| WILHELM TOBIAS
Grenzen der Philosophie
[konstatiert gegen Riemann und Helmholtz,
verteidigt gegen von Hartmann und Lasker.]
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"Es ist durchaus unmotiviert, zu meinen, für unser Verständnis sei die Empfindung durch die Änderung des theoretischen Standpunktes dem äußeren Reiz gewissermaßen näher gerückt. Viel eher gerechtfertigt wäre es, zu sagen: die völlige Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen den beiden Gebieten des Subjektiven und des Objektiven tritt durch die detailliertere Anschauung der äußeren Vorgänge mit erneuter Klarheit ans Licht. Denn wir haben jetzt ein Mittel, uns die sämtlichen Bewegungsvorgänge in den Nerven mit bestimmten Merkmalen zu versinnlichen; unserem allgemeinen Begriff, Orts- und Lagenveränderung der Moleküle, sind nun gewisse korrespondierende Vorstellungen gegeben, wir können uns nun den kontinuierlichen Übergang eines molekularen Vorgangs in einen anderen durch ein physisches Geschehen versinnlichen. Trotzdem sind wir nach wie vor ganz unfähig, eine analoge Vermittlung für zwei qualitative Empfindungsunterschiede, wie z. B. zwischen hell und warm herzustellen, ganz ebenso unfähig, wie wir hierzu waren, nachdem wir gelernt hatten, daß äußeres Licht und äußere Wärme nur als Modifikationen desselben Vorgangs, nämlich einer mechanischen Bewegung, aufzufassen sind." |
III. Empirismus und Nativismus
Das Wesentliche des zuletzt bezeichneten Unterschiedes besteht darin, daß die nativistische Theorie behauptet, die Netzhaut des Auges sei durch ihre Beschaffenheit befähigt, von jeder Erregung eines Teils ihrer Oberfläche dem Bewußtsein eine Empfindung zu überliefern, mit welcher eine räumliche Vorstellung unmittelbar verbunden ist. In dieser von JOHANNES MÜLLER zuerst aufgestellten Theorie figuriert also die Raumanschauung als etwas Angeborenes, sie ist untrennbar vereinigt mit der lebenden Tätigkeit des Organs: sie ist a priori, obwohl keineswegs transzendental-ideal.
Der Empirismus hingegen läßt die Raumanschauung durch Empfindungen vermittelt werden. Zwar:
"Einen Unterschied zwischen Empfindungen verschiedener Netzhautstellen, der von der örtlichen Verschiedenheit derselben herrührt, muß natürlich auch die empirische Theorie anerkennen. Wenn ein solcher nicht vorhanden wäre, würde es überhaupt unmöglich sein, örtliche Unterschiede im Gesichtsfeld zu machen." (Helmholtz, Vorträge, 2. Heft, Seite 66).
Aber es wird über jenen primären Unterschied zwischen den Empfindungen nichts Näheres bestimmt, es wird ihm besonders der räumliche Charakter nicht zugesprochen. Die Unterschied, welche z. B. dieselbe Farbe nur dadurch bewirkt, daß sie verschiedene einander sehr benachbarte Teile der Retina affiziert, in welchen die Farbempfindungen völlig gleich sind, solche Unterschiede werden zwar Lokalzeichen genannt, aber dieser von LOTZE eingeführte, einen physischen Nervenprozeß bezeichnende Ausdruck (1) besagt hier nichts speziell Räumliches, er ist vielmehr nur ein Hinweis auf die Ursache des Unterschiedes zwischen den Empfindungen, und diese Ursache wird freilich dadurch als eine räumliche in einem transzendental-realen Sinn charakterisiert, aber der Unterschied selbst bleibt seiner Art nach ganz ohne Kennzeichen:
"Dabei ist es also auch nicht nötig, irgendeine Art von Übereinstimmung zwischen den Lokalzeichen und den ihnen entsprechenden äußeren Raumunterschieden vorauszusetzen." (Helmholtz, a. a. O., Seite 67)
Sondern wir müssen die Verschiedenheiten der Empfindung deuten lernen, und diesen Unterricht erteilt uns die Erfahrung, welche den Stoff, die Empfindung, liefert, zusammen mit den von der Erfahrung unabhängigen, uns angeborenen geistigen Funktionen, welche auch unbewußt die Empfindungen bearbeiten nach den psychischen Gesetzen der Assoziation der Vorstellungen und der Kausalität. Dieses unbewußte Bearbeiten der Empfindungen nennt HELMHOLTZ "unbewußt vollführte Induktionsschlüsse (Optik, Seite 449). Die Deutung der Empfindungen auf Raumverhältnisse ist also hiernach das Produkt aus zwei Faktoren, dem physischen Material und seiner psychischen Verwertung für das Vorstellen. Das Material besteht erstens in Lichteindrücken und zweitens in den Empfindungen, welche durch die Innervation [Benervung - wp] der Augenmuskeln verursacht werden; denn die Tätigkeit dieser Muskeln bewirkt die für den Erfolg der Wahrnehmung notwendige Bewegung und Einstellung des Augapfels. Die nach unbewußten Assoziationen und Kausalitätsschlüssen operierende Psyche kombiniert nun die verschiedenartigen Elemente sowohl untereinander als mit dem objektiven Erfolg, welcher dem handelnden Menschen aufgrund der subjektiven Antriebe zuteil wird, und so entsteht die Orientierung im Raum mit größerer oder geringerer Beteiligung des Bewußtseins, nachdem die Vorstellung von ihm als einem jedesmal nur durch Grenzen wahrnehmbar werdenden Teil eines Unendlichen auf ursprünglich unbewußte Weise zu einem Erwerb durch Erfahrung geworden ist. Wie sich im Einzelnen die empiristischen Physiologen voneinander unterscheiden, je nachdem sie mit WUNDT den Muskelgefühlen eine größere Dignität "für die Abmessung der räumlichen Verhältnisse des Sehfeldes" (HELMHOLTZ, Optik, Seite 819) beilegen, oder mit HELMHOLTZ "die hauptsächlichsten Abmessungen des Sehfeldes aus der Deckung verschiedener Bilder mit denselben Netzhautteilen" herleiten (ebd.), - das ist für die gegenwärtige Erörterung ohne Einfluß. Hier kommt es nur darauf an, festzustellen, daß dem möglichst strengen Empirismus zufolge weder Lokalzeichen, noch Lichtempfinden, noch Muskelgefühle irgendetwas von einer determinierten Raumvorstellung unmittelbar mit sich führen. (Den Zusatz "möglichst streng" zu "Empirismus" werde ich am Schluß dieses Abschnittes zu motivieren haben.)
"Die nativistische Theorie dagegen", sagt Helmholtz (Vorträge, 2. Heft, Seite 67), "setzt voraus, daß die Lokalzeichen nichts anderes sind als unmittelbare Anschauungen der Raumunterschiede als solcher, sowohl ihrer Art, als ihrer Größe nach. Der Leser" so fährt Helmholtz fort - "wird hieran erkennen, daß der durchgreifende Gegensatz der verschiedenen philosophischen Systeme, welche bald eine prästabilierte Harmonie zwischen den Gesetzen des Denkens und Vorstellens mit denen der äußeren Welt voraussetzen, bald alle Übereinstimmung der inneren und äußeren Welt aus der Erfahrung herzuleiten suchen, auch in das uns vorliegende Gebiet eingreift."
In dieser Bemerkung von HELMHOLTZ über den "durchgreifenden Gegensatz der verschiedenen philosophischen Systeme", zusammen mit einer anderen in der Optik öfters wiederholten Bemerkung über die nativistische Theorie, hierin finde ich die zu besprechende Unklarheit. HELMHOLTZ sagt nämlich, JOHANNES MÜLLER habe die den Sensualisten des vorigen Jahrhunderts entgegengesetzte Ansicht von der Raumanschauung aufgestellt, "unter dem Einfluß der kantischen Lehre, daß der Raum eine angeborene Form unserer Anschauung ist". (Optik, Seite 594) - eine Tatsache, deren historische Richtigkeit nicht im Mindesten anfechtbar sein mag. JOHANNES MÜLLER wäre vielleicht auch zu der Epoche machenden Theorie von den spezifischen Sinnesenergien nicht gekommen, wenn sein philosophischer Geist nicht aus KANT die schließlich entscheidende Anregung geschöpft hätte, für deren folgenreiche Wirkung übrigens seine freie großsinnige Auffassung PLATOs und anderer Philosophen eine sicherlich nicht gleichgültige Vorbedingung war.
Aber wenn auch die nativistische Theorie von MÜLLER durch die kantische Lehre erst erweckt sein mag, so ist doch über den Grad ihrer inneren Verwandtschaft mit der letzten noch Nichts dadurch festgestellt. Man wird im Gegenteil nach der Analogie anderer Kundgebungen origineller Geister erwarten dürfen, daß die bereitwillig aufgenommene Saat eine umso selbständigere Entwicklung werde genommen haben, je eigenartiger die Bedingungen waren, unter denen die Keimung erfolgt. Oder nach dem treffenderen Gleichnis, das von SOKRATES herrührt: wir werden umso mehr erwarten, in KANT den Geburtshelfer der MÜLLERschen Idee und nicht ihren Vater zu finden, je mehr wir die Genealität des Ideen zeugenden Naturforschers anerkennen. LIEBMANN sagt von MÜLLERs Hypothese "eines der Retina angeborenen, ursprünglichen Raumgefühls": "Dies war eine physiologische Paraphrase der kantischen Apriorität des Raums." Mit dieser Schnellfertigkeit äußert sich HELMHOLTZ freilich nicht, aber es besteht doch eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen der Bemerkung LIEBMANNs und den folgenden von HELMHOLTZ. Auf Seite 208 der "Optik" lesen wir:
"Das Müller'sche Gesetz von den spezifischen Energien war ein Fortschritt von der außerordentlichen Wichtigkeit für die ganze Lehre von den Sinneswahrnehmungen, ist seitdem das wissenschaftliche Fundament dieser Lehre geworden, und ist in gewissem Sinne die empirische Ausführung der theoretischen Darstellung Kants von der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens."
Deutlicher noch heißt es ebenda Seite 456:
"In dieser" - der kantischen - "Auffassung ist die Wahrnehmung anerkannt als eine Wirkung, welche das wahrgenommene Objekt auf unsere Sinnlichkeit hat, welche Wirkung in ihren näheren Bestimmungen ebenso gut abhängt vom Wirkenden wie von der Natur dessen, auf welches gewirkt wird. Auf die empirischen Verhältnisse wurde dieser Standpunkt namentlich von Johannes Müller übertragen in seiner Lehre von den spezifischen Energien der Sinne."
Schließlich Seite 805:
"Diese Ansicht" - die nativistische von Müller - "erweitert daher die von Kant aufgestellte Ansicht, daß Raum und Zeit ursprünglich gegebene Formen unserer Anschauungen sind, dahin, daß auch die spezielle Lokalisation jedes Eindrucks durch die unmittelbare Anschauung gegeben ist."
Aus diesen Stellen nun kann, namentlich beim vollständigen Mangel an einschränkenden und korrektiven Bemerkungen, leicht der Anschein entstehen, als sei die nativistische Theorie, und zwar so wie sie von JOHANNES MÜLLER und seiner Schule vertreten wird, nicht bloß wohlvereinbar mit der Erkenntnistheorie KANTs, sondern als sei die Anerkennung jener Theorie auch gleichbedeutend mit der Vertretung der kantischen Auffassung von Raum und Erfahrung, und als handle es sich auch in dem noch immer ungeschlichteten Streit zwischen Empiristen und Nativisten gleichzeitig um Gegensätze zwischen KANT und anderen Philosophen. Das aber ist in der Tat nicht der Fall, so sehr auch die Auffassung HELMHOLTZ' die gegenwärtig allgemeine zu sein scheint. So sagt auch WUNDT in seinen "Grundzügen der physiologischen Psychologie" (Leipzig 1874, Seite 353):
"Die philosophische Grundlage der heutigen Naturwissenschaften überhaupt und ganz besonders der Sinneslehre ruht auf Kant. Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien ist ein physiologischer Reflex des kantischen Versuchs, die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis zu ermitteln, wie dies beim hervorragendsten Vertreter jener Lehre, bei Johannes Müller, besonders deutlich hervortritt."
Es ist aber vielmehr das sehr deutlich, daß die Theorien von MÜLLER und KANT einander gar nicht tangieren.
Nicht minder als die philosophierende Physiologie finden wir auch die physiologisch gebildete Philosophie derselben Verwechslung der Begriffe unterworfen. In der so vortrefflichen "Geschichte des Materialismus" (Iserlohn 1866) schreibt der sowohl mathematisch als auch naturwissenschaftlich wohlbewanderte Autor FRIEDRICH ALBERT LANGE (Seite 482) Folgendes:
"Die Physiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus und Kants System kann gleichsam als ein Programm zu den neueren Entdeckungen auf diesem Gebiet betrachtet werden."
Desgleichen findet STUMPF ("Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung", Leipzig 1873), daß STEINBUCHs "Muskelideen" durch JOHANNES MÜLLER und TOURTUAL "vom kantischen Standpunkt aus" bekämpft worden sind (Seite 37, Anm. 1) und daß (Seite 310, Anm.)
"Johannes Müller glaubte der kantischen Lehre von der Subjektivität des Raumes einen anschaulich-konkreten Ausdruck zu verleihen, indem er sagte: die Netzhaut empfindet nur sich selbst in ihrer räumlichen Ausdehnung, wenn sie räumliche Vorstellungen hat."
Jener von HELMHOLTZ erwähnte "durchgreifende Gegensatz der verschiedenen philosophischen Systeme", welcher auch in das Gebiet der Physiologie "eingreift", ist der Gegensatz zwischen LEIBNIZ und den Sensualisten, aber KANT steht ganz außerhalb dieses Gefechts. Denn für LEIBNIZ nicht minder als für LOCKE und ebenso auch für JOHANNES MÜLLER bis auf HERING und ÜBERWEG (als Erfinder einer nativistischen Theorie des Sehens) sowie für STEINBUCH bis auf HELMHOLTZ - also den streitenden Philosophen untereinander in gleicher Weise wie den Physiologen ist doch gemeinsam die Überzeugung, daß außerhalb des Bewußtsein eine räumlich ausgedehnte Welt existiert. JOHANNES MÜLLER sowie die modernsten Forscher haben zum Ausgangspunkt ihrer Erkenntnis die Voraussetzung, daß die Netzhäute der Augen wirkliche, nämlich transzendental-reale Gebilde sind in einem dreifach ausgedehnten Raum von derselben Wirklichkeit, wie sie ihnen selbst eigen ist, und die Lichtwellen des Äthers kommen danach gerade so auf den Netzhautflächen an, wie es die Schlüsse aus empirischen Beobachtungen lehren. Die physiologischen Schulen streiten eben gar nicht um den unbegrenzten Außenraum, sondern nur um die Entstehung der Vorstelung von den räumlichen Verhältnissen. Daß HELMHOLTZ durch die hergehörigen Arbeiten dazu geführt worden ist, theoretische Untersuchungen über das Wesen des Außenraumes anzustellen, ist psychologisch natürlich nicht zufällig, aber die Verbindung beider Untersuchungen ist durch die Subjektivität des Forschers begründet, nicht durch die Objekte notwendig bedingt.
Wie ganz getrennt die Angelegenheiten sind, welche die Diskussionen, hier über KANTs Raumerklärung und dort über Nativismus und Empirismus, zur Basis haben, das wird am Besten ersichtlich, wenn man sich die Frage vorlegt, ob etwa KANT aufgrund seines Systems zu einer bestimmten Parteistellung im Kampf der Physiologen untereinander wäre verbunden gewesen. Diese Frage ist zu verneinen. Je mehr Konsequenz man bei einem Verteidiger des transzendentalen Idealismus voraussetzt, umso weniger ist man berechtigt, seine Parteinahme im physiologischen Streit zu präjudizieren [vorzuverurteilen - wp]. Nur für den Boden, auf welchem der Ausgangspunkt der Kontroverse liegt, ist der Kantianer im Voraus entschieden: er kann das Beobachtungsmaterial, nämlich das Auge und sämtliche Apparate für Versuche nicht für Dinge-ansich halten, sondern sie sowie sein eigener Körper bleiben für ihn nur Erscheinungen. Daß alle diese Dinge für die bisher in dem Streit aufgetretenen Anhänger des Empirismus nicht Erscheinungen sind, sondern Dinge-ansich, hat andere Gründe, als in der Natur des Streitobjekts liegen. Denn für den Kantianer nicht minder als für den physiologischen Empiristen, mag er es mit LOCKE oder mit einem anderen Philosophen halten, haben jene Dinge als Erscheinungen Realität und die Bearbeitung dieser Realitäten ist ganz unabhängig davon, ob sie nur als empirische Realitäten aufgefaßt werden wie von den Kantianern, oder als transzendentale Realitäten wie von den Sensualisten.
Alles, was aus den Erscheinungen mit Hilfe der Logik zu folgern ist, hat die Qualität von Erfahrungswissen; dieses ist abhängig von Wahrnehmungen und von deren Verbindung durch die Stammbegriffe des Verstandes; es beansprucht, nur solche Begriffe zu bilden und zu verwerten, für welche korrespondierende Gegenstände der Anschauung können gegeben werden. Daß die Richtigkeit dieser Begriffe, d. h. ihre Allgemeingültigkeit davon abhängig ist, ob ihre Entstehung erstens einem möglichst vollständigen Material darf zugeschrieben werden, und ob sie zweitens frei gehalten war von Fehlern der sinnlichen Wahrnehmung oder der Subsumtion [Unterordnung - wp]; daß also bei der Erwerbung des hier in Frage kommenden Wissens als eines auf empirisch realen Tatsachen ruhenden die Möglichkeit des Irrtums vorhanden ist und folglich die Möglichkeit von Meinungsdifferenzen, deren Ausgleichung zu erwarten bleibt von der weiter zu führenden Ansammlung neuer und der Verifizierung alter Beobachtungen sowie von der logischen Bearbeitung des zu immer größerr Allgemeingültigkeit zu bringenden empirischen Materials - all dies integriert sich zum Wesen empirischer Erkenntnis, es liegt im Begriff jeder Erfahrungswissenschaft.
Für die nativistische Theorie mag es daher zutreffen, wenn HELMHOLTZ von ihr sagt, ihre Annahme sei "eigentlich eine Verzichtleistung auf jede Erklärung der Lokalisationsphänomene" (Optik, Seite 805), aber für die kantische Theorie trifft es nicht zu. Denn nicht aufgrund des transzendentalen Idealismus würde der Kantianer auf jene Erklärung verzichten, sondern erst aufgrund seiner Entscheidung für den Nativismus; nur dieser und sein Gegner, der physiologische Empirismus, nur sie haben es mit Lokalisationsphänomenen als Untersuchungsobjekten zu tun. Dies sind bereits geformte, räumlich angeordnete Empfindungen, es sind Erfahrungen, nicht Bedingungen für die Möglichkeit der Erfahrung: diskutiert wird bei ihnen aber immer nur die Frage, ob eine schon geschehene Anordnung im Raum unmittelbar oder mittelbar von unserem Vorstellen ausgeführt worden ist; diese Frage ist rein empirisch, rein naturwissenschaftlich: es handelt sich um ein Geschehen in der Zeit, es soll festgestellt werden, ob die Direktion und Platzierung von Lichtempfindungen gleichzeitig erfolgt mit ihrer ersten Anmeldung im Bewußtsein, oder später, nachdem das Bewußtsein die Direktion und Anordnung hatte erlernen können. Die philosophische, die von KANT beantwortete Frage hat einen völlig verschiedenen Inhalt. Sie betrifft gar nicht die Art einer bestimmten Formgebung in verschiedenen Zeiten und verschiedenen Dimensionen und Teilen des Raumes, sondern die kantische Frage hat den Inhalt: wie ist Formgebung möglich? Nicht Zeiten und Räume, sondern Zeit und Raum sind der Untersuchungsgegenstand des hergehörigen Teils der kantischen Philosophie.
Über das Verhältnis der einzelnen empirisch-realen Wahrnehmungen ist nicht das Mindeste dadurch entschieden, daß behauptet wird: sie sind nur möglich aufgrund transzendental-idealer Anschauungsformen a priori. Pflichten wir also auch ROSANES bei, wenn er eine innere Übereinstimmung findet zwischen der mathematischen Raumtheorie von HELMHOLTZ und seiner physiologisch-empiristischen Stellung, so folgt daraus für uns nicht, daß diese Übereinstimmung eine sachlich notwendige ist, vielmehr bleibt sie persönlich und subjektiv, selbst wenn unter allen Physiologen kein einziger Kantianer zu finden wäre. Denn nicht die Anerkennung des apriorischen Charakters der Raumvorstellung ist kantisch, sondern des ausschließlich apriorischen Charakters; die Ausführungen im gegenteiligen Sinn, z. B. durch CLASSEN, sind radikal mißverständlich.
Es ist nicht meine Absicht, hier näher auf den Krieg einzugehen, welcher vor einiger Zeit zwischen TRENDELENBURG und KUNO FISCHER geführt wurde, und in dessen Manifestation von philosophischer Würde man wohl nicht den Grund finden wird, wenn nicht noch weitere Kreise zur aufmerksamen Anteilnahme angeregt wurden. Der casus belli [Streitsache - wp] zwischen den Philosophen hat zur Voraussetzung, daß den von Kant gegebenen Beweisen für die Apriorität von Raum und Zeit Zustimmung erteilt wird. Ich habe bereits bekannt, daß mir diese Zustimmung nicht möglich ist, und ich würde daher schon aus diesem Grund keine Veranlassung finden, den Gegenstand des Streits hier zu berühren. Aber unter den Physiologen sind einige der entgegengesetzten Ansicht hierin: sie erklären sich, wie z. B. CLASSEN (2) völlig damit einverstanden, daß KANT die Subjektivität und Apriorität der Raumvorstellung bewiesen hat, aber sie finden gleichzeitig TRENDELENBURGs Ausführungen plausibel, welche die Ausschließlichkeit zu bestreiten suchen, die KANT für das Subjektive der Anschauungsformen a priori behauptet. Wegen des Interesses also, welches diese Kontroverse fortfährt zu beanspruchen, erwähne ich noch den zweiten Grund, aus welchem ich mich ihrer Besprechung für überhoben halte. Es ist der, daß ich überzeugt bin, die streitige Angelegenheit müsse für jeden Unbefangenen, für welchen die Voraussetzung zutrifft, welcher ich nicht entspreche, nämlich die Anerkennung der kantischen Beweise für die Apriorität von Raum und Zeit, folglich für alle bisherigen Anhänger von TRENDELENBURG wie auch für die von KUNO FISCHER müsse das entscheidende Wort gesprochen sein durch eine Arbeit von EMIL ARNOLDT, welche den Titel hat: "Kants transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit. - Für Kant gegen Trendelenburg." Der größere Teil dieser Arbeit ist noch während des Lebens von TRENDELENBURG erschienen (1870 und 1871), - leider, gleich ihren Schlußteilen, in der "Altpreussischen Monatsschrift" (Bd. VII und VIII), also etwas stark dem Schicksal der Verscharrung Preis gegeben und jedenfalls sehr heterotopisch [Realisierung einer Utopie - wp] für eine Angelegenheit von nicht provinziellem Charakter. Aber die Abhandlung ist doch immerhin publiziert, ja sie ist trotz ihres zurückgezogenen Daseins doch sogar zu der verständnisvollen Perzeption des englischen Referenten der Londoner "Academy", Mr. EDWARD CAIRD (No. 15, December 15th, 1870), gelangt, und ich darf mich daher auf die Leistung berufen als auf eine in der Tat Abschluß gebende "für Kant gegen Trendelenburg".
Für die Behauptung von der Vereinbarkeit der transzendentalen Idealität nach KANT sowohl mit dem Nativismus als mit dem Empirismus der Physiologie wird es zweckmäßig sein, die bisher abstrakt gehaltene Motivierung an einem konkreten Beispiel zu prüfen. Ist jene Behauptung richtig, so muß sich an jedem hergehörigen Fall nachweisen lassen, daß weder der Nativismus noch der Empirismus durch irgendeine ihrer Konsequenzen für oder gegen KANT engagiert werden.
Vorher aber wenden wir uns an das für die physiologischen Parteien gemeinsame Grundtheorem, an die Lehre von JOHANNES MÜLLERs von den spezifischen Sinnesenergien. Für diese Lehre muß gleichfalls das Gesagte zutreffen.
In analoger Weise wie KANT (in Bd. 1, Seite 493, zu vgl. mit Kr. d. r. V. erste Auflage, Seite 761) "drei Stadien" unterscheidet, "welche die Philosophie zum Zweck der Metaphysik durchzugehen hatte", nämlich die Stadien des Dogmatismus, des Skeptizismus und des Kritizismus der reinen Vernunft, so teilt auch JOHANNES MÜLLER ("Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Tiere" etc., Leipzig 1826) "die Geschichte der physiologischen Lehren über die Sinnestätigkeit" (Vorwort, Seite VI), sowie auch "aller anderen Gebiete der Naturforschung" (ebd. Seite XVII) in "drei Erkenntnisstufen":
- Die dogmatische, ohne empirische Gewähr, in ihrer höchsten Steigerung zum Mythos führend.
- Die empirische, ohne philosophische Grundlage, zur vorläufigen Hypothese führend.
- Die theoretische Erkenntnisstufe, philosophisch und empirisch zugleich, in wechselseitiger Durchdringung, die wahre Theorie aus sich entwickelnd." (ebd. Seite XVIII)
Und ebensowenig, wie man KANT, ohne ungerecht zu sein, der Selbstüberschätzung beschuldigen kann, wenn er den Beginn des Kritizismus als einer jedenfalls neuen Epoche von da an datiert, wo durch ihn zuerst die Frage aufgeworfen und beantwortet wurde: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" - ganz ebenso motiviert, wenn schon nicht unangefochten, bleibt wohl für alle Zeit die Anerkenntnis, daß JOHANNES MÜLLERs Lehre von den spezifischen Sinnesenergien in der Tat als die Erhebung auf eine neue Erkenntnisstufe zu beurteilen ist. JOHANNES MÜLLER selbst rechnet zwar zu den Männern, welchen der Beginn des dritten Zeitraums, des "physiologischen oder theoretischen", zu danken ist, auch die Arbeiten von GOETHE, HIMLY, TROXLER, STEINBUCH, PURKINJE (ebd. Seite XV). Aber unstreitig ist er es, der, ein Erster in jedem Sinn, der wahrhaft aufklärenden Idee das selbstbewußte Dasein gegeben hat, und diese wissenschaftliche Tat ersten Ranges soll durch ein Aber, das gegen unkritische Interpreten gerichtet ist, ebensowenig verkleinert werden, wie es aus dem Animus Gesinnung - wp] herabsetzender Beurteilung geschieht, wenn man dem Hinweis auf die unvergängliche Leistung KANTs hinzufügt: aber sie will, kann und soll unser empirisches Wissen niemals bereichern. Derartige Zusätze sind leider in unseren Tagen ganz besonders zeitgemäß; denn die Gelehrten sind nicht vereinzelt, welche vor distinguiertem Publikum sowie nicht minder vor allem Volk das Geschäft des Verwischens von Grenzen zwischen heterogenen Gebieten betreiben. Und so ist es nicht JOHANNES MÜLLER, durch welchen das folgende Aber motiviert wird, sondern es sind die unfreiwilligen Verdüsterer seines Lichts, denen gesagt werden muß: die durch JOHANNES MÜLLER uns erreichbar gewordene Erkenntnisstufe ist eine physiologische und im Sinne des Lehrers eine solche, die empirisch und philosophisch zugleich ist, aber philosophisch in einem engeren Sinn, d. h. transzendental-philosophisch ist sie nicht; das soll sie auch nach dem Willen des Entdeckers ebenso wenig sein, wie nach KANTs Willen der durch ihn ermöglichste Fortschritt als ein empirisch-philosophischer gelten soll. Ich komme später JOHANNES MÜLLERs Auffassung vom Verhältnis der Physiologie zur Philosophie zurück. Hier handelt es sich nur um die Abgrenzung seiner speziellen Lehre gegen KANT, und zwar zuvörderst desjenigen Teils der Lehre, welcher im Allgemeinen von physiologischen Nativisten und Empiristen gleichmäßig sanktioniert wird.
Dieser Teil ist formuliert, wenn man sagt: der Sehnerv ist nur einer einzigen Art von unmittelbar bewußt werdender Gegenwirkung fähig auf jede mögliche Art von Erregung. Nicht nur diejenigen Ätherwellen, welche das Licht im objektiven Sinne sind, bewirken die Lichtempfindung durch ihre Berührung mit der Retina, sondern auch mechanischer Druck, elektrischer Reiz, pathologischer oder traumatischer Eingriff, respektive durch Entzündung oder durch Zerrung und Schnitt, kurz alle möglichen Formen von Erregung werden immer nur in einer Qualität der Empfindung beantwortet: selbst die Durchschneidung des Opticus [Sehnerv - wp] erzeugt nicht Schmerz, sondern das Phänomen des Blitzes.
Wer die Auffindung dieser höchst fruchtbaren Wahrheit für den bloßen Erfolg von Erfahrungen hält - und es fehlt nicht an dieser Gattung von "forschenden" Kritikern, - der irrt ganz gewaltig; ihm fehlt es gerade an dem Requisit, wodurch an erster Stelle die Entdeckung möglich: an philosophischem Sinn, an der Befähigung für Ideen, - an erster, wichtigster Stelle und nicht an zweiter; denn die Verwertung der Erfahrungen ist wichtiger und entscheidender für die innere Bereicherung als die Größe des Vorrats an Erfahrungen. Die genannte Theorie war in ihrer Entstehung in weitaus überwiegendem Maße abhängig vom Genie JOHANNES MÜLLERs, nicht ebenso von den Erfahrungen, welche Tausenden vor ihm in weit größerer Anzahl mochten bekannt gewesen sein. Doch das betrifft eben die Entstehung der Lehre. Die Anerkennung ihrer bloßen Richtigkeit hat ganz anderen, ganz flach gelegenen Boden: wir erklären den Inhalt der Theorie nicht deshalb für wahr, weil der erhabene Genius eines PLATO eine Art von Neuschöpfung in fruchtbarer und ewig frischer Nachwirkung damit vollzogen hat, sondern sehr einfach und nüchtern deshalb, weil alle bisherigen Beobachtungen lediglich Bestätigungen dafür geliefert haben, und zwar nicht nur für den speziell das Sehen betreffenden Teil der Lehre, sondern für die ganze, auch die übrigen Empfindungsnerven umfassende Theorie von den spezifischen Energien. Denn auch für die spezifische Energie des Gehörnerven ist es kein zwingender Widerspruch, was wir neuerdings von den Brüdern NUSSBAUMER aus Wien vernehmen (3). Nach den Aussagen derselben liegt bei beiden gleichmäßig der merkwürdige Fall vor, daß objektive Klänge außer der subjektiven Erregung des Gehörs gleichzeitig auch Farbempfindungen erzeugen, und zwar in der Art, daß jedem Partialton eines Klangs eine besondere Farbe entspricht, und daß außer Weiß, Schwarz und Rot alle Farben erregt werden können. Dieser Fall ist noch wegen einer anderen, später zu erwähnenden Angabe, welche damit in Zusammenhang steht, sehr interessant; aber um aufgrund dieser wohl singulären oder genauen dualen Erfahrung sogleich Zweifel an der Wahrheit der MÜLLER'schen Theorie Raum zu geben, dazu gehört doch mindestens ein sanguinisches Temperament von ungewöhnlicher Lebhaftigkeit. Denn es ist ganz gegen alle, nicht nur bewährte, sonder durch das Kausalitätsgesetz unserem Geist sogar unvermeidlich auferlegte Naturbetrachtung, wenn wir es unterlassen, jedes logische und mit der Empirie verträgliche Mittel anzuwenden, wodurch wir befähigt werden, den abnormen einzelnen Fall unter bekannte Gesetz zu subsumieren. Dieses Mittel wird uns aber in diesem Fall von der anatomischen Erfahrung ganz nahe gelegt. Es ist durchaus nicht selten, daß Verbindungen zwischen Organen vorkommen, welche normal unverbunden sind, und wenn auch Kommissuren [Nervenfaserverbindung im Gehirn von einer Hemisphäre zur anderen - wp] zwischen Opticus und Acusticus ganz besonders ungewöhnlich und schwer vorstellbar sein mögen, so hat doch die hierfür geforderte Annahme sehr viele Analogien für sich, während eine Abweichung vom Gesetz der spezifischen Energien ohne Analogie wäre, - vorausgesetzt freilich, daß man nicht die Erklärung von HARTMANNs unterschreiben will:
"die Grunderscheinungen des Mesmerismus oder tierischen Magnetismus sind nachgerade als von der Wissenschaft anerkannt zu betrachten." (Philosophie des Unbewußten, zweite Auflage, 1870, Seite 140; fünfte Auflage 1873, Seite 151)
und vorausgesetzt ferner, daß man zu diesen Grunderscheinungen keinesfalls das Lesen mit Hilfe der Magengegend und dgl. rechnet. Herr NUSSBAUMER würde daher wohl getan haben, an dem festzuhalten, was er in folgendem Satz ausspricht:
"Aus dem Gesagten ist also ersichtlich, daß die Empfindung eines Tones, eines Klangs, kurz eine jede Gehörempfindung bei mir von einer Lichtempfindung - ich will hier nur sagen - begleitet ist."
Nicht nur hier, sondern überall war diese vorsichtige Ausdrucksweise die allein richtige; aber kurz vorher heißt es vom besprochenen Sachverhalt, daß er "den bisherigen Erfahrungen von der Spezifizität der Sinnesorgane geradezu widerspricht"; nun, die ist eben irrtümlich, und ebenso bedarf die folgende Behauptung von Herrn NUSSBAUMER der Einschränkung, wenn sie nicht zu viel sagen soll. Die Stelle lautet:
"Andererseits steht auch fest, daß es für jedes Sinnesorgan nur ein demselben adäquates Reizmittel, d. h. nur ein Reizmittel gebe, welches durch diese Organe auf die mit demselben in Verbindung stehenden Nervenfasern Empfindung erregend einzuwirken fähig ist."
Die für den Begriff "adäquat" hier gegebene Erklärung ist nicht durchweg zutreffend. Erstens würden danach Elektrizität und mechanischer Insult sowie eine Entzündung auch zu den adäquaten Reizmitteln des Opticus gehören, und zweitens stehen die Ätherschwingungen des objektiven Lichts als "adäquates Reizmittel" des Auges sogar in Bezug auf den Sehnerven selbst den allgemeinen Nervenreizmitteln an Wirkungsfähigkeit nach; denn HELMHOLTZ zufolge (Optik, Seite 209) läßt es sich nachweisen,
"daß die Nervenfasern des Sehnerven innerhalb des Stammes dieses Nerven und innerhalb der Netzhaut von ihnen" - den Ätherschwingungen des objektiven Lichts - "ebensowenig wie die motorischen und sensiblen Nervenfäden der übrigen Nerven erregt werden."
Der Fall NUSSBAUMER erinnert beiläufig an eine von GOETHE erwähnte, in einer Abhandlung von JOHANN ANDREAS SCHMIDT vorkommende Notiz folgenden Inhalts: "Sturm führt ein Exempel an, daß ein Blinder die verschiedenen Farben riechen kann." (GOETHE, Werke in 40 Bänden, 1840, Bd. 39: Geschichte der Farbenlehren, Seite 355). Diese Erfahrung wäre der durch die Brüder NUSSBAUMER konstatierten analog, wenn man die Stelle so verstehen dürfte, daß der Blinde subjektive Farbempfindungen durch den Geruch gehabt habe, aber es sind wohl nicht die Spektralfarben gemeint, welche die Empfindungsdifferenzen erzeugt haben, sondern Pigmentfarben, und ich verstehe die Nachricht so, daß der Blinde dadurch besonders gut entwickelte Geruchsnerven befähigt war, chemische Unterschiede zwischen den verschiedenen Pigmentkörpern zu perzipieren; hieraus würde nun nicht einmal die Empfänglichkeit seiner Geruchsschleimheit für Farbunterschiede folgen, und selbst wenn eine solche Empfänglichkeikt dennoch sollte stattgefunden haben, so würde sie erst dann gegen die spezifische Energie jener individuellen Olfaktorii Etwas aussagen, wenn ausdrücklich konstatiert wäre, es seien dem Blinden mittels seiner Nase nicht nur Geruchsempfindungen durch verschiedene Farben erregt worden, sondern ebenso direkt wirkliche Lichtempfindungen. Bei einem Fehler dieser Angaben sind wir berechtigt anzunehmen, daß auch diese bevorzugte Nase die "Farben", nämlich ihre Träger, nur gerochen, nicht aber gesehen hat. Demnach wird man hoffentlich überzeugt bleiben, daß der Fall NUSSBAUMER erstens ohne verbürgte Analogie ist, da antithetische Merkwürdigkeiten dieser Art in neuerer Zeit nicht leicht verborgen geblieben wären, und daß er zweitens gegen die Lehre MÜLLERs direkt noch Nichts beweist. Erst dann würde ein Zweifel an dieser Lehre aufgrund der Erfahrung NUSSBAUMERs anfangen, motiviert zu sein, wenn dermaleinst ein auf sorgfältigste Untersuchung gestützter Nachweis vorliegen würde, daß die Annahme einer abnormen Kommissur schlechterdings abzuweisen ist. Zu der Möglichkeit eines solchen Nachweises würde freilich auch die Erfüllung der Vorbedingung gehören, daß die zentrale Endigung des Hörnerven ebenso vollständig bekannt wäre, wie sie zur Zeit noch unbekannt ist. Bis dahin bleibt die Theorie von JOHANNES MÜLLER eine - auch von WUNDT - nicht widerlegte Wahrheit.
Denn in der Tat, auch der neu erhobene Angriff ändert an der Vollgültigkeit der Theorie MÜLLERs Nichts. In der Hauptsache ist gegen den von WUNDT entwickelten Gedanken besonders dies zu sagen, daß der Autor ihn für eine "Widerlegung der Lehre von der spezifischen Energie der Sinnesnerven" hält (siehe "Grundzüge der physiologischen Psychologie", Überschrift der Seiten 347-353), und daß er der Ansicht ist, "die Hypothese von den spezifischen Sinnesenergien" könne "nicht mehr gehalten werden" (ebd. Vorwort, Seite V), während diese Lehre vielmehr nach wie vor bestehen bleibt und durch die Auffassung WUNDTs nur eine ganz einleichtende Erläuterung erhält, von welcher das Wesentliche, wie es eine Erläuterung zukommt, schon im Begriff des zu Erläuternden enthalten ist. WUNDT selbst weist darauf hin, daß er die verbesserte Form der MÜLLER'schen Theorie bereits vorgefunden hat. Er sagt (Seite 346):
"Bei den vier Spezialsinnen scheint aber die spezifische Reizbarkeit nicht sowohl auf einer spezifischen Eigentümlichkeit der Nerven zu beruhen als darauf, daß jedem der letzteren besondere Endgebilde beigegeben sind, welche die Übertragung bestimmter Formen der Reizbeweigung auf die Nervenenden vermitteln. So hat man dann auch die Lehre in ihrer ursprünglichen Form aufgegeben und, indem man sie durch den Satz von der junktionale Indifferenz [Verbindungsgleichgültigkeit - wp] der Nerven verbesserte, die spezifische Form der Sinnesleistung ausschließlich auf die Endgebilde in den Sinnesorganen und im Gehirn zurückgeführt."
WUNDT macht es nun sehr wahrscheinlich (Seite 349):
"daß die Schallreizung nur eine besondere Form der intermittierenden Nervenreizung ist, und daß speziell die Tonempfindung auf einem regelmäßig periodischen Verlauf der Reizungsvorgänge in den Akustikfasern selber beruth."
Seite 350: "Was die übrigen Sinnesnerven betrifft, so scheint hier die größte Wahrscheinlichkeit dafür zu obwalten, daß der Erregungsvorgang in ihnen kein periodischer und nicht einmal ein intermittierender [periodisch auftretender - wp] ist. Hierfür spricht namentlich die bei denselben vorhandene Nachdauer der Empfindung, welche auf bleibende und allmählich sich ausgleichende Veränderungen durch die Reizung hindeutet." . . .
Seite 350: "Es lassen sich nämlich zweierlei Arten denken, nach denen sich der Vorgang der Reizung im Nerven ändert. Entweder können die Molekularvorgänge in ihrer Beschaffenheit ungeändert bleiben, während die periodische Aufeinanderfolge ihrer Zu- und Abnahme wechselt: dies ist der Fall, den wir bei der Schallreizung voraussetzen. Oder es können die Unterschiede des Verlaufs verschwinden, während in der Natur der Molekularvorgänge je nach der Art der Reizung Veränderungen eintreten: dies ist der Fall, den wir bei den chemischen Sinnen vermuten. Nichts steht dann aber im Weg anzunehmen, daß in beiden Fällen der Molekularvorgang in der ihm von Anfang an zukommenden Beschaffenheit durch die ganze Nervenfaser bis zum Gehirn sich fortpflanzt, so daß die schließlich in den zentralen Zellen ausgelösten Prozesse eben nur deshalb verschieden sind und als verschiedene Empfindungen zu Bewußtsein kommen, weil die Molekularvorgänge, die von den Nerven aus in ihnen anlangen, entweder in ihrem periodischen Verlauf, wie bei den Klangempfindungen, oder in ihrer sonstigen Natur, wie bei den Erregungsweisen der chemischen Sinne, sich unterscheiden."
Diese Darstellung lehrt demnach, wie wir uns die äußeren Bedingungen für die spezifischen Unterschied der Empfindungsqualitäten in einer genaueren Detaillierung vorstellen können als bisher, und sicherlich ist diese Belehrung sehr dankenswert und eine wirkliche Bereicherung unserer hypothetischen Einsicht in den äußeren Mechanismus des ganzen Vorgangs. Aber nur eben im Detail des letzten liegt das Neue, nicht etwa in einer vorher unbekannt gewesenen generellen Beurteilung. Denn daß die Empfindungsunterschiede Funktionen sind von der Tätigkeit verschieden geformter Apparate, und daß man sich unter dieser Tätigkeit nicht etwas Anderes vorzustellen habe als Molekularbewegungen, das mußte wohl für alle diejenigen die zunächst liegende Annahme sein, welche unter dem Eindruck der bereits eingebürgerten Lehre standen, daß die reformierte Anschauung vom Wesen der verschiedenen Naturkräfte gerade in der Zurückführung aller qualitativ verschiedenen Erscheinungen auf Bewegungsunterschiede besteht. (Die von MACH gegen diese Vorstellung neuerdings erhobene Opposition, welche allerdings eine Stelle aus JULIUS ROBERT MAYERs erster Abhandlung von 1842 für sich hat [siehe Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Prag 1872], diese Konterrevolution ist zu neuen Datums, um an der eben ausgesprochenen Behauptung schon gegenwärtig Etwas ändern zu können, und überdies beruth die Skepsis von MACH nach meinem Ermessen ganz auf der Vermengung empirischer Vorstellungen mit Konsequenzen des empirischen Idealismus.)
Die von WUNDT aufgestellte Theorie betrifft daher nur den Modus der bereits vor ihm als faktisch vorausgesetzten äußeren Bewegungsvorgänge; in diesen konnte seit der Entdeckung des Äquivalenzgesetzes überhaupt nicht die spezifische Ursache für die Existenz der verschiedenen Sinnesenergien gesucht werden, sondern als spezifisch, als wirklich qualitativ verschieden konnte man nur die subjektiven Erfolge, nämlich die Empfindungen der verschiedenen Sinne beurteilen, und über diese Qualitätsunterschiede wird man durch WUNDTs Theorie in noch geringerer Weise aufgeklärt, als es auch seiner eigenen Auffassung nach nur der Fall ist. Die Worte des Autors lauten (Seite 553):
"Doch ist es selbstverständlich, daß die allgemeine Frage über den Zusammenhang der äußeren Reizform mit der Empfindung durch diese Änderung des theoretischen Standpunkts nicht berührt wird. Die Empfindung ist zwar, dies läßt sich nicht verkennen, dem äußeren Reiz gewissermaßen näher gerückt, sie steht nicht mehr als eine unbegriffene Energie bestimmter Nervengebiete dem Reiz völlig unabhängig gegenüber, sondern sie richtet sich wesentlich nach der letzteren, indem die Qualität der Empfindung ursprünglich nur aus der Einwirkung einer bestimmten Reizform auf die Nervensubstanz hervorgeht. Aber trotzdem wird die Empfindung nicht mit dem äußeren Reiz identisch, sondern sie bleibt die reine subjektive Form, in der unser Bewußtsein auf bestimmte Nervenprozesse reagiert. Der Wesentliche Unterschied von der Hypothese der spezifischen Energie besteht darin, daß diese die Empfindung lediglich von den Teilen bestimmt sein ließ, in welchen der Reizungsvorgang ablief, während wir in der Form dieses Vorgangs den nächsten Grund für die Form der Empfindung erkennen. Es braucht aber kaum darauf hingewiesen zu werden, daß diese Anschauung auch die psychologisch begreiflichere ist. Wir können uns sehr wohl vorstellen, daß unser Bewußtsein qualitativ bestimmt ist durch die Beschaffenheit der Prozesse, welche in den Organen, die seine Träger sind, ablaufen; es wird uns aber schwer zu denken, wie dieses qualitative Sein nur mit den örtlichen Verschiedenheiten jener Prozesse veränderbar sein soll. Man müßte mindestens neben den örtlichen noch andere innere Verschiedenheiten annehmen. Dann ist man aber von selbst bei unserer Anschauung angelangt, denn daß nebenbei sich die einzelnen Provinzen des Nervensystems in die verschiedenen Funktionen teilen, leugnen wir keineswegs. Nur haben diese örtlichen Verschiedenheiten für unser Bewußtsein, das sich den Raum und alle räumlichen Beziehungen erst konstruieren muß, schwerlich einen ursprünglichen Wert und am allerwenigsten einen solchen, der sich in rein qualitativen Bestimmungen ausdrückt."
Gegenüber diesen Bemerkungen muß ich nun eben hervorheben, daß es durchaus unmotiviert ist, zu meinen, für unser Verständnis sei die Empfindung durch die Änderung des theoretischen Standpunktes "dem äußeren Reiz gewissermaßen näher gerückt". Viel eher gerechtfertigt wäre es, zu sagen: die völlige Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen den beiden Gebieten des Subjektiven und des Objektiven tritt durch die detailliertere Anschauung der äußeren Vorgänge mit erneuter Klarheit ans Licht. Denn wir haben jetzt ein Mittel, uns die sämtlichen Bewegungsvorgänge in den Nerven mit bestimmten Merkmalen zu versinnlichen; unserem allgemeinen Begriff, "Orts- und Lagenveränderung der Moleküle", sind nur gewisse korrespondierende Vorstellungen gegeben, wir können uns nun den kontinuierlichen Übergang eines molekularen Vorgangs in einen anderen durch ein physisches Geschehen versinnlichen. Trotzdem sind wir nach wie vor ganz unfähig, eine analoge Vermittlung für zwei qualitative Empfindungsunterschiede, wie z. B. zwischen hell und warm herzustellen, ganz ebenso unfähig, wie wir hierzu waren, nachdem wir gelernt hatten, daß äußeres Licht und äußere Wärme nur als Modifikationen desselben Vorgangs, nämlich einer mechanischen Bewegung, aufzufassen sind. Die bloß quantitativen Differenzen zwischen vielen Phänomenursachen in der umgebenden Natur lernen wir mit Hilfe von WUNDTs Theorie auch auf die physischen Vorgänge in den Nerven selbst übertragen, und gleichwohl müssen wir eingestehen, daß die differenten psychischen Erscheinungen ihren diskontinuierlichen Charakter mit gleicher Entschiedenheit behaupten wie vorher. Die Unbegreiflichkeit der Empfindungsphänomene ist also eher gesteigert als vermindert; es hat die Aussichtslosigkeit zugenommen, eine Übereinstimmung oder ein ableitbares Verhältnis aufzufinden zwischen spezifischen Unterschieden der Empfindung und nicht spezifischen Unterschieden von Bewegungsformen. Wenn WUNDT sagt:
"Es braucht aber kaum darauf hingewiesen zu werden, daß diese Anschauung auch die psychologisch begreiflichere ist. Wir können uns sehr wohl vorstellen, daß unser Bewußtsein qualitativ bestimmt ist durch die Beschaffenheit der Prozesse, welche in den Organen, die seine Träger sind, ablaufen",
so wäre dies nur dann richtig, wenn man an gleichfalls qualitativ verschiedene Prozesse in den Organen denken dürfte. Da dies nicht der Fall ist, so ist die Anschauung psychologisch nicht begreiflicher geworden, sondern im Gegenteil, ihre Unbegreiflichkeit ist neu befestigt. Auch ist es nicht richtig, daß man "nur" die örtlichen Verschiedenheiten für Ursachen der qualitativ verschiedenen Empfindungen gehalten hat. Die causa proxima [wirksamste Ursache - wp] des Empfindens als eines vitalen Prozesses ist vielmehr nur denkbar als eine Tätigkeit; die Form dieser Tätigkeit wird und wurde erst ihrerseits als abhängig gedacht von der Form des Teils oder seiner "örtlichen Verschiedenheit", und man hat allerdings auch vor WUNDT als ganz selbstverständlich "neben den örtlichen noch andere innere Verschiedenheiten" angenommen. Hierfür gibt merkwürdigerweise WUNDT selbst an einer anderen Stelle seines Werkes einen sehr kräftigen Beleg, und zwar in der Anmerkung auf Seite 332, wo er anführt, daß THOMAS YOUNG bereits 1807 bei seiner Hypothese über die Gesichtsempfindungen
"von der Vorstellung ausging, das Licht bringe in der Netzhaut eine vibrierende Bewegung hervo, deren Geschwindigkeit von der Beschaffenheit der vibrierenden Teilchen abhängt."
Wenn sich auch WUNDT gegen das Detail dieser Hypothese erklärt, so beweist doch ihre bloße Existenz seit dem Jahr 1807, daß man eben schon seit langer Zeit das kausal Wesentliche der Leistung sensibler Nerven in der Tätigkeit der perzipierenden Elemente gesucht hat und nicht bloß in ihren "örtlichen Verschiedenheiten". Und diese Anschauung geriet nicht etwa nach YOUNG in Vergessenheit, sondern sie ist im Gegenteil die geläufige geblieben. Zum Beispiel sagt AUBERT (Physiologie der Netzhaut, Breslau 1865, Seite 5:
"Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bewegungen des Lichtäthers, insofern sie eine Empfindung erregen, nur bis zu der Stäbchenschicht der Netzhaut dringen, von da an aber eine andere, den Nerven eigentümliche, uns nicht weiter bekannte Art der Bewegung oder Leitung eintritt."
Aber obgleich es hiernach für AUBERT ganz selbstverständlich ist, die Lichtempfindung von einer besonderen Bewegungsform abhängig zu denken, nicht bloß von einer besonderen "örtlichen" Verschiedenheit", so ist doch für ihn der Zusammenhang zwischen Bewegung und Empfindung nicht im Mindesten damit aufgeklärt; denn (§ 54, Seite 106):
"Die Farbempfindung ist ebenso wie die Lichtempfindung ein Vorgang sui generis [von eigener Art - wp.] Worauf derselbe beruth, wissen wir nicht; denn daß die von der Physik angenommenen Lichtwellen verschiedene Form und Länge haben, demnach also wohl geeignet sein können, verschiedene Einwirkungen auf unser Gesichtsorgan hervorzubringen, ist nur die eine Seite des ganzen Prozesses; die andere Seite, daß unser Empfindungsorgan auf diese verschiedenen Einwirkungen in einer besonderen Weise reagiert, bleibt unerklärlich."
Die gleichfalls hergehörigen Ermittlungen von DEWAR und McKENDRICK, durch welche es wahrscheinlich gemacht wird, daß
"die spezifische Wirkung des Lichts auf das Auge darin besteht, die elektromotorische Kraft der Netzhaut und des Sehnerven zu verändern" -
werden im fünften Abschnitt dieser Schrift noch näher erwähnt werden. Diese Arbeiten geben der hypothetischen Vorstellung von WUNDT und Anderen über die in den Nerven stattfindende Molekularbewegung eine experimentelle Bestätigung, lassen aber natürlich gleichfalls die Theorie von den spezifischen Energien ganz unberührt. Dasselbe würde auch für die Versuchsresultate gelten, welche PHILIPEAUX und VULPIAN früher veröffentlicht haben, und auf die sich WUNDT besonders beruft (Grundzüge der physiologischen Psychologie, Seite 227). Doch hier hat sich die Sache seitdem noch ungünstiger für WUNDT gestellt; denn selbst die Möglichkeit für seine Deutung ist in Bezug auf einen der Hauptversuche von VULPIAN selbst beseitigt worden. WUNDT findet (ebd. Seite 226),
"daß die Experimentalphysiologie der Lehre von der spezifischen Energie selbst in jener einfacheren Form, in der ihr innere Unwahrscheinlichkeit nicht vorgeworfen werden kann, den Boden entzogen hat".
Die einfachere Form ist nämlich die, (ebd)
"daß jeder Nerv entweder motorisch oder sensibel ist und im letzteren Fall in einer der fünf Sinnesqualitäen (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl) auf Reize reagiert."
Daß nun auch zwischen motorischen und sensiblen Nerven
"die Verschiedenheit ihrer Leistung lediglich in den Stätten ihrer peripherischen und zentralen Endigung, nicht aber in spezifischen Eigenschaften der Nerven selbst ihren Grund hat", -
das wurde bestätigt (ebd. Seite 227)
"durch Versuche, in denen man die Durchschnittsenden verschiedenartiger Nerven miteinander verheilte, und wo es nun gelang durch Reizung eines sensiblen Nerven eine direkte Muskelzuckung, durch Reizung eines motorischen eine Empfindung hervorzubringen."
Dies sind nun eben die Versuche von PHILIPEAUX und VULPIAN, und für einen der wichtigsten dieser Versuche hat VULPIAN vor Kurzem festgestellt, daß die Deutung des Ergebnisses auf eine Täuschung beruhte. Er und PHILIPEAUX hatten das zentrale Ende des Lingualis und das peripherische des Hypoglossus zusammengeheilt und hierauf Bewegungen der Zunge durch Reizung des Lingualis erzielt. Durch VULPIANs neuere Untersuchung hat sich aber herausgestellt, daß dieser Erfolg dem Umstand muß zugeschrieben werden, daß Fasern der Chorda tympani, die sich mit dem Lingualis vereinigen, undurchschnitten geblieben waren. Achte man beim Versuch darauf, daß diese motorischen Chorda-Fasern vollständig mitdurchtrennt werden, so erhält man durch Reizung des Lingualis keine Zungenbewegung (VULPIAN: Not sur de nouvelles expériences rélatives á réunion bout du nerf lingual et du nerf hypoglosse. Archives de Physiologie etc. Paris 1873, Seite 597-602. Compt. rend. 1874. No. 4. Seite 250-254. - Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften. No. 19, d. 18. April 1874)
Aus dem Irrtum WUNDTs über die bisherige Auffassung von den Bedingungen für das Zustandekommen der spezifischen Energien erklärt sich auch eine andere Unrichtigkeit in seinen Behauptungen. Nachdem er darauf aufmerksam gemacht hat, daß gewisse Erfahrungen sich nach seiner Hypothese "unmittelbar aus der Anpassungsfähigkeit der Nervensubstanz" erklären, sagt er, die bisherige Lehre von der spezifischen Energie (Seite 352)
"muß annehmen, jedes Sinneselement bewahre seine eigentümliche Funktion unverändert durch alle Zeiten der Entwicklung. Denn sollte sich etwa die eine Form der Funktion aus der anderen hervorgebildet haben, so wäre sie eben keine spezifische mehr. Sollten also die Fähigkeiten des Hörens, Sehens, überhaupt die höheren Sinnesverrichtungen irgendeinmal im Tierreich entstanden sein, so wäre dies nur auf dem Weg einer vollständigen Neuschöpfung der betreffenden Nervenelemente möglich, nie aber auf dem der Entwicklung aus niedereren Sinnesformen. Hierdurch setzt sich die Lehre von der spezifischen Energie in direkten Widerspruch mit der Annahme einer Entwicklung der organischen Wesen, während die Hypothese der Anpassung der Reizvorgänge an den Reiz nur als die besondere Form erscheint, welche die Entwicklungstheorie in Bezug auf die Entwicklung der Sinne notwendig gewinnen muß.
"Daß die Annahme "einer vollständigen Neuschöpfung der betreffenden Nervenelemente" bereits vor WUNDT vermieden ist, lehrt folgende Stelle aus DARWINs Werk "On the origin of Species" (London, 1860). Daselbst sagt DARWIN (Seite 187):
"Ich möchte jedoch anmerken, daß mich mehrere Tatsachen vermuten lassen, daß jeder sensible Nerv für Licht empfindlich werden kann und ebenso für jene gröberen Luftschwingungen, die Geräusche erzeugen."
Also auch ohne alle detaillierte Anschauung von den Molekularvorgängen war es möglich, an der Entwicklungskontinuität in der vorliegenden Frage festzuhalten. Diese Kontinuität aber bezieht sich selbstverständlich auf das Schicksal von Nervengebilden in einer Kette von Organismen, welche sich über geologische Zeiträume hin erstreckt, nicht auf einen individuellen Nerven in einem fertigen Organismus, und für das Einzelwesen wird damit Nichts ausgesagt, was gegen die alte MÜLLER'sche Lehre sprechen würde. Diese bleibt, was sie sein will: eine Wahrheit, welche nur für das individuelle Leben Geltung hat. Trotz dieser beschränkten Sphäre aber ist sie gleichzeitig eine Wahrheit, deren Bedeutung nicht lediglich reduziert ist auf das Gebiet der niederen Empirie, das heißt: auf das Gebiet unverbundener Einzelerscheinungen, sondern sie ist eine Wahrheit von empirisch-philosophischem Wert; denn sie befähigt zu Gedanken über das Wesen des Lebens, der Organisation, der lebendigen Natur. Diese Wahrheit ist also nicht nur empirisch: sie ist verwertbar für etwas viel Höheres, als es die sinnliche Welt ist, nämlich für unsere Auffassung von den Prinzipien, welche im Wahrnehmbaren ausgewirkt sind; aber dieselbe Wahrheit ist empirisch: ein Teil ihres Ursprungs, nicht der edlere, aber ein unentbehrlicher Teil und vollends ihre Anerkennung ganz und gar ist gebunden an die sinnlich wahrnehmbare Welt; es ist folglich nicht eine transzendentale Wahrheit, sie hat nicht den Charakter apodiktischer Notwendigkeit und Allgemeinheit. Es ist eine Wahrheit, welche an Sicherheit höchstens dem Satz gleichkommt, daß alle Menschen sterben müssen.
An die empirische Natur dieses Satzes knüpft HELMHOLTZ sehr instruktive Bemerkungen, solche, die den fundamentalen Unterschied der hier zur Geltung kommenden Auffassungen gut beleuchten, und ich teile deshalb die Stelle in extenso mit. Sie laute (Optik, Seite 451):
"Es gibt vielleicht kein Ergebnis bloßer Beobachtung, welches sich so ausschließlich richtig erwiesen hat, als der vorher als Beispiel gebrauchte allgemeine Satz, daß alle Menschen, ehe sie ein gewisses Alter überschritten haben, sterben. Es ist unter vielen Millionen von Menschen kein Ausnahmefall vorgekommen. Wäre einer vorgekommen, so würden wir annehmen dürfen, daß wir Nachricht davon hätten. Unter den Verstorbenen befinden sich Individuen, die in den verschiedensten Klimaten, von den verschiedensten Nahrungsmitteln gelebt und die verschiedensten Beschäftigungen gehabt haben. Dessen ungeachtet kann man nicht sagen, daß die Behauptung, alle Menschen müssen sterben, denselben Grad von Sicherheit hat, wie irgendein Satz aus der Physik, dessen Konsequenzen mit der Erfahrung in vielfachen Modifikationen genau experimentell verglichen sind. Für das Sterben der Menschen kenn ich den Kausalnexus nicht. Ich weiß nicht die Ursachen anzugeben, welche die Altersschwäche herbeiführen, wenn keine gröbere äußere Schädlichkeit dem Leben früher ein Ende gemacht hat. Ich habe mich nicht durch Experimente überzeugen können, daß, wenn ich jene Ursachen wirken lasse, Altersschwäche unausbleiblich eintritt, und daß sie nicht eintritt, wenn ich jene Ursachen ihres Eintritts beseitige. Ich kann Jemandem, der gegen mich behauptet, daß unter Anwendung gewisser Mittel das Leben des Menschen unbestimmt lange erhalten bleiben würde, zwar den äußersten Grad der Ungläubigkeit entgegensetzen, aber keinen absoluten Widerspruch, wenn ich nicht weiß, daß wirkliche Individuen unter den von ihm bezeichneten Umständen gelebt haben und schließlich doch gestorben sind. Wenn ich dagegen behaupte, daß alles flüssige Quecksilber, wenn es ungehindert ist, durch Wärme sich ausdehnt, so weiß ich, daß eine höhere Temperatur und Ausdehnung des Quecksilbers, so oft ich sie zusammen beobachtet habe, nicht bloß auf der Wirkung einer unbekannten gemeinsamen dritten Ursache beruth haben, wie ich im Falle bloßer Beobachtungen glauben könnte, sondern ich weiß durch den Versuch, daß die Wärme für sich ausreicht, auch die Ausdehnung hervorzubringen. Ich habe Quecksilber öfters erwärmt, zu verschiedenen Zeiten. Ich habe mir dabei nach eigenem Willen die Augenblicke gewählt, wo ich den Versuch beginnen wollte. Wenn also dabei das Quecksilber sich ausdehnte, so mußte die Ausdehnung bedingt sein durch diejenigen Umstände, welche ich durch meinen Versuch herbeigeführt hatte. Ich weiß dadurch, daß die Erwärmung ansich ausreichender Grund für die Ausdehnung war, und daß keine anderen verborgenen Einflüsse weiter nötig waren, um sie hervorzubringen. Durch verhältnismäßig wenige, gut angestellte Versuche bin ich imstande, die ursächlichen Bedingungen eines Ereignisses mit größerer Sicherheit festzustellen, als durch millionenfache Beobachtung, bei welcher ich die Bedingungen nicht habe beliebig verändern können. Wenn ich z. B. die Ausdehnung des Quecksilbers nur gesehen hätte an einem mir unzugänglichen Thermometer in einem Ort, dessen Luft bei jeder Temperatur mit Feuchtigkeit gesättigt blieb, so hätte ich fragen müssen, dehnt sich das Quecksilber durch die Wärme aus, oder durch die Feuchtigkeit. Erst der Versuch, ob bei gleichbleibender Wärme eine Veränderung der Feuchtigkeit, ob bei gleichbleibender Feuchtigkeit eine Veränderung der Wärme das Volumen des Quecksilbers verändert, konnte Aufschluß geben.
Dieselbe große Bedeutung nun, welche das Experiment für die Sicherheit unserer wissenschaftlichen Überzeugungen hat, hat es auch für die unbewußten Induktionen unserer sinnlichen Wahrnehmungen. Erst indem wir unsere Sinnesorgane nach eigenem Willen in verschiedene Beziehungen zu den Objekten bringen, lernen wir sicher urteilen über die Ursachen unserer Sinnesempfindungen, und ein solches Experimentieren geschieht von frühester Jugend an ohne Unterbrechung das ganze Leben hindurch."
Gegen diese Darstellung ist mir folgender Einwand unabweislich. Wenn ich mich zwei Vorstellungen gegenüber prüfe, welche sich auf die von HELMHOLTZ gewählten Beispiele beziehen, so kann ich es nicht bestätigen, daß jedem durch Experimente festgestellten Urteil ein höherer Grad an Sicherheit zukommt als jedem nicht experimentellen Erfahrungssatz. Die Nachricht von der Existenz eines auch nur dreihundert Jahre alten lebenden Menschen würde ich mit einem weit höheren Gard an Ungläubigkeit aufnehmen als die Nachricht von einem Quantum Quecksilber, welches sich nicht durch Wärme ausdehnen läßt. Und zwar würde meine größere Skepsis für den ersten Fall, ganz abgesehen von allen anderen Gründen, schon darauf allein beruhen, daß ich die Vorstellung von einem über zweihundert Jahre lebenden Menschen noch weniger realisierbar finde als die Vorstellung eines abnormen Quecksilbers. Die Association zwischen der Vorstellung Mensch und dem Begriff Sterbenmüssen vor dem Ablauf von 300 Jahren ist für mich unlöslicher als die Verbindung zwischen dem vorgestellten Quecksilber und dem Begriff "Abhängigkeit des Volumens von der Intensität der Wärme". Gleichwohl erkenne ich an, daß mir das normale Verhalten des Quecksilbers viel begreiflicher ist als die Tatsache der Sterblichkeit. Die thermischen Erscheinungen am Quecksilber sind nur spezielle Manifestationen von Gesetzen, deren Wirksamkeit so weit über alles Körperliche verbreitet ist, daß Ausnahmen, wie sie z. B. an Wasser, Wismut, Kautschuk und geschmolzenem Glas konstatiert sind, eine analoge Interpretation schon a priori für sich haben wie die vorhin beim Fall NUSSBAUMER geltend gemachte; man bleibt überzeugt, daß diese und ähnliche Ausnahmen nur scheinbare sind, und daß eine vollständige Kenntnis aller konkurrierenden Bedingungen dahin führen muß, die allgemeinen Wärme-Gesetze auch mit den anscheinend widergesetzlichen Phänomenen in Übereinstimmung zu finden. Der Kausalnexus für die gewöhnlichen Erfahrungen am Quecksilber hat einen weitaus reichhaltigeren und dabei einheitlich verbundenen Boden von Tatsachen als das Faktum der Sterblichkeit, für welches man vergebens nach einem sonst wirksamen Naturprinzip sucht. Trotzdem ist mir die Sicherheit, d. h. die Überzeugung von der Konstanz des unverständlichen Erfahrungssatzes nicht nur nicht geringer, sondern sogar noch größer als die Sicherheit einer dem Experiment und einer sehr entwickelten Theorie zugänglichen Tatsache.
Man darf daher meines Erachtens nicht behaupten, daß Begreiflichkeit und Sicherheit in gerader Proportion zueinander stehen, sondern jene hängt ab von der Zurückführbarkeit auf bekannte einfachere Tatsachen von größerer Allgemeingültigkeit, diese von der Vertrautheit mit dem Phänomen, wie sie durch die Häufigkeit des Vorkommens entsteht, besonders wenn das subjektive, praktische Interesse dafür es bewirkt hat, daß wir die Assoziation mit anderen Vorstellungen sehr oft erneuern und uns auf diese Weise die Gewißheit von der Richtigkeit stark einprägen. Denn obgleich wir, um bei dem Beispiel zu bleiben, die Wahrnehmung des unter dem Wärmeeinfluß stehenden Quecksilbers viel häufiger machen als die unmittelbare Wahrnehmung des Sterbens, so ist doch schon die vermittelte Erfahrung über die Sterblichkeit in so viel näherer Beziehung zu lebhaften Interessen, daß wir viel öfter eine Veranlassung haben, mit der Wahrnehmung des Lebens die Vorstellung des Sterbens eindrucksvoll zu verbinden als mit der Vorstellung Quecksilber den Wärmeeinfluß. Wäre es wirklich der Fall, daß stets die größere Sicherheit mit der größeren Einsicht verbunden wäre, so müßte z. B. der Astronom unserer Zeit für die Dauer seines Lebens von der Unveränderlichkeit des Wechsels von Tag und Nacht sehr viel lebhafter überzeugt sein als der Nomade; denn der Vorgang ist ihm verständlicher, er weiß allgemeinere Ursachen dafür anzugeben. Es erscheint aber doch wohl empirisch-unpsychologisch, dies und vieles Ähnliche wirklich anzunehmen. Denn mit Unrecht würde man dagegen anführen, daß es in der Tat die Ununterrichteten sind, welche z. B. das Stillstehen der Sonne auf das Geheiß von JOSUA für historisch halten; eine größere Kenntnis der Naturgesetze kann den Wunderglauben zwar sehr erschweren, unmöglich machen kann sie ihn aber nicht, und wir finden daher unter exakten Naturforschern nicht nur in England, sondern auch anderswo Bibelgläubige, Anhänger des Spiritismus und des Od etc. etc., sowie andererseits auch unter ganz ungeschulten Menschen vollkommen Bibel-Ungläubige und Spötter über allen Mystizismus angetroffen werden; entscheidend sind hier viel eher Anlagen der Phantasie und des Gemüts als des Intellekts, insofern spezifisch psychologische Unterschiede dem differenten Urteilen zugrunde liegen. Doch gibt es auch eine Sorte von Hyperexaktheit, welche ganz ohne Beteiligung von Gemüt und Phantasie ähnlicher Prozesse fähig ist, wie wir sie sonst nur vom Mystizismus erwarten. Dahin gehört z. B. die stille Hoffnung mancher unbedingter Darwinianer, der Mensch werde es im Dauerlauf der Zeit doch wohl noch zu einer Durchschnittszahl von zirka 10. 000, wenn nicht zu unendlich viel Lebensjahren pro Kopf bringen. Mit diesen Biologen, die übrigens, wie mir bekannt ist, gelegentlich die Rolle eines deutschen Professors tragieren [eine Rolle tragisch spielen - wp], läßt sich ganz ebenso wenig streiten wie mit den frommen Leugnern des Systems des KOPERNIKUS, und ich gestehe, daß ich durch meine Worte nur mit solchen Lesern Rapport suche, welche gleich mir durch jene gloriosen Konsequenzen des Darwinismus lediglich zur Heiterkeit gestimmt werden. An den "paracelsi redivivi", von welchen LOBECK in einer seiner Reden spricht, wird es ebenso voraussichtlich nie fehlen.
"Was soll ich" - sagt Lobeck, "von der medizinischen Kunst sagen, die Theophrastus Paracelsus mit den schönsten Fabeln ausstattete und die Paracelsus weiterhin so ausschmückt, daß die Leugner des Mythologischen weit hinter ihm zurückbleiben?" (Auswahl aus Lobecks akademischen Reden, Berlin 1865, Seite 170)
Freilich war es selbst dem hohen Geist LOBECKs nicht immer gegeben, mit Gelassenheit zu sehen, wie "die antisokratische Kunst alles zu wissen und zu erklären" geübt wurde. Denn nachdem er 1826 der frohen Hoffnung Raum gegeben hatte, es werde diese Kunst durch HERRMANNs "lichtvolle, überzeugende Darstellung ihrer Schwäche auf längere Zeit in ihrem Flug gehemmt sein" (Mitteilungen aus LOBECKs Briefwechsel, hg. von LUDWIG FRIEDLÄNDER, Leipzig 1861, Seite 89), so vernehmen wir doch 18 Jahre später die in feierlicher Stunde ausgesprochene Klage über das gleiche Übel aus demselben Mund. In der Festrede beim dreihundertjährigen Jubiläum der Universität Königsberg (30. August 1844) sagt LOBECK (Mitteilung, Seite 223):
"Und mit diesen Antipathien verbindet sich ein drittes, gleich mächtiges, gleich feindliches Element. Das ist der Pharisäismus der Wissenschaft, die Heuchelei genialer Erleuchtung, welche den Resultaten ernster Forschung das Gaukelwerk spielender Kombinationen entgegen stellt, und statt des wissenschaftlich Erkennbaren die ewigen Rätsel der Natur, die verblichenen Hieroglyphen der Vorwelt, die Tiefen des Geisterreichs zu ergründen strebt."
Für die Betrachtung der philosophischen Dignität, welche wir der Theorie von den spezifischen Sinnesenergien beizumessen haben, ergibt sich nun aus dem vorhin Gesagten, mögen wir die in der Theorie ausgesprochene Tatsache für ein Ergebnis bloßer Beobachtung ansehen, oder mögen wir sie für einen experimentell zu stützenden Satz erklären, dieses: sie bleibt in jedem Fall eine auf empirischer Grundlage ruhende Erkenntnis, an Sicherheit jeder experimentellen gleich, an Verständlichkeit nur quantitativ unterschieden von den best fundierten experimentellen Tatsachen der Physik. Denn, angenommen, die letzten werden einmal sämtlich eine so vollendete Behandlung mit rein mathematischer Methode ermöglichen, wie man es gegenwärtig bereits von den mechanischen Tatsachen rühmt, dergestalt, daß für die Zukunft nur die deduktive, von neuen Beobachtungen unabhängige Bearbeitng der Probleme übrig bliebe: dennoch wäre nach wie vor die Basis für alle auf Erscheinungen der Natur angewandte Tätigkeit der Mathematik ein nicht ohne sinnliche Beobachtung erlangter, ein empirischer Besitz, und homogen der Basis bleibt auch der kühnste Bau, den sie zu tragen hat: die Sphäre des Empirischen kann er nie übertragen. Das Prinzip des Experimentierens spricht HELMHOLTZ (Optik, Seite 452) so aus:
"Wir verändern einen Teil der Bedingungen, unter denen das Objekt wahrgenommen wird, aus eigenem Antrieb und eigener Machtvollkommenheit."
Mag es nun also theoretisch auch denkbar sein, daß die gesamte Physik eines Tages zu dem hohen Standpunkt gelangt, daß die Veränderungen für die Bedingungen objektiven Wahrnehmens erschöpft wären, so daß aller fernere Fortschritt allein der sicheren Führung der Mathematik anheimgestellt bliebe: es wäre dennoch Nichts daran geändert, daß alle physikalisch-mathematische Erkenntnis ein Produkt ist, dessen einer Faktor die ursprünglich sinnliche Beobachtung, die Empirie bleibt. Halten wir also daran fest, daß die für Nativisten und Empiristen gemeinsame Grundlage, die MÜLLER'sche Theorie von den spezifischen Sinnesenergien, eine empirische Tatsache ausspricht, so werden sich auch die folgenden beiden Punkte an jedem hergehörigen speziellen Diskussionsobjekt wiederfinden lassen.
1) Aus der empirischen Natur der zugrunde liegenden Theorie folgt nicht, daß die von ihr abhängigen Sätze eine geringere Sicherheit haben müssen, als sie den Folgerungen auf irgendeinem Gebiet der Naturwissenschaft, exklusive der Geometrie und Stereometrie [geometrische Gebilde im dreidimensionalen Raum - wp], zukommt.
2) Wenn es demnach auch möglich ist, daß Nativisten sowohl als Empiristen zu gleicher Sicherheit gelangen können wie andere exakte Forscher, so ist es doch unmöglich, daß ihrem Wissen jemals der Charakter apodiktischer Notwendigkeit und Allgemeinheit zukommen kann. Dieser bleibt vielmehr ein ausschließliches Attribut der nicht angewandten Mathematik und der Transzendentalphilosophie.
Den zweiten dieser Sätze wollen wir nun an einem konkreten Beispiel in der Weise prüfen, daß wir die Stellung des transzendentalen Idealismus sowohl zur nativistischen als zur empiristischen Theorie in Erwägung ziehen. Das Regulativ der Prüfung ist das oben angegebene: wenn der Satz richtig ist, so müssen es die Physiologen nur mit geformten, das heißt: räumlich oder zeitlich bereits angeordneten Vorstellungen zu tun haben, die Anordnung mag präzise sein oder beliebig undeutlich, wenn sie nur überhaupt den Charakter des zur Erscheinung gekommenen Räumlichen hat, während es sich für den Philosophen nur um die Bedingungen für das Zustandekommen solcher Vorstellungen handelt.
Einer der physiologischen Streitpunkte betrifft die Deutung von der Lage des Bildes auf der Retina, in welchem die Anordnung von Oben und Unten, Rechts und Links die umgekehrte ist wie von den abgebildeten Dingen, eine Deutung, welche wir richtig ausführen, obgleich wir durch das tätige Organ selbst niemals unmittelbar von der Verschiedenheit dieser Anordnungen Etwas erfahren.
Nach der Auffassung des Nativismus teilt die Retina gleich das erste Mal, sobald sie durch Licht erregt wird, dem Bewußtsein mit, von woher der Strahl gekommen war: die Teile der Retina, welche am äußeren Augenwinkel liegen, geben also bei ihrer Erregung nicht nur eine Lichtempfindung, sondern außerdem erstens ein Zeichen für den Ort, an dem sie sich befinden, zweitens damit verbunden die Gewißheit, daß die Ursache der Erregung in der Richtung des Nasenrückens liegt. Der Empirist hingegen findet es plausibler, daß die in der Gegend des äußeren Augenwinkels von Lichtstrahlen getroffene Netzhautstelle nur zweierlei rapportiert: erstens eine Lichtempfindung und zweitens eine durch Nichts zu charakterisierende Eigentümlichkeit, die von ihrer Lage zu anderen Punkten der Netzhaut herrührt: das Lokalzeichen ohne speziell räumliche Bedeutung. Die Psyche schließt aus dieser, zunächst ohne Nachricht über den Raum an sie gelangten Ankündigung, daß eine ankündigende Ursache vorhanden ist, die der Welt des Nicht-Ich angehört. Gesellen sich nun zu diesem unbewußt vollzogenen Schluß Antriebe, welche entweder reflektorischer Art sind, so daß sie auf die Erregung der Netzhaut sogleich folgen, oder die aus anderen Provinzen des Organismus stammen, so werden, zunächst immer noch ohne deutliches Bewußtsein, Bewegungen ausgeführt, entweder um dem Entstehungsort jener Ursache für den empfindenden Lichtreiz näher zu kommen, oder um die Entfernung von ihm zu vergrößern. In beiden Fällen stellen sich Nachrichten für das Bewußtsein her über den Erfolg, welchen gewisse Bewegungen gehabt haben. Und der Erfolg, die Erfahrung, lehrt, daß eine Bewegung nach links eine Annäherung bewirkt für einen Gegenstand, dessen Lichtdepesche rechts in Empfang genommen war, und in dieser Weise gelangt das Bewußtsein allmählich, und stets geleitet von den Affekten des Begehrens und Meidens, in den Besitz von sicheren und ohne Besinnen sich immer auf gleiche Weise erneuernden Assoziationen; aber diese bilden eben dann einen erworbenen, nicht einen angeborenen Besitz. Eine hergehörige Tatsache, welche die spezifische Lichtenergie des Auges betrifft, ist mit beiden Theorien gleich gut zu vereinigen. Ein auf das geschlossene Auge mit der Fingerspitze oder mit dem Ende eines Stäbchens ausgeübter Druck wird gleichfalls vom perzipierenden Sinn mit einer Lichtempfindung beantwortet und nach der entgegengesetzten Richtung verlegt. Wenn Herr NUSSBAUMER etwas Anderes mitteilt, so befindet er sich auch für diesen Fall im Gegensatz zu allem bisher für ausnahmslos Geltenden, und es ist nicht zu billigen, daß er diese höchst interessante Anomalie weniger würdigt als die ungewöhnliche Leistung seines Akustikus. Der Autor schreibt nämlich (ebd. No. 3, Seite 53):
"Wie alle andere, nicht durch direkte und gewöhnliche Einwirkung durch das Sehorgan erzeugte Lichtempfindung tritt also auch diese Farbempfindung beim Anhören von Tönen nicht so auf, daß die Farben außerhalb von mir gesehen, sondern eben in mir, von mir im Bewußtsein empfunden werden."
Die sicherlich nicht "gewöhnliche Einwirkung" eines auf das geschlossene Auge drückenden Fingers oder Stäbchens hat in allen sonstigen bisher bekannten Fällen die Folge, daß ein Lichtscheint vom Auge nach außen verlegt wird, unbestimmt in Bezug auf die Entfernung, bestimmt in Bezug auf die Lage im Raum, welche der des drückenden Körpers entgegengesetzt ist.
Die Nativisten erklären: die rechts irritierte Netzhaut empfindet schon unmittelbar jede Erregung als eine von links gekommene, sie bedarf dazu gar nicht des Sehens und der unbewußten Logik. Die Empiristen finden das Faktum ebenso in ihrem Sinne deutbar: da die rechts erregten Teile in einer Überzahl von n-Fällen die Erfahrung vermittelt haben, daß die Erregungsursache sich links befindet, so kann das Bewußtsein im n + 1ten Fall nach dem Gesetz der Assoziation oder unbewußten Induktion trotz der opponierenden Aussage einer richtigeren Erkenntnis der Wirklichkeit die stets bewährte Deutung nicht mehr vermeiden, - eine Gebundenheit, für welche sich die trefendsten Analogien anführen lassen.
Soll nun der Vertreter des transzendentalen Idealismus seine Stellung zu dieser Streitigkeit bestimmen, so kann er es ohne Inkonsequenz nur auf folgende Weise. Die vorliegende Frage geht von der beiderseits zugestandenen Tatsache aus, daß alle Lichtempfindungen ausschließlich durch Erregung eines körperlichen Organs, des Sehnerven, zustande kommen können. Diese Tatsache hat für den Kantianer dieselbe empirische Gewißheit wie für den Physiologen. Es liegt ganz außerhalb der Streitfrage, zu bestimmen, ob diese empirische Gewißheit dazu berechtigt, die zugrunde liegenden Erscheinungen nur als empirisch-reale gelten zu lassen oder auch als transzendental-reale. Die Existenz, die Realität der Erscheinungen bestreitet keiner von uns Dreien. Wir alle Drei können daher den gemeinsamen Boden der Empirie zum Ausgangspunkt wählen. Und sobald ich diesen Boden betrete, dessen alleinige Rechtmäßigkeit für naturwissenschaftlichen Anbau ich nicht nur anerkenne, sondern verteidige, so beschäftige ich mich schon nicht mehr mit den allgemeinen Bedingungen für jede mögliche Erfahrung, sondern mit speziellen Bedingungen für bestimmte wirkliche Erfahrungen: ich urteile dann nicht mehr als Philosoph. Der transzendentale Idealismus kann mich niemals dazu befähigen, daß ich über die Tätigkeit solcher Dinge urteile, von deren Dasein ich nur durch sinnliche Beobachtung Kenntnis habe. Meine Sinnesorgane sind solche Dinge. Durch mich kann daher der Physiologe ebensowenig sachlich jemals beeinflußt werden wie ich durch ihn. Für den Nativismus oder den Empirismus des Sehens bin ich als Philosoph ganz ebensowenig engagiert, wie es Nativisten oder Empiristen für oder gegen den transzendentalen Idealismus sind. Stellen wir uns z. B. vor, daß es eine angeborene Abnormität des Auges von der Art gäbe, daß die Kristalllinse durchwegs imprägniert wäre mit einem für Licht ganz undurchdringlichen schwarzen Pigment, so daß bis zur Zeit der Operation äußeres Licht niemals irgendeinen Unterschied in den empfindenden Teilen der Netzhaut habe bewirken können. Machen wir ferner die nicht minder willkürliche Fiktion, daß Patienten, deren beide Augen gleichmäßig mit solchen angeborenen Pigmentlinsen behaftet wären, vor der Operation, welche bei normaler geistiger Entwicklung erst im zehnten Lebensjahr erfolgen mag, niemals den geringsten äußeren Druck an ihren Augen würden erfahren haben, dann wären die Beobachtungen an solchen Patienten nach der Operation sicherlich entscheidend für die hier erwogene Frage. Denn wenn derartige Patienten nicht nur wie andere Staroperierte die Entfernung der gesehenen Gegenstände von ihrem eigenen Körper unrichtig taxieren würden, sondern wenn sie auch durch ihr schnelles Greifen nach den Dingen, wobei das Erblicken der Hand die Direktion nicht beeinflussen dürfte, wenn sie also bei jedem hastigen Ausstrecken des Armes nach einem gesehenen Gegenstand zeigen würden, daß sie die rechts liegenden Punkte konstant links suchen, oder daß sie z. B. den Leuchter einer langen brennenden Kerze in der Nähe der Flamme zu erfassen meinen, dann wäre die Theorie der Empiristen mindestens für einen großen Teil der hergehörigen Probleme als die allein richtige Konstatiert; denn allerdings entbehren die Erscheinungen am Säugling, der oftmals die Mutterbrust in einer Richtung sucht, welche der gesehenen entgegengesetzt ist, sehr der erforderlichen Eindeutigkeit. Aber weder der genannte Eventus noch der andere, daß die Richtungen des Aufsuchens gesehener Dinge von jenen Operierten sofort gefunden und nicht erst erlernt werden, - keine von beiden Möglichkeiten würden den transzendentalen Idealismus tangieren. Denn in beiden Fällen würde nicht das Mindeste dagegen sprechen, daß Empfindungen dadurch zu Wahrnehmungen werden, daß der Empfindende ihnen eine Anordnung erteilt in dem auch vorher schon von ihm, dem Blinden, nur empirisch-real, folglich transzendental-ideal angeschauten Raum, dem ausschließlich im sinnlichen Subjekt, nicht auch zugleich im objektiven Nicht-Ich vorhandenen Mittel, um Empfindungen zu gegenständlichen Erscheinungen zu formen. Wie diese Formgebung im Speziellen ausgeführt wird, iental-ideal angeschauten Raum, dem ausschließlich im sinnlichen Subjekt, nicht auch zugleich im objektiven Nicht-Ich vorhandenen Mittel, um Empfindungen zu gegenständlichen Erscheinungen zu formen. Wie diese Formgebung im Speziellen ausgeführt wird, ist deshalb nicht mehr die Angelegenheit der Transzendentalphilosophie, weil zur Charakterisierung jeder Art von Lokalisation bereits bestimmte Räume oder Gegenden gehören: Teile des allgemeinen Raums, konkrete Richtungen, also empirisch-reales Material. Und ebensowenig ist es Sache der Philosophie, zu entscheiden, wann der Zeitpunkt eintritt, in welchem Lichtempfindungen dadurch zu Wahrnehmungen geformt werden, daß das Bewußtsein ihnen einen Ort im empirisch-realen Außenraum anweist. Denn die Bestimmung dieser Zeit kann nur durch eine logische Verwertung von Beobachtungen, von wirklichen Erfahrungen vollzogen werden, wenn sie überhaupt möglich ist.
Merkwürdig klar ist der Grundgedanke des physiologischen Empirismus in einem Brief von GOETHE aus dem Jahr 1770 ausgesprochen:
". . . man sieht eh man weiß, daß das gesehen ist und
nur sehr lange hernach lernt man erkennen, was man sieht." Adolf Schöll, Briefe und Aufsätze von Goethe aus den Jahren 1766 bis 1786, Weimar 1846, Seite 48)
In der Tat sprechen wir gewöhnlich erst dann von Sehen, wenn wir außer der Lichtempfindung auch ein bestimmtes Bewußtsein vom gesehenen Objekt haben, und dazu ist eben die Verlegung des Gesehenen in einen Raum nötig. Wann aber diese räumliche Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich stattfindet, - ob gleichzeitig mit der Empfindung oder später, - das ist eine Frage von ganz anderem Inhalt als die, ob die Möglichkeit für diese Unterscheidung nur in der Beschaffenheit des Subjekts liegt, oder auch zugleich in der des Objekts. An dieser Sachlage wird auch durch die ganz neue Erfahrung, welche wir Herrn NUSSBAUMER verdanken, Nichts geändert. Schöpfen wir wieder aus der Quelle (a. a. O., Seite 53):
"Noch bleibt mir übrig die Frage zu beantworten, wo bei dieser Doppelempfindung die Farben auftreten. Das läßt sich schwer sicher feststellen, und nur soviel kann ich bestimmt aussagen, daß mir die Farbe niemals außen, niemals objektiv erscheint, sondern, um im Allgemeinen zu sprechen, mein Gehirn erleidet durch die Einwirkung von Schallwellen durch das Gehörorgan außer der normalen auch noch eine solche Veränderung, welche ich im Bewußtsein als Farbeindruck empfinde."
Auch in diesem Fall also wird die Empfindung mit einem bestimmten räumlichen Merkmal versehen: sie wird verlegt in den Raum, welchen das Gehirn des Beobachters einnimmt. Durch diese Lokalisation wird die Empfindung zu einer Wahrnehmung, und so subjektiv die Empfindung als solche auch ist und bleiben muß: dadurch eben, daß sie lokalisiert werden kann, ist sie für das Subjekt etwas Objektives, etwas Wahrgenommenes. Ob aber diese Bedingung des Objektivierens eine ausschließlich subjektiv ist, oder gemeinsam dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen - diese Frage wird durch das Faktum gar nicht berührt, und Herr NUSSBAUMER unterscheidet sich von manchen berühmten Physiologen sehr vorteilhaft dadurch, daß er sich den kantischen Angelegenheiten gegenüber des vollkommensten Schweigens befleißigt; - freilich verfährt er wiederum mit der Theore JOHANNES MÜLLERs von den spezifischen Energien in einer Weise, die an jene Physiologen in Bezug auf KANT und an Herrn von HARTMANN in Bezug auf res omnes et nonnullas alias [all das und einiges anderes - wp] schmerzlich erinnert.
LITERATUR - Wilhelm Tobias,
Grenzen der Philosophie, Berlin 1875
Anmerkungen
1)
vgl. die "Mitteilung Lotzes" hierüber in dem Buch von Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, Leipzig 1873, Seite 320.
2)
"Über die räumliche Gesichtsempfindung" (Virchows Archiv, Bd. XXXVIII, 1 und 4, und "Gesammelte Abhandlungen über physiologische Optik", Berlin 1868): ferner von demselben: "Durch welche Hilfsmittel orientieren wir uns über den Ort der gesehenen Dinge? (von Graefes Archiv für Ophtalmologie, 1873, Bd. XIX, 3. Abteilung).
3)
"Über subjektive Farbempfindungen, die durch objektive Gehörempfindungen erzeugt werden. Eine Mitteilung nach Beobachtungen an sich selbst"; von J. A. Nussbaumer, Student der Philosophie in Wien (Wiener Medizinische Wochenschrift Nr. 1, 2, 3; 1873).
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