cr-3Tagesansicht - NachtansichtIndividualität als fiktive Konstruktion    
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
(1882-1949)
Der Begriff ist ein Aktionszentrum

1. Psychologisches Problem
2. Medium der Erkenntnis
4. Die Rationalisierung
5. Rationalität und sensorische ...
  "Wir können ruhig feststellen, daß der wahre "Begriff" überhaupt nicht definierbar, sondern indefinit ist."

Es ist daher auch ein Irrtum zu glauben, daß man durch Urteile allein, also durch Definition, eines Begriffes Herr werden könnte. Nur ein einseitiger Intellektualismus könnte das annehmen. So wichtig die Urteile für den Begriff sind, so haben wir doch nie einen wirklichen Begriff von etwas, wenn wir nur Urteile über ihn fällen können. Wir haben keinen wirklichen Begriff vom Geigenspieler oder von der Differentialrechnung oder von der Astronomie, wenn wir nur eine Reihe von Urteilen darüber in Bereitschaft haben.

Nein, man muß sich selber im Bogenführen und Fingersatz geübt haben, man muß fähig sein, Differentialrechnungen zu lösen, man muß imstande sein, eine Mondfinsternis zu berechnen oder sich mit dem Fernrohr zurechtfinden am Himmel. Schließlich ist das Urteilen nur  eine  Tätigkeit neben andern und selber nichts rein Intellektualistisches, aus einer abstrakten Lösung und Trennung von Vorstellungen sich Ergebendes. Das erste, was wir also vom Wesen des Begriffs als seelischem Tatbestand sagen können, ist, daß er eine  Fähigkeit und Bereitschaft zu Handlungen  ist, unter denen das Urteilen nur eine neben vielen ist.

Diese Tätigkeitsbereitschaft macht sich in der Seele als "Gefühl" geltend. Natürlich brauchen wir diesen Begriff nicht in der künstlich geschaffenen Verengerung auf "Lust-Unlust", sondern in jenem weiten Sinne, den die Alltagssprache und wenigstens auch eine Reihe von Psychologen dem Worte beilegen. Wie wir von einem Bekanntheits gefühl , einem Fremdheits gefühl , einem  Gefühl  der Evidenz sprechen, so sprechen wir auch von einem Begriffsgefühl und bezeichnen damit eben den  Charakter der Einstellung als den eines subjektiven, nicht objektiven Seelenzustandes .

Der oben abgelehnte Intellektualismus glaubte durch die Begriffs vorstellung  den Begriff objektivieren zu können. Wir glauben den Tatsachen gerechter zu werden, wenn wir das Subjektive des Begriffserlebnisses betonen, also von "Einstellung" sprechen. Denn Subjektiv, aus dem Ich hervorgehend, sind ja auch die Tätigkeiten, deren Bereitschaft das Wesen der Einstellung ausmacht.

Die spezifische Einstellung, die ich mit dem Worte "Rom" verbinde, ist immer subjektiv. Sie ist bei mir eine ganz andere als bei einem Quintaner, der eben anfängt, römische Geschichte zu lernen, sie ist eine andere, als die eines katholischen Bauern, der dabei an den Papst denkt, sie ist eine andere als die eines italienischen Staatsmanns, dem der Begriff "Rom" vor allem eine politische Einstellung ist.

Nicht als ob mir die sämtlichen Tätigkeitsmöglichkeiten, die das Wort auslösen kann, stets alle im Bewußtsein wären! Sie werden nur gleichsam mobil gemacht und in Bereitschaft gesetzt. Wie bei einem kriegerischen Alarm nicht gleich alle Alarmierten in Aktion treten, sondern zunächst nur diejenigen, die an der bedrohten Stellung stehen, so treten auch beim Denken in Begriffen von vielen Möglichkeiten nur diejenigen ins volle Bewußtsein, die von der betreffenden Situation gebraucht werden. Ob sie genügen, hängt von dem subjektiven Bestand des Individuums an seelischen Bereitschaften ab.

Das Gefühl ist daher auch nicht etwa eine vollständige psychische Repräsentation des Begriffes, sondern nur gleichsam eine Wiederspiegelung im Bewußtsein von Vorgängen, deren eigentliches Wesen nicht bewußt ist. So sehr meine Auffassung mit dem traditionellen Begriffsintellektualismus im Widerspruch stehen mag, so bleibt es doch dabei, daß das Begriffserlebnis in der Hauptsache nicht-bewußt, sondern motorisch, wenn man will, physiologisch ist.

Es ist nicht mehr bewußt, als andere Willenshandlungen auch; denn das Denken jeder Art ist eine Willenshandlung. Und wie bei den Willenshandlungen im gewöhnlichen Sinn der motorische Mechanismus reflektorisch eintritt und nur ein vages Gefühl im Bewußtsein ist, so ists auch beim Denken. Dabei ist es einerlei, ob dieses Motorische wirklich ausgeführt wird. Es genügt die Bereitschaft.

Um nochmals zusammenzufassen: Wir können also sagen, daß wir einen Begriff von einem Worte haben, wenn wir eine adäquate emotional-motorische Einstellung, den Denkakt, dabei erleben. Ich habe einen Bekannten, der mir "komm her!" zuruft, verstanden, wenn ich der von ihm in die Worte gelegten Absicht entspreche. Daß aber in jedem Satz, auch wenn er eine indikativische Aussage scheint, eine Absicht, ein Wollen liegt, ist oft übersehen worden, gehört jedoch zu den fundamentalsten Erkenntnissen, die für unser Problem nötig sind.

Auch wenn jeman mich belehrt: "Friedrich der Große starb anno 1786", so will er, daß ich davon Notiz nehme, um mich gelegentlich danach zu richten oder diese Kenntnis selbsttätig zu benutzen. Auch bei scheinbar rein aussagenden Sätzen liegt, wenn auch oft unbewußt und entfernt, eine Beeinflußung meiner Tätigkeitseinstellung zugrunde. Eben darum können wir sagen, einen Begriff von einem Worte haben, seinen Sinn verstehen, heißt die damit gegebenen Tätigkeitsanregungen vollziehen.

Aus dem Verkennen des Artcharakters des Gedankens (von denen die "Begriffe" nur Spezialfälle sind) entspringen eine Reihe tiefgreifender Irrtümer, aus der ich zunächst denjenigen herausgreife, daß man glaubt, den Gedanken oder wenigsten den Begriff "definieren" zu können. Definieren nämlich heißt, ihne als etwas  Feststehendes ergreifen und als etwas Endliches umgrenzen können . Uns zwar glaubt die Logik, das durch einige  Urteile  zu erreichen, durch die dann entweder die übrigen Urteile gegegen wäre oder als nebensächlich beiseite gelassen werden könnten.

Aber was sind "wesentliche Merkmale" eines Begriffes? Ich kann z.B. von einem Dreieck als wesentliche Merkmale hervorheben, daß es drei Seiten und drei Winkel habe, und daß die Summe dieser Winkel 180 Grad betragen müsse. Danach kann ich gewiß ein Dreieck von anderen geometrischen Figuren unterscheiden: habe ich damit aber auch nur annähernd einen  erschöpfenden Begriff  vom Dreieck? Nein, zu einem wirklichen Begriff gehört auch, daß ich die zahlreichen Möglichkeiten einigermaßen überschaue die sich durch verschiedene Größe der Winkel ergeben, daß ich die komplizierten Verhältnisse kenne, die zwischen Seiten und Winkeln bestehen; es gehört vor allem auch dazu, daß ich trigonometrische Berechnungen ausführen kann.

Und wer will behaupten, daß unsre Mathematik damit an der Grenze der Möglichkeiten angelangt sei? Bringt nicht ide sphärische Trigonometrie eine ganz neue Ausweitung des Begriffs? Und wer will sagen, wieviele derartige Möglichkeiten noch durch künftige Mathematikgeschlechter erbracht werden? Dabei sind aber zugegebenermaßen die Begriffe der Mathematik die bestdefinierten und dem logischen Ideal am nächsten kommenden!

Wer aber wollte behaupten, daß er nur annähernd einen erschöpfenden Begriff vom "Menschen" zu bilden vermöge? Man kann ihn gewiß der höheren Gattung (genus proximum) "animalisches Wesen" oder "Säugetier" zuordnen und nun die spezifischen Kennzeichen aufführen: das alles aber bleibt ein ganz äußeres Erkenntnismittel, aber  Erkennung  ist noch lange nicht Erkenntnis! Dazu gehört unendlich viel mehr!

Wir können ruhig feststellen, daß der wahre "Begriff" überhaupt nicht definierbar, sondern indefinit ist. Die traditionelle Darstellung der Begriffe als Kreise ist irreleitend; eher noch könnte man sie als Gerade darstellen, die in eine bestimmte Richtung weisen, aber in dieser Richtung unendlich. Jedenfalls sind die Gedanken und Begriffe, besonders wenn man sie aus der gegebenen Situation herauslöst, recht irrationale Gebilde.

Daß wir nun, bei dem indefiniten Charakter der Begriffe nicht alle, ohne uns zu verstehen, durcheinander reden, ist außer der gleich zu erörternden Konvention noch einem weiteren Umstand zugute zu rechnen, den wir bereits oben erwähnt haben. Man denkt nämlich überhaupt strenggenommen nicht in Begriffen, vielmehr ist der Begriff ein Abstraktum, das isoliert im Leben kaum vorkommt. Man denkt vielmehr in Gedanken, die nicht in einzelnen Worten, sondern in Sätzen formuliert werden, Sätzen, die jedoch keineswegs eine Zusammensetzung aus Begriffen sind, sondern Einheiten, also gewissermaßen selbst wieder Begriffe Sinne seelischer Bedeutungen sind.

Gewiß kann ich abstrakt einen Satz in Worte zerlegen, wie ich einen Menschenleib in Kopf, Rumpf, Glieder usw. zerlegen kann. Aber so wenig als es realiter lebendige Köpfe, Rümpfe, Glieder gibt, durch deren Zusammensetzung lebendige Menschenleiber entstünden, so wenig wird ein Satz durch Zusammensetzung einzelner Begriffe gebildet. Was wir zusammensetzen sind Worte, die jedoch in ihrer Gemeinsamkeit erst einen einheitlichen Sinn ergeben, der etwas ganz anderes ist als eine Addition seiner Teilfaktoren.

Wenn ich den Satz äußere: "Diese Rose ist rot", so denke ich nicht den ganzen Umfang der Begriffe "Rose" und "rot" mit, sondern ich nehme  gemäß der Situation  eine ungeheure Verengung der Begriffe vor, Verengungen, die in ihrer Kombination einen ganz neuen Sinn ergeben. Erinnern wir uns, daß wir die Begriffe nicht als Kreise, sondern als Gerade denken wollten, so können wir jetzt sagen, daß im Satz sich zwei oder mehrere solcher Geraden schneiden, und daß erst durch dieses Sichschneiden bestimmtere Figuren entstehen.

Wenn die Logik glaubt, dem einzelnen Wort gehöre ein fester Begriff zu, so irrt sie: was mit dem einzelnen Worte verknüpft ist, ist stets eine Vielheit von Bedeutungen, dasjenige, was man im Lexikon findet. FÜr den lebendigen Gebrauch der Begriffe ist nicht Vieldeutigkeit, sondern eine gewisse Eindeutigkeit nötig, und diese ergibt sich erst durch den Zusammenhang mehrerer Worte, wozu weiter die Situation kommen muß, in der die Worte gesprochen werden.

Man muß wissen, wer die Worte spricht und muß wissen, wozu und zu wem die Worte gesprochen werden. Ich habe in dem Buch über "Das Denken und die Phantasie" zahlreiche Beispiele erbracht, daß derselbe Satz (der gleiche Wortlaut) je nach der Situation völlig verschiedene Bedeutungen haben kann. Er kann abstrakt gemeint sein oder konkret ("GOETHE war ein großer Mann" kann heißen: der konkrete Mensch GOETHE war physisch groß, oder die abstrakte Persönlichkeit GOETHE war eine starke Potenz der Geistesgeschichte).

Derselbe Satz kann auch allgemein gebraucht oder individuell sein. ("Du sollst nicht töten!" kann eine allgemeine Maxime sein; er kann auch individuell gebraucht sein und bloß ein Individuum meinen, wenn ich den Satz zu meinem Sohne sage, der ein Tier mutwillig zertreten will.) Wenn aber derart ein Wort viele Bedeutungen haben kann, so ergibt sich ebenfalls wieder, daß von einer Kongruenz zwischen Wort und Begriff gar nicht die Rede sein kann.

Bedeutend näher kommt schon der Satz dem damit ausgesagten Gedanken, weil hier die Mehrzahl der Begriffe sich gegenseitig beschränkt, ohne indessen damit eindeutig verständlich zu sein. Auch beim Satz muß ich stets die "Situation" kennen, denn jeder Satz ist "konditionell", an eine Situation gebunden. Aus der Situation ergibt sich dann vor allem die Absicht des Sprechenden, die die Bedeutung, den Sinn des Satzes bedingt. Es ist eine Binsenweisheit, die jedoch von den meisten Logisten noch nicht begriffen ist, daß aus dem Zusammenhang gerissene Sätze gar keinen eindeutigen Sinn ergeben, daß man durch Herausreißen aus der Situation jeden Satz bis zum Gegenteil seines Sinnes entstellen kann.

Das ist es, was ich unter dem "konditionellen" Charakter des Gedankens verstehe und was von der Logik so vollkommen übersehen wird. Selbst die abstraktesten Sätze sind nicht ganz loszulösen von einer Situation, können in Situationen gebraucht werden, wo sie im kontradiktorischen Sinn wirken können. Ich erinnere nur daran, daß fast jeder Satz im ironischen Sinne verwandt werden kann, je nach dem Zusammenhang zu Zwecken der Komik!

Das aber führt bereits zu dem weiteren Umstand, daß jeder Gedanke "persönlich" ist, hinüber.

Der persönliche Charakter des Denkens, der zunächst vielleicht nur als ein Sonderfall des "konditionellen" erscheint, erhält jedoch noch eine besondere Färbung, wenn man sich den überindividuellen, soziologischen Charakter des Erkennens vergegenwärtigt, des Umstandes nämlich, daß das Denken auf andere zu wirken strebt und damit über das Individuum hinausgreift.

Wenn A zu B etwas sagt, so ist seine Absicht, verstanden zu werden, das heißt: A hofft, daß die gesprochenen Worte in B dieselben psycholphysiologischen Erscheinungen erzielen, die er selber mit dem Worte hat aussprechen wollen. Das ist nun freilich eine Hoffnung, die sich nur in sehr beschränktem Maße erfüllen kann.

Nehmen wir an, A erzählt B: "Ich war in Paris." B, der diesen Satz hört, jedoch selber nicht in Paris war, "stellt" sich auf jene Worte hin "ein", d.h. er hat ein paar Gefühle vielleicht solche des Neids, der Bewunderung, daß A in Paris war. Er hat auch ein vages Richtungsgefühl, ein Ferngefühl und was ähnlicher Elemente mehr sind, die sich in der Seele beim Verstehen eines Wortes wie "Paris" bilden.

Vielleicht hat B auch eine vage Vorstellung von Paris, die er sich nach Bildern geschaffen hat. Jedenfalls aber sind die Einstellungen, die B, der nicht in Paris war, bildet und denjenigen, die der von Paris zurückkommende A mit dem Worte Paris verknüpft, ganz außerordentlich verschieden. Für all die hundert Erinnerungen und Stimmungen, die als Obertöne für A beim Wort Paris mitklingen, kann B gar kein Miterleben aufbringen.

Erwägen wir das, so werden wir zugeben müssen, daß das Denken stets persönlich ist, daß es nicht auf einer aller Subjektivität entrückten Ebene verläuft, sondern stets die Färbung durch die Individualität des denkenden Subjekts trägt.


LITERATUR - Richard Müller-Freienfels, Rationales und irrationales Erkennen, in Annalen der Philosophie hrsg. von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt, zweiter Band, Heft 2, 1920