cr-3Tagesansicht - NachtansichtIndividualität als fiktive Konstruktion
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
(1882-1949)
Das rationale Denken und
die sensorische Wirklichkeit


1. Psychologisches Problem
2. Sprache als Medium
4. Begriff als Aktionszentrum
5. Die Rationalisierung
  "Eine nur annähernde Eindeutigkeit ist durch die Sprache nicht zu erzielen."

Nun ist bei der Frage nach dem überpsychologischen Werte der psychologischen Begriffe Voraussetzung, daß wir ein  Kriterium  haben, an dem wir jene Beziehung zwischen Bewußtseinsinhalt und außerbewußter Wirklichkeit nachprüfen zu können.

Ein solches besitzen wir nun ohne Zweifel in den  Sinnesempfindungen . Diese sind, wie man auch über ihren Werturteilen mag, auf jeden Fall nicht begrifflich rational, wenn sie auch der begrifflichen Verarbeitung sich nicht völlig entziehen.

Als unmittelbare Erlebnisse aber sind sie ohne Zweifel ganz anderer Natur als das begriffliche Denken.
Ich suche durch eine kurze Gegenüberstellung diesen Gegensatz zu begründen. Im Unterschied zu den rationalen Begriffen, die einen dauernden, statischen Tatbestand feststellen und jenseits von Zeit und Raum gelten wollen, ist die Empfindung, die  reine  Empfindung, stets nur einmalig, innerhalb von Zeit und Raum erlebbar, individuell und konditional. Daher ist sie auch nicht allgemein, sondern nur für die Persönlichkeit selber gültig. Zum Mindesten können wir niemals nachweisen, daß andere Menschen denselben Gegenstand genau so sehen wie wir, wohl aber können wir sehr oft durch Vergleiche mit anderen Erlebnissen feststellen, daß sie "dasselbe" anders erleben.

Viele Farbenblinde z.B., deren es eine viel größere Zahl gibt als man gemeinhin annimmt, sehen Rot und Grün als dieselbe Farben, Unmusikalische hören Oktaven und Quinten als  einen  Ton. Man darf sich nicht dadurch irre machen lassen, daß auch das Empfindungsleben der meisten Kulturmenschen weitgehend rationalisiert ist, das heißt, daß die meisten Kulturmenschen weitgehend rationalisiert ist, das heißt, daß die meisten Kulturmenschen durch die Brille ihre Farben begriffe  sehen und durch die Schemata der Gehörs begriffe  hören, und alle Empfindungen infolgedessen schematisiert sind.

Das "reine" Empfindungsleben ist unendlich mannigfaltig, vor ihm gibt es überhaupt streng genommen nicht zwei Farben, die gleich sind, noch zwei Töne, die gleich klingen. Gewiß kann ein derartiges "reines" Empfinden inmitten unserer "Bildung" erst durch bewußte Erziehung hergestellt werden, indessen ist jene "Bildung" eine künstliche Trübung, die bis zu einem gewissen Grade abgestreift werden kann, so daß wir in der Tat die "reine" Empfindung als einen "Grenzfall" rekonstruieren können.

Ist also praktisch infolge der Rationalisierung durch die "Bildung" ein reines Empfindungsleben auch niemals ganz rekonstruierbar, so können wir doch uns ausmalen, wie eine reine Empfindungswelt aussehen müßte. Hätten wir Organe ohne jede rationale Schematisierung, so müßte uns die Welt in jedem Augenblick als eine völlig andere erscheinen, wir würden wahrnehmen, daß infolge der beständigen Lichtveränderungen die Farben der Gegenstände sich beständig wandelten, daß wir eingetaucht wären in einen in tausend Nuancen schillernden Strom von Geräuschen, umflutet von ewig wechselnden Gerüchen, ja daß unser Gemeingefühl nicht "das Gleiche" wäre, sondern beständig variierte.

Ist diese "Empfindungswelt", wie wir sie schildern, auch von uns nicht tatsächlich erlebbar, so ist sie doch eine durchaus fundierte Rekonstruktion, die mindestens ebenso real ist wie die rationalisierte Welt der Logiker und auf jeden Fall deren Gegenpol in allem ist. Ist die Welt des rationalen Denkens eine ewig gleiche, unpersönliche, allgemeine, so ist die Welt der Empfindungen eine beständig sich wandelnde, persönliche, konditionale.

Die Anerkennung der einen schließt mit Notwendigkeit die Anerkennung der anderen aus. Die Welt des gewöhnlichen Lebens, des naiven Menschen, ist zwar ein Kompromiß zwischen beiden Welten, die philosophischen Theoretiker jedoch haben sich, wenn auch selten ganz konsequent, meist entweder für die eine oder andere entschieden. Die extremen Rationalisten erklären die Sinnenwelt für Trug, Schein, Irrtum, Nichtsein, die extremen Sensualisten umgekehrt die rationale Welt für ein starres Schemengerüst, leere Abstraktionen, ein totes Gedankensystem.

Um deutlich zu machen, wie stark das Begriffsleben dies Sinnesleben überwuchert, will ich kurz das Verhältnis der Sprache zu den Empfindungserlebnissen behandeln.

Hier nun begegnen wir an der Schwelle einer Tatsache, die nur wenig beachte worden ist, derjenigen nämlich, daß

die Sprache überhaupt nicht fähig ist, Empfindungen als solche zu bezeichnen, vielmehr nur insoweit, als die Empfindungen begriffliche sind.
Alle Worte nämlich, die die Sprache für Sinneserlebnisse bereithält, treffen garnicht deren  Besonderheit , sondern allein deren Zugehörigkeit zu gewissen begrifflichen Schematen.

Wenn ich die Blumen vor mir auf dem Tisch "blau" nenne, so ist damit gar nicht die Eigenheit gerade  dieser  Empfindung bezeichnet, sondern nur deren Ähnlichkeit mit anderen, die ich im Begriffe "blau" zusammenzufassen gewohnt bin. Dabei ereignet sich nun das Merkwürdige, daß uns in der Regel gar nicht bewußt wird,

daß wir das Schema für das Erlebnis selber halten und es das Erlebnis ganz verdrängen lassen!
Wir glauben wirklich die Empfindung zu bezeichnen, merken gar nicht, daß wir nur eine  schematisierte  Empfindung benennen, und das geht so weit, daß die Sprache zu einer Abstumpfung der Sinne führt, und viele Menschen sich gar nicht der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer Erlebnisse, sondern nur der schematisierten Empfindungsbegriffe bewußt werden!

Seinen Grund hat dies merkwürdige Phänomen natürlich in dem Überwiegen der sozialen Werte der Sprache über die individuellen. Für das soziale Leben aber kommt es in der Regel gar nicht auf eine ganz exakte Bezeichnung des Einzelerlebnisses, sondern auf eine allgemeine Verständigung an. Die generelle Zugehörigkeit ist wichtiger als die Besonderheit - für die Zwecke des Lebens.

Eine genauere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Empfinden und Sprechen wird noch deutlicher offenbar machen, wie das tatsächliche Empfinden den engen Rahmen der Sprache überschreitet.

Beginnen wir mit den Empfindungen des Auges, also den  Farben . An Grundworten für Farben hat die deutsche Sprache nur die folgenden: rot, gelb, grün, blau, wozu noch für neutralere Töne: schwarz, weiß, braun, grau treten. Diese können durch Zusammensetzungen noch etwas vervielfältigt werden, aber der unendlichen Vielheit der Möglichkeiten gegenüber ist das geradezu lächerlich wenig.

Man gehe etwa in ein großes Seidengeschäft und sehe dort die Hunderterlei Schattierungen "derselben" Farbe nebeneinander, dann wird man einsehen, daß jene Bezeichnungen überhaupt nicht  eine  Farbe treffen, sondern unendlich viele zusammenfassen. Das heißt aber, anders ausgedrückt, daß sie  Begriffe  sind, die Wirklichkeit also schematisieren. Sie treffen nicht die Empfindung in ihrer Besonderheit, sondern ordnen das besondere Erlebnis einer Sammelkategorie zu.

Wie sehr das der Fall ist, zeigt sich darin, daß viele Menschen (besonders Männer, die in viel höherem Grade als die Frauen in unserer Kultur stumpfen Farbensinn haben) überhaupt gar nicht merken, wie sehr ihr Empfindungsvermögen durch die Armut der Sprache vergewaltigt wird. Die Geschichte des modernen Impressionismus ist die eines heftigen Kampfes gegen die Rationalisierung des Farbensinns, und ein wenig ist ja in neuester Zeit, wenigsten für Kreise, die der Kunst nahestehen, die Herrschaft der Begriffe über die Sprache gebrochen worden.

Nun hat die Sprache ja eine weitere Möglichkeit, die geringe Zahl ihrer Farbenbezeichnungen zu erweitern. Sie bildet  Vergleichsworte , d.h. sie schafft dadurch neue Begriffe, daß sie einen bestimmten farbigen Gegenstand als typisch für eine Kategorie von Nuancen erklärt. Meist sind es Mineral-, Blüten-, oder Tiernamen, die herangezogen werden: Smaragdgrün, Kirschrot, Pfauenblau, Hechtgrau. Besonders leicht bilden sich solche Vergleichsbegriffe im Französischen, das ohne weiteres jede Bezeichnung für farbige Objekte als Farbenadjektiv verwendet: Lila, orange, taupe, mauve usw., Ausdrücke, die in unsere Sprache als Begriffe übergegangens sind, bei denen man nicht an das Vergleichsobjekt denkt.

Denn wer erinnert sich bei "lila" an den Flieder oder bei "violett" an das Veilchen, zumal wir damit gar nicht die Veilchenfarbe meinen, sondern eine andere! Aber selbst diese "Vergleichsbegriffe" kommen natürlich der tausendfältigen Wirklichkeit nicht viel näher. Sie sind ein etwas engeres Netz, aber auch noch ein sehr grobes Netz, zwischen dem unendlich viele Nuancen durchrutschen.

Etwas besser daran in vieler Hinsicht ist die Sprache scheinbar der Welt der Klänge gegenüber. Hier hat sie, da sie selber aus Klängen besteht, die Möglichkeit durch Lautmalerei zahlreiche Klänge nachzuahmen. Wie reich darin zum Beispiel die deutsche Sprache in der Hand eines Meisters sein kann, beweist GOETHEs Hochzeitslied. Welche Fülle von Klängen werden da lautlich nachgeahmt:

"Da rappelts und dappelts und klapperts im Saal...",
"da pisperts und wisperts und flüsterts und schwirrts!"
Gerade nach dieser Seite hin steht die Sprache sogar für Neubildungen weit offen. Besonders die Mundarten gestatten hier verhältnismäßig große Beweglichkeit. Jeder Dialekt hat seine eigenen lautmalenden Ausdrücke, die große Variationsmöglichkeiten hergeben. Auch die Nachahmung von Tierstimmen ist in der Sprache möglich.

Indessen zeigt bereits der Umstand, daß der Hahn im Deutschen  Kikeriki , im Französischen  coquerico , im Englischen  cock-a-doole-doe  kräht, daß wir es selbst bei diesen Nachahmungen mit einer schematisierten Begriffsbildung zu tun haben. So verhält sichs aber mit allen Sprachbezeichnungen für Geräusche. Entweder durch Ähnlichkeiten, d.h. Vergleichsbegriffe, oder frei geschaffene Begriffe wird eine Gattung von Geräuschen allgemein bezeichnet, nicht etwa wirklich die spezifische Besonderheit des Tones getroffen.

Womöglich noch ärmer ist die Sprache gegenüber den Empfindungen der niederen Sinne. Wie arm ist sie z.B. gegenüber Gerüchen, also einer Sphäre, die doch feinste Nuancen zuläßt. Ebenso gegenüber dem Geschmack, in den allerding Geruchsmomente sehr wesentlich eingehen. Auch dieses Sinnesorgan ist beim Menschen der feinsten Differenzierungen fähig, was z.B. Weinkenner beweisen, die noch Nuancen unterscheiden, für die die Sprache längst auch nicht einmal Metaphern darbietet. Wie armselig lesen sich z.B. die Charakterisierungen der Weine in den Preislisten, wo sie als "elegant", "glatt", "süffig", "rund" bezeichnet werden, Begriffe, die dem Kenner zwar etwas sagen, die jedoch weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben!

Ähnlich ists mit dem Tastsinn. Auch dieser ist bei der Mehrzahl der "Gebildeten", die man in Hinsicht auf die Sinnesorgane höchstens als die "Verbildeten" bezeichnen dürfte, fast verkümmert. Aber es gibt unter den Kaufleuten Warenkenner, die durch bloßes Betasten zahllose Wertunterschiede an Waren feststellen, die sich sprachlich gar nicht bezeichnen lassen.

Entgehen bereits die einfachen Sinnesempfindungen der Sprache, so zeigt sich deren Unzulänglichkeit noch viel auffallender, sowie wir versuchen, die Kombination von Empfindungen, die wir in der Wahrnehmung apperzipieren, sprachlich exakt zu fassen. Denken wir z.B. an räumliche Formen! Versuchen wir etwa eine Physiognomie mit Worten zu schildern!

Man gebe dem gewandtesten Schilderer der Auftrag, ein Gesicht genau zu beschreiben, und lasse nach dieser Schilderung durch mehrere Zeichner ein Bild herstellen: was herauskommt, werden ebensoviele ganz verschiedene Gesichter sein, als man Künstler bemüht hat. Eine nur annähernde Eindeutigkeit ist durch die Sprache nicht zu erzielen. Höchstens durch ein paar grobe Merkmale kann die Sprache ein Gesicht kenntlich machen, eine einigermaßen adäquate Erkenntnis der Sinnenwelt vermag die Sprache nicht zu geben.

Man muß sich die ganze schwindelerregende Mannigfaltigkeit der Empfindungswelt nur einmal in ihrer ganzen Fülle zu vergegenwärtigen versuchen, um den Versuch einiger Philosophen, die ganze Welt auf enge rationale Formeln bringen zu wollen, nicht anders als lächerlich empfinden.

Es fragt sich nun, ob sich durch die Sinne uns wirklich eine Realität erschließt oder ob bei dem gekennzeichneten "persönlichen" Charakter der Empfindungen dieses Erschlossene doch nur "Erscheinung" ist.

Wir antworten darauf, daß uns die Empfindungen in der Tat Realität erschließen, aber nur insofern, als sie selber Realität sind. Eine objektive Realität im Sinne des naiven Realismus geht uns durch sie nicht auf: eine solche wird erst fiktiv hergestellt durch die Rationalisierung der Empfindungen.

Wir unterscheiden uns damit aber zugleich von jedem Idealismus, dem die Sinnesdaten nur Trug oder "Erscheinung" sind. Nein, sie sind uns unmittelbares Sein, echte Erlebnisse, die durch unser Ich hindurchgehen, unseren Leib affizieren, der abernicht  ein Gegensatz  zur Welt ist, sondern selber  ein Teil  derselben. Der Ton, den ich höre, die Farbe, die ich sehe, sind nicht bloß Erscheinung oder gar Schein, sondern selber Realität. Erscheinung sind sie nur im Verhältnis zu einem gedachten "Ding", jener bloßen Fiktion, die wir gedanklich schaffen, um die Empfindungen zu ordnen.

Damit ist allerdings auch zugeben, daß wir nicht die absolute Realität, die des naiven Realismus suchen. Man muß den Realitätscharakter der Empfindungen begreifen: Sie sind weder objektiv noch subjektiv, da diese Scheidung überhaupt gewaltsam ist, nur eine fiktive Linie, die wir quer durch eine Einheit legen, die zu gleicher Zeit der Objektivität und der Subjektivität angehört. Eine Empfindung ist eine Beziehung zwischen einem fiktiven Objekt und einem ebenso fiktiven Subjekt, eine Beziehung, die aber selber gar nicht fiktiv ist, sondern unmittelbare Realität.

Ebenso ist auch die Trennung von psychisch und physische keine reale Scheidung, nur eine solche der Zuordnung zu einem Zusammenhang, hier zu dem der Bewußtseinssphäre, dort dem der Außenwelt, was in Wahrheit jedoch nur eine Betrachtung desselben Faktors von verschiedenen Seiten ist. (1)

Es ist hier auch nicht nötig, auf diese Dinge näher einzugehen. Für uns genügt die Feststellung, daß die Empfindungen Erkenntnis sind, da sie ein Bewußtwerden einer Realität sind, die allerdings nicht transzendent noch immanent ist, bei der vielmehr diese Scheidung gar nicht am Platze ist. Diese Erkenntnis aber und ebenso die Wirklichkeit, die sie erschließt, ist nicht rational, allgemeingültig und "objektiv", sondern durchaus irrational (wenn auch bis zu einem gewissen Grade realisierbar), konditional und persönlich.

Wir haben also in der Tat in der Sinneserkenntnis eine nicht rationale Art des Erkennens, die erkenntnistheoretisch insofern vorläufig als der rationalen Erkenntnis überlegen anzusehen ist, als sich in ihr eine Realität tatsächliche erschließt, was für die rationale Erkenntnis noch zu untersuchen bleibt.

Indessen würde sich die rationale Schematik niemals durchgesetzt haben, hätte sie nicht mit der Empfindungswelt eine gewisse Beziehung, ließen sich ihre Schemata nicht anwenden auf die Sinneswelt. Und diese besteht darin, daß die Sinneswelt einigermaßen rationalisierbar ist. Sie bietet Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten dar, die ohne irgendwie absolut zu sein, doch hinreichen, um sich in Begriffen zusammenfassen lassen zu können. Auch davon jedoch später.

Ist also, wie wir gesehen haben, die Sinneswelt auch Wirklichkeit, so ist sie doch nicht "die" Wirklichkeit, nur ein kleiner Ausschnitt daraus. Unsere Sinne sind ja nur "Zufallssinne", wie sie MAUTHNER genannt hat, um den sporadischen und fragmentarischen Charakter ihrer Inhalte zu bezeichnen. Von den Beziehungen, die im Weltall bestehen, den Wirklichkeiten, die uns umgeben, vermitteln sie uns nur einen Ausschnitt von zwar keineswegs trügerischem, aber im Hinblick auf die Totalität sehr unvollkommenen Charakter. Nicht nur qualtitativ, auch quantitativ geht die Welt über unsere Erkenntnisorgane. Und hier eben setzt die Konstruktion der Ratio ein, um wenigstens ein fiktives Ganzes zu geben.

Versuchen wir uns im Gegensatz zu der Sinneswelt die rationale Welt zu konstruieren, wie sie sein müßte, falls die rationalen Begriffe uns eine transzendente Objektivität erschlössen. Wir müßten all die wechselnden Farben und persönlichen Konstellationen der Sinnesempfindungen beiseite schieben und fänden dann hinter denselben eine starre, ewig gleiche, unpersönliche Welt, die immer abstrakter, immer starrer würde, je allgemeiner die Begriffe gefaßt werden, die als letzte Allgemeingültigkeit übrig bleiben. Zuletzt behielten wir ein leeres Koordinatensystem, ein graues Museum von gespenstigen Schemen übrig, das jedes Verdachtes eines Kontaktes mit den Sinnesempfindungen überhoben wäre.

In der Tat führt der konsequente Idealismus zuletzt zu solchen ganz leeren Abstraktionen wie "dem Sein" oder "der Substanz", die wieder mit der Sinneswelt in Beziehung zu bringen oder vielmehr die Sinneswelt aus jenen zu entwickeln, die betreffenden Philosophen oft großen Geist aufgeboten haben, ohne doch zu überzeugen. Man muß sich nur diese starre, unveränderliche, allem Dort und Hier, aller persönlichen Färbung und Brechung entrückte Welt des konsequenten Rationalismus ausmalen, um sie auch schon ad absurdum geführt zu sehen, um zu merken, daß sie eine reine Konstruktion ist.

Trotzdem wollen wir hier, wo wir sie unbefangen prüfen, nicht verkennen, daß tatsächlich hochbedeutende Köpfe aller Zeiten an sie geglaubt haben, und es bleibt daher die Aufgabe, nachzuforschen, wie so etwas möglich war. D.h. wir wollen den psychologischen Prozeß aufzeigen, der zur Annahme einer solchen Rationalwelt geführt hat, die doch in keiner Weise aus der Erfahrung, welche stets auf die Sinnesdaten zurückgehen muß, zu erweisen ist.

Unsere Erklärung für die Möglichkeit des Glauben an eine solche "Ideenwelt" ist die, daß der Idealismus die konsequente Verlängerung der Rationalisierung ist, die mit den Empfindungen bis zu einem gewissen Grade durchgeführt werden kann.

Wir sahen das bereits oben, wo wir zeigten, daß die Empfindungen rationalisierbar, d.h. daß sie in gewisse allgemeine Schemata zu fassen sind, die sich praktisch als brauchbar erweisen. Der Grund für diese Möglichkeit lag in einer gewissen Stumpfheit der Sinne. Ebenso lassen sich auch aus den räumlichen und zeitlichen Koordinaten der Sinnesempfindungen gewisse Gleichheiten herauslösen, die in rationale Begriffe zu bringen sind. Die Unterscheidung von identischen "Dingen", "Gattungen" usw. gehört hierher. Sie alle sind Schematisierungen von relativ ähnlichen, wenn auch nach Ausweis der "reinen" Erfahrung stets individuellen, konditionalen Tatbeständen.

Da nun die Wirklichkeit in beständigem Flusse ist, diese Schemata aber zeitlos sind, so schrieb man ihnen eine gewisse Festigkeit zu, eine Überlegenheit gegenüber der Flüchtigkeit des Empfindungsstromes, und faßte diese Zeitlosigkeit als "Ewigkeit", d.h. eine den Wechsel überdauernde, höhere Realität gegenüber den Sinnesempfindungen.

Man vergißt dabei nur eins: daß nämlich jene Gleichheiten und scheinbaren Regelmäßigkeiten Gewaltsamkeiten sind, die uns nur darum nicht bewußt werden, weil sie in der Stumpfheit unserer Organe begründet sind. Hätten wir schärfere Augen und feinere Meßapparate, wären die heute geltenden Gemeinsamkeiten, ja unsere gepriesenen Naturgesetze niemals gefunden worden!

Ein Kurzsichtiger sieht dort noch Typen und Gemeinsamkeiten, wo das normale Auge niemals solche wahrnimmt: Wir sind aber alle Kurzsichtige, wenn wir auch erst künstlich durch die anerzogene Begriffsverbildung kurzsichtig gemacht worden sind, gegenüber der flutenden Fülle der unmittelbar gegebenen Seins der Empfindungswelt!

Bietet also die rationalisierte Welt gegenüber der Empfindungswelt auch Vorteile, insofern als sie deren Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit zu festen Gebilden verdichtet und so gestattet, eine gewisse Regelmäßigkeit in dem flutenden Chaos der Empfindungen zu entdecken, ja darüber hinaus sogar den "Zufallscharakter" der Sinneswelt zu überwinden, indem sie eine fiktive Totalität an Stelle des Ausschnitthaften der Sinneswelt setzt, so bleibt doch alles, was sie gibt, fiktive Konstruktion.

Die Welt des Rationalismus ist eine gewaltsam umgeformte, allerdings eine  geformte  Welt, die an Stelle der chaotischen Sinneswelt tritt, eine Welt, die jedoch nicht so sehr durch unser Bedürfnis nach möglichst reiner Wirklichkeit, als durch unseren Wunsch zu handeln und das Gegebene praktisch zu meistern, geschaffen wurde.

Schlußgedanken
Blicken wir von hier zurück, so ergibt sich zunächst mancherlei für die bisherige Erkenntnistheorie nicht sonderlich Günstiges. Es hat sich uns herausgestellt, daß die von ihr als Selbstverständlichkeit hingenommene, rationale, allgemeingültige und objektive Erkenntnis nur eine  Fiktion  ist, die praktisch brauchbar ist, einer eindringenden Kritik jedoch nicht standhält.

Im sozialen Zusammenleben und auch in der Wissenschaft vielfach verhält man sich so, "als ob" es eine solche rationale Erkenntnis gäbe. Indessen zeigt eine genauere psychologische Analyse der Erkenntnisvorgänge erstens, daß diese selber weder in rationalen noch in allgemeingültigen Begriffen verlaufen, daß vielmehr die Empfindungen, Gedanken und Gefühle, die den Erkenntnisvorgang ausmachen, zwar stark rationalisiert sind, daneben aber stets auch sehr wesentliche irrationale, konditionale und persönliche Elemente enthalten.

Zweitens aber ergibt sich, daß die Erkenntnis als überpsychologisches Phänomen, als Erschließung einer überpsychologischen Wirklichkeit vom Rationalismus nicht richtig dargestellt ist. Nicht nur das Erkennen selbst, auch sein Gegenstand, das zu Erkennende, ist wesentlich irrational. Das ergibt sich vor allem aus der Tatsache, daß die rationalen Begriffe zwar anwendbar auf die durch die Empfindungen, die Gefühle und die Gedanken erschlossene Wirklichkeit sind, daß sie diese jedoch keineswegs erschöpfen.

Auf keinen Fall aber ist die so erschlossene Wirklichkeit rein "objektiv", sondern sie ist stets eine Wirklichkeit für uns, und zwar nicht bloß die "allgemeine" Erscheinung für ein hypothetisches, erkenntnistheoretisches Subjekt, sondern das persönliche Erlebnis der individuellen Subjekte, von denen jedes die Data der Sinne nicht bloß durch die allgemeinen Kategorien, nein auch stets durch ganz individuelle Kategorien auffaßt, so daß die Erkenntnis in jedem Individuum ein ganz besonderes Erlebnis ist.

Vor allem muß man sich hüten, irgendwie das Erkennen für das Abbilden oder Abspiegeln einer objektiven Realität zu halten. Obwohl diese Anschauung schon oft widerlegt worden ist, so spukt sie doch noch immer illegitimerweise in den verschiedenen Erkenntnistheorien. Demgegenüber stellen wir fest, daß "die Erkenntnis" überhaupt nicht als einheitlicher Vorgang aufzufassen ist, sondern daß wir nach ihrer Beziehung zur überpsychologischen Wirklichkeit drei Hauptarten unterscheiden können.

Erstens die  Sinnes erkenntnis, die ein  Teilhaben  ist, indem unsere Sinneserlebnisse "Elemente" des Weltzusammenhanges sind, insofern unser Ich, in dem sie bewußt werden, selber ein Teil dieser "Außenwelt" ist. Zweitens haben wir die Erkenntnis durch das  Denken , die wir als ein  Stellungnehmen  des Ich zu jenen Sinnesdaten faßten, eine Verarbeitung derselben zum praktischen Verhalten in der Welt. Und drittens haben wir eine Erkenntnis durchs  Gefühl , das ein  Verstehen kraft der Analogie  des eigenen Erlebens von nicht dem eigenen Ich angehörigen Inhalten ist, ein  Einfühlen  in fremde menschliche Erlebnisse, das aber seis zu recht oder unrecht auch auf nichtmenschliche Tatbestände ausgedehnt wird.
Jedenfalls sind weder das Teilhaben, noch das Stellungnehmen, noch das analogische Verstehen Verfahren, die Anspruch machen können, eine absolute Wirklichkeit absolut zu erfassen, sondern stets ists ein Ich, das an der Welt Teil hat, Stellung dazu nimmt, sich einfühlt.

Da nun die Rationalisierung, deren große praktische Bedeutsamkeit wir nicht herabsetzen wollten, nur eine Modifikation, eine Abstraktion aus diesen Arten des tatsächlichen Erkennens ist, die stets nur unvollkommen durchgeführt wird, so ist auch die Wissenschaft, die Organisation dieser Rationalisierung, nur als eine fiktive Verarbeitung der Welt anzusehen, die so verfährt, "als ob" sie eine absolute Wirklichkeit objektiv erschlösse, während sie in der Tat nur eine irrationale Wirklichkeit zu praktischen Zwecken in abstracto rationalisiert, dadurch allerdings eine praktische Beherrschung derselben erreicht, welche jedoch niemals etwa ein Ergreifen der gesamten Wirklichkeit ist.

Daß man dazu gelangen konnte, an eine allgemeingültige Wirklichkeit zu glauben, dazu verführte die Sprache, die zwar ein vortreffliches Mittel zur praktischen Verständigung ist, niemals jedoch eine objektive Erkenntnis vermitteln kann. Durch sie wird die Rationalisierung zu einer Sozialisierung der Erkenntnis, was jedoch noch ein weiterer Schritt weg von der angeblichen "Objektivität" ist.

Indessen wäre es keineswegs in unserem Sinne, wollte man diese Ergebnisse als rein negativ auffassen, als bedeutete eine solche Demaskierung der rationalen Erkenntnis einen Verzicht auf Erkenntnis überhaupt. Im Gegenteil, wir waren bestrebt, der irrationalen, konditionalen, persönlichen Erkenntnis alle die Ehre zu geben, die ihr ein falsches Wissenschaftsideal vorenthalten hat. Wir waren bestrebt, zu zeigen, daß im Leben und in der Philosophie überall irrationale Erkenntnisse mitspielen, und daß auch die Wissenschaft von solchen irrationalen Elementen durchsetzt ist.

Das gilt besonders für die Geisteswissenschaften, gilt aber auch für die Naturwissenschaften, wo jeder Forscher, wenn auch verschämt, doch ebenfalls seine persönliche Metaphysik seinem Weltbild zugrunde legt, wenn es ihm auch ähnlich geht wie dem Herrn JOURDAIN bei MOLIÈRE, der Prosa sprach und es nicht wußte. So sind auch unsere rationalsten Köpfe meist viel irrationaler, als sie ahnen und zugeben.

Denn letzten Endes ist die rationale Erkenntnis gar kein ausschließender Gegensatz zur irrationalen, sondern nur eine soziale und praktisch sehr wertvolle Bearbeitung, also ein Spezialfall derselben.
Um nun zum Schluß noch das Problem der "wahren" und "falschen" Erkenntnis zu berühren, so muß gesagt sein, daß diese Frage im Hinblick auf die hypothetische abolute Realität gar keinen Sinn hat, da alle unsere Erkenntnisse entweder nur partielle oder durch das Ich gebrochene Beziehungen zu jener Realität sind, die alle im Hinblick auf diese Realität gar nicht als "wahr" oder "falsch" gewertet werden können, da dieser Wertung stets die falsche Abbildtheorie zugrunde liegt.

"Wahr" und "falsch" sind Wertungen, die (entgegen dem naiven Realismus und anderen unkritischen Standpunkten) gar nicht auf die außerpsychologische Beziehung der Erkenntnisse angewandt werden können, nur auf deren psychologische Werte. "Wahr" und "falsch" sind Wertungen, die wir vom Standpunkt unseres Ich fällen, insofern eine Erkenntnis uns als "wahr" gilt, wenn sie das Gemüt befriedigt, "evident" ist, gute Folgen hat, der allgemeinen Überzeugung konform ist, mit unseren übrigen Anschauungen harmoniert, kurz, einer der psychologischen Forderungen entspricht, die wir oben kennzeichneten.

Ob irgendeine der irgendwann als "wahr" bezeichneten Aussagen über die Wirklichkeit eine absolute Erschließung einer transzendenten Wirklichkeit ist, diese Frage müssen wir verneinen, da wir der Ansicht sind, daß es nur Erkenntnis für uns ist, niemals eine absolute Erkenntnis geben kann.

Zugleich aber betonen wir, daß der Lebenswert aller Erkenntnisse gerade in dieser Adäquatheit an unser Ich beruht, daß eine "absolute" Erkenntnis, wenn eine solche uns möglich wäre, für uns so wertlos wäre, daß wir so wenig damit anfangen könnten, als etwa ein mittelalterlicher Mensch mit dem modernen Relativitätsprinzip hätte anfangen können.
LITERATUR - Richard Müller-Freienfels, Rationales und irrationales Erkennen, in Annalen der Philosophie hrsg. von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt, zweiter Band, Heft 2, 1920
    Anmerkungen
  1. Ich verweise für die nähere Ausführung dieser Gedanken auf ERNST MACH ("Analyse der Empfindungen" und "Erkenntnis und Irrtum"), dem ich mich hierin ganz anschließe.