cr-3Tagesansicht - NachtansichtIndividualität als Konstruktion
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
(1882-1949)
Die Rationalisierung des Denkens
(Zugleich ein Beitrag zur Psychologie und Kritik der Sprache)

1. Psychologisches Problem
2. Sprache als Medium
4. Begriff als Aktionszentrum
5. Rationalität und sensorische ...
  "Da man das Wort dem Gedanken nicht adäquat machen kann, so sucht man umgekehrt, den Gedanken dem Worte anzupassen..."

Wir stehen also, wenn wir das Verhältnis der Worte und der ihnen zugeordneten Bedeutungen fassen wollen, einem ungeheuer komplizierten Tatbestand gegenüber. Selten nur wird man sich der ganzen Kluft bewußt, die infolge des irratinalen und konditionalen Charakters der Gedanken zwischen Sprechen und Verstehen klafft. In der Regel bedient man sich der Sprache, als ob dennoch ein Verständnis möglich wäre und übersieht zufrieden, wenn keine praktischen Schwierigkeiten entstehen, die zahllosen Mißverständnisse, die in jeder Unterhaltung mit unterlaufen.

Im übrigen ist man, auch ohne sich der ganzen Tragweite des gekennzeichneten Tatbestandes bewußt zu sein, unablässig am Werke, die Kluft zu verringern. Man sucht jene Inkongruenz zu vermindern, und zwar geschieht das teils unbewußt, teils bewußt. Ich unterscheide danach die unbewußte Konventionalisierung der Begriffe und die bewußte Logisierung oder Rationalisierung. Beide sind nicht immer scharf zu trennen. Ich nenne die erstere auch das vorwissenschaftliche Verfahren, das zweite, weil es vor allem in den Wissenschaften geübt wird, das wissenschaftliche.

Was nun würde eine konsequente Rationalisierung der Gedanken erreichen müssen? Ihr Hauptziel würde sein, daß sich der Gedanke restlos in Worte ausdrücken läßt, so daß jedermann bei jedem Worte oder wenigstens Satze das Gleiche denken müßte. Da man nun sehr bald einzusehen pflegt, daß die Worte recht unvollkommene Vermittler für die Gedanken sind, weil sie ja nur konventionelle Zeichen, nicht Abbilder oder adäquater Ersatz sind, daß sie sowenig den Gedanken erschöpfen, wie ein Etikett mit dem Inhalt der damit beklebten Büchse identisch ist, so hat man ein Verfahren eingeschlagen, das von psychologischem Standpunkt aus sehr merkwürdig ist und in seiner Paradoxie kaum je ganz demaskiert worden ist, das aber doch recht bedenkliche Seiten hat.

Da man das Wort dem Gedanken nicht adäquat machen kann, so sucht man umgekehrt, den Gedanken dem Worte anzupassen, das heißt, man sucht ihn aller jener unendlichen, persönlichen und konditionalen Obertöne und "Fransen" zu berauben, um so ein schematisches, totes Skelett zu haben, das man dann mit dem Worte annähernd gleichsetzen muß. Da das Etikett dem Büchseninhalt nicht identisch gemacht werden kann, so ähnelt man den Büchseninhalt dem Etikette an, das heißt, man macht die Büchse möglichst leer! Das Verfahren nennt man Abstraktion.

Es besagt nicht so sehr, daß man etwa durch eine Durchschnittsrechnung einen "mittleren" Begriff herstellte (wie es die Assoziationspsychologie) darstellt), nein, es besteht vor allem darin, daß man den Gedanken aller lebendigen und persönlichen Beziehungen beraubt, so daß ein leeres Schema übrig bleibt. Dieses Schema wird dann durch einige sehr in die Augen fallende Merkmale steckbrieflich gekennzeichnet, man gibt diese paar Merkmale für das Wesen der Sache aus und glaubt, damit den irrationalen Charakter des Begriffs aufgehoben zu haben, daß man ihn durch einige Urteile festgenagelt hat. Damit wäre dann das Ideal der Logik erreicht. Wir werden dieses angebliche Ideal sogleich etwas näher beleuchten, stellen jedoch schon hier im Vorbeigehen fest, welche ungeheuerliche Verödung des gesamten Lebens eintreten müßte, wenn sich jene Ideal verwirklichte.

Beginnen wir mit der vorwissenschaftlichen Konvention. Sie ist beständig am Werke, ohne daß wir uns ihrer immer bewußt sind. Denn sie arbeitet immerfort, auch unter Erwachsenen. Mit jedem neuen Menschen, den wir kennen lernen, müssen wir erst tastend eine gemeinsame Verständigungsbasis finden. Denn es gibt keineswegs eine einheitliche Konvention, sondern jede soziale Gruppierung, jede soziale Konstellation und sei sie nur die zwischen zwei Menschen, schafft sich ihre eigene Konvention. Kommt ein Protestant in einen Kreis von Katholiken, so muß er sich, wenn er mit ihnen verkehren will, in vielen ihrem Sprachgebrauch anpassen.

Dieselben Worte haben in dieser Umgebung einen ganz anderen "Klang", wie man zu sagen pflegt, um die verschiedenen Obertöne zu bezeichnen, die bei jedem Worte mitschwingen. Und zwar sind es sowohl emotionale wie intellektuelle Obertöne. Spricht ein Protestant von seiner "Kirche", seinem "Glauben", von "Heiligen" oder ähnlichen Begriffen, so meint er etwas ganz anderes als der Katholik. Dieselben Worte haben ganz verschiedene Gefühlstöne und auch ganz andere reale Bedeutungen.

Ebenso ists, wenn sich ein konservativer und sozialdemokratischer Politiker unterhalten. Dem einen ist der Begriff der Monarchie etwas Verehrungswürdiges, dem anderen etwas Verächtliches. Jenem verknüpfen sich mit dem Worte Monarchie sehr hohe Vorstellungen, seine ganze Haltung ist zustimmend, bejahend; dem anderen verbinden sich mit dem gleichen Worte die Gedanken an allerlei ihm verhaßte Einrichtungen, er ist bereit, sie zu bekämpfen und abzulehnen. Soll ein "Verständnis" stattfinden, muß zunächst ein wenn auch nur instinktives Erraten dessen vorangehen, was dem andern jenes Wort bedeutet, darüber hinaus muß aber noch eine gewisse Anpassung stattfinden, ein Ausschalten der allzu trennenden und verschiedenen Teilvorstellungen und Stellungnahmen, also eine Abstraktion.

Das glückt nicht immer; gelingt es jedoch, so ist es meist eine Einigung auf einer mittleren Linie, wenn nicht der eine Teil sich dem andern ganz unterordnet und sich dessen Sprachgebrauch oder Bedeutungsgebrauch anbequemt. Es handelt sich da um ungeheuer feine und schwer greifbare Verschiebungen. Man verfolge unter diesem Gesichtspunkt eine Diskussion, z.B. eine Reichstagsverhandlung. Hat man Sinn für die Obertöne der Worte, so wird man fühlen, wie da oft gleichsam in ganz verschiedenen Sprachen geredet wird.

Als Beispiel aus jüngster Zeit erwähne ich die Streitigkeiten um den "Verständigungsfrieden". Den Parteien der Linken war dieser Begriff etwas Edles, Erstrebenswertes, den Parteien der Rechten etwas Unwürdiges, Törichtes, Lächerliches. Alle Definitionen halfen da nichts. Man wollte sich zum Teil gar nicht auf den Standpunkt des andern stellen, konnte es wohl auch oft nicht, gefangen wie man war in den persönlichen Vorurteilen.

Und damit kommen wir auf den tiefsten Grund des Wortverständnisses zurück; es gilt eben die Absicht des Anderen zu erraten! Nur dann hat man "verstanden". Die Absicht aber ist gesetzt durch die Persönlichkeit des Sprechenden und die Situation, aus der er spricht. Die oben geforderte Verständigungsbasis ist also der Wille oder die Fähigkeit, die Absichten des andern zu erspüren. Und darauf läuft letzten Endes die vorwissenschaftliche Konvention hinaus.

"Verständnis" kann also in zweifacher Weise erzielt werden: entweder der eine sucht die subjektiven Tendenzen, die das Denken des andern tragen, zu erraten und sich ihnen unterzuordnen, oder man spricht unter Zurückdrängung der emotionalen Faktoren des Denkens, möglichst sachlich, möglichst "objektiv", d.h. abstrakt.

Das erste Verfahren lassen wir hier außer Diskussion; es kommt später an anderer Stelle zur Sprache. Hier, wo es sich um die Rationalisierung des Denkens handelt, ist es nicht von Belang. Hier kommt nur das zweite Verfahren in Betracht: die Zurückdrängung der subjektiv-individuellen Faktoren, die Abstraktion.

Es spielt auch im täglichen Leben eine Rolle. Um bei unserem Beispiel der Unterhaltung zwischen dem Protestanten und Katholiken zu bleiben, so läßt sich in der Tat ein gewisses gegenseitiges Verständnis dann erzielen, wenn sie sehr "kühl" und "sachlich" sprechen, das heißt, wenn sie in ihrer Diskussion Haß und Liebe zurückdrängen und die Worte "Glaube", "Gott" als bloße Abstraktionen verwenden. Das ist in der Tat bis zu einem gewissen Grade möglich, obwohl man zweifeln kann, ob dann noch der ganze Gedankengehalt in die Worte gelegt wird.

Die Sprechenden werden ihr Verfahren stets dann am besten durchführen können, wenn sie möglichst "allgemein" reden, d.h. den wirklichen Lebensverhältnissen möglichst fern bleiben. Und weiter werden sie hier und da Erklärungen einzelner Worte vornehmen, so daß sie über gewisse gröbere Mißverständnisse hinwegkommen. Diese "Erklärungen" werden aber in der Regel auf Beschränkungen hinauslaufen: "Omnis determinatio est privatio". (Jede Bestimmung ist privat, bzw. persönlich)

Dasselbe Verfahren, das die Konvention des täglichen Leben unbewußt übt, wird bewußter und konsequenter durchgeführt in den Wissenschaften, deren Begriffe eben über das Indefinite, Subjektive und Konditionale hinausführen sollen. Ich kennzeichne im einzelnen dies Verfahren, das ich die Logisierung oder Rationalisierung nenne.

Vor allem geht die Rationalisierung darauf aus, den Begriffen ihren indefiniten Charakter zu nehmen, sie vielmehr zu definieren, d.h. sie fest zu umgrenzen. Sie glaubt das zu erreichen, indem sie eine Reihe von Urteilen über den Begriff fällt, die dessen wesentlichen Inhalt treffen sollen. Indessen ist es, wie wir schon oben zeigten, eine irrtümliche Annahme, es ließe sich ein Begriff überhaupt durch Urteile erschöpfen. Die rationalisierten Begriffe der Wissenschaft sind vielmehr fiktive Gebilde, die für gewisse Zwecke ausreichen.

Genau genommen wird nämlich gar nicht der Begriff definiert, sondern das Wort, d.h. man einigt sich in groben Zügen über den Sprachgebrauch, ohne jedoch damit eine wirkliche Festlegung der seelischen Einstellung zu erzielen. Auch durch die Definition wird nicht Verständnis, sondern Verständigung erreicht, d.h. eine praktische Möglichkeit. Der Unterschied zwischen Real- und Nominaldefinitionen, den die Logik oft gemacht hat, besteht in Wirklichkeit gar nicht! Alle scheinbaren Realdefinitionen sind in Wirklichkeit Nominaldefinitionen, Einigungen über die Verwendung von Worten, die jedoch niemals erschöpfend sind.

MAUTHNER geht sogar so weit, daß er alle Definitionen für Tautologien erklärt. Er meint:

"Rechts und links von dem Gleichheitsstriche oder der Kopula ist stehen die gleichgesetzten Glieder, und unsere Aufmerksamkeit macht so empfindlich, daß durch ihr bloßes Hinblicken das rechte oder linke Glied sich verwandelt. Es ist, als ob unsere Aufmerksamkeit bald die rechte, bald die linke Schale einer gleichschwebenden Waage anblicken wollte, und dieses Anblicken allein bald die rechte, bald die linke Schale zum Sinken brächte. Unsere ganze Weltanschauung ist in solchen Tautologien niedergelegt, in gleichschwebenden Wagschalen, deren Gewichte durch den Grad unserer Aufmerksamkeit vermehrt oder vermindert werden."
Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig, aber nur für eine Intelligenz, die die Tautologie durchschaut, d.h. der beide Glieder gleich bekannt sind. Für den gelehrten Chemiker ist die von MAUTHNER angeführte Begriffserklärung "Chlornatrium ist Kochsalz" natürlich eine Tautologie, nicht aber für den Schüler, der lernen soll, mit diesen Begriffen zu arbeiten. Man muß eben, was ich schon oft betont habe, bei jedem Urteil den Zweck mitdenken, der das Urteil, also eine zweckdienliche Handlung, beherrscht.

Gewiß ist ein solcher Satz kein Träger tiefer Erkenntnis, er kann aber in der geeigneten Situation von praktischem Nutzen sein. Und das ist unseres Erachtens der Wert der Definitionen, auch derjenigen der Logik. Sie können die praktische Brauchbarkeit der Worte heben, indem sie die "Richtung" einigermaßen fester bestimmen. Sie sind jedoch weit davon entfernt, die Begriffe nun wirklich fest zu umgrenzen. Die Definitionen, wie sie die Logik vorschreibt, fassen stets nur einen kleinen Teil des Gedankengehalts, sie erschöpfen jedoch niemals den ganzen Umfang desselben. Sie greifen nur ein paar sichtbare Kennzeichen heraus, die repräsentativ sind, ohne jedoch den Gehalt wirklich zu "umgrenzen", wie das Wort "Definition" es vorgibt. Die Definition macht nicht etwa das Wort reicher, weiter, geschmeidiger, sondern den Begriff ärmer, enger, starrer! In demselben Maße, wie der Begriff "logischer" wird, entfernt er sich vom Leben!

Des weiteren entzieht die Logisierung die Gedanken ihrer Verwurzelung in einer tatsächlichen Situation, enthebt sie ihrem konditionalem Boden, raubt ihnen aber damit auch das Leben, wie einer Pflanze, die man aus dem Boden reißt und in ein Herbarium steckt. Die Schullogik hat das zuweilen begriffen, wenn sie zur Erkenntnis kam, daß nur Allgemeinbegriffe, nicht Individualbegriffe zu definieren sind. Die Begriffe der Logik müssen daher, um fürs Leben nutzbar gemacht zu werden, wieder auf den Einzelfall zurückgeführt werden, und diese Anwendung des Allgemeinbegriffes, nicht die Kenntnis dieses, macht erst die Erkenntnis aus.

Wenn ich Allgemeinbegriffe definieren kann, so habe ich damit noch längst keine Erkenntnis, sondern diese ergibt sich erst dann, wenn ich den Allgemeinbegriff aufs Leben anzuwenden vermag. Das bloße Beherrschen abstrakter Formen ist ein leeres Spiel, solange es nicht auf Einzelfälle übertragen werden kann. Diese Beherrschung des Einzelfalles erst ist Erkenntnis im tieferen Sinne, was ich später zeigen werde.

Des weiteren sucht die Rationalisierung der Begriffe diese möglichst aller persönlichen Elemente zu entkleiden.

Daher rührt die "Kälte" der Wissenschaft. Der Begriff "Diamant" ist im gewöhnlichen Leben mit einer Fülle von Gefühlstönen verknüpft. In der Chemie wird er durch eine rationale einfache Formel bezeichnet, die jenseits alles Begehrens und alles ästhetischen Zaubers zu stehen scheint. Trotzdem wird man nicht behaupten wollen, daß diese rationalisierte Formel den ganzen Begriff des Diamanten erschöpfe. Sie bezeichnet ihn nur für gewisse Zweckzusammenhänge.

Ähnlich ists z.B. wenn ein Biologe den Tod als das Aufhören der Zeitlichkeit, als Auflösung des Organismus in seine anorganischen Elemente oder ähnlich definiert. Damit werden eine Reihe von Tatsachen festgestellt, die gewiß an sich der emotionalen Bedeutsameit entrückt sind; zugleich aber wird der Begriff des Todes uach ungeheuer verengt, er wird einerseits der Furchtbarkeit, aber auch der Erhabenheit entkleidet, die er für das menschliche Gemüt hat und die zu seinem vollen Begriff doch einmal hinzugehören, ja sogar in vielen Fällen als weit wesentlicher erscheinen, als etwa das Aufhören der Assimilation.

Wir sehen gerade an diesem Beispiel, welche Einengung der irrationalen Fülle des Lebens die Rationalisierung bedeuten würde! Gelänge es einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen, den Tod ausschließlich in einer konkreten chemisch-biologischen Formel zu denken, so möchte damit für die Chemie vielleicht ein wissenschaftliches Ideal verwirklicht sein. Derselbe Mensch aber wäre ganz unfähig, die erhabene Poesie des Todes zu begreifen, die in einer SHAKESPEARschen Tragödie über die Bühne weht, niemals würde er verstehen, wie aus dem Grauen vor dem Tode der Glaube an ein unvergängliches Leben erwachsen konnte, niemals würde er begreifen, wie der Tode den tiefsten Denkern zum Problem zu werden vermochte.

Das letzte Ziel der Rationalisierung geht dahin, die Begriffe über ihren konditionalen Charakter gleichsam hinauszuheben, sie als Wesenheiten "an sich" aufzustellen, sie absolut zu setzen. Das hat natürlich nur einen Sinn, wenn man sie nicht auf eine transzendente Realität bezieht, sondern die ganze Welt eben aus idealen Begriffen bestehen läßt. Für uns, die wir in den Begriffen nur praktische Stellungnahmen zu einer transzendenten Realität sehen, ist das ganze Verfahren an sich unmöglich und sinnlos.

Ich kann an dieser Stelle nicht eine eingehende Widerlegung jenes logischen Idealismus unternehmen, obwohl ich später, wo ich auf die Beziehung zwischen den Begriffen und der transzendenten Realität zu sprechen komme, noch einiges dazu sagen werde. Diese logischen Idealisten nehmen, soweit sie die Realität der Denkinhalte nicht überhaupt leugnen, gleichsam eine Verdoppelung vor, indem sie außer der transzendenten Realität noch eine Idealität der Begriffe annehmen.

Außer der Tatsächlichkeit der Welt gibt es nach solchen Denkern noch eine gedankliche Abbildung derselben, eine "Wahrheit an sich". Losgelöst von den einzelnen Intelligenzen, die sie denken, sollen die Begriffe eine ideales Dasein haben, das an sich besteht und allen Anforderungen der Rationalisierung entspricht!

Es müßte also z.B. einen Begriff vom "Tode" geben, der richtig und wahr wäre, jenseits von allen Einzelgedanken, und auch von allen tatsächlichen Einzelfällen. Oder es müßte, um bei einem anderen unserer Beispiele zu bleiben, eine Vorstellung von Paris geben, die jenseits aller persönlichen Denkfärbung stünde: "die" Vorstellung von Paris. Versucht man, solche angeblich idealen Denkinhalte festzuhalten, so merkt man bald, daß man einen leeren Schemen in der Hand behält, ein dürres Skelett ohne jegliches blühende Leben.

Hören wir zunächst einen Fürsprecher des Logismus:

"Ich kann feststellen, daß die Aussagen von Menschen, die voneinander nie etwas gewußt haben, miteinander übereinstimmen oder einander widersprechen, einander ergänzen oder widerlegen. Die Aussagen selbst also sind an das Individuum, an Zeit und Ort gebunden, und ebenso ihre Grundlagen, ihre Sprachformen und die mit ihnen verknüpften Vorstellungen. Nur ihre Inhalte treten über Länder und Zeiten hinweg miteinander in Verbindung, um in individuelle, unzeitliche und unräumliche Beziehungen der Verträglichkeit, des Widerspruchs usw. einzugehen.

Aus der Glut und dem Flusse des Augenblicks erzeugt, erstarren die Aussagen gleichsam zu einem dauernden, unveränderlichen Sein, das nun gegen alles Subjektive und Zufällige sich indifferent verhält. In der Erregung des Streits zweier Brahmanen ist irgendwo in Indien vor 2000 Jahren ein Wort gefallen. Die Erregung ist verklungen, der Streit geschlichtet, die Brahmanen sind tot, ihr Volk ist unterjocht. Das Wort ist geblieben.

Es kann zu dem anderen Worte eines anderen Menschen aus einer anderen Zeit stimmen oder nicht stimmen. Es kann dieses andere Wort überwinden oder von ihm überwunden werden. Ob dies oder jenes geschieht, hängt gar nicht davon ab, von wem, aus welchem Anlaß, unter welchen Umständen die Worte gesprochen werden. Es hängt einzig und allein ab von ihrem logischen Gehalt."
Ist diese Argumentation nun richtig? Ich nehme als Beispiel den bei allen Logikern beliebten Satz: "Alle Menschen sind sterblich." Angenommen nun weiter, dieser Satz stünde in den Upanishaden, er stünde in einer Rede JESU, er stünde in einem Werk BÜCHNERs, des Materialisten? Müßte er da notwendig dasselbe bedeuten?

Nehmen wir zunächst die Begriffe einzeln: Bedeutet wirklich das Wort "Mensch" bei dem Upanishaden-Dichter, bei JESUS, bei BÜCHNER das gleiche? Ist der Mensch im ersten Falle nicht bloß eine an sich unwesentliche Erscheinungsform der unendlichen Gottheit, bei JESUS dagegen der Träger einer unsterblichen Seele, das Kind Gottes, der die Haare seines Hauptes gezählt hat und ihn nährt wie die Vögel unter dem Himmel, und bei BÜCHNER eine Maschine ohne Seele, ein Tier, das denken kann?

Und bedeutet "sterblich sein" nicht auch in jedem Falle etwas ganz anderes: beim Brahmanen einen Übergang in andere Wesen oder die Aufhebung der Individuation, bei JESUS den Eintritt in die ewige Seligkeit, bei BÜCHNER das Stillstehen einer Maschine? Und da soll jener Satz einen bestimmten Sinn haben jenseits von Zeit und Raum? Geht nicht gerade das Beste verloren, behalten wir nicht eine dürre Banalität ohne Farbe und Wärme in den Händen, wenn wir den Satz loslösen von den Individuen, die ihn gesprochen haben?

Nein, wir müssen mit aller Schärfe betonen, daß die Annahme "absoluter" Begriffe oder Gedanken eine groteske Torheit ist. Durch Austreibung des persönlichen Charakters erhält man noch lange keine Absolutheit, sondern nur dürre Abstraktion. In der Tat sind die ganz allgemein "rationalisierten" Gedanken bei Licht besehen herzhafte Banalitäten, die erst wieder ins Leben zurückgeführt werden müssen, um Erkenntnis zu werden, Erkenntnis im Sinne einer Erschließung einer dem Denken transzendenten Realität.

Wir werden trotzdem zugeben, daß in beträchtlichem Umfang eine Logisierung der Begriffe möglich ist. Die Mathematik, die Chemie, die Physik haben ein Begriffssystem geschaffen, das in der Tat sehr rationalisiert und in gewissem Sinne der Subjektivität, Indefinitheit und Konditionalität der Begriffe des Lebens entrückt ist. Allerdings ist auch bei diesen Begriffen die "Ewigkeit" recht relativ, und wir erleben es ja gerade jetzt, wie vieles, was für fest und unumstößlich gegolten hat, umgestoßen wird und die scheinbar festesten Begriffe der Physik ungeahnte Erweiterungen erfahren. Aber das ist zuzugeben, daß jene Wissenschaften immerhin sich dem Ideal der Logisten nähern, und es ist daher kein Wunder, daß diese sich mit Vorliebe imer auf die Mathematik stützen.

Wir jedoch gehen vom Leben aus, von der ganzen Fülle menschlicher Erkenntnismöglichkeiten und beschränken uns nicht auf einen sehr künstlichen, sehr lebensfremden Teil desselben, mag dessen praktische Bewährung auch noch so bedeutend sein. Denn das darf doch nie übersehen werden, daß alle Begriffe der Physik z.B. durch Ausschaltung aller "sekundären" Eigenschaften zustande gekommen sind, also auf keinen Fall die ganze Wirklichkeit umfassen, sondern eine fiktive Vereinfachung derselben, die aber merkwürdigerweise wegen ihres hohen praktischen Wertes einen höheren Wirklichkeitsgrad zuerteilt bekommt, so daß nach weit verbreiteter Meinung das Licht "eigentlich" eine Wellenbewegung ist, während es doch unmittelbar und in jedem Augenblick als etwas ganz anderes erlebt wird.

Wir sahen also, daß die Rationalisierung die konsequente Durchführung eines Verfahrens ist, das auch das tägliche Leben schon kennt, und das in der Tat große praktische Werte in sich birgt, die freilich andererseits durch gewaltsame Verengung, Entpersönlichung und Mangel an Lebensnähe erkauft werden.

Wie stellen sich nun, als fertige Tatsachen genommen, die rationalen Begriffe dar? Nun, sie sind konventionelle Denkeinheiten, die vom Zusammenhang mit der Subjektivität der Denkenden möglichst gelöst sind, die durch einige besondere Kennzeichen bequem unterscheidbar gemacht und durch eine schematische Ausgestaltung für möglichst viele Fälle passend gemacht werden.

In dieser Form können sie wohl der Verständigung dienen, ja, sie können sogar ein gewisses Verständnis vermitteln, aber stets nur ein künstliches, abstraktes, nicht ein völliges, lebendiges Verständnis des ganzen Denkerlebnisses des anderen. Zwei Biologen, die das Begriffssystem ihrer Wissenschaft beherrschen, werden sich für ihre Zwecke wohl über den Begriff des Todes verständigen können, so wie sie jedoch außerhalb ihrer Wissenschaft vom Tode eines Freundes sprechen, verliert jene wissenschaftliche Konvention auf einmal ihren Wert. Sie bleibt zurück hinter der großen Irrationalität des Seins, das wir im Grund doch stets nur als lebendige Individuen erleben, nicht als "erkenntnistheoretische Subjekte".
LITERATUR - Richard Müller-Freienfels, Rationales und irrationales Erkennen, in Annalen der Philosophie hrsg. von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt, zweiter Band, Heft 2, 1920