ra-2 Die ArbeiterfrageDer treibende Faktor ...Die Quintessenz des Sozialismus    
 
MAX SCHELER
Die Zukunft des Kapitalismus

"In der werdenden Weltanschauung der Jugend sind die geistigen Ermüdungserscheinungen des Skeptizismus, des Relativismus, des Historismus, des Herumwühlens im eigenen Ich zurückgetreten und die Richtung auf den unmittelbaren Erlebniskontakt mit den Sachen selbst, auf absolute Einsicht, die Tatkraft und Charakter stählt, auf expansive Hingabe an die Welt in kräftigem Fortschritt begriffen. Diese Wandlungen sind eben darum hoffnungserwecken, weil sie nicht auf bestimmte soziale Klassen oder Parteien beschränkt sind, sondern alle Klassen mit ihrem neuen Geist durchdringen. Handelt es sich bei der Überwindung des Kapitalismus um die Verdrängung eines bestimmten Typus und seiner Ideale aus der Herrschaft, so ist ja auch nur von solchen Wandlungen und nicht vom Sieg einer bestimmten Klasse oder Partei irgendetwas Wesentliches zu erwarten."

Vorwort

Der Kapitalismus ist an erster Stelle  kein  ökonomisches System der Besitzverteilung, sondern ein ganzes Lebens- und Kultursystem. Dieses System ist entsprungen aus den Zielsetzungen und Wertschätzungen eines bestimmten bio-psychischen  Typus Mensch,  eben des Bourgeois und wird von deren Tradition getragen. Ist diese These richtig, die wir mit SOMBART teilen, so ist nach dem Satz  cessante causa cessat effectus  [mit der Aufhebung der Ursache verschwindet die Wirkung - wp] und dem nicht weniger gültigen, daß erst durch Veränderung (Abnahme) der Ursache eine Veränderung (Abnahme) der Wirkung zu erwarten ist, auch nur dadurch und in dem Maße ein Niedergang des Kapitalismus zu hoffen, als eben dieser Typus  Mensch  seine Herrschaft verliert; sei es, daß er in seiner eigenen Natur und der ihr immanenten Entwicklungstendenz einen Keim des Aussterbens trägt; sei es dadurch, daß wenigsten sein Ethos durch das Ethos eines andersartigen Typus Mensch in der Herrschaft abgelöst wird.

Schon kraft dieser aus dem Ergebnis der Ursachenforschung des Kapitalismus sich notwendig ergebenden Problemstellung ist es ausgeschlossen, von einer irgendwie erfolgenden Abänderung der bestehenden Eigentums-, Produktions- und Verteilungsordnung der Wirtschaftsgüter (wie sie alle sozialistischen Parteien fordern und erwarten) ein Verschwinden des Kapitalismus, sei es ein plötzliches durch Revolution, sei es ein allmähliches durch Evolution nach einem vorgeblichen, dem modernen Wirtschaftsleben innewohnenden Richtungsgesetz (Tendenz zum Großbetrieb, Akkumulation des Kapitals in immer weniger Hände usw.), zu erwarten; daß dieses sogenannte Richtungsgesetz der Entwicklung für die Landwirtschaft nicht besteht und in ihr der Kleinbetrieb einen im Wesen von Körnerbau und Viehzucht gelegenen dauernden ökonomischen Vorrang vor dem Großbetrieb erhält, gehört überdies zu den am sichersten festgestellten Tatsachen der nationalökonomischen Wissenschaft. Ist diese Lösungsart der Frage schon darum eine unmögliche, da sie aus der Einheit des kapitalistischen Kultursystems das Teilsystem der Wirtschaft - ja der bloßen Industrie - herausreißt und von  seiner  primären Änderung eine solche des Ganzen, auch des "Überbaus" erhofft (materialistische Geschichtsauffassung); da sie zweitens auf dem kausalen Irrtum beruth, es sei der Bürgertypus eine Folgeerscheinung der kapitalistischen "Ordnung" (und nicht umgekehrt, wie wir behaupten, diese Ordnung eine Folge des "Bürgergeistes"), so ist andererseits klar, daß jede solche Änderung selbst nur in dem Maße möglich werden kann, als jener Menschentypus samt seinem "Geist" seine Herrschaft verliert. Ein solcher Vorgang ist aber durch das bloß numerische Anwachsen des Proletariats als ökonomischer Klasseneinheit und dem ihm entsprechenden Anwachsen seiner politischen Macht- und Rechtstellung schon darum niemals zu erwarten, da der Klassengeist des "Proletariats" selbst nur eine bestimmte  Abwandlung  des Ethos jenes Typus darstellt; soweit ihm wenigstens als "Proletariat", d. h. einer durch  Besitz interessen gebundenen Einheit  gemeinsame  Einstellungen überhaupt zukommen, eben jene, die seiner besonderen gedrückten Stellung und Lage im Bourgeois-Staat und in der Bourgeois-Gesellschaft gemäß sind. Weder die revolutionär-syndikalistische noch die evolutionär-parlamentarische und altgewerkschaftliche Methode des Vorgehens verspricht irgendwelchen durchschlagenden Erfolg, solange das  bürgerliche Ethos  die verschiedenen kämpfenden Einheiten  gemeinsam  beseelt und es nur die  ökonomischen  Interesseneinheiten und -gegensätze gegen die Minderheit von Besitz und Macht sind, die sie - immer  innerhalb  des Spielraums dieses  Ethos,  nicht außerhalb seiner - zu solchen Kampfeinheiten gestalten. Werden die Gewerkschaften groß und mächtig wie die älteren englischen, so werden sie - wie deren Geschichte zeigt - selbst ganz und gar von bourgeoisem Geist erfüllt. Bleiben sie klein und arm wie die Mehrzahl der französischen, so sind sie trotz des ganzen syndikalistischen Draufgängertums schließlich wirkungslos.

Ebensowenig aber kann eine Beseitigung oder auch nur eine Ermäßigung des kapitalistischen Ethos von einer  spontanen  Staatsbetätigung im Sinne einer sich immer erweiternden Sozial- und Versicherungspolitik, die aus der Gesinnung der herrschenden Minorität selbst hervorquölle, ernsthaft erwartet werden; oder gar aus moralischen oder religiösen Predigten und Ermahnungen, die auf eine der Sozialpolitik freundliche Gesinnung hinzuwirken suchen. Ich sage das nicht, weil ich die Leistungen dieser Richtung  innerhalb  der kapitalistischen Ordnung und Epoche unterschätzte oder gar der Meinung wäre, daß die unerfreulichen Begleiterscheinungen der sozialpolitischen Gesetzgebung (Verringerung des Selbstverantwortlichkeitsgefühls, steigendes Sichverlassen auf den Staat und daraus folgende Schaffens- und Lebensmüdigkeit, endlose Bürokratisierung der Produktionstätigkeit und Überlastung der die Gesetzgebung ausführenden Beamtenschaft mit unübersehbaren Bestimmungen, Versicherungskrankheit usw.) so einschneidende wären, daß sie deren Vorteil überwögen. Ich bin der entgegengesetzten Meinung und es bedarf nur eines geringen Scharfblickes, um zu sehen, daß wir bereits mit vollen Segeln in die ersten Stadien des sozialistischen Staates hineingefahren sind; daß wir auf dem Weg weiter müssen, der zum Ziel führt, den der sterbende HERBERT SPENCER mit den lapidaren Worten charakterisierte: "Es wird kein Mann mehr tun können, was er will, sondern jeder nur, was ihm geheißen wird." Die Tatsache selbst aber,  daß  die freiheitsfeindlichen Medikamente des steigenden Staatssozialismus die einzig möglichen geworden sind, welche das Maximum der Volkswohlfahrt noch zu fördern vermögen, ist selbst eine der übelsten  Folgen  der  Herrschaft  des kapitalistischen Geistes. Das steigende Übergewicht des "Sicherung" fordernden Bürgergeistes über die Komponente des aktiven Unternehmungsgeistes, das sich unter anderem auch in der Bürokratisierung der Unternehmungen äußert, ist ja die  Voraussetzung,  unter der die Sozialpolitik erst jene wohltätigen Folgen hat. Alles das, was Sozialpolitik und die Gesetzgebung auch im weitest möglichen Ausmaß zu leisten vermögen, das ist daher nicht Abänderung des Ethos und Geistes, welche die kapitalistische Ordnung in letzter Linie tragen und nähren, sondern es ist nur diejenige Art der Abstellung grober Mißstände und Beeinträchtigungen der Wohlfahrt der großen Massen, die sich unter der noch bestehenden Herrschaft dieses "Geistes" allein ergeben  können  und  müssen.  Die Herrschaftsdauer dieses "Geistes" selbst aber wird durch diese Maßregeln eher  verlängert  und  befestigt  als verkürzt oder aufgehoben. Es sind ja nur dieselben Grundmotive der maximalen Sicherung der ökonomischen Lebensgrundlagen, die sich im Bedarf einer solchen Gesetzgebung regen, deren Vorwiegen über die muthafte, gläubige Lebenseinstellung wir früher als eine der Grundkräfte des Bourgeoisgeistes überhaupt erkannt haben. Nur die Auswirkung dieser Motive ist je nach den  Klassen interessen verschieden.

Dazu unterliegt der Staat im selben Maße, als er selbst Unternehmer wird, sofern er mit der Privat- und Kommunalunternehmung noch konkurrieren will, eben  denselben  Strukturen der ökonomischen Motivation (grenzenloses Erwerbsstreben usw.) wie die Einzelunternehmung. Auch er  muß  in dem Maß, als er Unternehmer wird,  Diener  seines Geschäfts und dessen grenzenlosem Wachstum werden. Anstatt den kapitalistischen Geist durch seine Betriebe zu steuern, muß er sich selbst damit erfüllen, muß er selbst "kapitalistischer Unternehmer" werden und so die Herrschaft dieses Geistes nur noch mit einem  Plus  von  Autorität  umkleiden. Soweit seine sozialpolitische Gesetzgebung über das Ziel hinausgehen möchte, die Arbeitskräfte bloß im Sinne des ökonomischen Prinzips möglichst zu schonen, ist ihm das also durch seine eigene Natur als "Unternehmer" unmöglich gemacht. Eben darum behält das radikal-sozialdemokratische Urteil, daß alle Sozialgesetzgebung dem Kapitalismus gegenüber prinzipiell ohnmächtig sei und nur als vorläufiges Surrogat angesehen werden könne, ja in gewissem Sinne die Lebensdauer dieser Ordnung nur verlängere, - im Grunde sein inneres  Recht.  Diese konstitutive Ohnmacht des Staates unter der Herrschaft des Bourgeoistypus und seines Geistes wird aber durch einen wichtigen Umstand noch vervollständigt. Die Gruppen und Kreise, welche sozialpolitische Gesetze und Maßregeln nicht als etwas empfinden und gelten lassen wollen, was die Masse und ihre Drohungen dem Staat von unten her abzwingt und abringt, sondern als ein Werk freier, spontaner Staatstätigkeit ansehen, das purem staatlichem Pflichtbewußtsein zu entquellen habe, sind - obwohl sie von Haus aus dem Bourgeoistypus biologisch und historisch nicht angehören - im Laufe des Fortgangs der jüngsten kapitalistischen Entwicklung gleichfalls so stark vom "Geist" dieses Typus angesteckt worden, daß eine spontane Sozialpolitik durch sie immer aussichtsloser erscheint. Um sich selbst zu erhalten, wurden sie zwar nicht Diener der Bourgeoisie als  Klasse  - im Gegenteil ihre grimmisten Feinde -, aber doch Diener ihres  Geistes  und das mitten  im Kampf gegen sie als Klasse.  Durch die Vermittlung der vorbildlichen Wirksamkeit von industrialistischen Unternehmertypen, wie sie z. B. in Deutschland in der Reichspartei und im rechten Flügel des Nationalliberalismus vertreten sind und hinsichtlich der Lebensführung und der Lebensgewohnheiten durch Nachahmung des aus der Bourgeoisie aufgestiegenen Adels, durch Verheiratung und Verschwägerung mit der Haute-Finance, durch ihre Anpassung an einen kapitalistisch beseelten Staat in ihrem Dienst an diesen als Beamte, durch die steigende Angliederung von Industrien an den Grundbesitz und die formale Erfüllung auch der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit mit dem kapitalistischen Geist, besonders des hier "unökonomischen" Großbetriebs, - haben sie längst das historisch-traditionelle Rückgrat verloren, das ein auch nur einigermaßen erfolgreicher Kampf  gegen  den Kapitalismus voraussetzen würde. Die Ziele dieser Gruppen haben sich immer mehr auf die Erhaltung der Reste ihrer politischen Macht und Vorrangstellung und zwar zum Zweck, ihren eigenen, längst kapitalistisch gewordenen Willen und Geist möglichst einseitig und widerstandslos gegen die "Konkurrenz" der übrigen Klassen durchzusetzen, zusammengezogen; wogegen ein resolutes  Abtun dieses Willens und Geistes  selbst für sie kaum mehr in Frage tritt. (1)

Jeder Versuch, gegen diese Tendenz einen sogenannten "Kulturkonservatismus" zu begründen, muß gegenüber obigen Tatsachen kläglich scheitern. Die Dandys, die heute dem Parteikonservatismus "geistige" Grundlagen zu geben wünschen und von ihrer plötzlichen Entdeckung des Wertes guter Manieren und Manschetten, die keine Röllchen sind, bis zu Annahme der sogenannten (nicht existierenden) "konservativen Weltanschauung" (die sie komischerweise doch erst zu  "machen"  wünschen) fortschritten, sind die lächerlichsten Erscheinungen unserer Zeit. Die Erfüllung der einzigen Gruppen aber, deren biopsychischer Typus und deren historische Traditionswerte noch einen resoluten Kampf  gegen  den Kapitalismus erwarten ließen, mit kapitalistischem Geist und Ethos, ist aber nur ein Beispiel für die Durchsetzung einer der bedeutungsvollsten Tendenzen, welche die gesamte welthistorische Entfaltung jenes Kultursystems beherrscht. Diese "Tendenz" besteht darin, daß die ursprünglich aus Ressentiment geborenen Wertschätzungssystem der Massen und der älteren Unterschichten der europäischen Völkerwelt - wir dürfen auch sagen, die ihrem Wesen nach "demokratischen" Wertschätzungen überhaupt -, im Laufe der historischen Entfaltung ihrer  faktischen  Realisierung in der kapitalistischen Ordnung, immer weniger die Wertschätzungen der jeweiligen  faktischen  Mehrheiten und der historischen "Demokratie" und immer mehr die Wertschätzungen der faktisch herrschenden  Aristokratien  und ihrer  Minderheiten  geworden sind. Scheiden wir daher überall aufs schärfste:  "Demokratische Wertschätzung",  "demokratisches Ethos" und jeweilig bestehende (politische und soziale) Demokratie; "aristokratische Wertschätzung" (als Wertschätzungsart) und die jeweils herrschende Aristokratie. Dort zwei Wesensarten von  Wertschätzungen,  entsprechen zweier menschlicher Vitaltypen! Hier zwei bestehende  faktische  Volksschichten: Faktisch beherrschte Mehrheit, faktisch herrschende Minderheit. Ist diese Scheidung streng vollzogen, so ist es natürlich gar nicht ausgeschlossen, daß eine faktisch herrschende Aristokratie und Minorität mehr und mehr zum Träger  demokratischer  Wertschätzungen wird (teils durch Aufsteigen des minderwertigen Vitaltypus in die herrschende Minorität, teils durch Ansteckung der Vertreter des höherwertigen Typus in dieser Minorität mit deren Geist); und auch nicht ausgeschlossen, daß sich eine bestehende Demokratie und Mehrheit immer  weniger  mit demokratischer Wertschätzung erfüllt zeigt. Der eigentliche Kern- und Springpunkt dessen, was wir Umbildung des vorkapitalistischen Geistes in den kapitalistischen Geist, langsamen Sieg der Sklavenmoral über die Herrenmoral nennen, liegt nun aber faktisch gerade darin, daß die  herrschenden Minorität  immer mehr mit demokratischem Ethos erfüllt wurden: Durchaus also liegt er  nicht  in der Kette von Revolutionen und Massenbewegungen, welche die moderne Geschichte, soweit sie sich im Spielraum der bourgeoisen Erlebnisstruktur befindet, gegen jene herrschenden Minoritäten kennt. Nicht der Schrei nach "Freiheit und Gleichheit", der nur an der Oberfläche liegt, sondern das Suchen nach einer, der  Herrschaft würdigen Minorität  ist die  tiefste Seele  dieser Bewegungen. Herrschaft ist nach einem soziologischen Grundgesetz, das von WIESER (2) treffend das "Gesetz der kleinen Zahl" genannt hat, stets und überall Funktion der  Minorität  (z. B. auch innerhalb der demokratischen Bewegung selbst). Vorzüglich hat ROBERT MICHELS in seinem trefflichen Buch über die "oligarchischen Tendenzen" innerhalb der modernen Demokratie mit Aufbietung eines reichen Materials gezeigt, daß mit der  Ausdehnung  der demokratischen Bewegung das Mehrheitsprinzip  innerhalb  der Bewegung steigend zuschanden wird. Aber dieses ganz allgemeine Gesetz sagt noch gar nichts darüber aus, ob demokratistische oder aristokratistische Wertschätzung diese "Kleine Zahl" erfüllt. Der innere und durchgreifende Sieg der Sklavenmoral in den Jahrhunderten der Bürgerherrschaft besteht also z. B. darin, daß die Moral der "Armen" (Sparsamsein! Reichwerden! Wenig Kinder haben! Sichanpassen, Schlausein! usw.) zur Moral der  faktisch  Reichen und eben der  herrschenden Minorität  wurde.

Wäre  diese  demokratistische Moral jene der beherrschten "großen Zahl" geblieben und nicht eben gerade zur Moral der  herrschenden  "kleinen Zahl" geworden, so könnte man ja gerade  nie und nimmer  von einem Sklavenaufstand in der  Moral,  bzw. von einem Aufstand der minderwertigen  Wertschätzungssysteme  über die höherwertigen reden. Denn stets und immer bestimmt eine notwendige "kleine Zahl" der Herrschenden,  welche  Wertschätzungssystem zu "herrschenden" werden. Die Tatsache erst, daß die ethisch und biologisch minderwertigen Wertschätzungssystem zu jenen der  herrschenden  Minorität wurden, macht die "Revolution" selbst zu einer Art konstanter Einrichtung im Ablauf der modernen Staatsentwicklung. Eben daß der Staat (als soziologische Realität) bei verschiedenen Völkern in verschiedenem Maß in die Herrschaft des minderwertigen Vitaltypus kam oder doch seiner Wertschätzungen - und immer mehr und mehr kommt -,  das  ist ein Hauptzug in jener inneren, lautlosen Umbildung, die hinter allen gewaltsamen Revolutionen und Massenbewegungen liegt. Die Idee eines "Rechtes auf Revolution" - unsinnig, wo die herrschende Minorität mit dem Geist des Edelmuts erfüllt ist - gewinnt erst unter der Herrschaft des Bourgeois ihre tiefe Rechtfertigung.

Ist von der sozialdemokratischen Bewegung und der "Sozialpolitik" kein endgültiger Niedergang des kapitalistischen Geistes zu erwarten, so berührt nach unserer Meinung SOMBART in seinen letzten Seiten allerdings die einzig mögliche endgültige Lösung der Frage nach der Zukunft des Kapitalismus von fern, wenn er auf die Bedeutung des Bevölkerungsproblems für die Frage hinweist. Aber in einem sonderbaren Widerspruch zu seinen Aufstellungen über die letzten Ursachen des kapitalistischen Geistes erwartet er schon von einem konstant werdenden Rückgang der Geburtenziffer (bei begrenzter Abnahme der Sterblichkeit) und schließlich der Volksvermehrung überhaupt eine "Verzappelung des Riesen". Wäre SOMBART, ähnlich wie z. B. WALTHER RATHENAU, der Meinung, daß der Kapitalismus als Ganzes eine Folgeerscheinung der steigenden Volksvermehrung zu Beginn und im Laufe der Neuzeit sei -  nicht  also einer prinzipiellen Änderung der ökonomischen Motivationsstruktur -, so wäre auch die Bemerkung wohl begreiflich, daß er im selben Maße abnehmen müßte, als diese Ursache zu wirken aufhört. Nicht aber ist diese gerechtfertigt, wenn - wie SOMBART richtig annimmt, - die Herrschaft eines bestimmten  qualitativen  biopsychischen Typus Mensch seine wahre Wurzel ausmacht. Bevölkerungsrückgang könnte in diesem Fall doch nur die Wirkung haben, daß durch steigenden Mangel an Arbeitskräften und an Konsumentenbedarf die  Dimensionen  der ökonomischen Leistungen des Kapitalismus zusammenschrumpften, ohne daß sich an der kapitalistischen Ordnung selbst und noch weniger am "Geist", der sie trägt, irgendetwas änderte. Ja, die durch den Bevölkerungsrückgang bedingte Erschwerung der nationalen Konkurrenz mit den slavischen Völkerschaften, die jener Tendenz zur Abnahme der Bevölkerungsvermehrung nicht oder weniger unterliegen, könnte höchstens den kapitalistischen  Geist  noch gewaltig steigern. Eben da - wie SOMBART treffend sagt - ein galizischer Jude mit demselben oder noch größeren Aufwand an kapitalistischem Geist, als ein Berliner Bankdirektor, der Tausende verdient, etwa 5 - 10 Mark täglich verdient, ist mit der Verkleinerung der  Effekte  der in diesem Geist geführten Unternehmung dieser "Geist" selbst in nichts verringert. Es kann daher nur die  qualitative  Seite des Bevölkerungsproblems, nicht seine quantitative, sein, die für die dauernde Aufrechterhaltung oder den Untergang des Kapitalismus in Frage kommen kann. Und darum ist die Frage: Gibt es in den faktischen Tendenzen der qualitativen Bevölkerungsbewegung, also in der Art ihrer jeweiligen Neuzusammensetzung aus der Fortpflanzungssumme der beiden bio-psychischen Typen Gründe und Garantien, die ein Aussterben oder eine Zurückdrängung des Typus homo erwarten lassen, der Träger des kapitalistischen Geistes ist?

Diese Frage ist unseres Erachtens zu  bejahen.  Denn es ist ein inneres Gesetz des Bourgeoistypus selbst, daß eben die Grundeigenschaften, die ihn innerhalb der kapitalistischen Ordnung als Unternehmer, Händler usw. reüssieren [erfolgreich sein - wp]lassen, im selben Maße als sie vorhanden sind, auch seine verringerte Fortpflanzung und damit die Verringerung der Übertragung der charakterologischen  Erbwerte,  die die Anlagen zum kapitalistischen Geist ausmachen, zur notwendigen Folge haben. Mit Recht haben JULIUS WOLF und andere den eigenartigen Parallelismus von steigender Wohlhabenheit und verringerter Kinderzahl, der durchaus  keine  universalhistorische Erscheinung ist (völlig umgekehrt z. B. bei den Chinesen, nicht vorhanden beim deutschen Adel usw.) auf eine identische Ursache beider Erscheinungen zurückgeführt: auf die steigende  Rechenhaftigkeit  der seelischen Grundeinstellung auf Welt und Leben überhaupt. Eben diese Rechenhaftigkeit hat gleichzeitig das wirtschaftliche Emporkommen  und  den verminderten Fortpflanzungswillen, bzw. die sinkende Kinderzahl der rechenhafteren Elemente zur Folge. Die  Anlage  zu dieser Rechenhaftigkeit aber ist ohne Zweifel - nach früher Gesagtem - selbst ein  Erbwert  und gebunden an den geringerwertigen Vitaltypus. Auch diese  "Anlage"  wird also durch die geringere Fortpflanzung des rechenhaften Typus mehr und mehr ausgeschaltet -; eben damit aber dieser Typus Mensch als Typus überhaupt. Diesem "angsthaften", "rechenhaften" Typus steht der "gläubige", der "vital vertrauensvolle" und "muthafte" Typus gegenüber. Sage ich der "gläubige", so denke ich nicht etwa an die Angehörigen des orthodoxen Kirchenglaubens. Es ist ja eben ein bestimmter Vitaltypus, von dem hier als Einheit die Rede ist und der sich als solcher niemals decken kann mit einer bestimmten realen historischen Gemeinschaft; der sich also  in allen  Arten und Formen der Gemeinschaft, freilich in sehr verschiedenem Maße, findet. Freilich besteht die unbestreitbare Tatsache, daß die religiös-gläubigen katholischen und protestantischen Volksschichten, und unter ihnen wieder die katholischen voran,  nicht  den gleichen Rückgang der Geburtenziffer aufweisen wie die ungläubigen; und es besteht die Tatsache, daß eben diese Schichten relativ unkapitalistischen Geistes sind. Die sogenannte "Rückständigkeit der Katholiken" ("Rückständigkeit" natürlich nur gemessen an den Werten des kapitalistischen Ethos) beweist es deutlich genug. Aber diesen Vorrang verdanken die kirchengläubigen Schichten  nicht  - wie sich das die kirchlichen Parteien gern pro domo [für den Hausgebrauch - wp] konstruieren - dem besonderen  Inhalt  ihres Glaubens oder der Zugkraft des Moralgesetzes "Seid fruchtbar und mehret euch" oder dem Kampf des Beichtvaters gegen die empfängnisvorbeugenden Mittel usw. -, sondern umgekehrt ist es die Zugehörigkeit der Kernschichten der orthodox Gläubigen zum vollen Vitaltypus vorwiegend gläubiger, vertrauensvoller Lebenseinstellung, welche zur  Folge  hat, daß sie auch kirchlich-gläubig blieben und daß sie eben diese der Fortpflanzung günstige "Moral" besitzen. Andererseits hat dieser innere Zusammenhang zur Folge, daß auch all jenen Weltanschauungsfaktoren, die innerhalb der katholischen Kirche dem Kapitalismus noch entgegenzuarbeiten vermögen, durch die relativ größere Vermehrung ihrer Träger steigender Sieg verheißen ist.

Für die langsame Ausschaltung des bourgeoisen Typus gibt es gleichsam einen weithin sichtbaren Index: das ist die von TEILHABER kürzlich aufgewiesene Tatsache des  Aussterbens der deutschen Juden  und zwar in dem Maße, als sie innerhalb des Kapitalismus führende Stellung gewannen und gleichzeitig aus der geheimnisvollen Schutzsphäre der jüdischen Familientradition heraustraten. An diesem jüdischen Typus - der tapfere und edle Zionismus stellt ihm mit dem innersten Recht der Erhaltungswürdigkeit des großen, begabten Volkes heute einen  anderen  schroff entgegen und bedrängt ihn bis tief in seine Ehre und in sein Gewissen hinein, blutig oft und doch gerecht - vollzieht sich zeitlich zuerst im kleinen das  tragische Geschick,  was sich am bourgeoisen Typus überhaupt vollziehen wird: daß er mit all seinen Erbanlagen mitten in der steigenden Gewinnung der kapitalistischen Macht, mitten im ökonomischen Sieg zugrunde geht und der steigenden Ausschaltung aus der Geschichte verfällt.

Diese Tendenz auf Ausschaltung des Typus, der den kapitalistischen Geist trägt, behält ihre führende Kraft auch trotz aller  Komplikationen,  die durch das Nachdrängen der sozialen Unterschichten auf die leer gewordenen Stellen der Stufenleiter von Besitz und Wohlhabenheit (bzw. das Nachdrängen der slavischen Judenmassen), das Nachdrängen der slavischen Arbeitskräfte für den Bevölkerungsrückgang in der Industriearbeiterschaft zu Händen der Unternehmer, enstehen mögen. Denn alle diese nachdrängenden Massen sind zugleich Träger eines sich immer vermindernden kapitalistischen Geistes. Nicht darin besteht ja die qualitative Grundtendenz der Bevölkerungsbewegung, daß nur führende  kapitalistische Schichten  mehr und mehr ausgeschaltet werden! Diese "Schichten" könnten ja beliebig ersetzt werden. Und das hätte für den Fortbestand des "Kapitalismus" keine Bedeutung. Darin vielmehr besteht sie, daß schon die  Erbwerte  die  "Anlagen"  zu diesem Geist bedeuten und damit der  Typus,  der Träger dieses Geistes ist, immer stärker der Ausschaltung verfällt.

Hierin allein sehen wir die  letzte  Garantie für die "Verzappelung des Riesen". Die ganze Fülle der speziellen Erscheinungen, die gegenwärtig das Gleiche anzeigen und einleiten, sind von dieser Tatsache abgeleitet. Und alle ethische und politische Sollensorientierung, die den Prozeß jener Verzappelung beschleunigen kann, kann nur innerhalb des Rahmens dieses unserem bewußten Willen entzogenen  notwendigen  Prozesses ihre Bedeutung besitzen.

An solchen Erscheinungen ist das gegenwärtige Leben überreich. Nicht nur die innere Bürokratisierung der Unternehmungen, auf die SOMBART mit Recht hinweist und die damit einhergehende Bildung einer neuen Klasse der  "Privatangestellten",  sondern mehr noch die neue  Selbstauffassung  der Unternehmer als Leiter und Führer der nationalen wirtschaftlichen Arbeit, ich möchte fast sagen als oberste Aufsichtsbeamte des Güterumlaufs und der Güterproduktion, sind innerhalb des Wirtschaftslebens solche Erscheinungen. Die Scham, ja der Ekel am bloßen Reichtum, zuerst erwachsen an der Disproportionalität seiner Größe zur möglichen Genußfähigkeit, sogar der Familie bis in die fernsten glieder von Enkel und Urenkel - das Gefühl des Widerstandes gegen die allzufetten Kuchen - verbreitet sich unter den führenden Schichten des Wirtschaftslebens mehr und mehr. Hierin dürfte den Stellungnahmen und Ideen WALTER RATHENAUs (3) nicht bloß individuell, sondern eine typische Bedeutung zukommen.

Noch zukunftsverheißender aber erscheint uns die Gesamtheit der heutigen Bewegungen, die sich  außerhalb  des Wirtschaftslebens vollziehen und die gesamte Bedeutung im Leben des Menschen überhaupt auf das rechte Maß zurückzudränge streben. In ihnen erhebt an erster Stelle der neue Typus Mensch - noch schüchtern genug - sein Haupt,  der  Typus, der durch die kapitalistische Epoche verdrängt war.

Zu allererst haben schon unsere tiefsten Sorgen heute gegenüber jenen unserer Väter eine neue Richtung angenommen. Sie haben sich vom sozialökonomischen Gegensatz arm und reich, der sich langsam, aber auch sicherem Wege auszugleichen beginnt, immer stärker  den  Fragen zugewandt, welche die Vitalität, die Volks- und Rassengesundheit in physischer und psychischer Hinsicht betreffen. Die Tuberkulose beginnt uns als ein größeres Übel zu erscheinen als die noch vorhandene Armut. Die Wohnungsfrage und die Verlegung der Wohnstätten an die Peripherie der Städte, auch für den minderbemittelten Teil der Bevölkerung, gewinnt die Bedeutung, die sie nicht nur wieder als abhängige Funktion ökonomischer Besitzunterschiede hat, die ihr vielmehr  selbständig  als Frage der Gesundheit und einer natürlichen Lebensführung zukommt. In den mannigfaltigen Arten von Jugendbewegungen, vom Wandervogel, den Pfadfindern bis in den deutschen Jugendbund hinauf, in der neuen  Liebe  der Jugend zur Natur und Sport, in der steigenden Verachtung purer Kopfbildung und des Intellektualismus, in der schon in der äußeren Erscheinung sorgfältigeren und strafferen Haltung der Jugend, in der Zurückdrängung  jener  Art von Romantik und Phantastik, auf die bei ihren Vätern so rasch das äußerste Philisterium zu folgen pflegte, zugunsten einer mutigen, realistischen Lebenseinstellung; im starken Vorwiegen ihres  politischen  Interesses gegenüber dem sozialökonomischen ihrer Väter, in ihrem ernsteren und freieren, untersuchenden Verhältnis zu den religiösen Fragen - was wäre ihr noch ein HÄCKEL oder OSTWALD? - , nicht zuletzt in der Wandlung ihrer geschlechtlichen Liebesideale ins Freiere gegenüber Tradition, Konvention, elterlicher und sonstiger Autorität und gleichzeitig ins  Gebundenere  gegenüber dem eigenen Gewissen, - liegen Ansatzpunkte, die eine starke Umbildung des künftig zur Führung der öffentlichen Angelegenheiten berufenen Typus erwarten lassen. Diese Charakterzüge der neuen Jugend sind nicht auf Deutschland beschränkt. In Frankreich z. B. berichten kundige Beobachter dieselbe Umformung, die in der Studentenbewegung gegen die in gelehrten Positivismus eingetrocknete Sorbonne bereits kräftig zur Geltung kam. Auch in der werdenden Weltanschauung der Jugend sind die geistigen Ermüdungserscheinungen des Skeptizismus, des Relativismus, des Historismschmeid-a.htmlus, des Herumwühlens im eigenen Ich zurückgetreten und die Richtung auf den unmittelbaren Erlebniskontakt mit den  Sachen  selbst, auf  absolute  Einsicht, die Tatkraft und Charakter stählt, auf expansive Hingabe an die Welt in kräftigem Fortschritt begriffen. Diese Wandlungen sind eben darum hoffnungserwecken, weil sie nicht auf bestimmte  soziale Klassen oder Parteien  beschränkt sind, sondern  alle  Klassen mit ihrem neuen Geist durchdringen. Handelt es sich bei der Überwindung des Kapitalismus um die Verdrängung eines bestimmten  Typus  und seiner Ideale aus der Herrschaft, so ist ja auch nur von  solchen  Wandlungen und nicht vom Sieg einer bestimmten "Klasse" oder "Partei" irgendetwas Wesentliches zu erwarten.

Neben der Erscheinung der "neuen Jugend" äußert sich die antikapitalistische Bewegung an erster Stelle im neuen  Ernst,  mit dem die Fragen der geschlechtlichen Liebeswahl und der geschlechtlichen Moral ergriffen werden. Eine der Wurzeln des Kapitalismus war historisch die wahllose Vermischung des vital edlen Typus mit dem gemeinen, sei es aus Nützlichkeits-, sie es aus Interessen bloßen sinnlichen Reizes. Wie stark der Luxusbedarf und -Geschmack des "Weibchens", das sich parallel mit der Zurückdrängung der älteren "Standesehe" und der Entfaltung der Klassen- und Geldehe in allen möglichen sozialen Formen von der Kurtisane bis zur Straßendirne parasitär ausbreitete, die kapitalistische Entfaltung noch außer dem  Blutverderb  jener Wahlarten beschleunigt und gefördert hat, hat SOMBART in seinem "Luxus und Kapitalismus" dokumentarisch gezeigt. Wahllose Sinnlichkeit und Geschäftsgeist aber  entsprechen  sich und fördern sich gegenseitig; damit auch Geldehe und Dirnentum. Der "Bourgeois" ist als Typus Träger des Ethos, das beides immer neu erzeugt. Nur zu rascher punktueller Befriedigung seiner sinnlichen Launen, nicht zur  Liebe  läßt ihm das "Geschäft" Zeit. Und Luxus und Raffinement sollen ihm die tieferen Freuden der Treue ersetzen. Die gegenwärtige europäische Bewegung ist darauf gerichtet, diesen inneren,  eisernen  Zusammenhang zu durchbrechen. Sie tut es, indem sie von beiden Seiten her, von oben und von unten gleichsam der Moral der Väter widerspricht. Sie scheidet innerhalb der formell ehelosen und ehelichen Beziehungen zwischen "schlechten" und "guten", anständigen und unanständigen; sie gibt der Liebeswahl den Ernst und die Verantwortlichkeit und die von bürgerlicher Geschäfts- und Spaßmoral (sei sie christlich oder atheistisch drapiert) unabhängige  Freiheit  zurück. Aber sie wendet sich auch (in ihrem tieferen Kern) voll Ekel ab gegen das vielbedeutsame, eine ganze Weltanschauung symbolisierende Salon- oder Stammtischlächeln der "Bürger", wenn die Rede auf "diesen Punkt" kommt; ja nicht einmal voll Ekel mehr, sondern voll Langeweile ab; "dieser Punkte" ist nicht mehr "dieser Punkt", sondern eine ernste Sache, der man ins Gesicht sieht und die man prüft. Von den Sprüngen und dem Singsang der kleinen Mädchen, die in der Phantasie der lieben Väter eine so große Rolle spielten, von Ehebruchskomödie und analogen "kleinen Scherzen" wendet man sich ab! Die Behandlung der Faktoren, welche die qualitative Zusammensetzung der künftigen Generation bestimmen, hat aufgefhört entweder eine "Geschäftsfrage" oder ein kleiner "Scherz" zu sein. Wie sind doch umgekehrt gegenüber diesen Fragen die gewichtigen Ernstfalten, mit denen die lieben Väter am Lendemain [am nächsten Tag - wp] eine neue Transaktion behandelten, zu "kleinen Scherzen" herabgesunken - nicht überhaupt und ihrer Sphäre, aber gegenüber der ungeheuren Frage, mit welchem Weib ich mich vermischen darf und soll! -

Das  Aufatmen  vom Druck des Kapitalismus ist nicht minder deutlich zu spüren in der inneren Verhältnislage von geistiger Kulturtätigkeit zur erwerbstreibenden Gesellschaft. Inhaltlich erklären die Führer der geistigen Bewegung dieses Negativum jedenfalls übereinstimmend, daß Welt und Seele  keine  komplizierten Maschinen sind - sei es mit oder ohne rechnende "Subjekte" -, sondern daß die Weltbilder der neueren Philosophie in ihrem Kern nur  zweckmäßige Projektionen bürgerlicher Beschäftigungen  waren - auf eine Welt, die in unendlicher Qualitätenfülle und Regsamkeit vor den jungen, staunenden Augen derer liegen darf, die es wagen, sich über die Nützlichkeitszwecke der Bürger hinaus ihr fromm und demütig hinzugeben. In soziologischer Hinsicht aber werden die Dichter, die Künstler, die Forscher sich allmählich immer klarer der unbewußten Form der  Versklavung  an den Bürgergeschmack bewußt, dem sie in Stoffwahl, in Stil, in Darstellungsform, bzw. in den Methoden des Denkens und der Beobachtung (sie es diesem Geschmack und dieser Einstellung des Bürgertypus folgend oder zu ihm im bloßen Widerspruch, eine nicht geringere Abhängigkeit) dadurch unterworfen waren, daß sie in seinem Kreis lebten und sich von ihm ernähren ließen - oder innerhalb der staatlichen Kultur-Institutionen, die der Typ in seinen Händen hält. Sie lernen demütig erkennen, daß  kein  Geist und  kein  Gewissen so stark und frei ist, daß sie sich nicht irgendwie heimlich (und doppelt schlimm, wenn es heimlich und unbewußt geschieht!) unter den Geist derjenigen beugten, die seinen Leib ernähren. Und die Tapferen ziehen daraus die Konsequenz:
    I. Axiom: so wenig ich als Produzierender irgendeines Werkes geistiger Kultur der ökonomischen Sozietät irgendetwas schulde, so wenig schuldet sie mir irgendetwas für das, was ich hervorbringe.

    II. Axiom: Da ich unabhängig von dieser meiner Produktion, aber Mitglied eben dieser ökonomischen Sozietät bin, so habe ich auch die Pflicht, mich auf eine  neben  meiner Kulturtätigkeit einhergehende Weise auf ehrliche Art zu ernähren.
Ich weiß sehr gut, daß die äußerst mannigfachen Wege der technischen Durchführung dieser "Axiome" zum Teil noch wenig beschritten, zum Teil aber auch noch wenig geöffnet sind. Wir kommen auf diese technische Seite der Sache ein andermal zurück; daß aber diese Axiome wie Feuer in den Seelen der kulturtätigen Jugend glimmen und daß dieses Feuer sich auch seinen Willen und seine Kraft schaffen wird, - das weiß ich! Nach dem erstaunlichen ethischen Vorbild einer inneren und letzten Unabhängigkeit vom Kapitalismus, das STEFAN GEORGE und sein Kreis zuerst in einer Zeit gaben, da die öffentlichen Verhältnisse noch weit ungünstiger als heute lagen - wir, die diesem Kreis fern stehen, reden hier nicht von seiner Kunst - formieren sich gegenwärtig eine ganze Reihe analoger, von den geistigen Grundhaltungen starker Persönlichkeiten zusammengefaßter Gemeinschaftsbildungen in Kunst und Wissenschaft, in denen sich diese neue Kulturgesinnung still und lautlos heranbildet. Sie werden sich noch lange von den offiziellen und öffentlichen, der Pflege geistiger Kultur gewidmeten Institute fern halten müssen - so freundlich immer auch die Beziehungen zu Personen, die jenen angehören, sein mögen - bis sie auch diese mit ihrem Wesen und Geist durchsäuern dürfen. Von parteilosen Minoritäten solcher Art, welche schon die einteilenden Kategorien des heutigen offziellen Kulturpöbels plus der als "Negativ" notwendig dazugehörigen Massen- und Zeitungswelt  streng  von sich zurückweisen, ist für eine wahre Überwindung des Kapitalismus als Kultursystem sehr viel mehr zu erwarten, als von all den Kämpfen, die innerhalb der Formierungen irgendwelcher politischer Parteien und Interessengruppen stattfinden, die ja doch alle, vom Ethos des Kapitalismus umspannt, diese Tatsache umso weniger bemerken, je wilder sie untereinander aufeinander einschlagen! -

Gehen wir nicht fehl, so beginnt auch der sogenannte "Siegeszug des Kapitalismus um die Welt", der noch vor kurzem Außenseiter schon zum Mond schielen ließ, ja zu einer Geste des "Umsehens" uns hinter die Erdkugel führte, - ob es da noch irgendeinen reinlichen Landfleck geben möchte, den der Bourgeois noch nicht beschmutzte, - seine innere Grenze zu finden. Mögen auch gewisse Schichten der Balkanstaaten, der Türkei, Ägyptens, Persiens, besonders aber Chinas und Japans sich heute eifrigst bemühen, sich die europäischen positivistischen Wissenschaftsmethoden, die zugehörigen Methoden der Fabrikation und des Handels anzueignen und scheint die Universalisierung der kapitalistischen Mechanistik in nächster Nähe: Längst und schon seit Jahren wissen die  edleren  Vertreter dieser Volkstümer, daß diese fälschlich sogenannte "Europäisierung" nur die äußerste Haut der Seele und des Lebens treffen kann und daß die rassenmäßigen und aus der eigenen Geschichte jener Völker quellenden geistigen Grundeinstellungen in Religion, Ethos, Kunst - ja in allem, was zum  Sinn  des Lebens gehört, - dabei völlig unberührt bleiben und nach einiger Vollendung jenes notwendigen Mechanisierungsprozesses und der durch ihn gewährleisteten äußeren zivilisatorischen Verknüpfung der Völkerwelt der Erde ihrer  eigensten neuen  Aufgaben harren. Und die Besten dieser Länder wissen noch mehr: daß der "Geist", der ihnen diese Sendboten Westeuropas als seine letzten Ausstrahlungen zuschickt, an seiner Wurzel, d. h. im Zentrum Westeuropas selbst, im langsamen  Absterben  begriffen ist. Jedes dieser Länder hat seine DOSTOJEWSKIs, seine SOLOVJEFFs, seine TOLSTOIs, die über die Europäisierungswut der heimischen Bürgermassen ironisch lächeln, da sie wissen, daß jenes "alte" Europa, das zu ihnen kommt, in dem Augenblick zusammensinken und einem neuen  edleren  Europa Platz machen wird, da jene Massen ihrer Völker über den Sieg jauchzen werden, es in ihrer Zivilisation Europa gleichgetan zu haben. Und das wahrhaft "junge Europa" steht dabei auf ihrer Seite! Schon heute glauben nur noch die "Gebildeten" der südamerikanischen Staaten, einige Rumänen, Bulgaren, Serben und Japaner, daß der Fortschritt der "modernen Wissenschaft", daß z. B. Physiologie und Experimentalpsychologie ihnen Aufschluß über metaphysische Fragen geben werden; eben über jene Fragen, auf die die landesübligen Religionen antworten. Diese "Gebildeten" glauben das, was bei uns gegenwärtig noch die Masse glaubt und was die Gebildeten unter unseren Vätern vor circa hundert Jahren glaubten. Die Zeit ist nicht fern, wo solche Dinge nur noch mehr die Australneger glauben werden.
LITERATUR - Max Scheler, Die Zukunft des Kapitalismus, Abhandlungen und Aufsätze II, Leipzig 1915
    Anmerkungen
    1) Das wurde im Februar 1914, also schon lange vor dem Krieg geschrieben.
    2) Siehe die bedeutenden Ausführungen von FRIEDRICH von WIESER, Macht und Recht, Leipzig 1910
    3) WALTER RATHENAU, Zur Kritik der Zeit und Die Mechanik des Geistes, Berlin 1914