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AUGUST MESSER
Husserls Phänomenologie
in ihrem Verhältnis zur Psychologie

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"Als Prinzip aller Prinzipien gilt für Husserl der Satz, daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis ist, daß alles, was sich uns in der Intuition originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen ist, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt."

"Die Generalthesis der natürlichen Einstellung lautet, daß diese mit den anderen Subjekten uns gemeinsame Welt als Wirklichkeit immer da ist. Um nun aber in die philosophische Einstellung der Phänomenologie hineinzukommen, gilt es diese natürliche Thesis radikal zu ändern. Diese Änderung besteht nicht darin, daß wir die Wirklichkeit dieser Welt bezweifeln oder bestreiten; unseren natürlichen Glauben an sie geben wir nicht preis, wir ändern nichts an unserer Überzeugung: wir klammern sie nur ein, setzen sie außer Aktion, machen von ihr keinen Gebrauch. Husserl charakterisiert diese "Einklammerung auch als eine gewisse Urteilsenthaltung (epoché), die sich mit der unerschütterten Überzeugung von der Wahrheit unseres natürlichen Glaubens an die Wirklichkeit wohl verträgt, aber diese eben ganz beiseite läßt."verdinglichen."

In Band 22 des "Archiv für die gesamte Psychologie" (Seite 117 bis 129) habe ich mich bereits über dieses Thema geäußert. Inzwischen hat HUSSERL seinen Gedanken über Phänomenologie, die er früher nur in knapper, mehr andeutender Form veröffentlicht hatte, eine sehr ausführliche Darstellung gewidmet in seiner Abhandlung "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" (1), von der freilich zunächst nur das erste Buch "Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie" erschienen ist. Diese Veröffentlichung gibt mir Veranlassung, meine früheren Bemerkungen in einigen Punkten zu ergänzen und zu berichtigen.

Da es dem Psychologen geläufig ist, den Ausdruck "Phänomenologie" als gleichbedeutend mit dem Ausdruck "deskriptive Psychologie" zu gebrauchen, so muß zunächst betont werden, daß für HUSSERL "Phänomenologie" einen anderen und viel umfassenderen Sinn hat. Sie ist ihm die grundlegende philosophische Disziplin, die Vorbedingung für jede Metaphysik und sonstige Philosophie - "die als Wissenschaft wird auftreten können." (Seite 5)

Schon den Scholastikern war die wichtige Unterscheidung zwischen existentia und essentia geläufig; die Phänomenologie hat zu ihrem Gegenstand lediglich die essentia, das Wesen; sie ist (wie HUSSERL das nennt: eine "eidetische" Wissenschaft.

Was ist nun dieses "Wesen" ("Eidos")? Ein Beispiel soll die Antwort geben. Wir können bei einem Ton, gleichgültig, ob wir ihn wahrnehmen oder erinnern oder uns einbilden, lediglich das Was beachten, und dabei von jedem Gedanken über Tatsächlichkeit des Tons, über ihn als individuell Daseiendes absehen: in diesem Fall meinen wir das "Wesen". Und wenn wir sagen, daß von je zwei qualitativ verschiedenen Tönen einer der tiefere und der andere der höhere ist, so drücken wir eine Beziehung zwischen "Wesen" aus (Seite 39); ebensogut wie wenn wir behaupten, daß ein "Urteil" nicht "farbig" sein kann, oder daß a + 1 gleich 1 + a ist.

Versteht man unter "Begriffen" psychische Gebilde, Produkte der Abstraktion, so ist es Psychologismus, "Wesen" und "Begriff" zu identifizieren. Der Zahlbegriff ist nicht die Zahl, der Begriff der Empfindung nicht die Empfindung, die Vorstellung eines Zentauren nicht der Zentaur.

Die Klärung der Begriffe und die Feststellung ihrer Beziehungen - worin eine der Hauptaufgaben der Phänomenologie zu erblicken ist - soll nun durch eine "Wesenserschauung" erfolgen. (Seite 10)

Diese ist zwar Anschauung, aber scharf zu sondern von aller "erfahrenden" Anschauung: bei letzterer ist Individuelles der gegebene Gegenstand, bei jener das Wesen. Freilich muß Individuelles irgendwie erscheinen, damit wir unseren Blick auf dessen Was richten; das Einzelne muß uns als Beispiel gegeben sein, damit wir uns daran zur Erfassung des Typischen dieser Erscheinung oder ihres Wesens überhaupt erheben. So braucht z. B. der Geometer ein einzelnes gezeichnetes Dreieck, um daran die Wesenserschauung des Dreiecks überhaupt vollziehen zu können. Aber in der Wesenserschauung liegt nicht, daß das Individuelle, an dem und mit Hilfe dessen sie erfolgt, als Einzelnes erfaßt und als "wirklich" gesetzt wird (Seite 12).

Die Wesenserschauung ist ein "vielgestaltiger Akt" (Seite 43), sie kann sich an der äußeren oder inneren Wahrnehmung der Erinnerung, der Phantasie, der Einfühlung (292) vollziehen. Sie ist durch Evidenz charakterisiert. Diese ist kein besonderes Gefühl (39) oder eine mystische Stimme, die uns zuruft: Hier ist Wahrheit! (300), sondern sie besteht eben darin, daß das im Denken Gemeinte anschaulich gegeben ist. Als "Prinzip aller Prinzipien" aber gilt für HUSSERL der Satz:
    "daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis ist, daß alles, was sich uns in der Intuition originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen ist, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt." (43f)
Wahrheit kann aktuell nur gegeben sein in einem aktuellen Evidenzbewußtsein (290).

Was aber als im Wesen liegend evidenz erfaßt wird, das gilt a priori für alles Einzelne, das dieses Wesen trägt (Seite 15). Analoges gilt für die einsichtig erfaßten Wesenszusammenhänge.

Auf die weiteren Unterscheidungen, die HUSSERL zwischen "adäquater" und "inadäquater", "mittelbarer" und "unmittelbarer" Evidenz vollzieht (286f), will ich hier nicht (in ihrer Allgemeinheit) eingehen; nur eine kritische Bemerkung hierzu sei gestattet: ich billige durchaus die allgemeine Tendenz jener Berufung auf "Anschauung"; sie ist ja - wenn auch unzulänglich - im Grundsatz HUMEs zur Geltung gekommen, daß jede "idea" auf eine "impression" zurückzuführen ist und sich durch eine solche legitimieren muß. Die anschauliche Vergegenwärtigung von Wesen und Wesenszusammenhängen wird außerordentlich fruchtbar sein für die Klärung, Bereicherung und Berichtigung des begrifflich Gedachten und für die Beurteilung seiner Gültigkeit und seiner Gültigkeitsgrade. HUSSERL betont, daß es nicht leicht ist - infolge mannigfacher Vorurteile und Mißverständnisse -, zur Wesensanschauung, wie er sie meint, zu gelangen.
    "Hat man aber die rechte Einstellung gewonnen und durch Übung befestigt, vor allem aber hat man den Mut gewonnen, in radikaler Vorurteilslosigkeit, um alle umlaufenden und angelernten Theorien unbekümmert, den klaren Wesensgegebenheiten Folge zu leisten, so ergeben sich alsbald feste Resultate, und bei allen gleich Eingestellten die gleichen; es ergeben sich feste Möglichkeiten, das selbst Gesehene anderen zu vermitteln, ihre Deskriptionen nachzuprüfen, die unbemerkten Einmengungen von leeren Wortmeinungen zur Abhebung zu bringen, Irrtümer, die auch hier, wie in jeder Geltungssphäre, möglich sind, durch Nachmessung an der Intuition kenntlich zu machen und auszumerzen."
Jedoch möchte diese Erklärung etwas zu optimistisch sein; jedenfalls steht die Versicherung, daß sich "feste Resultate ergeben", nicht recht im Einklang mit dem Zugeständnis, daß auch Irrtümer möglich sind.

Überhaupt dürfte es nötig sein, den zentralen Begriff der "Wesensanschauung" noch weiter zu klären und nachzuprüfen, ob nicht von den Vertretern der phänomenologischen Methode verschiedene Arten des Erkennens unter diesen Begriff gebracht werden, die nicht von gleicher Zuverlässigkeit sind. Meist handelt es sich darum, durch Reflexion auf den Sinn einzelner Worte (zum Teil mit Hilfe einer Analyse einzelner Beispiele) die mit diesen Worten verknüpften Bedeutungen (Begriffe) zu klären und von verwandten Begriffen abzugrenzen: so wenn SCHELER die Begriffe "Ziel" und "Zweck" sondert (430) oder REINACH die Begriffe "Anspruch", "Verbindlichkeit", "Versprechen", "Verzicht" nach ihrem Inhalt bestimmt (692f) oder die Unterschiede von "Mandat" und "Vollmacht" oder die eines "Vertreters" und eines "Boten" auseiandersetzt. Wenn man an die zahlreichen und ungelösten Streitfragen in der Jurisprudenz über den Sinn und die Beziehungen von Rechtsbegriffen denkt, so wird man mit der Behauptung einer "evidenten" Einsicht in "Wesen" und "Wesenszusammenhänge" vorsichtig werden. So bemerkt auch REINACH in seinem Aufsatz über "die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts" mit Recht: "Auch letzte Wesensintuitionen müssen erarbeitet werden"; sie fallen uns nicht mühelos und irrtumslos zu.

Da die Bedeutungen vieler Worte in der Umgangssprache und sogar in der Sprache der Wissenschaft vielfach nicht scharf umrissen oder schwankend sind, so läuft die Entscheidung hierher gehöriger Streitfragen nicht ganz selten darauf hinaus, daß eine bestimmte Verwendung eines Wortes empfohlen wird. Aber gelegentlich tritt das, was im Grunde nur als zweckmäßige sprachliche Konvention vorgetragen werden sollte, als "Wesenseinsicht" auf. So wenn es z. B. bei SCHELER heißt: "Als Zustände entsprechen dieser Wertreihe (des Heiligen) Seligkeit und Verzweiflung" (512); oder "die Person existiert nur im Vollzug ihrer Akte" (428); "Im Wunsch fehlt das Wirklichseinsollen" (440); "Es gibt keine Empfindungen" (562), oder "Ist ein Wert aber selbst gegeben, so wird auch das Wollen im Sein wesensgesetzmäßig notwendig" (469); womit doch eigentlich nur gesagt ist: nur dann nenne ich einen Wert "selbst gegeben", wenn sein Fühlen das Wollen determiniert.

Endlich aber handelt es sich beim Forschen nach dem "Wesen" vielfach um Fragen, die doch nur durch äußere oder innere Wahrnehmung, Beobachtung, Analyse, Vergleichung usw. gelöst werden können - also durch Erkenntnismittel, die in der Naturwissenschaft und Psychologie von jeher üblich waren und die Irrtum keineswegs ausschließen: man vergleiche etwa, wie SCHELER die verschiedenen Arten des Strebens (432) oder GEIGER den ästhetischen Genuß analysiert (567f).

Nicht zu vergessen ist, daß besonders große Schwierigkeiten auch in der Aufgabe liegen, das Geschaute begrifflich zu fassen und sprachlich zu formulieren. Bildliche Redeweisen sind dann oft kaum vermeidbar, und die Gefahr, daß sie wörtlich genommen werden, groß. Noch bedrohlicher ist vielleicht, daß mit der Berufung auf eine "Wesensanschauung" ein ähnlicher Mißbrauch getrieben wird wie mit derjenigen auf eine "intellektuelle Anschauung" zur Zeit der Herrschaft des spekulativen Idealismus (2).

Unsere Bemerkungen zeigen zugleich, daß in jenem Zurückgreifen auf "Wesensanschauung" ein methodisches Mittel vorliegt, das in seiner Anwendung durchaus nicht auf die Psychologie beschränkt ist.

Das ist in meinem Aufsatz (im "Archiv für die gesamte Psychologie", Bd. 21) noch nicht genügend zur Geltung gekommen. Dort steht z. B. Seite 125 der Satz: "Die Phänomenologie Husserls ist nicht von der Psychologie zu sondern, vielmehr als ihr grundlegender Teil anzuerkennen". Es war mißverständlich, daß ich hier jene Einschränkung wegließ, die ich auf der vorhergehenden Seite zugefügt hatte: die Phänomenologie, "soweit sie die psychologischen Begriffe mit Hilfe eines immanenten Schauens zu klären sucht". Durch eine Nichtbeachtung dieses Zusatzes kam dann auch ANSCHÜTZ (3) zu der Auffassung, ich sähe in HUSSERL den Vertreter einer lediglich auf Selbstbeobachtung basierenden Richtung der Psychologie.

Damit würde man freilich die Tragweite der HUSSERLschen Phänomenologie völlig verkennen. Sie soll vielmehr nach der Ansicht ihres Begründers die grundlegenden formalen (insbesondere logischen) wie materialen (ontologischen) Disziplinen der Philosophie umfassen; ja sie soll sich nicht auf die theoretischen Grundwahrheiten beschränken, sondern auch die axiologischen und praktischen mit einschließen (290).

Aber nicht nur durch ihren Umfang und ihren grundlegenden Charakter soll sich die Phänomenologie von der Psychologie unterscheiden, sondern sie hebt sich von der Psychologie wie von allen Erfahrungswissenschaften ab durch eine prinzipiell andere "Einstellung". Die Erfahrungswissenschaften sind und sollen "dogmatisch" sein, den Sachen zugewendet, unbekümmert um skeptische Bedenken und erkenntnistheoretische Probleme.
    "Auf der anderen Seite stehen die wissenschaftlichen Forschungen der erkenntnistheoretischen, der spezifisch philosophischen Einstellung, welche den skeptischen Problemen der Erkenntnismöglichkeit nachgehen, sie zunächst in prinzipieller Allgemeinheit lösen, um dann in Anwendung der gewonnenen Lösungen die Konsequenzen zu ziehen für die Beurteilung des endgültigen Sinns und Erkenntniswertes der Ergebnisse der dogmatischen Wissenschaften." (47)
HUSSERL hat besonders eingehend den Unterschied der "philosophischen" Einstellung der Phänomenologie und der "natürlichen" ("dogmatischen") der Erfahrungswissenschaften herausgearbeitet (48f).

Befindet sich der Mensch in der "natürlichen Einstellung", so ist die raumzeitliche Welt mit ihren Dingen und Lebewesen einfach für ihn da. Auf sie bezieht sich sein forschendes Betrachten, sein Beschreiben und Erklären, kurz sein theoretisches Bewußtsein, aber auch sein praktisches: sein Gefallen und Mißfallen, sein Hoffen und Fürchten, sein Wollen und Handeln. Auch kann er sich "reflexiv" auf sein Ich und dessen Erlebnisse zurückwenden, ohne deshalb die "natürliche Einstellung" zu verlassen. Ebensowenig tut er dies, wenn er entdeckt, daß die Welt hier oder dort anders ist, als er meinte, wenn er dieses oder jenes als "Schein" oder "Halluzination" aus ihr ausstreicht. Auch dies ändert nichts an der uns selbstverständlichen (nicht in einem besonderen Akt zu Bewußtsein kommenden) "Generalthesis der natürlichen Einstellung", daß diese mit den anderen Subjekten uns gemeinsame Welt als Wirklichkeit immer da ist.

Um nun aber in die philosophische Einstellung der Phänomenologie hineinzukommen, gilt es diese natürliche Thesis radikal zu ändern. Diese Änderung besteht nicht darin, daß wir die Wirklichkeit dieser Welt bezweifeln oder bestreiten; unseren natürlichen Glauben an sie geben wir nicht preis, wir ändern nichts an unserer Überzeugung: wir "klammern sie nur ein", setzen sie "außer Aktion", machen von ihr keinen Gebrauch. HUSSERL charakterisiert diese "Einklammerung" auch als eine gewisse Urteilsenthaltung (epoché), die sich mit der unerschütterten Überzeugung von der Wahrheit unseres natürlichen Glaubens an die Wirklichkeit wohl verträgt, aber diese eben ganz beiseite läßt. Und nicht nur die Existenz dieser Welt wird ausgeschaltet, sondern auch alle auch diese natürliche Welt bezüglichen Wissenschaften verfallen der "Einklammerung" in dem Sinne, daß von keinem ihrer Sätze, und seien sie von vollkommener Evidenz, Gebrauch gemacht wird, um auf ihn als einen für die Wirklichkeit gültigen irgendeine Behauptung der Phänomenologie zu gründen.

Mit der Ausschaltung der natürlichen, physischen und psychophysischen Welt werden aber zugleich auch alle die Gegenständlichkeiten ausgeschaltet, die sich durch die wertenden und praktischen Bewußtseinsfunktionen konstituieren, also alle Arten Kulturgebilde, Werke der technischen und schönen Künste, der Wissenschaften (als Kulturfaktor), die ästhetischen und praktischen Werte, ferner Schöpfungen wie Staat, Sitte, Recht, Religion. Demnach bezieht sich die Einklammerung auf alle Natur- und Geisteswissenschaften, eben als Wissenschaft, die der natürlichen Einstellung bedürfen. (108)

Aber die Einklammerung greift noch weiter. Zu jeder Gruppe von Einzelwissenschaften gehört eine "eidetische" Wissenschaft, eine "Ontologie", welche sich mit den "allgemeinen Gegenständen"" den "Wesen" der betreffenden Sphäre individuellen Seins beschäftigt. Alle diese - schon ausgebildeten oder erst zu postulierenden - Disziplinen erhalten ihre Klammern: so Geometrie, Phoronomie, "reine" Physik der Materie, eidetische Psychologie, Soziologie usw.

Jedoch nicht bloß die material-eidetischen Wissenschaften werden ausgeschaltet, sondern auch die formaen, wie formale Logik, bzw. Ontologie. Zwar will es scheinen, als ob auf diese Disziplinen als gültige jeder Forscher sich frei berufen können muß,
    "denn was immer er erforscht, immer sind es Gegenstände, und was formaliter für Gegenstände überhaupt (Eigenschaften, Sachverhalte überhaupt und dgl.) gilt, das ist auch sein eigen. Und wie immer er Begriffe und Sätze faßt, Schlüsse zieht usw., was die formale Logik über dergleichen Bedeutungen und Bedeutungsgattungen in formaler Allgemeinheit feststellt, geht auch ihn, wie jeden Spezialforscher in gleicher Weise an. Somit auch den Phänomenologen." (112)
Allein dieser betreibt ja nichts anderes als reine Bewußtseinsforschung, als deskriptive Analyse, die durch reine Intuition der Bewußtseinserlebnisse zu vollziehen ist. Die logischen Sätze, auf die er sich etwa zu berufen hätte, wären lediglich logische Axiome, wie der Satz des Widerspruchs, und deren absolute Geltung könnte er an dem, was ihm selbst gegeben ist, "exemplarisch einsichtig machen". Somit braucht die Phänomenologie überhaupt
    "nichts in Anspruch zu nehmen, als was wir am Bewußtsein selbst, in reiner Immanenz und wesensmäßig einsichtig machen können." (113)
Das führt uns nun sofort auf die Frage: Was bleibt eigentlich, wenn wir so alle Wissenschaften und ihre Gegenstände "einklammern", wenn wir die "phänomenologische Reduktion" vollziehen (wie HUSSERL jenen radikalen Übergang von der "natürlichen" zur phänomenologischen Einstellung auch nennt)? Fast möchte man fürchten, es bleibt für die Phänomenologie überhaupt nichts übrig. Aber dann würde man die "Einklammerung" mit Durchstreichung, mit Vernichtung verwechseln. Das ist sie aber durchaus nicht. Wir schalten ja nur die natürliche Setzung ("Thesis") einer Welt von Wirklichkeiten und Werten aus, die für uns bei unserem dogmatischen (naiven) Verhalten im praktischen Leben und in den vorphilosophischen Wissenschaften selbstverständlich unabhängig vom Bewußtsein vorhanden ist. Dieses "Ausschalten" bedeutet, wir "machen" diese Setzungen "nicht mehr mit", wir "leben" nicht mehr in ihnen. Aber indem wir uns so aus ihnen gewissermaßen zurückziehen, sinken sie nicht ins Nichts zurück, wir halten sie vielmehr fest als Gegenstand unserer Reflexion, wir erfassen sie in ihrem immanenten Wesen.

Was bleibt also als Gegenstand der Phänomenologie? "Das reine Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein"; dies ist das gesuchte "phänomenologische Residuum". Obwohl wir die ganze Welt mit allen Dingen, Lebewesen, Menschen, uns selbst inbegriffen, "ausgeschaltet" haben,
    "haben wir eigentlich nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das, recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzen in sich birgt, sie in sich konstituiert." (94)
So bleibt der Phänomenologie als Objekt der ganze Inhalt des vorwissenschaftlichen wie des (dogmatisch eingestellten) wissenschaftlichen Bewußtseins mit all seinen Setzungen bewußtseinstranszendenter Wirklichkeiten und Werte; nur sind diese Setzungen nicht mehr unsere eigenen Stellungnahmen, sondern lediglich Objekte unserer Reflexion. An all unserem Wissen, Werten und Wollen lassen wir die Geltung dahingestellt, aber seinen Inhalt einschließlich aller Geltungsansprüche untersuchen wir nunmehr. Die "Einklammerung" ist so lediglich das Mittel, das uns hilft den Blick zum "transzendental reinen" Bewußtsein zu wenden.

Machen wir uns die Sache noch an einem Beispiel klar. Angenommen, wir blicken mit Wohlgefallen auf einen blühenden Apfelbaum.
    "In der natürlichen Einstellung ist uns der Apfelbaum ein Daseiendes in der transzendentalen Raumwirklichkeit, und die Wahrnehmung, sowie das Wohlgefallen ein uns, den realen Menschen zugehöriger psychischer Zustand. Zwischen dem einen und dem anderen Realen, dem realen Menschen, bzw. der realen Wahrnehmung, und dem realen Apfelbaum bestehen reale Verhältnisse." (182)
Vollziehen wir nun die "phänomenologische Reduktion"! Jetzt bleibt es ganz dahingestellt, ob ich selbst und der Baum real sind, ob ein reales Verhältnis zwischen uns besteht: danach fragen wir überhaupt nicht, das schalten wir aus.
    "Diese thetische Wirklichkeit ist jetzt urteilsmäßig für uns nicht da. Und doch bleibt sozusagen alles beim Alten. Auch das phänomenologisch reduzierte Wahrnehmungserlebnis ist Wahrnehmung von diesem blühenden Apfelbaum in diesem Garten usw. und ebenso das reduzierte Wohlgefallen Wohlgefallen an diesem selben. Der Baum hat von all den Momenten, Qualitäten, Charakteren, mit welchen er in dieser Wahrnehmung erscheinender, in diesem Gefallen schöner, reizender und dgl. war, nicht die leiseste Nuance eingebüßt." (183)
Wir finden in der "reduzierten Wahrnehmung" als zu ihrem Wesen gehörig das Wahrgenommene als solches. Aber dieses "Baum-wahrgenommene" als solches (d. h. der "Sinn" der Wahrnehmung) ist nicht der wirkliche Baum, das Naturding. Der letztere kann abbrennen, in seine chemischen Elemente sich auflösen uws., der "Sinn" der Wahrnehmung dagegen nicht (4). Die "Einklammerung", d. h. die "phänomenologische Reduktion" der Wahrnehmung verhindert zwar jedes Urteil über die wahrgenommene Wirklichkeit, aber nicht das Urteil darüber, daß die Wahrnehmung Bewußtsein von einer Wirklichkeit ist (deren Setzung aber nicht vollzogen werden darf) und sie hindert eine Beschreibung des Wahrnehmungserlebnisses einschließlich der darin erscheinenden Wirklichkeit als solcher.

Was aber für die Wahrnehmung gilt, das gilt auch für Erinnerung, Phantasie, Denken, kurz alle "intentionale", d. h. auf einen Gegenstand gerichtete Erlebnisse, und zwar nicht nur für die theoretischen, sondern auch für die axiologischen und praktischen.

Nun ist es aber die "Intentionalität", die Bewußtsein in einem
    "prägnanten Sinn charakterisiert und es rechtfertigt, zugleich den ganzen Erlebnisstrom als Bewußtseinsstrom und als Einheit eines Bewußtseins zu bezeichnen." (168)
Somit bleibt als Objekt der Phänomenologie der Erlebnisstrom in seiner ganzen Fülle, mit seinen reellen Bestandsstücken, wie mit all den gegenständlichen Korrelaten, die in ihm bewußt sein, aber all dies in seiner immanenten Beschaffenheit ohne Vollzug einer auf Außerbewußtes gerichteten Setzung. Und zwar ist die Phänomenologie "eidetische" Wissenschaft "Wesenslehre des transezendental gereinigten (d. h. der phänomenologischen Reduktion unterzogenen) Bewußtseins" (114); sie will die "reinen" Erlebnisse in ihrem Wesen anschaulich erfassen und beschreiben, nicht minder die Wesenszusammenhänge. -

Alle diese, etwas weit ausholenden Erwägungen waren nötig, um die früher aufgeworfene Frage zu beantworten, wie HUSSERL die Phänomenologie von der (empirischen) Psychologie im Hinblick auf die "Einstellung" des Forschers unterscheidet. Beide haben ja den Bewußtseinsstrom und die ihn bildenden Erlebnisse zum Gegenstand, aber der Psychologe faßt sie nach HUSSERL als reale Vorgänge, der Phänomenologe schaltet ihre Realität aus und betrachtet sie lediglich nach ihrem immanenten Wesen. Die Psychologie ist nach ihm
    "eine Wissenschaft von Realitäten. Die Phänomene, die sie als psychologische Phänomenologie behandelt, sind reale Vorkommnisse, die als solche, wenn sie ein wirkliches Dasein haben, mit den realen Subjekten, denen sie zugehören, der einen räumlich-zeitlichen Welt als der omnitudo realitatis [All der Realität - wp] sich einordnen."
Dagegen sind für die Phänomenologie die psychischen Phänomene durch die "phänomenologische Reduktion" gereinigt von dem, was ihnen Realität und damit eine Einordnung in die reale Welt verleiht (Seite 4).

Die Psychologie gehört zur Reihe der Erfahrungswissenschaften, die zum Gegenstand die psychophysische Natur in ihrer vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit haben. Das Bewußtsein, das als menschliches und tierisches und zwar in einer Verbindung mit der Körperlichkeit der Erfahrung gegeben ist, gehört zur Natur. Das menschliche Bewußtsein insbesondere erscheint als "Bewußtseinszuständlichkeit eines identischen realen Ichsubjekts, das in ihr seine individuellen realen Eigenschaften bekundet". Für den Phänomenologen ist aber der Mensch mit seinen Zuständlichkeiten hinsichtlich seiner realen Existenz der "Ausschaltung" verfallen, er ist lediglich den Bewußtseinserlebnissen als solchen in ihrer "Reinheit" zugewendet, die nun keine Naturbedeutung mehr haben.

Ehen wir zu diesem ersten Unterscheidungsmerkmal zwischen Psychologie und Phänomenologie ein paar kritische Bemerkungen machen, erwähnen wir noch das zweite, das HUSSERL angibt. Die Psychologie ist als Erfahrungswissenschaft Wissenschaft von Tatsachen, von matters of fact im Sinne HUMEs; dagegen will die Phänomenologie als "eidetische" Wissenschaft durchaus keine Tatsachen als solche feststellen, sondern "Wesenserkenntnisse" gewinnen. Es ist dabei zu beachten, daß HUSSERL den Begriff "Erfahrung" auf die Erkenntnis der Naturwirklichkeit einschränkt (Seite 35), und daß er unter "Tatsachen" wohl lediglich "singuläre Einzelheiten" (Seite 4) versteht. Von solchen geht die Phänomenologie zwar aus, aber sie "läßt die Individuation" fallen; freilich erhebt sie dann
    "den ganzen Wesensgehalt in der Fülle seiner Konkretion ins eidetische Bewußtsein und nimmt ihn als ideal-identisches Wesen, das sich, wie jedes Wesen, nicht nur hic et nunc [hier und jetzt - wp], sondern in unzähligen Exemplaren vereinzeln könnte." (140)
Übrigens dürfte man, ohne gegen HUSSERLs Grundgedanken zu verstoßen, den in Rede stehenden Sachverhalt wohl so formulieren: die Phänomenologie kann insofern auch als Tatsachenwissenschaft bezeichnet werden, als sie nicht von Theorien, sondern von Tatsachen ausgeht, und zu diesem Zweck zunächst Tatsachen feststellen muß. Aber ihr eigentliches Ziele ist nicht die Erkenntnis einzelner Tatsachen als solcher, sondern sie will durch eine Betrachtung der Tatsachen deren Wesen und das Wesen der zwischen Tatsachen bestehenden Beziehungen erfassen. Mit Recht betont GEIGER (Jahrbuch Bd. 1, Seite 570f): durch "Induktion" zu Resultaten gelangen und durch ein Befragen der Tatsachen Ergebnisse erzielen, seien keineswegs nur verschiedene Ausdrücke für dasselbe Verfahren. In Wirklichkeit ist die Induktion der engere Begriff; sie sei nur eine Methode, aufgrund der Tatsachen zu Erkenntnissen zu gelangen. Und zwar kommt man hierbei aus der Erkenntnis des einzelnen Falles durch Verallgemeinerung und Wahrscheinlichkeitsschluß zu allgemeinen Erkenntnissen. In der phänomenologischen Forschung dagegen erfaßt man durch "Intuition" das Wesen, indem man sich die Gesetzmäßigkeit anhand des Einzelfalls vor Augen stellt.

Auch SCHELER erklärt, daß sich jede Erkenntnis auf "Tatsachen" zu stützen hat (446); er nennt die "Wesensschau" unbedenklich eine "phänomenologische Erfahrung" (447) und bemerkt, daß sie sich durch zwei Merkmale von aller andersartigen Erfahrung unterscheidet:
    1) sie gibt die "Tatsachen" selber und daher unmittelbar;

    2) Sie ist allein "rein immanent", d. h. sie enthält nur das, was im jeweiligen Akt des Erfahrens selbst anschaulich ist. (449f)
Nun haben wir aber bereits oben gehört, daß HUSSERL wie der übrigen Erfahrungswissenschaft so auch der empirischen Psychologie eine "materiale Ontologie" zuordnet, nämlich die "eidetische Psychologie". Auch sie beschäftigt sich ihrem Begriff nach nicht mit individuellen Tatsachen, sondern mit Wesen. In dieser Hinsicht stimmt sie demnach mit der Phänomenologie überein, für sie gilt also nicht das zweite Unterscheidungsmerkmal. Sehen wir zu, welche Bedeutung dem früher besprochenen ersten Unterscheidungskriterium für die Abgrenzung von "eidetischer Psychologie" und "Phänomenologie" zukommt.

HUSSERL hat diese Abgrenzung in dem bis jetzt veröffentlichten ersten Buch seiner "Ideen" noch nicht vollzogen sondern für das zweite in Aussicht gestellt. Jedoch darf man wohl in seinem Sinn annehmen, daß jener erste Unterschied zwischen Phänomenologie und Psychologie nicht bloß für die empirische, sondern auch für die "eidetische" Psychologie gelten soll. Er setzt also wohl voraus, daß wir auch in der eidetischen Psychologie in der "natürlichen Einstellung" verbleiben, d. h. in dem Glauben an die psychophysische Wirklichkeit leben, während wir in der Phänomenologie diesen Glauben und die in ihm liegende Thesis "einklammern".

Daß es zulässig ist in dieser Weise die beiden Disziplinen zu sondern, erkenne ich an, aber es will mir scheinen, daß diese Unterscheidung für die Forschungsarbeit selbst nicht von solcher Wichtigkeit ist, daß sie immer im Bewußtsein festgehalten werden müßte.

HUSSERL selbst gibt zu, daß die eidetische Psychologie mit der Phänomenologie "innig verbunden" ist (159). Und wenn er an einer anderen Stelle (184) versichert, daß die letztere "von aller Psychologie durch Abgründe getrennt" ist, so hat er dabei doch wohl nur die empirische Psychologie im Auge.

Wenn auch die phänomenologische Betrachtungsweise die "umfassendere und radikalere" ist, so kann doch "jede phänomenologische Feststellung über ein absolutes Bewußtsein umgedeutet werden in eine eidetisch-psychologische" (143). So wenig ein arithmetischer Ausdruck durch die "Einklammerung" in seinem Wert und in seiner Zusammensetzung geändert wird, so wenig wird das Wesen eines Erlebnisses durch seine "Einklammerung" modifiziert. Die Feststellungen der Phänomenologie bleiben darum ihrem Inhalt nach ungeändert, sie werden gewissermaßen nur mit einem besonderen Vorzeichen versehen, wenn sie als eidetisch-psychologische gefaßt werden. Wir erinnern uns dann nur daran, daß jene Feststellungen über das Wesen von Erlebnissen nicht bloße Fiktionen sind, sondern daß es reale psychische Geschehnnisse gibt, die ein solches Wesen ansich tragen.

Es ist ohne Weiteres zuzugeben, daß man seither in der Psychologie diese feinen Unterschiede zwischen "Phänomenologie" (im Sinne HUSSERLs) und "eidetischer Psychologie" nicht gemacht hat, und daß das, was man in Psychologenkreisen "Phänomenologie" (oder "reine", bzw. "deskriptive" Psychologie) nannte, als "eidetische" Psychologie zu charakterisieren ist. Aber nachteilige Folgen dürfte das Fehlen dieser Unterscheidung nicht gehabt haben. Denn wenn man als deskriptiver Psychologe irgendeine Erlebnisklasse (sei es Wahrnehmung oder Erinnerung oder Willensakt usw.) allgemein charakterisieren wollte, so sah man im individuellen Erlebnis, von dessen Betrachtung man ausging, nur ein beliebiges Exemplar, das jenes gesuchte Wesen veranschaulichte, auf dessen Wirklichkeit im realen Naturzusammenhang es aber dabei gar nicht ankommt, weil man nicht auf die Existenz, sondern eben auf die Essenz, das Wesen achtet. (5)

Daß aber der modernen Psychologie die immanente Wesensanalyse noch fremd ist - für diese allgemeine Anklage HUSSERLs (158) vermißt man auch in seinem neuen Werk wirklich ausreichende Belege. Viel billiger urteilt ALEXANDER PFÄNDER in seinem Aufsatz "Zur Psychologie der Gesinnungen" (Jahrbuch Bd. 1, Seite 329), daß bedeutsame Fortschritte der modernen Psychologie gerade durch die Fortschritte der phänomenologischen Einsichten bedingt worden sind, "mögen sie nun unter diesem oder unter einem anderen Titel aufgetreten sein". Vor allem dürfte dies für die sorgfältige qualitative Analyse der Bewußtseinsphänomene gelten, wie sie von der modernen Psychologie des "Denkens" angestrebt und geübt wird.

Mit dieser Betrachtungsweise steht die phänomenologische Methode, wie sie von HUSSERL selbst und seinen Schülern und Anhängern in Bezug auf psychologische Gegenstände tatsächlich gehandhabt wird, im besten Einklang. Zum Beleg dafür wies ich bereits in meinem ersten Aufsatz (6) hin auf die 1910 erschienene Göttinger Dissertation von WILHELM SCHAPP, "Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung". Eine weitere Bestätigung für diese meine Behauptung bietet der Aufsatz eines anderen Schülers von HUSSERL, HEINRICH HOFMANNs, "Untersuchungen über den Empfindungsbegriff" (Göttinger Dissertation von 1912) (7).

Besonders lehrreich ist es, ihn zu vergleichen mit dem Buch eines experimentellen Psychologen, DAVID KATZ, "Die Erscheinungsweisen der Farben" (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Ergänzungsband 7, Leipzig 1911). Auf die Übereinstimmung mit diesesn weist HOFMANN selbst hin (a. a. O., Seite 71, 78).

Von den "Abgründen", die nach HUSSERL alle Psychologie von der Phänomenologie trennen, wird man da wenig merken.

Ferner prüfe man die Beispiele von phänomenologischen Analysen, die HUSSERL seinen "Ideen" einverleibt hat. Sie können ohne weiteres für die Forschungsrichtung nutzbar gemacht werden, die man schon seither in den Kreisen der empirischen Psychologen "deskriptive" Psychologie oder "Phänomenologie" genannt hat.

Das Gleiche gilt für die Abhandlung von MORITZ GEIGER, "Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses" (Jahrbuch Bd. 1, Seite 567-684).

Schließlich sei hingewiesen auf den Aufsatz "Zur Psychologie der Gesinnungen", den ALEXANDER PFÄNDER in HUSSERLs "Jahrbuch", Bd. 1, Seite 325-404, unmittelbar hinter HUSSERLs "Ideen" selbst veröffentlicht hat. Da lesen wir (328) die methodische Vorbemerkung:
    "Die psychologische Erkenntnis der Gesinnungen hat notwendig zu beginnen mit einer Phänomenologie der Gesinnungen. Die Phänomenologie des Psychischen hat vorzudringen bis zur direkten Erfassung des Psychischen selbst und dann eine völlig getreue Beschreibung des psychischen Bestandes selbst zu geben. Sie gewinnt so die letzte grundlegende Kenntnis des Seelischen. Und nur wo diese auf einem seelischen Gebiet erreicht ist, kann man der Gefahr entgehen, daß man wesentlich verschiedene Tatsachen miteinander verwechselt. Läßt man dagegen das Was der seelischen Tatsachen ununtersucht im Dunkel stehen, so gewinnt man sicher ein falsches konstruktives Bild von der psychischen Wirklichkeit überhaupt, und man verschwendet unter Umständen umfangreiche Arbeit an psychologische Untersuchungen, die von vornherein hinfällig sind, weil ihnen die hinreichende phänomenologische Grundlage fehlt, die allein imstande ist, die unbekemerkten falschen Voraussetzungen über die psychischen Wirklichkeit zu beheben und zu zerstören."
Welcher besonnene Psychologe möchte dieser Mahnung nicht beistimmen! Aber sie wird ihm schwerlich als etwas Neues und von ihm bisher nicht Beachtetes erscheinen. -

Wenn man die vorstehenden Ausführungen mit denen meines ersten Aufsatzes vergleicht, so wird man in ihnen zahlreiche Ergänzungen finden, die, wie ich hoffe, dem Verständnis der Ideen HUSSERLs dienlich sind; man wird aber auch in zwei Punkten eine Berichtigung bemerken.

Zunächst wird schärfer betont (was dort nicht ausreichend hervorgehoben war), daß die Phänomenologie im Sinne HUSSERLs einen sehr umfassenden Charakter trägt, weil sie nicht bloß für die Psychologie, sondern für alle Erfahrungswissenschaften grundlegend ist; sie untersucht nämlich nicht nur alle Arten intentionaler Erlebnisse, sondern auch deren gegenständlichen Sinn (188f). Indessen kam es mir in jenem Aufsatz nicht darauf an, Umfang und Tragweite der Phänomenologie zu charakterisieren, sondern ihre Beziehungen zur Psychologie festzustellen.

Was nun diese Beziehungen betrifft, so gilt ihnen die zweite Berichtigung: ich erkenne an, daß die Phänomenologie mit Rücksicht auf die ihr eigentümliche "Einklammerung" jeder Setzung von Wirklichkeit von der Psychologie, auch von der "eidetischen" im Sinne HUSSERLs (d. h. von der die psychischen Erlebnisse nach ihrem immanenten Wesen bloß beschreibenden) zu sondern ist. Aber wir haben gesehen, daß diese Sonderung nur rein theoretische Bedeutung hat, daß sie für die Praxis der Forschung tatsächlich ganz zurücktritt. Und so kann ich dem Sinn nach die Hauptthese meines früheren Aufsatzes aufrechterhalten,
    "daß die Phänomenologie, soweit sie die psychologischen Begriffe mit Hilfe eines immanenten Schauens zu klären sucht, selbst - Psychologie, ja deren grundlegender Teil ist." (8)
Bei genauerer Formulierung könnte ich mich so ausdrücken (wie HUSSERL einmal Seite 159 sagt): "daß die Phänomenologie (bzw. die eidetische Psychologie) für die empirische Psychologie die methodisch grundlegende Wissenschaft ist". Wie wenig er aber selbst diese genauere Formulierung für notwendig hält, ergibt sich daraus, daß er an anderer Stelle (Seite 34) kurzerhand erklärt, daß "die Phänomenologie das wesentliche eidetische Fundament der Psychologie und der Geisteswissenschaften ausmacht."

Nach dem Gesagten kann icht getrost dem Leser das Urteil darüber überlassen, inwieweit HUSSERLs Vorwurf (158, A. 2) gegen meinen ersten Aufsatz berechtigt ist, ich hätte "den Sinn seiner Darlegungen (9) mißverstanden". Er hat diesen Vorwurf nicht weiter begründet, ebensowenig wie den gleichen, den er gegen KÜLPE (11, A. 1) und COHN (158, A. 2) gerichtet hat (10). Er hat nur noch bemerkt, daß die Lehren, die als die seinen bekämpft würden, durchaus nicht die seinen sind. Ich möchte demgegenüber betonen, daß die Haupttendenz meines ersten Aufsatzes durchaus keine polemische war - daß ich an seinen zu weit gehenden Angriffen gegen die experimentellen Psychologen Kritik übte, war unerläßlich, aber nicht die Hauptsache: vor allem wollte ich vielmehr - und das ist auch die Hauptabsicht dieses zweiten Aufsatzes - auf die große Bedeutung der Phänomenologie Husserls für die Psychologie hinweisen. Ich möchte jedenfalls hoffen, daß die "Ideenfeindschaft", die HUSSERL neuerdings den Psychologen zum Vorwurf macht (34), sich gegenüber seinen "Ideen zu einer reinen Phänomenologie" nicht bekundet. Ob sie überhaupt Tatsache ist, wage ich übrigens zu bezweifeln.
LITERATUR August Messer, Husserls Phänomenologie in ihrem Verhältnis zur Psychologie, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 33, Leipzig 1914
    Anmerkungen
    1) Im ersten Band des "Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung", Halle/Saale 1913. Darauf beziehen sich die Seitenzahlen im Text. Auch die übrigen Aufsätze des Bandes sind berücksichtigt.
    2) Man prüfe unter diesem Gesichtspunkt die zum Teil ganz apodiktisch aufgestellten, kühnen Behauptungen Max Schelers, der in seinem (übrigens sehr beachtenswerten) Aufsatz über den "Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" (Jahrbuch, Bd. 1, Seite 405-565) ebenfalls auf Wesensanschauung seine Ausführungen aufbaut. Da lesen wir (ohne weitere Begründung) Sätze wie den: "Alle möglichen Werte aber sind fundiert auf den Wert eines unendlichen persönlichen Geistes und der vor ihm stehenden Welt der Werte. Die Werte erfassenden Akte sind selbst nur die absolut objektiven Werte erfassend, sofern sie in ihm vollzogen werden, und die Werte nur absolute Werte, sofern sie in diesem Reich erscheinen." Auch was über die "apriorische" Rangordnung der Werte als "evident" vorgetragen wird (507f), wird vielfach Widerspruch finden.
    3) In seinem Referat über meinen Archiv-Aufsatz in der "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane", Bd. 62, Seite 224.
    4) Ihn "intentionales" oder "immanentes" Objekt zu nennen, vermeidet Husserl mit Recht deshalb, weil dies leicht zu dem Irrtum führt, dieses "mentale" Objekt als reelles Element des Wahrnehmungserlebnisses anzusehen. Dann würden zwei Realitäten einander gegenüberstehen: das "wirkliche" Ding und das "immanente", das als Abbild von jenem fungiert. Der Wahrnehmung aber darf kein Bildbewußtsein untergeschoben werden, das deskriptiv betrachtet ganz anders beschaffen ist (185f).
    5) Darauf habe ich schon in meinem früheren Aufsatz hingewiesen.
    6) a. a. O.
    7) Auch erschienen im "Archiv für die gesamte Psychologie", Bd. 26, Heft 1/2.
    8) a. a. O. Seite 124
    9) Besonders seines Aufsatzes in der Zeitschrift "Logos", Bd. 1, Seite 302-322.
    10) Auf mein briefliches Ersuchen um eine nähere Begründung dieses Vorwurfs antwortete er lediglich damit, daß er ihn etwas anders formulierte und daß er auf die oben besprochene Stelle im Referat von Anschütz über meinen Aufsatz hinwies. Ich darf aber wohl den Anspruch erheben, daß meine Ausführungen nach ihrem originalen Text, nicht nach einem knappen Referat darüber beurteilt werden.