cr-2tb-2Die positivistische PhilosophieIdealismus und Positivismus       
 
HANS ALBERT
Erkenntnis, Sprache und Wirklichkeit
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"Wenn der höhere Organismus bestimmte  Tatsachen  zur Kenntnis  nimmt,  dann ist diese Kenntnisnahme selbst ein Ergebnis komplizierter Deutungsprozesse, bei dem die ganze sensorische Apparatur und das Zentralnervensystem beteiligt sind."

Im alltäglichen Leben pflegen die meisten Leute Ausdrücke wie "wahr" und "falsch", "Tatsache" und "Wirklichkeit", "Jllusion" und "Irrtum" ziemlich ungeniert zu verwenden, auch dann, wenn sie philosophische Ambitionen haben oder gar als Verfechter bestimmter philosophischer Meinungen bekannt sind. Zwar kann man keineswegs sagen, daß es sich dabei um einen einigermaßen präzisen Gebrauch solcher Worte handelt, aber er ist im allgemeinen doch hinreichend genau, um eine Verständigung zwischen Leuten herbeizuführen, die im übrigen die verschiedensten Auffassungen darüber haben mögen, welche Aussagen oder Theorien als "wahr" zu qualifizieren sind, was in den verschiedensten Bereichen als "Tatsache" zu anzuerkennen ist und wo im einzelnen Jllusionen oder Irrtümer identifiziert werden können.

Auch die Vertreter einer wissenschaftlichen Disziplin besitzen meist diese Unbefangenheit im Umgang mit solchen Worten, sogar im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit. Sie reden davon, daß sich eine Hypothese bisher erstaunlich gut bewährt habe, obwohl eigentlich anzunehmen sei, daß sie falsch ist, sie sprechen darüber, daß bei gewissen Experimenten Illusionen bestimmter Art - etwa Wahrnehmungstäuschungen - erzielt werden können, und sie stellen ohne Bedenken fest, daß bestimmte Personen sich über den Verlauf bestimmter Entwicklungen geirrt haben.

Diesen umfangreichen Gebrauch solcher Ausdrücke geben sie allerdings mitunter auf, wenn sie in eine "philosophische" Phase geraten, sie sind dann unter Umständen bereit, die Verwendung des Wortes "Wahrheit" zu desavouieren, Aussagen über die Wirklichkeit als "unmöglich" oder "unwissenschaftlich" zu kennzeichnen, und Kollegen, die sich dazu bekennen, daß es ihnen darau ankommt, die tatsächliche Beschaffenheit eines Objektbereiches zu erforschen, als "Metaphysiker" zu charakterisieren - oder besser: zu denunzieren, denn der negative Wertakzent, der solchen Feststellungen anhaftet, ist kaum zu übersehen.

Eine etwas mildere und unauffälligere Version der gleichen Haltung besteht darin, sich darauf zu versteifen, die Wahrheit einer Aussage bestehe nur in ihrer Nützlichkeit für bestimmte Zwecke, sie sei mit ihrer bisherigen Bewährung zu identifizieren, möglicherweise auch mit dem tatsächlichen oder einem hypothetischen Konsens von Leuten hinsichtlich ihrer Anerkennung oder gar mit ihrer Relevanz für den Klassenkampf oder ein anderes Anliegen, dem sie sich verschrieben haben.

Nun ist es durchaus richtig, daß man die Philosophie ebensowenig wie die Wissenschaft auf den gesunden Menschenverstand verpflichten kann, denn ohne Zweifel an den Selbstverständlichkeiten des Alltags wäre kaum jemals ein Fortschritt der Erkenntnis zustande gekommen. Das bedeutet aber noch keineswegs, daß etwa eine philosophische Konzeption dem Denken des Alltags stets überlegen sein müßte. Und es bedeutet schon gar nicht, daß der natürliche Realismus der wissenschaftlichen Einstellung unter philosophischen Gesichtspunkten unbedingt als "naiv" zu beurteilen ist.

Philosophische Konzeptionen, denen eine solche Beurteilung zu entnehmen ist, mögen sehr viel subtiler, entwickelter und komplizierter sein als diese relativ einfache Auffassung. Sie können aber nur selten eine gewisse Einseitigkeit und Künstlichkeit verleugnen, die sie für eine adäquate Interpretation der menschlichen Erkenntnis unbrauchbar macht. Natürlich können sie trotzdem das Verdienst haben, bestimmte Schwierigkeiten zu beleuchten, mit denen überkommene und plausible Auffassungen fertig werden müssen.

Und schließlich mag sich bei einer Konfrontation mit ihnen zeigen, daß auch im Alltagsdenken metaphysische und erkenntnistheoretische Annahmen zu identifizieren sind, die bisher darin kaum bemerkt wurden und nun einer kritischen Durchleuchtung zugänglich gemacht werden können.

Für das alltägliche Denken wird im allgemeinen der sogenannte "naive Realismus" als charakteristisch angesehen, eine Auffassung, derzufolge die Wirklichkeit im großen und ganzen so beschaffen ist, wie sie uns in unseren Wahrnehmungen erscheint. Der ungetrübte Himmel ist nach ihr wirklich blau, der Stein hart, das Wasser des Bergsees eiskalt, das Gesicht unseres zornigen Nachbarn rot und sein Verhalten bedrohlich. Die Sinnesqualitäten werden hier also zu Eigenschaften der Objekte erhoben, wobei unter Umständen gewisse Korrekturen angesichts der Wirkung ungünstiger Situationen auf die Wahrnehmung angebracht werden.

Nun weiß man bekanntlich seit langem, daß Auffassungen dieser Art zu Ungereimtheiten und Widersprüchen führen, so daß es angebracht ist, sie zu revidieren und die in ihnen zum Ausdruck kommende Deutung der menschlichen Erkenntniss in Frage zu stellen. Schon im griechischen Denken ist daher ein kritischer Realismus an ihre Stelle getreten, der unter anderem die subjektive Qualität der Sinnesqualitäten durchschaut und danach strebt, unsere Erkenntnis von ihren subjektiv bedingten Beschränktheiten nach Möglichkeit zu befreien.

Dabei macht er sich den Fortschritt der Einzelwissenschaften zunutze, der ja in erheblichem Maße eine Kritik des Alltagswissens mit sich bringt. Der kritische Realismus ist, so darf man wohl sagen, im wesentlichen auch die den Realwissenschaften inhärente Deutung der Erkenntnis gewesen, und er in neuester Zeit gibt es innerhalt dieser Wissenschaften Tendenzen, ihn durch andere Auffassungen zu ersetzen.

Man darf wohl annehmen, daß die wissenschaftliche Erkenntnis bis zu einem gewissen Grade auch im Alltagsdenken Fuß gefaßt hat, so daß man heute keineswegs mehr berechtigt ist, den "naiven Realismus" als charakteristisch für dieses Denken anzusehen. Möglicherweise sind erheblich modifiziertere Versionen des Realismus heute relativ weit verbreitet. Dagegen ist es sehr viel weniger wahrscheinlich, daß sich die mehr oder weniger raffinierten Versionen des Antirealismus einer solchen Verbreitung erfreuen - Idealismus, Positivismus, Pragmatismus, Phänomenalismus -, es sei denn bei bestimmten Philosophen, Vertretern bestimmter Wissenschaften - wie etwa der Quantenphysik - und in gewissen Kreisen der Bildungsschicht, die sich durch subjektivistische Deutungen moderner wissenschaftlicher Forschungsergebnisse aus der Feder berühmter Vertreter solcher Disziplinen haben beeindrucken lassen.

Diese Lehren genießen also seit einiger Zeit die Unterstützung vielfach in ihrer Disziplin sehr kompetente Spezialisten, was ihrem öffentlichen Ansehen sehr förderlich ist. Sie haben außerdem mitunter den Vorteil, durch paradox klingende Wendungen Überraschungserfolge erzielen können, vor alllem da, wo man hinter solchen Formulierungen Tiefe vermutet. Sie machen sich anheischig, den Realismus des gesunden Menschenverstandes ad absurdum zu führen, und verbinden das vielfach mit einer Interpretation der wissenschaftlichen Erkenntnis, die diese als ein Gebäude mehr oder weniger nützlicher Fiktionen, Konventionen oder Konstruktionen erscheinen läßt, ein Machwerk, das man weder mit einer davon unabhängigen Wirklichkeit noch mit der tradierten Wahrheitsidee in sinnvolle Beziehung bringen kann.

Interessant ist dabei die Tatsache, daß in diesen Auffassungen meist dennoch auf die Prüfung wissenschaftlicher Aussagen großer Wert gelegt wird und daß in ihnen die Ansicht dominiert, ein positives Resultat solcher Prüfungen berechtige unter gewissen Umständen zur Annahme, ein negatives aber zur Ablehnung derartiger Aussagen und Systeme. Eine nicht selten komplizierte methodologische Konzeption wird vorgeschlagen und die Beurteilung ihrer Resultate Anhaltspunkte geben soll, aber es ist nicht immer leicht, herauszufinden, warum man gehalten sein soll, diesen Kodex zu praktizieren, denn die naive Idee, solche Verfahrensweisen hätten etwas mit der Suche nach Wahrheit im traditionellen Sinne zu tun, mit dem Bemühen, herauszubekommen, wie die Wirklichkeit - oder besser: ein bestimmter Realitätsausschnitt - beschaffen sei, scheint hoffnungslos überholt zu sein.

Die Wissenschaft wird als ein Spiel mit bestimmten Regeln angesehen, über deren genaue Spezifizierung es sich zu streiten lohnt - daher die heftige Diskussion in der Wissenschaftslehre. Aber die ursprüngliche Aufgabe dieses Spiels - die Zielsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnis - scheint nicht selten außer Sicht geraten zu sein.


Die Suche nach Gewißheit und die Idee absoluter Begründung

Wie läßt sich diese antirealistische Tendenz im philosophischen Denken begreiflich machen? Vielleicht können wir sie am besten verstehen, wenn wir uns darüber klar werden, daß Erkenntnisstreben und Wahrheitssuche seit langem verbunden sind mit der Suche nach unbedingter Gewißheit, wie sie im Postulat der zureichenden Begründung - der "Letztbegründung" - zum Ausdruck kommt, dem klassischen Prinzip der Methodologie rationalen Denkens.

Echtes Wissen kann - so dachte man lange Zeit, und so denken viele noch heute - nur sicheres, unumstößliches, unbezweifelbares Wissen sein. Alle methodischen Veranstaltungen müssen daher darauf gerichtet sein, solches Wissen zu erlangen und zu identifizieren. Es geht also darum, die Erkenntnis auf eine sichere Grundlage zu stellen, ein Fundament, das die Haltbarkeit des ganzen Gebäudes gewährleistet, seine Wahrheit garantiert. Daher ist auch ein Kriterium notwendig, das es ermöglicht, diese Wahrheit auszumachen, denn ohne die Möglichkeit einer solchen Identifikation kann man nicht sicher sein, echtes Wissen erreicht zu haben.

Die Idee der Wahrheitsgarantie ist also mit der eines Wahrheitskriteriums eng verbunden. Wenn die Suche nach einem solchen Kriterium sich aber als aussichtslos erweist, stellen sich sehr leicht skeptische Konsequenzen ein. Und der moderne Antirealismus dürfte eine - vielfach im Gewande der Wissenschaft auftretende - Form der Skepsis sein.

Aber kommen wir zunächst auf die im Erkenntnisstreben enthaltene Wahrheitssuche zurück. Die Idee der Wahrheit, die darin steckt, ist an sich gut zu verstehen, ohne daß sie mit der Vorstellung eines Kriteriums im oben angeführten Sinne verbunden ist. Sie ist vermutlich uralt und läßt sich vor allem im Zusammenhang mit einer Sprache, die sich zur Darstellung eignet - also über die Ausdrucks- und Appellfunktionen hinaus, die man auch bei tierischen Kommunikationsmitteln findet, eine Darstellungsfunktion hat -, verdeutlichen. Sie ist dann nichts anderes als die  Idee der zutreffenden Darstellung  irgendwelcher Sachverhalte, auf die man sich mit sprachlichen Mitteln beziehen kann.

Diese regulative Idee gehört - ob man sich nun ihrer bewußt ist oder nicht - zur Darstellungsfunktion der Sprache und bezieht sich auf die Adäquatheit von Leistungen in diesem Bereich. Wer überhaupt Mitteilungen informativen Charakters senden oder empfangen möchte, dürfte ohne diese Idee kaum auskommen, wenn es auch im einzelnen schwer sein mag, das Zutreffen einer Darstellung zu beurteilen.

Auch die Idee, daß eine Darstellung in höherem oder geringerem Maße zutreffend sein kann, ohne daß man immer in der Lage ist, sie in dieser Hinsicht zu beurteilen, dürfte für die meisten Menschen durchaus verständlich sein. Sie operieren mehr oder weniger naiv erfolgreich mit Ideen dieser Art und machen sich keine weiterreichenden Gedanken darum, auch nicht hinsichtlich der Frage, ob es ein Kriterium gibt, an Hand dessen man mit Gewißheit festellen kann, ob eine Aussage oder die in ihr formulierte Auffassung wahr ist oder nicht.

Der Erkenntnistheoretiker ist naturgemäß nicht in dieser erfreulichen Lage. Er möchte Genaueres über solche Dinge wissen. Erkenntnistheoretische Überlegungen sind aber, so wichtig sie sein mögen, sekundärer Natur. Sie können erst anfangen, wenn das alltägliche Operieren mit der Wahrheitsidee und verwandten Vorstellungen vorliegt, und daran kritisch und konstruktiv anknüpfen. Vor allem wenn dabei Schwierigkeiten auftauchen - wie z.B. das Lügnerparadox -, greifen sie ein. Sie werden aus dem Leben der alltäglichen und der wissenschaftlichen Erkenntnis mit Material versorgt, das sie der Analyse unterziehen können.

Vor allem zweierlei pflegt in erkenntnistheoretischen Untersuchungen angestrebt zu werden:
  1. Klarheit darüber,  worin  dieses Zutreffen von Darstellungen eigentlich  besteht,  das mit dem Begriff der Wahrheit gemeint ist, und
  2. Auskunft darüber,  wodurch  - auf welche Weise -  festgestellt werden kann, ob es sich jeweils um - unter Umständen: mehr oder weniger - zutreffende Darstellungen handelt oder nicht.
Diese beiden Fragen fallen keineswegs zusammen. Es ist vielmehr außerordentlich wichtig, sie auseinanderzuhalten. Im ersten Fall geht es um den  Sinn  von Wahrheit, um einen adäquaten Wahrheitsbegriff also, im zweiten um ein  Kriterium  der Wahrheit - oder besser: um adäquate Feststellungsmethoden. Nur ein Verfechter operationalistischer oder ähnlicher Auffassungen wird die beiden Fragen nicht auseinanderhalten können oder wollen.

Wenn im Zusammenhang mit der zweiten Frage von einem Kriterium gesprochen wird, stellen sich im allgemeinen Assoziationen ein, die der Behandlung dieser Frage wenig förderlich sind, weil sie ihre Beantwortung in einer Weise präjudizieren, die zum Skeptizismus führen muß. Deshalb ist es vermutlich besser, von Feststellungsmethoden zu sprechen, wobei im einzelnen zunächst offengelassen wird, wie erfolgreich diese Methoden sein können,  ob  sie also zu einer Wahrheits garantie  zu führen in der Lage sind oder nicht.

Wer ein Wahrheitskriterium verlangt, will im allgemeinen mehr als eine Feststellungsmethode, deren Erfolg problematisch ist. Er möchte ein Merkmal präsentiert bekommen, dessen Vorliegen die Wahrheit einer Aussage oder eines Aussagensystems verbürgt, ein sicheres Anzeichen der Wahrheit. Daß die Suche nach einem solchen Indiz erfolgreich sein würde, war keineswegs ohne weiteres zu erwarten. Es ist aber nicht selbstverständlich, daß wir die Wahrheitsidee opfern müssen, wenn es sich herausstellt, daß wir mit einem negativen Ergebnis zu rechnen haben. Wir könnten dennoch Methoden finden, mit denen auszukommen ist, auch wenn die mit ihrer Hilfe getroffenen Feststellungen nicht unanzweifelbar sind.

Es ist meines Erachtens selbstverständlich, daß die Suche nach einem archimedischen Punkt der Erkenntnis und damit nach einem die Wahrheit verbürgenden Kriterium die philosophischen Bemühungen in eine Richtung lenken kann, die von einer adäquaten Lösung der Erkenntnisproblematik wegführt. Das scheint auch in der Tat geschehen zu sein. Die Forderung nach absoluter Begründung, die in der klassischen Erkenntnisauffassung wirksam war, mußte in eine ausweglose Situation führen, die ich das "Münchhausen-Trilemma" genannt habe. Als einzig praktikable Lösung erscheint in dieser Lage der Dogmatismus, aber in ihm wird diese Forderung praktisch suspendiert, so daß auch diese Lösung nicht akzeptabel ist.

Wer die Begründungsforderung beibehalten möchte, wird also konsequenterweise zum Skeptizismus übergehen müssen, zu der Auffassung, daß wir nicht in der Lage sind, echtes Wissen zu erwerben. Beiden Reaktionen liegt mithin diesselbe Auffassung über eine adäquate Erkenntnis zugrunde, aber während der Dogmatist die Illusion hegt, sein Ziel erreichen zu können, zieht der Skeptiker nur die Konsequenzen aus seiner Unerreichbarkeit. Der "Irrationalismus" des Skeptizisten ist also gewissermaßen eine rationale und kritische Reaktion auf den Rationalismus des Dogmatisten.

Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, mit dem Mißerfolg des klassischen Rationalismus fertig zu werden. Man kann eine Auffassung entwickeln, in der dogmatische und skeptische Komponenten miteinander verschmolzen sind, etwa in der Weise, daß man zwar weiter nach sicherer Begründung strebt und einen Abschluß des Begründungsverfahrens im dogmatischen Sinne in Kauf nimmt, aber den Erkenntnischarakter der dadurch begründeten Aussagen oder Theorien selbst in Frage stellt, indem man keinen Anspruch auf inhaltliche Wahrheit mit ihnen verbindet.

Eine Wissenschaft ohne Wissen, wie sie da ins Auge gefaßt wird, verkörpert die moderne Skepsis, aber in dogmatischer Form, eine Skepsis, die den Realismus der bisherigen wissenschaftlichen Weltauffassung durch eine Version des Pragmatismus ersetzt. Diese Abkehr vom kritischen Realismus, die dazu führt, daß aus der Konkursmasse der klassischen Erkenntnisauffassung gerade die fragwürdigen Bestandteile gerettet werden, kann am unauffälligsten vonstatten gehen, wenn man den Wahrheitsbegriff dementsprechend umdefiniert, so daß auf diesem Wege die Bindung der Wissenschaft an exogene Zielsetzungen plausibel gemacht werden kann.

Die Wissenschaft als Instrument der Lebensbewältigung darf ohnehin der Zustimmung des Publikums meist sicher sein, und die Perversion eines Instrumentalismus, der die Erkenntnisgrundlage der Lebenspraxis technologisch umdeutet, bleibt unbemerkt, wenn sie mit hinreichender Subtilität verbunden ist. Überraschend ist nur die Tatsache, daß in den Bemühungen, die Wissenschaft in unmittelbaren Zusammenhang mit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu bringen, gerade diejenigen Bedürfnisse vergessen zu werden pflegen, die charakteristisch für unsere Gattung sind: das Streben nach Erkenntnis und nach Weltorientierung.

Die Suche nach Wahrheit und die Idee der kritischen Prüfung
Ist es notwendig, in dieser Weise - durch Abkehr vom kritischen Realismus und von der traditionellen Wahrheitsidee - auf die Problemsituation zu antworten, die durch den Zusammenbruch des klassischen Rationalismus entstanden ist?

Wir haben gesehen, daß die Wahrheitsidee keineswegs, wie das für diese Auffassung charakteristisch war, mit der Gewißheitsidee konfundiert werden muß, so daß die Forderung nach absoluter Begründung als selbstverständlich erscheint. Man kann darüber hinaus auch die Frage nach den adäquaten Methoden der Erkenntnis von der Gewißheitsidee lösen und damit von der Frage nach einem die Wahrheit verbürgendem Kriterium, ohne gleichzeitig die Wahrheitsidee zu opfern.

Wenn man das Prinzip der zureichenden Begründung aufgibt und es durch das Prinzip der kritischen Prüfung ersetzt, dann braucht man weder in den Dogmatismus der Verfechter des klassischen Rationalismus noch in den Skeptizismus der enttäuschten Rationalisten zu verfallen, die sich genötigt glauben, zum Irrationalismus überzugehen, noch auch in jene subtile Verbindung von Dogmatismus und Skeptizismus, die für moderne Philosophen so anziehend zu sein scheint.

Dieser Kritizismus ermöglicht also eine realistische Wissenschaftsauffassung, in der die Wahrheitsidee - darüber hinaus die Idee der Approximation an die Wahrheit - als regulative Idee anerkannt wird, so daß die in ihr enthaltene methodologische Konzeption an ihr orientiert werden kann. Das bedeutet, daß hier mit dem kritischen Realismus der überkommenen Auffassung ein konsequenter Fallibilismus verbunden wird, der sich auch auf die Methoden der Wissenschaft bezieht. Nicht nur Aussagen, Theorien und Erklärungen, auch die Methoden, mit deren Hilfe sie konstruiert und geprüft werden, sind prinzipiell revidierbar.

Daß man für die Diskussion der wissenschaftlichen Methodologie auf die Wahrheitsidee verzichten könne, ist eine These, die sich einiger Beliebtheit erfreut. Daran ist sicherlich so viel richtig, daß man es mit einiger Vorsicht vermeiden kann, Worte wie "Wahrheit" und "Falschheit" sowie ihre auffälligeren Substitute zu vermeiden, wenn man methodologische Fragen erörtert.

Schwieriger scheint es mir schon zu sein, den Sinn methodologischer Festsetzungen zu diskutieren ohne - und sei es auch nur implizit - auf die Wahrheits idee  zu rekurrieren. Möglicherweise wird man heute zwar nur ein mildes Lächeln ernter, wenn man auf die Frage, warum man danach streben solle, Widersprüche in theoretischen Systemen zu vermeiden, die Antwort gibt, weil kontradiktorische Aussagen, die sich dann ableiten lassen, jedenfalls falsch sind.

Man wird vielleicht darauf verwiesen werden, daß sich aus widerspruchsvollen Systemen beliebige Aussagen ableiten lassen, so daß Systeme dieser Art überhaupt nicht mehr zwischen Aussagen diskriminieren. Aber diese Antwort ist ungenügend, wenn nicht darauf eingegangen wird, im Hinblick auf welche Eigenschaften diskrimiert werden soll, so daß man wieder ganz zwanglos auf die Wahrheitsfrage zurückkommt.

Eine weitere Frage wäre die, warum man überhaupt Theorien in der üblichen Weise prüfen sollte, wobei Experimente und empirische Untersuchungen aller Art eine erhebliche Rolle spielen. Die vage, aber durchaus adäquate Vorstellung, die mit solchen Untersuchungen meist verbunden ist, läuft darauf hinaus, daß durch sie gewissermaßen der "Widerstand der Realität" für die Beurteilung solcher Aussagensysteme in Anschlag gebracht werden kann.

Auch hinter den Bemühungen, bei solchen Untersuchungen "Beobachtungsfehler" nach Möglichkeit auszuschalten, steht eine realistische Auffassung. Gewiß mag das "Scheitern" einer Theorie an den "Tatsachen" mitunter eine sehr umwegige Angelegenheit sein, aber das rechtfertigt keineswegs die Auffassung, Prüfungsanstrengungen seien prinzipiell überflüssig. Warum sollte man dann nicht auch beliebige Immunisierungsversuche zulassen?

Wenn man sich die Frage stellt, worin sich die "Bewährung" einer Theorie von der einer Maschine unterscheidet, dann kommt man nicht darum herum, die Leistungen zu spezifizieren, die von beiden erwartet werden. Soweit von Theorien "Erklärungen" verlangt werden, läßt sich dann wohl kaum ein Rekurs auf den kognitiv-informativen Sinn der dabei in Betracht kommenden Aussagen vermeiden - auf ihren darstellenden Charakter - und damit auch auf den Unterschied zwischen mehr oder weniger zutreffender Darstellung von Sachverhalten.

Nach dem üblichen Modell sind bei Erklärungen ja adäquate Beschreibungen der betreffenden Tatbestände abzuleiten. Selbst wer in wissenschaftlichen Theorien nur Instrumente für die Lösung praktischer Probleme sehen möchte, kommt nicht daran vorbei, bei der Behandlung des Prognoseproblems wenigstens für die Beurteilung der technisch verwendbaren Endprodukte wissenschaftlicher Tätigkeit realistische Gesichtspunkte ins Spiel zu bringen, denn die Brauchbarkeit von Prognosen hängt doch wohl unter anderem auch davon ab, inwieweit sie die zu erwartenden Vorgänge zutreffend darstellen. Wenn man aber schon einmal gezwungen ist, in diesem Punkt Konzessionen zu machen, ist nicht einzusehen, warum man in bezug auf die dabei verwendeten theoretischen Systeme die Wahrheitsidee als unbrauchbar zurückweisen sollte.

Wir haben also vorerst keinen Anlaß, die antirealistische Reaktion moderner Philosophen auf das Scheitern des klassischen Rationalismus und des mit ihm verbundenen Begründungsprinzips als einzigen Ausweg anzusehen, zumal diese Reaktion zu größeren Schwierigkeiten für die Deutung der wissenschaftlichen Erkenntnis führen muß als ein Kritizismus, der den kritischen Realismus der alten Auffassung bewahrt. Immerhin wird eine Untersuchung der Wahrnehmungsproblematik vielleicht weitere Gesichtspunkte für die Lösung dieses Problems ergeben.
LITERATUR - Hans Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1977