![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
|||
Die Ursachen des Verfalls der Philosophie [3/5]
E M P I R I S M U S [Fortsetzung] Vergleicht man die alten Sophisten und Skeptiker mit den modernen Sensualisten und Materialisten, so wird man zugeben, daß jene vernünftiger dachten als diese; denn sie hatten den Mut der Konsequenz und außerdem noch die Originalität für sich. Durch die Sophisten kam der griechische Geist zum Bewußtsein vom Wert und der Bedeutung des Subjekts gegenüber dem Objekt. Bedenkt man, welche Macht die alten Theogonien und Kosmogonien, die Tradition in Sitte, Recht und Religion im Volk hatten, wie man zum Teil an SOKRATES noch wahrnimmt, so mußte diese Erhebung des Subjekts mit seinen Ansprüchen auf eine freie, selbständige Umbildung all dieser Begriffe nicht nur wie eine große Entdeckung, sondern wie eine Erlösung vom alten Herkommen, das sich in allen Lebenssphären geltend machte, auf die Gemüter wirken. Daß man beim alten Götterglauben und den damit verflochtenen sittlichen, rechtlichen und politischen Ideen nicht stehen bleiben konnte, war den Einsichtigeren schon längst klar. Die Philosophen hatten von Anfang an gegen diese Vorstellungen gekämpft. Was sie aber anstelle des Alten setzten, waren verschiedene und sich widersprechende Behauptungen dogmatischer Art es fehlte der Philosophie noch die wissenschaftliche Begründung und das systematische Zusammenfassen der verschiedenen Ansichten unter einheitliche Prinzipien, worin das große Verdienst eines SOKRATES und seiner Nachfolger besteht. Die griechische Philosophie wäre im Sand verlaufen, wenn nicht der universelle Geist eines PLATO und ARISTOTELES alle früheren berechtigten Momente kritisch gesichtet und organisch verbunden hätte. PROTAGORAS ging von HERAKLIT, GORGIAS von ZENO aus; darin bestand ihre Einseitigkeit. Beide verfuhren empirisch, indem sie die Prinzipien ihrer Vorgänger ohne eine nähere Untersuchung aufgriffen und daraus Schlüsse zogen für ihre sensualistische Theorie. Wie ganz anders verwendet PLATO das heraklitische Werden und das eleatische Sein! Dieses verwandelt sich in seiner Dialektik zu einer Vielheit der Ideen und jenes in den Begriff der Möglichkeit, der absolut qualitätslosen Materie. Aus der Verbindung der Möglichkeit (Materie) mit der Wirklichkeit (Ideen) kraft des weltbildenden Demiurgen suchte PLATO die Entstehung des Kosmos zu erklären. Dadurch wurden die beiden Prinzipien Sein und Werden aus ihrer einseitigen Absolutheit und Alleingültigkeit befreit und zu zwei sich gegenseitig ergänzenden Momenten einer höheren Synthese herabgesetzt. ARISTOTELES hat dieses System weiter entwickelt und ihm einen realen Inhalt gegeben. Das alles hatten die Sophisten nicht vor sich. Sie waren deshalb eher zu entschuldigen, als die Sensualisten des 18. Jahrhunderts, die auf eine zweitausendjährige Entwicklung der Begriffe und Probleme zurückblicken konnten und durch Vergleichungen ein allgemeines Gesetz hätten erkennen müssen, nach welchem der geschichtliche Prozeß sich vollzieht und worin die Natur und das Wesen des menschlichen Geistes sich offenbart. Stattdessen fallen sie auf die früheren, primitiven Stufen einer sensualistischen Weltauffassung zurück und wiederholen bloß, was man schon längst gewuß und schon längst überwunden hatte (29). Wenn später die Skeptiker, trotz PLATO und ARISTOTELES, zu demselben Resultat gelangten, wie die Sophisten, so hatte dies eine andere Bewandtnis. Ihr Streben war nicht sowohl gegen den Sensualismus, als vielmehr gegen den Dogmatismus und Rationalismus gerichtet, woran tatsächlich alle systematische Philosophie vor und nach SOKRATES laborierte. Außerdem kam noch etwas anderes hinzu. Im Kampf gegen die Sophistik hatten SOKRATES und PLATO die tiefere Bedeutung des Prinzips der Subjektivität verkannt und gleichsam übersprungen. Sie suchten der sensualistischen Subjektivität gegenüber die logisch rationale Seite des Menschen und die Allgemeingültigkeit der Begriffe hervorzukehren, ohne welche, wie sie richtig erkannten, eine Wissenschaft nicht denkbar ist. PLATO hielt sich aber nicht in dem Rahmen, den SOKRATES gezogen hatte, sondern erhob das Wesen der logisch allgemeingültigen Begriffe zu transzendenten Substanzen. Darüber gint die große, tiefsinnige Idee, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist, deren Tragweite übrigens die Sophisten selbst nicht kannten, verloren und kam erst in der modernen Erkenntnistheorie wieder zum Vorschein. Dieser doppelte Fehler, einseitiger Rationalismus, der alle Wahrheit nur in der Vernunft sucht und die Sinnlichkeit hintansetzt und Mangel an Erkenntnistheorie, d. h. an Einsicht in die Schranke unseres Denkvermögens bezüglich des Transzendenten, führte zu dem eigenartigen Schauspiel, daß aus der platonischen Akademie, der dogmatischen Lehranstalt der alten Welt, der radikalste Skeptizismus hervorging. Man würde aber wiederum zu weit gehen, wollte man behaupten, ein ARKESILAOS oder KARNEADES, die späteren Häupter der Schule, hätten das, was PLATO versäumte, nachgeholt und nicht bloß eine Methodenlehre, sondern eine wirkliche Erkenntnistheorie begründet. Ihr Kampf war mehr Polemik als Kritik und galt hauptsächlich dem Stoizismus; sie bestritten dessen Theologie, Physik, Erkenntnistheorie und machten den Versuch zu einer philosophischen Wahrscheinlichkeitslehre, wobei sie jedoch vorwiegend nur das praktische Leben im Auge hatten (30). Dessen ungeachtet müssen wir die Sophisten und Skeptiker, wenn sie auch mehr oberflächlich als tief, mehr spitzfindig als scharfsinnig zu Werke gingen, doch als diejenigen betrachten, welche zuerst sowohl nach der sinnlichen wie nach der geistigen Seite hin die Mängel und Unzulänglichkeiten des menschlichen Erkenntnisvermögens, wenn nicht durchschauten, so doch zumindest ahnten und sich von einem überschwengichen Dogmatismus und selbstgenügsamen Rationalismus fernhielten. Für die damalige Welt und speziell für den Charakter des griechischen Geistes,
Obgleich die Sophisten ihrer allgemeinen Wirksamkeit nach vielleicht mehr der Kulturgeschichte angehören, so würden wir es doch auch in der Philosophie als einen Mangel empfinden, wenn diese Seite des menschlichen Lebens in der Geschichte des griechischen Geistes gar nicht berührt worden wäre. Es sprichtfür die Allseitigkeit dieses wunderbar begabten Volkes, daß es den ganzen Kreis des intellektuellen Daseins beschrieb und alle Stufen vom tiefsten dogmatischen Glauben bis zum höchsten Gipfel der Skepsis beschritt. Nur in einem Punkt scheint es im Verhältnis zu anderen Völkern nicht besonders veranlagt gewesen zu sein, nämlich in Bezug auf das transzendentale Gefühl. Unstreitig waren die Juden religiös tiefer angelegt, als die Griechen; aber dafür gebrach es ihnen umso mehr an Kunst und Wissenschaft. Man denke sich die Vorzüge beider Nationen, das intensiv religiöse Gefühl der einen mit dem spekulativen Geist der andern verbunden und frage sich, ob Skeptizismus und Materialismu, in welchen die alte Philosophie hinauslief, möglich gewesen wären. Das Christentum hat diesen Komprommiß vollzogen und die Religion in den Mittelpunkt gestellt, wodurch eine neue Weltepoche begründet wurde. Übrigens kannte man die Bedeutung der Religion theoretisch im ganzen Altertum nicht. Sie war nie Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen; Religionsphilosophie gab es weder bei den Juden noch bei den Griechen. Dies ist ein weiterer Grund, die alten Sophisten und Skeptiker gegenüber den modernen Sensualisten, welche die ungeheure Macht der Religion sowohl im Christentum als auch im Islam aus einer vielhundertjährigen Geschichte kennen gelernt haben, zu entschuldigen. Daß Sinnlichkeit und Verstand zu keiner transzendentalen Überzeugung führen, hat die antike Sophistik und Skeptik gezeigt. Darin besteht philosophisch und kulturgeschichtlich ihre epochemachende Tat. Daß nur das religiöse Gefühl diese Überzeugung gewähren kann, ist dem Wesen nach die Lehre des Christentums. Statt nun dieses negative und positive Resultat zusammenzufassen und davon auszugehen, verfilen nicht bloß die Sensualisten, sondern auch die Rationalisten und die neuere Philosophie überhaupt noch einmal auf den alten Standpunkt um genau auf derselben Stelle wieder anzukommen, die schon die Griechen erreicht hatten. Bisweilen hat man den Eindruck, als ob die Menschheit aus der Geschichte nichts lernen, sondern sich immer nur wiederholen kann. Im Übrigen wollen wir nicht verkennen, daß der empirisch materialistische Zug, namentlich in der französischen Philosophie, weniger aus einem theoretischen Bedürfnis, als aus Opposition gegen die entsetzlich zerrütteten Zustände auf kirchlichem, politischem und sozialem Gebiet hervorging. Praktisch war der Sensualismus, das Prinzip der egoistischen Moral und sinnlichen Lust, in den höheren Gesellschaftsklassen schon längst eingeführt. Von CONDILLAC, der den Übergang vom englischen Empirismus zum reinen Sensualismus bildet, hieß es damals: er habe nur das Geheimnis aller Welt ausgesprochen. So brachten diese sogenannten Philosophen des 18. Jahrhunderts das Bewußtsein ihrer Zeit und Nation auf ein allgemeines Prinzip und zogen daraus ihre Konsequenzen. Was SHAKESPEARE vom Schauspiel sagt: "es sei der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters", läßt sich mit gleichem Recht von der Philosophie behaupten (31). Ist sie der Ausdruck ihrer Zeit und der sozialen Verhältnisse, und sind diese Zustände unhaltbar geworden, wie das während des peloponnesischen Krieges (32) und vor der französischen Revolution der Fall war, so kann einer solchen Philosophie, als Ausdruck einer Krisis oder Krankheit des sozialen Lebens, kein allgemein gültiger und bleibender Wert zuerkannt werden; es müßte denn nur die sittliche und geistige Korruption als ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur betrachtet werden, der nie völlig zu überwinden wäre. Eine solche Annahme hätte die Auflösung und den Untergang des gesellschaftlichen Organismus und seiner Träger zur Folge. Dies widerspricht dem Selbsterhaltungstrieb der Gattung wie der Individuen. Das Wertvolle und Bleibende kann also unmöglich in dem liegen, was nicht sein soll, was überwunden werden muß, wenn die Gesellschaft bestehen und sich erhalten will. Daraus ergibt sich, daß eine Philosophie, welche ihrer Tendenz und Konsequenz nach zur Auflösung der allgemeinen Ordnung und Lebensgemeinschaft führt, wie der Sensualismus, der theoretisch entweder den Skeptizismus oder Materialismus und praktisch den Egoismus zur Folge hat, nicht die wahre sein kann. Eine geschichtliche Betrachtung über den Ursprung dieser Theorien, wie sie in alter und neuer Zeit bei den Sophisten und Enzyklopädisten zum Ausdruck kommen, würde uns von deren Unhaltbarkeit wirksamer überzeugen, als die abstrakten Erwägungen über die Mängel und Vorzüge des Materialismus und Spiritualismus. Die Geschichte allein führt zum wahren Verständnis der Philosophie. Denn diese setzt die allgemeine Kultur voraus, auf deren Boden die einzelnen Systeme organisch erwachsen sind. Die richtige Methode, Philosophie zu studieren und darzustellen, muß, wie es scheint, noch erfunden werden. Vielleicht, daß die neueste Richtung, falls sie den einseitig erkenntnistheoretischen und skeptischen Standpunkt verläßt, bei dem allgemeinen Verlangen anch "Erfahrung", wozu auch die Vergangenheit und deren Geschichte gehört, sich auf dem besten Weg dazu befindet. Der Empirismus der Gegenwart ist hauptsächlich auf die Naturwissenschaften beschränkt. Man versteht darunter die Erkenntnis der materiellen Welt mittels der äußeren Sinnesorgane. Daß aber alle Erkenntnis aus der sinnlichen Wahrnehmung entspringt, daß nichts im Intellekt ist, was ihm nicht durch die Sinne zugeführt wird, ist heutzutage innerhalb der philosophischen Kreise ziemlich allgemein aufgegeben. Eigentliche Sensualisten und Materialisten gibt es außerhalb der Naturwissenschaft nur sehr wenige, und selbst diese spielen theoretisch keine bedeutende Rolle. Gleichwohl will sich auch die jüngere Generation nach dem Vorbild der Naturwissenschaft auf die Erfahrung stützen, aber auf die innere, wie sie sich im Seelenleben kundgibt. Sie befaßt sich deshalb vorwiegend mit Erkenntnistheorie, Psychologie, Ethik, Geschichte. Der Metaphysik und Spekulation im alten Stil ist sie durchweg abgeneigt. Ihr Hauptstreben war in den letzten Jahrzehnten auf Erkenntnistheorie gerichtet, wobei sie sich besonders an KANT zu orientieren suchte. Diese Rückkehr zum Begründer der letzten große Epoche war gegenüber der Anarchie, welche nach der Auflösung der hegelschen Schule eintrat, die einen oberflächlichen Materialismus, vor allem aber eine allgemeine Betrachtung und Vernachlässigung der Philosophie zur Folge hatte, ein erfreuliches Zeichen. Sie bewies, daß man sich wieder dem Idealismus zuwenden und einer besonnenen und gründlichen Erforschung des geistigen Lebens hingeben will. Die übertriebene Verehrung des großen Kritikers aber, die sich besonders in der sogenannten Kantphilologie äußert und in der Ansicht, daß die Philosophie nun ganz in der Erkenntnistheorie aufgehen muß (33) oder der Meister das letzte Wort gesprochen hat, scheint jetzt schon bedeutend nachgelassen zu haben (34). Etwas von philosophischem Geist wird man doch wohl auch seinen Nachfolgern zuerkennen dürfen. Ganz ohne Grund werden sie nicht über KANT hinausgegangen sein. Vielleicht haben FICHTE, SCHELLING, HEGEL, SCHOPENHAUER [as-krikan] noch eher im kantischen Geist gedacht als die Gegenwart, welche nicht einmal mehr den Mut hat, über die unmittelbare Erfahrung hinaus etwas zu behaupten. Es ist also ob man den transzendentalen Sinn, der in KANTs "praktischer Vernunft" so entschieden betont wird, gänzlich verloren hätte. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, steht FICHTE seinem Vorgänger ungleich näher, als die neuesten Erkenntnistheoretiker, die sich vorzugsweise nur an das negative Resultat seines Hauptwerkes halten. Die natürliche Folge davon ist ein allgemein transzendentaler Skeptizismus. Man kann zu diesem Ergebnis gelangen, sofern man sich auf die eine Seite der kantischen Kritik stützt. Faßt man aber beide, die theoretische und die praktische, als ein zusammengehöriges Ganzes ins Auge, was KANT doch sicherlich wollte, dann kann eigentlich nicht von einem Skeptizismus die Rede sein. Freilich führen die Ideen: Gottheit, Freiheit, Unsterblichkeit zu einer Metaphysik, die ihre Gewißheit nur in einem sittlichen und religiösen Gefühl hat. Wissenschaftlich zu erweisen sind sie nicht, aber auch nicht zu widerlegen, wohl aber anders zu fassen. Wir werden die Moral nicht mehr abhängig machen von der Unsterblichkeit und die Gottheit nicht bloß postulieren zum Zweck der Belohnung und Bestrafung im Jenseits. Eine Umbildung dieser Begriffe ist unter allen Umständen geboten. Damit sind aber die Ideen selbst und das diesen Ideen zugrunde liegende allgemein menschliche Gefühl nicht aufgehoben. Wie es sich mit deren objektiver Wahrheit auch immer verhalten mag: die Philosophie darf in keinem Fall diese Fragen umgehen und die positive Seite der kantischen Kritik einfach ignorieren. Es wäre ja möglich, daß zum zweitenmal von der ethischen Seite des Menschen eine neue ideale Epoche der Philosophie ausgeht. Manches spricht sogar dafür, daß sie im Anzug begriffen ist, wenn auch noch in einseitig empirischer Form. Bei dem hervorragend geschichtlichen Sinn, der unsere Zeit auszeichnet, wird man unwillkürlich gezwungen werden, auf den positiv fruchtbaren Kern der kantischen Philosophie zurückzukommen und ihn je nach Bedürfnis umzugestalten (35). Überblickt man das Ergebnis dieser Untersuchung, so ist uns durch die ganze Geschichte nicht recht klar geworden, was man streng genommen unter Empirismus zu verstehen hat. Schon bei ARISTOTELES erscheint der Begriff unklar und schwankend, indem er "Erfahrung" und "Theorie", "Kenntnis des Einzelnen" und "Erfassen des Allgemeinen", "sinnliche Wahrnehmung" und "logisches Denken" das eine mal identifiziert, das andere mal scharf voneinander unterscheidet. "Erfahrung" kann nur dann "so ziemlich dasselbe sein, was Wissenschaft und Theorie" (36), wenn man sich sowohl unter jenem wie unter diesem Begriff jedesmal die Verbindung des Einzelnen mit dem Allgemeinen, der Sinnlichkeit mit dem Verstand vorstellt. ARISTOTELES hat die beiden Funktionen des Wahrnehmens (37) und Denkens (38) weitläufig beschrieben und trotzdem gibt er keinen genügenden Aufschluß über das Wesen der Sinnlichkeit und der Vernunft. Diese Unklarheit und Unsicherheit zieht sich durch alle Jahrhunderte (39). Auch KANT, der größte Erkenntnistheoretiker, hat sie nicht überwunden. Unter Erfahrung versteht er bald die sinnliche Wahrnehmung, bald die Verbindung der Wahrnehmungen mit den Kategorien. Dieses Schwanken war eine notwendige Folge seiner Vernachlässigung der empirischen Sinnlichkeit. Vergleicht man, was ARISTOTELES in seiner Logik (40) und KANT in seiner Kritik hinsichtlich des menschlichen Denkvermögens geleistet haben, mit dem, was sie über die Sinnlichkeit vorbringen, so ist dieser Unterschied in der Behandlung in hohem Maß auffallend. Und doch ist ein wissenschaftlicher Empirismus nicht möglich, solange die Sinnlichkeit nicht ebenso gründlich und allseitig untersucht wurde, wie der Verstand. Bis jetzt kennen wir die Bedeutung des empirischen Faktors nur aus dem praktischen Leben und den Resultaten der Naturwissenschaft, aber sein Wesen ist uns noch unbekannt (41). Inzwischen bleibt es immerhin richtig, was ARISTOTELES und KANT behaupten, daß Erfahrung in der sinnlichen Wahrnehmung und dem logischen Denken besteht und wirkliche Erkenntnis nur möglich ist, wenn sich beide miteinander verbinden. Nur darf man dabei nicht vergessen, daß sich diese Bestimmung bloß auf die äußere, materielle Welt bezieht, und das innere, geistige, spezifisch menschliche Gebiet nicht mit einschließt. So wahr jedoch die aristotelische Definition von der Erfahrung in der Hauptsache ist, so wurde sie doch in der Folgezeit nie festgehalten. Bei aller Verehrung, welche das Mittelalter dem Philosophen zollte, bewies es nichtsdestoweniger eine gründliche Verachtung in allem, was sich auf Sinnlichkeit und Materie bezog. Die neuere Philosophie holte zwar das Versäumte nach, trat aber gleich in zwei extreme Richtungen auseinander, indem die eine nur die Vernunft, die andere nur die Sinnlichkeit als die eigentliche Erkenntnisquelle betrachtete. Zwischen diesem einseitigen Rationalismus und Sensualismus konnte die Erfahrung im obigen Sinne nicht zur Geltung kommen, und obgleich KANT wieder darauf hinwies, haben doch seine Nachfolger sie aufs Neue vernachlässigt und sich vorwiegend der aprioristischen Spekulation überlassen. Man kann also wohl behaupten, daß der Empirismus seinem Wesen nach nie zur allgemeinen Anerkennung gelangte, bis endlich die Naturwissenschaft mit ihren exakten Methoden und Resultaten in den Vordergrund trat. Ihr großartigen theoretischen und praktischen Erfolge haben erst die Bedeutung der Sinnlichkeit als Erkenntnisquelle dem Menschen zum Bewußtsein gebracht. Da wir diese Einsicht hauptsächlich der Naturwissenschaft verdanken, so wäre es vielleicht gut, um mehr Klarheit und Bestimmtheit in diesen Begriff zu bringen, den Empirismus ein für allemal auf die Erkenntnis der sinnlichen und materiellen Welt zu beschränken, und für die innere Erfahrung eine andere Bezeichnung einzuführen. Bei der Macht der Gewohnheit und Tradition wird es jedoch schwer sein, das ganze geistige Gebiet mit einem neuen Kunstausdruck zu belegen. Spricht man gar von "Erfahrungswissenschaften, worunter alles gefaßt wird, was, außer der rein materiellen Welt, dem menschlichen Erkennen zugänglich ist, so steht natürlich nicht zu hoffen, mit einem solchen Vorschlag durchzudringen. Auch wird man nicht bestreiten können, daß der Begriff Erfahrung zu sehr mit unserem Leben und Denken verflochten ist, als daß eine scharfe Sonderung noch möglich wäre. So werden wir uns dann mit der hergebrachten Unterscheidung in äußere und innere Erfahrung begnügen, dafür aber versuchen müssen, die sogenannten empirischen und geistigen Wissenschaften, welche sich in immer schärfere Gegensätze zugespitzt haben, teils in eine nähere Berührung, teils in eine andere Fassung zu bringen. Denn erstens sind die inneren und äußeren Erfahrungen nicht voneinander zu trennen. Die sinnlichen Wahrnehmungen können ebensogut als innere, wie Religion, Moral, Recht usw. als äußere Vorgänge betrachtet werden. Innerlich ist jede Wahrnehmung, ob sie uns selbst oder die materielle Natur betrifft. Sodann müssen sich die geistigen Prozesse in uns nach außen offenbaren, wenn sie für andere wahrnehmbar sein sollen. In beiden Fällen ist es notwendig, die Tatsachen auf allgemeine Begriffe, Gesetze und Prinzipien zurückzuführen, was nur mittels des logischen Denkens möglich ist. Die Lehre von den letzten Ursachen und Gründen nannte man bis jetzt Metaphysik. Bringt man diese in engste Verbindung mit den Tatsachen der inneren und äußeren Wahrnehmung, versteht man darunter nichts anderes als die natürlichen Konsequenzen und Schlüsse, welche, mit Rücksicht auf die unserer Natur gesetzten Schranken, sich aus jenen Tatsachen ergeben, so verhalten sich Empirie und Spekulation nur wie das Einzelne zum Allgemeinen in seinen letzten Folgerungen. Auf diese Weise werden Erfahrung und Theorie als notwendige Bestandteile jeder begründeten Erkenntnis miteinander verbunden und die Mängel, welche, wie schon ARISTOTELES richtig erkannt, Erfahrung ohne Theorie, im Gefolge haben, vermieden. Selbstverständlich kann nach dieser Auffassung von einem "reinen Denken" oder "reiner Vernunft", von dogmatischer und rationalistischer Metaphysik im herkömmlichen Sinn keine Rede mehr sein. Aber auch jener krasse Empirismus, welcher nur in äußerlich beobachteten Tatsachen die höchste Wahrheit zu finden wähnt, erscheint vor dem Forum der Kritik als ebenso unwissenschaftlich, wie die rein aprioristische Spekulation. Beiden Richtungen gegenüber wird der Skeptizismus immer ein gewonnenes Spiel haben. Denn das reine Denken ohne Erfahrung bietet keinen Inhalt, und die bloße Erfahrung ohne Logik und Metaphysik keinen systematischen Zusammenhang. Die Skepsis ist nur möglich, wo es kein zuverlässiges Wissen gibt. Daß dieses unheimliche Gespenst nach jeder großen Epoche in der Philosophie sein Haupt erheben konnte, ist ein sicherer Beweis, daß es jedem System, wenn nicht an Konsequenz, so doch an einer festen empirischen Grundlage fehlte. Die Naturwissenschaft ist, abgesehen von ihrer erkenntnistheoretischen Basis, gegenwärtig die einzige Macht, welcher der Skeptizismus nichts anhaben kann. Folglich muß der wahre Empirismus von ganz anderer Beschaffenheit sein, als der Sensualismus und Rationalismus. Das allgemeine Vertrauen, welches man in die Naturwissenschaft setzt, ist nicht bloß eine vorübergehende Strömung, wie Mode und Geschmack sie hervorbringen, sondern beruth auf positiven Tatsachen, welche durch tausendfältige Beobachtungen und Experimente erwiesen und festgestellt sind. Müssen wir auch zugeben, daß jene erkenntnistheoretische Basis noch mannigfachen Zweifeln ausgesetzt ist, so werden doch die Tatsachen selbst dadurch nicht aufgehoben. Eines so unerschütterlichen und allgemeinen Vertrauens erfreute sich auf die Dauer noch keine Philosophie, selbst wenn man, wie die Scholastik in Bezug auf ARISTOTELES, Jahrhunderte lang daran festhielt. Und doch ist auch dieses Vertrauen nur ein Glaube an die Richtigkeit unseres Wahrnehmens und Denkens. Sobald man diese Richtigkeit bezweifelt, wozu die Erkenntnistheorie so sehr geneigt ist, fängt der Schimmer der objektiven Wahrheit des Empirismus an zu erbleichen. Diese neueste Skepsis ist aber doch wesentlich verschieden von der antiken und modernen; sie ist ungleich tiefer und gründlicher als jene; ja sie bezeichnet eigentlich nur die Grenze unseres Erkennens über die erwiesenen Tatsachen hinaus. Können Wissen und Zweifel, Gewißheit und Unsicherheit nicht zusammen bestehen, so ist der richtige Empirismus gegenwärtig der einzige respektable Gegner des Skeptizismus. Bei all dem allgemeinen Unglauben in Bezug auf die religiöse Dogmatik und philosophische Metaphysik ist er der feste Punkt, an dem wir uns orientieren und vielleicht auch das Vertrauen zur inneren, geistigen Erfahrung wiedergewinnen können. Wir müssen es geradezu noch für ein Glück halten, daß zumindest die sinnlich intellektuelle Seite unseres Wesens nicht ebenso vom Zweifel angekränkelt ist, wie die religiöse Spekulation. Dächte die heutige Menschheit so geringschätzig von der Natur, wie die Scholastik, so wäre beim allgemeinen Mangel an transzendentalem Sinn unsere ganze Kultur in Frage gestellt. Aber die empirischen und exakten Wissenschaften sind für das moderne Bewußtsein, was Kirche und Offenbarung für das Mittelalter waren. Man ist auch bereit für den Fortschritt auf diesem Gebiet dieselben Opfer der Entsagung und Selbstverleugnung zu bringen, wie sie die früheren Geschlechter für ihre religiöse Überzeugung brachten. Der Durst nach Wahrheit und Gewißheit ist heute so groß wie zu irgendeiner früheren Zeit. In diesem Verlangen nach einer zuverlässigen, unerschütterlichen Gewißheit dürfen wir das Fundament und die Bürgschaft für eine künftig idealere und höhere Weltauffassung erblicken. Ließe sich das Grundwesen der Seele, das Gemüt mit seinen übersinnlichen Postulaten, so sicher erkennen, wie die äußere Natur, dann würde man zweifellos jenem den Vorzug einräumen. Da aber weder Religion noch Philosophie in ihrer bisherigen Verfassung eine solche Gewißheit gewähren, so ist es natürlich, daß man sich einstweilen an das hält, was durch Vernunftgründe und Tatsachen bewiesen werden kann. Den archimedischen Punkt hat die exakte Wissenschaft gefunden, während die Selbsterkenntnis (gnothi seauton), das höchste Ziel aller Philosophie, bis jetzt nicht erreicht wurde. Welchen Einfluß die Naturwissenschaft auf unsere Überzeugung von der Gewißheit des Tatsächlichen ausgeübt und wie sie den herkömmlichen Skeptizismus in den Hintergrund gedrängt hat, läßt sich am Besten durch ein hervorragendes Beispiel beleuchten. Noch von etwa 140 Jahren konnte ein Mann wie HUME, der scharfsinnigste und gefährlichste aller Skeptiker der Neuzeit, dessen Philosophie ganz auf dem Prinzip der Beobachtung und Erfahrung beruth, folgende Behauptung aussprechen:
Wie Wahrheit und Irrtum bei einem kühnen Denker sich miteinander verbinden, mag sich noch aus Folgendem erhellen.
Hätte HUME KANTs Kritik kennen gelernt, so würde er ganz sicher die Grundlosigkeit seiner Behauptungen eingesehen haben. Zugleich aber würde es dem scharfsinnigen Mann wahrscheinlich nicht entgangen sein, daß trotz der Apriorität der Denkformen, soweit sie nur auf Erscheinungen und nicht auf das Ding-ansich anwendbar sein, das Rätsel bloß eine Strecke zurückgeschoben, aber nicht gelöst ist. Und es wird sich auch nicht lösen lassen, solange die Kategorie der Kausalität, um die es sich hier besonders handelt, nur als eine allgemein subjektive Denkform und nicht als ein objektiv reales Weltgesetz betrachtet wird (56). Dazu gehört aber eine synthetische und nicht bloß eine analytische, das Denken und Wahrnehmen von der Wirklichkeit trennende Auffassung. Abgesehen hiervon genügt es uns einstweilen, den kantischen Transzendentalismus als erste Instanz dem humeschen Skeptizismus entgegenhalten zu können. Als zweite nicht weniger gewichtige läßt sich die Naturwissenschaft und Mathematik anführen. Endlich kommt noch ein drittes, mehr innerliches und psychisches Moment in Betracht. Ob man die alte oder neuere Skepsis ins Auge faßt, immer wird man finden, daß sie in Bezug auf die Grundlage an einer gewissen Oberflächlichkeit und hinsichtlich der Folgerungen an Übertreibung leidet. Letztere entspringt weniger aus einer wissenschaftlichen Überzeugung als aus einer entweder natürlichen oder anerzogenen Neigung zur Zweifelsucht. Wäre diese Neigung echt wissenschaftlich, ein tief inneres Bedürfnis nach Wahrheit, so müßte sie den Skeptiker notwendig dahin führen, bis zu den Quellen der Erkenntnis hinabzudringen, was in der Regel nicht der Fall ist. Vielmehr geht er, wie man schon bei PROTAGORAS und selbst bei HUME sieht, von einem gegebenen System aus, ohne dessen Grundlage zu untersuchen. Infolgedessen entbehrt der Skeptizismus der festen Basis und es wohnt seinen Argumenten keine zwingende Kraft inne; er entdeckt wohl die Schwächen anderer, begründet sich aber selbst nicht; er lebt sozusagen wie ein Schmarotzer von einem fremden Organismus, ist ohne eigenen Boden und eigener Frucht (57). Sein Resultat ist überall nur ein negatives. Wo es sich anders verhält, ist sein Ziel jedenfalls nicht die Wahrheit. Bei den Alten war es eine offen ausgesprochene Tendenz, daß es sich nicht um ein Wissen "ansich", sondern um die Befriedigung eines praktischen Bedürfnisses, um eine "Ruhe des Gemüts" handelt. Dennoch ist auch er von Oberflächlichkeit und Übertreibung nicht frei zu sprechen. Er will die "Natur der Gewißheit" untersuchen (58), gibt aber nach kurzem Anlauf, schon nach einigen Kapiteln, die Hoffnung auf, dieses Ziel zu erreichen. Denn seiner Ansicht nach dient
An diesem einen hervorragendsten Beispiel glauben wir für unseren Zweck zur Genüge gezeigt zu haben, wie wenig der Skeptizismus bei genauerer Untersuchung dem Empirismus, der sich auf Beobachtung und Experiment, auf Vernunftschlüsse und mathematische Berechnung stützt, standhalten kann. Bei weniger scharfsinnigeren Denkern als HUME würde dies noch deutlicher zutage treten. Dennoch ist der Skeptizismus nicht zu unterschätzen. In einem späteren Abschnitt werden wir noch einma darauf zurückkommen, um von einem anderen Gesichtspunkt aus die Berechtigung dieser Denkweise ins rechte Licht zu stellen. Soviel auch an HUME zu tadeln sein mag, so bleibt ihm doch unleugbar das Verdienst, aus dem Prinzip LOCKEs die Konsequenzen gezogen und dadurch erwiesen zu haben, daß aus der sensualistischen Theorie der Skeptizismus mit Notwendigkeit folgt. Ist dieselbe Folgerung vom Standpunkt des wissenschaftlichen Empirismus nicht möglich, so muß zwischen diesem und dem Sensualismus ein Unterschied bestehen. Es ist nicht Aufgabe der Naturwissenschaft, den Ursprung unseres Wissens zu untersuchen, sondern mittels des Erkenntnisvermögens die materielle Welt zu erforschen. Nun setzen aber die Funktionen des Wahrnehmens und Denkens ein ganz anderes Prinzip voraus als die bewußtlosen, mechanisch wirkenden Kräfte. Die Letzteren zu begreifen bedient sich die Naturwissenschaft jener Funktionen bloß als Mittel, während die Erkenntnistheorie, wozu auch der Sensualismus gehört, den Zweck hat, ihre Beschaffenheit und Tragweite zu bestimmen. Selbstverständlich wird damit keineswegs behauptet, daß die Empirie solcher Untersuchungen gar nicht bedarf oder gänzlich von ihnen unberührt bleibt. Unsere gesamte Weltauffassung hängt am Ende dann doch von der Entscheidung ab, ob sie eine objektiv reale oder nur eine subjektive ideale ist. Und angenommen, sie ist beides, eine "real-ideale" (61), so handelt es sich immer noch um die Klarlegung der Verhältnisses von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein. Welche Gründe und Tatsachen sprechen für die Übereinstimmung beider? Nur in dieser Übereinstimmung, so trivial und allgemein sie uns erscheinen mag, besteht schließlich die Wahrheit. Decken sich unsere Vorstellungen nicht mit der Wirklichkeit, so stehen wir unmittelbar vor dem Skeptizismus. Ist das Ziel aller Forschung die Wahrheit, und hängt diese grundwesentlich mit den Bedingungen unseres Wissens zusammen, so ist die Erkenntnistheorie ebenso wichtig für den Empirismus wie für die Spekulation. Tatsächlich kümmern sich aber die meisten Naturforscher nicht um diese Bedingungen, sondern setzen die Richtigkeit des Wahrnehmens und Denkens einfach voraus. Was faktisch erwiesen und logisch gedacht werden kann, halten sie für wahr. Das Verhältnis der Sinnlichkeit zum Verstand, oder des Denkens zum Sein kommt dabei nicht in Betracht. Man überläßt diese unfruchtbaren und spitzfindigen Untersuchungen mit Geringschätzung den Philosophen. Ist diese Mißachtung der fundamentalsten aller Wissenschaften als eine arge Verkennung des wahren Sachverhalts zu bedauern, so müssen wir andererseits dennoch der Naturwissenschaft recht geben, wenn sie sich vorläufig an das hält, was ohne Rücksicht auf die Erkenntnistheorie empirisch und logisch erreichbar ist. Aber sie hat sich damit selbst ihre Grenze gesteckt und indirekt zugegeben, daß die andere Seite des Dasein, das sogenannte geistige Leben, ein Gebiet für sich ist, welches mit Sinnlichkeit und Verstand allein nicht zu erklären ist. Dieses Gebiet nun zu leugnen oder für unerkennbar zu halten ist eine Inkonsequenz von Seiten der Naturwissenschaft. Sie überschreitet damit die von ihr selbst gezogene Grenze, innerhalb welcher sie allein wirkliche Erfolge aufzuweisen hat. Ohne es zu merken verfällt sie mit dem bloßen Leugnen oder Zweifeln dem Dogmatismus oder Skeptizismus. Beides ist einer Wissenschaft, die sich so streng an Tatsachen und Vernunftgründe hält, unwürdig. Kann sie also hinsichtlich des geistigen Gebietes, sofern sie sich in ihrem Rahmen bewegt, weder etwas bejahen noch verneinen, ist sie die positive, exakte Wissenschaft, wobei es sich nicht um Glauben oder Zweifeln, sondern um Tatsachen und Beweise handelt, so sind Dogmatismus und Skeptizismus von ihr ausgeschlossen. Das Verhältnis dieser beiden Standpunkte und Denkrichtungen zu untersuchen, fällt gar nicht in ihren Bereich. Wenn trotzdem die Erkenntnistheorie das Fundament auch für sie bleibt, so beweist dies nur umsomehr, wie innig Empirie und Philosophie sich berühren und einander ergänzen. Unter diesen Ergänzungen ist aber beileibe nicht der Materialismus, der sich so gern auf "Erfahrung" beruft und sich infolgedessen als exakte Wissenschaft ausgibt, zu verstehen. Aus obiger Analyse geht vielmehr deutlich hervor, daß der Materialismus durchaus nicht mit Notwendigkeit aus dem Empirismus folgt. Weiß dieser nichts um die letzten Ursachen und Prinzipien, worunter man sich nur Atome, Monade oder einen absoluten Geist vorstellen kann, so fragt es sich mit welchem Vermögen der Materialist den Stoff als den letzten Grund allen Seins und Geschehens zu erkennen imstande ist. Er wird sich natürlich auf die Vernunft berufen; allein dieses Organs bedient sich mit gleichem Recht auch der Spiritualist, nur daß er, statt von der sinnlichen Wahrnehmung, von anderen Kräften der Seele ausgeht. Nehmen wir an, diese anderen Kräfte sind der Sinnlichkeit zumindest ebenbürtig, so kann ein Schluß von diesen Wirkungen auf eine letzte Ursache unmöglich zum reinen Materialismus führen. Dazu kommt die weitere Frage nach dem Wesen und der Beschaffenheit der Materie. Der Empirismus kennt nur Körper und Elemente, ist aber nicht in der Lage zu beweisen, daß die Elemente die letzten Bestandteile sind, welche den Erscheinungen zugrunde liegen. Folglich ist der Materialismus nichts als eine metaphysische Spekulation, welcher die äußere Empirie nur scheinbar eine solidere Unterlage bietet als die innere dem Spritualismus. Will man aber noch zugeben, daß die sinnliche Wahrnehmung und überhaupt die Ergebnisse der Naturwissenschaft einen Schluß gestatten auf eine ewige Materie, so ist dies eben doch nur eine Seite, aber nicht der ganze Umfang, in welchem das menschliche Leben sich manifestiert. Außerdem hat jede Metaphysik, auch die materialistische, sich vor allem mit der Erkenntnistheorie auseinanderzusetzen; sie darf sich nicht einfach der Empirie anschließen, weil diese hinsichtlich der letzten Fragen, die wir an das Wissen stellen, selbst von der Erkenntnistheorie abhängt. Je gründlicher man das Wesen und den Ursprung des Wissens untersucht, umso mehr wird man einsehen, wie schwierig es ist, sich mit dem bloßen Denken über die Tatsachen hinaus Gewißheit zu verschaffen. Nun hängt aber jedes absolute Prinzip, sei es geistig oder materiell, von einem solchen Schluß ab. Läßt sich nicht beweisen, daß das Denken ansich, auch wenn es von Tatsachen ausgeht, transzendenzfähig ist, so kann ein solcher Schluß nie zu einer lebendigen Überzeugung führen. Man wird deshalb kaum fehl gehen mit der Annahme, daß auch beim Materialismus das wirklich Ausschlaggebende weder die Sinnlichkeit noch der Verstand ist, sondern eine gewisse, weiter nicht bestimmbare Anlage des Gemüts. Der Emprismus erreicht seinen Zweck in den erkannten Tatsachen und Gesetzen. Will er über diese hinaus zu einem absoluten Prinzip, so muß er den Boden der sinnlichen Wahrnehmung verlassen und metaphysisch werden. Wollte man dagegen einwenden, daß schon jeder allgemeine Satz und folglich jedes Gesetz über das Sinnliche hinausgeht, so brauchen wir nur auf den Unterschied zwischen Gesetz und Prinzip aufmerksam zu machen. Jenes stützt sich immer noch auf eine Summe beobachteter Tatsachen; ein absolutes Prinzip hingegen, sei es atomistisch oder spiritualistisch, ist der sinnlichen Wahrnehmung ein für allemal entrückt. Gerade die Wahrnehmung ist aber das Hauptmerkmal des Empirismus. Daraus folgt, daß die materialistische Metaphysik, die zunächst auf der sinnlichen Wahrnehmung beruth, unter allen am schlechtesten fundamentiert ist. Jede andere, welche sich auf Vernunft, Willen, religiöses Gefühl usw. stützt, ist konsequenter und natürlicher; denn diese Kräfte, namentlich die letzte, sind ansich schon transzendental, und da diese den Grund ihrer Existenz nicht in sich selbst haben und sich nicht aus der bewußtlosen Materie ableiten lassen, so muß notwendig ein anderes Prinzip als Ursache derselben angenommen werden. Überdies ist noch wohl zu beachten, daß die Wahrnehmungen selbst wesentlich verschieden sind von den leiblichen Organen; es sind ebensogut seelische Funktionen wie Denken, Fühle, Wollen. Nur in solchen Wahrnehmungen und den damit verbundenen Vorstellungen existiert für unser Bewußtsein die Außenwelt. Sollte nun gemäß der mechanischen Naturauffassung die Materie wirklich tot und bewußtlos sein, so bestehn zwischen den seelischen Funktionen des Wahrnehmens und dem materiellen Objekt ein klaffender Abgrund, den der Materialismus nie überbrücken kann. Leugnen läßt sich nun einmal der Unterschied zwischen Tod und Leben, Mechanismus und Bewußtsein nicht. Wird Letzteres der Materie abgesprochen und existiert diese selbst nicht im Bewußtsein, außer in Empfindungen und Vorstellungen, so lassen sich diese Bewußtseinfunktionen mit der absolut bewußtlosen Materie nicht identifizieren; folglich existiert die ganze materialistische Auffassung nur im Bewußtsein, ist nur eine geistig empfunden und vorgestellte Welt. Damit hat der Materialismus allen Boden unter den Füßen verloren und schlägt in sein Gegenteil, den Spiritualismus um. Auf andere Konsequenzen, die sich ebenfalls hieraus ergeben dürften, wie subjektiver Idealismus und Skeptizismus gehen wir vorläufig nicht ein, sondern begnügen uns im Allgemeinen gezeigt zu haben, daß der Materialismus keineswegs eine notwendige Folge des Empirismus ist. ![]()
29) Über die Kritik des ARISTOTELES an der vorsokratischen Philosophie ist insbesondere ZELLERs überaus klare und meisterhafte Darstellung (Griechen II, 2, Seite 278-292) nachzulesen. 30) Bei dieser Kritik kommt hauptsächlich KARNEADES, der bedeutendst und scharfsinnigste unter den alten Skeptikern in Betracht, dessen Argumente in mancher Hinsicht noch heute Beachtung verdienen (vgl. ZELLER, Griechen III, 1, 497-523). 31) SHAKESPEARE, Hamlet II, 2 32) Vgl. THUKYDIDES II, Seite 53; III, Seite 82; I, Seite 76; III, Seite 40; V, Seite 89, 105; VI, Seite 85. Außer diesen angeführten Stellen gewähren besonders die Werke des ARISTOPHANES einen tiefen Einblick in den Geist und die Strömung der damaligen Zeit. 33) ALOIS RIEHL, Über wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie. Eine akademische Antrittsrede, 1883. 34) "Für uns kann das Zurückgehen auf Kant nur bedeuten", sagt ZELLER, "die Fragen, die er gestellt hat, nicht bloß aufs Neue zu stellen, sondern sie auch weiter und schärfer zu fassen, die Antworten, die er gegeben hat, aufs Neue zu prüfen, zu ergänzen, zu berichtigen." (Vorträge und Abhandlungen, Bd. II, Seite 497) 35) Vgl. PAULSEN, Was uns Kant sein kann? Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. V, Heft 1, Seite 1-96 36) ARISTOTELES, Metaphysik I, 981a, 1. EUCKEN, a. a. O., Seite 28. 37) ARISTOTELES, De anim. II, Kapitel 5-12; De sens., Kapitel II-VI. BÄUMKER, Des Aristoteles Lehre von den Sinnesvermögen, 1877. 38) In der Psychologie und den verschiedenen logischen Schriften; besonders scheint das Verhältnis der passiven zur aktiven Vernunft und dieser zur Gottheit ein unlösbares Rätsel zu sein. 39) Von THEOPHRAST und den Peripatetikern ALEXANDER von APHRODISIAS und THEMISTIUS bis zu den arabischen und christlichen Philosophen (AVERROES und THOMAS von AQUIN und von da bis in die neuere Zeit. Vgl. ZELLER, Vorträge und Abhandlungen II, 2, Seite 200f und 566-569. 40) Wozu auch das Metaphysische gehört, da ja ARISTOTELES beides zusammenfaßte, sowie auch bei KANT wenigstens die "Kritik der praktischen Vernunft" von der der theoretischen nicht getrennt werden darf. 41) Auf die weitere Darlegung der Erkenntnistheorie und Physiologie der Sinnesorgane kann hier bei einer bloß allgemeinen Skizzierung der Grundzüge des Empirismus nicht näher eingegangen werden. 42) HUME, Untersuchungen in Betracht des menschlichen Verstandes (übersetzt von KIRCHMANN), Seite 29. 43) HUME, a. a. O., Seite 33 44) HUME, a. a. O., Seite 37 45) HUME, a. a. O., Seite 40 46) HUME, a. a. O., Seite 40 47) HUME, a. a. O., Seite 38 48) HUME, a. a. O., Seite 35 49) HUME, a. a. O., Seite 33 50) HUME, a. a. O., Seite 34 51) HUME, a. a. O., Seite 44 52) HUME, a. a. O., Seite 41 53) HUME, a. a. O., Seite 44, 45 54) HUME, a. a. O., Seite 44 55) SPICKER: Kant, Hume, Berkeley; 1875 56) Vgl. MORIZ CARRIERE, Die sittliche Weltordnung, zweite Auflage, Seite 90 und 126f. 57) Hat doch selbst ein KARNEADES, obgleich ihm Ernst und wissenschaftliche Tüchtigkeit nicht abgesprochen werden kann (ZELLER, Griechen III, 1, Seite 522), offen von sich behauptet: "Wenn Chrysipp nicht gewesen wäre, so wäre ich auch nicht." DIOGENES LAERTIUS IV, Seite 62. 58) HUME, a. a. O. Seite 29. 59) HUME, a. a. O., Seite 34 60) CICERO, Acad. I, 12, 45. 61) CARRIERE, a. a. O., Seite 107-150 |