung von 5 Minuten Dauer - das kann zweierlei heißen: Erstens: es findet 5 Minuten lang ein Empfindungsgeschehen in ihm statt: dieses "Stattfinden" hat hier denselben Sinn wie in der Wendung: es findet 5 Minuten lang ein Gehirngeschehen in ihm statt. Es tritt fortgesetzt in sein Bewußtsein etwas ein, es geschieht etwas in ihm, und dieses Geschehen dauert 5 Minuten lang. Zugleich stellt sich nun allerdings eine entsprechende gegebene Empfindung ein: da aber handelt es sich um etwas völlig Neues. Nehmen wir einmal einfach an, es wäre das eben in das Bewußtsein Eintretende, also das eben in ihm aktuelle Geschehen sofort, d. h. unmittelbar nach seinem Eintreten "vergessen", das "Hinblicken" darauf also unmöglich gemacht: ganz zweifellos läßt sich auch dann noch recht gut sagen, es habe eine Empfindung von 5 Minuen Dauer stattgefunden: 5 Minuten lang dauerte dieses Empfinden, dieses Erleben mit Empfindungscharakter - aber gegeben war keine Empfindung, nicht ein einziges Mal während der ganzen 5 Minuten. Zweitens kann nun aber "eine Empfindung von 5 Minuten Dauer haben" eben gerade das Gegebensein eines Empfindungsvorgangs bedeuten. Jetzt sind wir in einer ganz anderen Sphäre: denn nunmehr wird gerade unbedingt erforderlich, daß jenes "Vergessen" nicht stattfindet: in jedem folgenden Moment muß das im jeweils vorangegangenen Geschehene noch "da" sein, es muß "verharren", aber freilich verharren in jener nur im Bewußtsein überhaupt möglichen Weise, die bei dem, was sonst zu verharren pflegt, bei wirklichen Dingen nämlich, prinzipiell ausgeschlossen ist: es verharrt, wie schon gesagt, ohne mit der Zeit, innerhalb der es "verharrt", weiter zu rücken. Das wirkliche Erleben also und das gegebene Erlebnisganze sind völlig verschiedene Dinge. Das erste kann, wie eben gezeigt, bestehen ohne das zweite. Und die Gesamtheit der einzelnen Erlebnisgeschehnisse - ihr Integral genommen über eine gewisse Zeitstrecke - ist noch längst nicht das Erlebnisganze, die zeitlich abgestufte Erlebniseinheit, wie sie sich "im Erleben" inmittelbar darstellt. Jene Gesamtheit oder jenes Integral besteht auch für einen beliebigen chemischen Vorgang, aber gewiß braucht sich darum dieser Vorgang nicht selbst als einen zeitlich abgestuften darzustellen. Dazu bedarf es erst eines "Bewußtseins". Man wird also den Unterschied zwischen erlebtem Erlebnisganzen und den einzelnen realen Phasen des Erlebens (und deren Gesamtheit) zugeben müssen. Doch nun sagt man weiter: Mag also in der Tat das Erlebte, das gegebene Erlebnis sich vom aktuellen Erleben unterscheiden, mag es ein bloßes Phänomen sein können und es hie und da in der Tat auch sein - jedenfalls hätten wir dann doch unrecht, ein solches Phänomen der Wirklichkeit entgegenzusetzen. Vielmehr ist es offenbar selbst unter allen Umständen wirklich und zwar gerade nach unserer eigenen Wirklichkeitsauffassung: denn zweifellos beginnt und hört es auf in der objektiven Zeit. Genauso muß auch vom Phänomen eines bestimmten Gegenstandes, etwa eines durch Eintauchen in Wasser geknickt erscheinenden Stabes oder einer kinematographischen Bewegung behauptet werden, sie seien eben als Phänomene genommen wirklich. Indessen: was heißt hier Phänomen eines bestimmten Gegenstandes? Doch natürlich nie und nimmer der Stab im Wasser oder die an der Wand vor sich gehende Bewegung selbs. Der im Wasser gekrümmte Stab und die an der Wand stattfindende Bewegung hat ja offenbar keien Stelle in der objektiven Zeit: sobald wir dem im Phänomen liegenden Hinweis folgen, in der Zeit die betreffende Stabkrümmung oder Bewegung zu suchen, finden wir uns getäuscht. Aber das reine Phänomen selbst? das wäre doch dann das, was übrig bleibt, wenn wir beim phänomenal Gegebenen vom Gemeinten (und also selbst nicht vorhandenen) Gegenstand absehen. Es ist ja aber der ganze Sinn unserer Betrachtungen, daß das, was hier allein in Frage kommen kann, vom Charakter einer Bedeutung ist - eben unser phänomenaler Zeiger oder Aufweis: natürlich muß er in realen Akten gegeben sein genau wie die Wortbedeutung Sokrates: beides ist aber darum noch nicht selbst real. Die kinematographische Bewegung selbst aber (um bei diesem Beispiel zu bleiben) liegt in einer nicht-objektiven, unechten, phänomenalen Zeit. Die Zeit, in die für uns etwas Gegebenes fällt, ist ja gemäß unseren früheren Betrachtungen eben allemal zunächst eine phänomenale, und erst die Empirie hat nachher festzustellen, inwieweit das in sie Fallende teilnimmt oder teilnehmen kann an den kausalen Zusammenhängen der individuellen Zustände, und das heißt, inwieweit sie sich selbst mit der objektiven Zeit deckt. Denn auch der wirkliche Zeitpunkt ist ja nur im phänomenalen Aufweis gegeben, und in diesem liegt an und für sich, wie wir wissen, keine Evidenz dafür begründet, ob ihm die Wirklichkeit, die wir ihm eben gerade zuschreiben, auch in der Tat zukommt. Gewiß: die objektive Zeit besteht für sich - wie aber die uns als objektiv gegebene Zeit sich im Einzelnen zu ihr verhält: wie weit sie sich eventuell mit ihr deckt, das steht gar nich so ohne weiteres fest, und die gegebene Zeit ist zunächst und ansich wie alles Gegebene nur phänomenal. Darüber muß man sich allerdings vollkommen klar sein, daß das Erleben selbst im Moment des Erlebens niemals gegeben sein kann. Der Moment des Eintritts oder Einzugs ins Bewußtsein (das psychische Geschehen innerhalb seiner) gehört eo ipso [schlechthin - wp] der Welt der Wirklichkeit an, er unterscheidet sich in dieser Hinsicht gar nicht von einer beliebigen Phase eines chemischen oder physikalischen Vorgangs: er ist da, um sofort für immer zu verschwinden. Er ist da, ohne sich seiner selbst bewußt zu sein, und trotzdem ist er, während er da ist, allerdings auch nur dann in voller Realität da, die nicht erst des phänomenalen Zeigers oder Aufweises bedarf, um "zum Bewußtsein" zu kommen. Natürlich darf dabei das "zum Bewußtsein kommen" nicht im Sinne eines Gegebenheitsbewußtseins oder besser der Bewußtseinsgegebenheit genommen werden - denn in dieser geschieht ja niemals etwas, sondern bereits Geschehenes ist in ihr gegeben. Gerade auf das Wesen dieser Gegebenheit beziehen sich unsere Untersuchungen, und sie wollen in erster Linie hervorheben, daß die Sphäre dieser Gegebenheit ganz und gar von der des realen Bewußtseins verschieden ist - man sollte sie geradezu die phänomenale Sphäre nennen. Die phänomenale Sphäre ist natürlich in realen psychischen Akten verankert (34): diese Akte können nun wie alles Wirkliche mehr oder weniger vollständig phänomenal erfaßt werden, und es kann dann weiterhin in einem methodischen, empirischen Verfahren festgestellt werden, wie weit wir in dieser Erfassung von Täuschung frei sind, wie weit wir zur Realität des Bewußtseins selbst durchgedrungen sind. Die Realität des Bewußtseins, dieses in der echten oder objektiven Zeit liegende psychisch Wirkliche, das aktuelle Erleben und die Dispositionen dazu, das gegenseitige Verhältnis beider, sowie ihr schlechterdings oft nicht ignorierbarer Zusammenhang mit physiologischen Vorgängen - das ist es, was das induktive Verfahren der empirischen und besonders der experiementellen Psychologie ergründet und in der Tat ergründen kann. Indem die Psychologie immer klarer gerade diese Einstellung ihrem Forschungsgebiet gegenüber gewonnen hat, hat sie sich zugleich die Sicherheit und Festigkeit verschafft, die ihr heute bereits den Rang einer exakten Wissenschaft zukommen läßt. Eben dadurch aber sondern sich nicht minder exakte, aber ganz andersartige Betrachtungen von der empirischen Psychologie so deutlich ab wir nur möglich, Betrachtungen, die sich auf die phänomenale Sphäre als solche beziehen, und zu denen wohl auch die eben durchgeführten gehören. Sie ergründen ja keineswegs ein Wirkliches (35), sondern eben das Phänomenale, das nur erfahrungsgemäß mit dem Psychisch-wirklichen zusammenhängt und in dem zwar etwas als Wirkliches gegeben sein kann, das aber in sich selbst nach seinen eigentlichen Grundlagen genommen, durchaus nichts Wirkliches ist (36). Und ein Absehen von der Wirklichkeit des phänomenal Gegebenen (und schließlich von dessen Sein überhaupt) ist jedenfalls immer angängig und ermöglichst die reinliche Abtrennung eines namentlich erkenntnistheoretisch höchst wichtigen Grundgebietes. Natürlich kann man niemandem verwehren, auch Forschungen dieser Art als psychologische zu bezeichnen: nur muß man sich dann klar sein, daß sie jedenfalls nicht in den eigentlichen Problemkreis der empirischen Psychologie gehören, von so großer Wichtigkeit sie unter Umständen dennoch gerade für diese Wissenschaft werden können. Mein Gedankengang war also im Grunde sehr einfach: ich fand, daß die Betrachtungen, die sich an die Wortbedeutungen und die durch sie erfaßten Gegenstände anknüpfen, sich in wesentlichen Punkten auf all die Fälle übertragen, in denen überhaupt ein nicht aktuell Vorhandenes im Bewußtsein erfaßt wird. Das ist aber nicht nur bei den Vorstellungen eines im gewöhnlichen Sinn nicht Gegenwärtigen der Fall, sondern, wie wir im Anschluß an die Erinnerungen durchführten, in einer wichtigen Hinsicht auch bei den Empfindungen und Erlebnissen überhaupt. Das führte mich zu der wichtigen Scheidung von aktuellem Erleben und gegebenen Erlebnissen. Die Grundlage und das eigentliche Wesen der letzteren fanden wir in einem Analogon der "Bedeutung", dem phänomenalen Aufweis (oder Zeiger): er konstituiert die phänomenale Sphäre, die - selbst von allem Wirklichen scharf geschieden - doch dessen Erfassung (wie nicht minder auch die jedes Nichtwirklichen) ermöglicht. Zugleich bestimmte sich nun negativ - eben durch Aussonderung der phänomenalen Sphäre - auch das, worauf es uns noch besonders ankam, das reale Bewußtsein, die psychische Wirklichkeit, der Gegenstand der empirischen Psychologie. ![]() ![]()
18) Husserl, Logische Untersuchungen II, Seite 714 19) Ich lasse dahingestellt, inwieweit die Heranziehung anderweitig bekannter Lehren, wie etwa der von den synthetischen Urteilen a priori hierzu von Nutzen sein kann. 20) Statt ideell wäre vielleicht vorsichtiger bloß "nichtreal" zu sagen. 21) Ich folge hier ganz und gar den überzeugenden Darlegungen Husserls, dem ich überhaupt so gut wie alles Wichtige in der Frage verdanke. Vgl. Husserl, a. a. O., besonders Seite 103 (LU I, § 33) 22) a. a. O., Seite 100f (LU I, § 31) 23) Vgl. z. B. Stumpf, a. a. O., Seite 10 24) So Cornelius (nach dem Voranschreiten John Stuart Mills), Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Seite 23f, Einleitung in die Philosophie, Seite 211f. Ich habe den Schriften dieses Autors die ersten entscheidenden Anregungen in dieser wichtigen Frage zu verdanken. 25) Soviel ich sehe, macht in der gesamten bisher vorliegenden Literatur allein Meinong in gewissem Sinne eine Ausnahme. Vgl. besonders: Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, Berlin 1906, Seite 71 (siehe auch Anmerkung 30). 26) Sigmund Exner in Hermanns "Handbuch der Physiologie", Bd. I, 2. Seite 281. Fechner, Elemente der Psychophysik, Bd. II, Seite 491f. William Stern, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 13, Seite 337f. 27) Vgl. besonders William Stern, a. a. O., Seite 325f. 28) Meist formuliert man dies in Bezug auf die Sukzession [Aufeinanderfolge - wp]. So James, Psychologie (übersetzt von Marie Dürr 1909), Seite 285f. Längst vorher Herbart, Psychologie als Wissenschaft, Werke Bd. 6, Seite 115 und 142f. 29) Vgl. Friedrich Schumann, Zur Psychologie der Zeitanschauung, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 17, Seite 127f. 30) Meinong entwickelt an verschiedenen Orten Anschauungen, die sich mit den hier vertretenen, trotz einigen allerdings prinzipiellen Abweichungen, sehr nahe berühren. Vgl. "Über Gegenstände höherer Ordnung", Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 21, Seite 249f und besonders: Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, Berlin 1906, Seite 64f. 31) Auf angebliche "experimentelle" Beweise des Gegenteils hoffe ich an anderer Stelle und in einem anderen Zusammenhang eingehen zu können. 32) Ich denke, es liegt im Vorangehenden ohne weiteres begründet, daß Betrachtungen über eine Zeitschwelle usw. hier an unrechter Stelle wären. 33) Wie man sieht, liegt hierin eine neue Theorie des Zeitbewußtseins, die ich bald an anderer Stelle ausführlicher zu entwickeln hoffe. 34) Es scheint mir die beste Bestimmung des Psychischen in der Tat diese zu sein: es ist das Reale, dem es erfahrungsgemäß zukommt, eine phänomenale Sphäre zu haben: also das, dem etwas gegeben ist oder gegeben sein kann. Es steht nichts im Weg, es in diesem Sinn das Ich zu nennen. Sollte man (was meines Erachtens freilich eine wenig zweckmäßige Ausdrucksweise wäre, die aber vielleicht doch von vornherein nicht ganz von der Hand zu weisen ist) unter Bewußtsein nur die Bewußtseinsgegebenheit, also unsere phänomenale Sphäre verstehen wollen, so wäre das Ich natürlich "unbewußt" und die empirische Psychologie die Wissenschaft vom "unbewußten Psychischen". 35) Das Wort "wirklich" dabei immer in meinem genau umschriebenen Sinn genommen. 36) Inwieweit damit der sehr schwierigen Frage nach einer allseitig "befriedigenden" Umgrenzung des Gesamtgebietes der "Phänomenologie" näher gekommen ist, soll hier ausdrücklich dahingestellt bleiben. |