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MORITZ SCHLICK
Die Grenze der naturwissenschaftlichen
und philosophischen Begriffsbildung


"Der letzte Zweck aller Forschung besteht nun, formal und allgemein gesprochen, in der Erkenntnis, im Begreifen; begreifen aber heißt auf gesetzmäßige Zusammenhänge zurückführen oder, da strenge Gesetzmäßigkeit das Allgemeine, ausnahmslos Gültige bedeutet, das einzelne unter ein allgemeines Gesetz subsumieren, es als Spezialfall desselben darstellen."

"Kant behauptet, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik anzutreffen ist. Die mathematische Formulierung ist aber nur möglich, wenn alle Gesetzmäßigkeiten in raum-zeitlicher Form dargestellt werden. Allein diese Darstellungsweise nämlich erlaubt Exaktheit, weil sie allein Messung gestattet, und nur auf meßbare Größen ist natürlich die mathematische Methode anwendbar."

1. Die übliche Gliederung des Systems der Wissenschaften und die Grenzen, welche die einzelnen unter ihnen voneinander scheiden, haben ihren Grund nicht sowohl in prinzipiellen Wesensunterschieden der Wirklichkeitsgebiete, die von den Wissenschaften bearbeitet werden, als vielmehr in technisch-praktischen Momenten, nämlich vor allem in den Forschungsmethoden, zu deren Anwendung bestimmten Gebieten gegenüber unsere Organisation uns zwingt. Je näher die Forschung ihrem Ziel kommt, desto mehr entfernt sich aber das System unserer Erkenntnisse von dem Zustand, in dem seine Einteilung sich noch durchaus nach der spezifischen Organisation seines Schöpfers, des Menschen, richtet, und die Wissenschaften bekommen eine mehr objektive Gestalt, ihre Gegenstände erscheinen gewissermaßen von einem weniger anthropozentrischen Standpunkt aus gesehen. So läßt, um dies an einem Beispiel zu erläutern, die frühere Einteilung der Physik in Mechanik, Akustik, Optik, Wärmelehre usw. mit aller Deutlichkeit die Beziehung zu den menschlichen Sinnen erkennen, in der sie ihren Grund hat; die Mechanik behandelt hauptsächlich das Tastbare, die Wärmelehre entspricht dem Temperatursinn, die Akustik dem Gehör, die Optik dem Gesicht. In der modernen theoretischen Physik dagegen ist die Akustik gänzlich in der Mechanik, die Optik gänzlich in der Elektrodynamik aufgegangen, und die beiden Disziplinen haben damit jede wesentliche Beziehung zu Ohr und Auge verloren, die Erkenntnis scheint dadurch tiefer in die betreffenden Wirklichkeitsgebiete eingedrungen zu sein und sie von der sinnlichen Anschauung mit ihren Zufälligkeiten gelöst, die Welt der Objekte in größerer Unabhängigkeit von einem erfassenden Bewußtsein dargestellt zu haben.

Dieser Prozeß der Grenzverschiebung zwischen den Einzelwissenschaften schreitet nun immer weiter fort, und man kann fragen, welches denn die in unendlicher Ferne bevorstehende Endlage ist, der die Hauptgrenzlinien unseres Systems der Erkenntnisse sich unaufhörlich nähern, welches, mit anderen Worten, die fundamentalsten, letzten prinzipiellen Unterschiede wissenschaftlcher Begriffsbildung sind.

Die Frage ist weder müßig noch unlösbar. Denn sie bedeutet nicht bloß eine Frage nach einem idealen, nicht realisierbaren Endzustand, sondern sie besitzt zu jeder Zeit Wichtigkeit für die Theorie der Erkenntnis und wissenschaftlichen Systembildung; und sie ist nicht unlösbar, weil jene Hauptgrenzen durch die Struktur unseres Erkenntnisvermögens von vornherein bestimmt und aus ihr ableitbar sind. Uns soll die bezeichnete Aufgabe vor allem zu dem Zweck beschäftigen, die strenge, endgültige Grenze zwischen der philosophischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffsbildung festzustellen, die sich ann als die einzige schlechthin unaufhebbare Trennlinie menschlicher Erkenntnisweisen und Wissensgebiete überhaupt erweisen wird und eine prägnante Definition der Philosophie selber ermöglicht.

Will man die Gesamtheit aller Disziplinen nicht nach den gewohnten mehr äußerlich-technischen Prinzipien einteilen (wie etwa die Grenze zwischen Chemie und Physik oder Zoologie und Botanik weit mehr durch die Natur unserer Forschungsmittel als durch innere Gründe bestimmt ist), sondern streng nach ihren wesentlichen Differenzen, so darf man als das Gebiet, welches einer jeden zur Behandlung zufällt, nicht dasjenige ansehen, das sie beim jetzigen Stand der Wissenschaft beherrscht, sondern vielmehr das, welches sie beherrschen würde, falls die letzten Zwecke, in deren Erreichung ihre Aufgabe besteht, wirklich erreicht wären. Der letzte Zweck aller Forschung besteht nun, formal und allgemein gesprochen, in der Erkenntnis, im Begreifen; begreifen aber heißt auf gesetzmäßige Zusammenhänge zurückführen oder, da strenge Gesetzmäßigkeit das Allgemeine, ausnahmslos Gültige bedeutet, das einzelne unter ein allgemeines Gesetz subsumieren, es als Spezialfall desselben darstellen. Nur insofern uns eine Disziplin so begreifen lehrt, uns Einblick in notwendige Zusammenhänge verschafft, verdient sie den Namen einer Wissenschaft im strengen Sinn. Alles Übrige, wovon in ihr sonst noch die Rede sein mag, ist dann eine bloße Tatsachenhäufig, bloßer Lernstoff, nur Feld, auf dem die Erkenntnis ackert, nicht selbst schon Wissenschaft.

Wir haben hier den Unterschied zwischen dem bloßen Erfahrungsstoff oder einer Datenanhäufung einerseits und gesetzmäßiger Erkenntnis andererseits zur Scheidung der eigentlichen Wissenschaft vom bloßen Material benutzt, auf dem sie ruht - es sollte hier vielleicht erwähnt werden, daß man auch versucht hat, diesen selben Unterschied zur Abgrenzung der historischen gegen die Naturwissenschaften zu verwenden (1). Die damit vertretene Ansicht scheint mir aber schwerlich haltbar zu sein; denn weder sieht die Naturwissenschaft von allen rein tatsächlichen, "historischen" Daten ab, da sie doch nicht bloß das mögliche (d. h. mit den Naturgesetzen verträgliche) Geschehen beschreiben will, sondern das wirklich in der Welt stattfindende (2), noch hat es die Geschichte bloß mit dergleichen Daten zu tun, da sie doch vielmehr ganz besonders auch gesetzmäßige Zusammenhänge aufsucht -, und nur insofern ihr dies gelingt, darf man der Historie einen eigentlichen Erkenntniswert zuschreiben.

Der letzte Zweck der Naturwissenschaft besteht keineswegs (wie Rickert glaubt) darin, die allerallgemeinsten Gesetze des Geschehens aufzufinden, sondern dieses ist nur Mittel zu dem Zweck, das Gesetz jedes Einzelgeschehens zu wissen. Wer da meint, die Naturwissenschaft entfernt sich durch das Aufstellen allgemeinster Gesetze von den Einzeltatsachen und verliert sich in formalen Abstraktionen, der steht auf dem Standpunkt eines Begriffsrealismus, für welchen die Allgemeinbegriffe außerhalb und losgelöst vom Einzelnen sind. Aber sie sind ja nirgends anders als nur im Einzelnen, und wenn der Physiker sagt: "Ich kenne die allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten der Natur", so heißt das überhaupt nichts anderes als: "Ich bin imstande, in der einzelne gegebene Geschehen am tiefsten verstehend einzudringen." (3)


2. Es ist nun zuerst nötig, einen Blick auf Ziel und Gebiet der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zu werden. Für sie ist charakteristisch das Streben, ihren Gesetzen denjenigen scharfen, absolut exakten Ausdruck zu geben, welcher nur der mathematischen Formulierung erreichbar ist. Sie kann sich allein mit Gesetzen zufrieden geben, die solche Formulierungen gestatten, und denen sich die Tatsachen ausnahmslos und streng unterordnen. Da nun, wie wir oben sahen, in der Gesetzformulierung allein die Wissenschaftlichkeit selber besteht, so konnte 'KANT mit vollem Recht den berühmten Ausspruch (4) tun:
    "Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik anzutreffen ist."
Die mathematische Formulierung ist aber nur möglich, wenn alle Gesetzmäßigkeiten in raum-zeitlicher Form dargestellt werden. Allein diese Darstellungsweise nämlich erlaubt Exaktheit, weil sie allein Messung gestattet, und nur auf meßbare Größen ist natürlich die mathematische Methode anwendbar. Deshalb dürfen in den endgültigen Differentialgleichungen der exakten Naturwissenschaft schließlich nur die Raumkoordinaten und die Zeit als unabhängige Variable auftreten. All das hat seinen Grund darin, daß wir nur räumliche Größen (Strecken und Winkel) direkt zu messen vermögen, eine Tatsache, auf die man schon oft hingewiesen hat (5). In der Tat benutzen ja alle nur denkbaren Meßapparate mit ihren Skalen, Zeigern usw. stets bloß räumliche Verhältnisse zur Messung; auf solche müssen also alle übrigen Größen auf irgendeine Weise zurückgeführt werden. Das gilt insbesondere auch von der Zeit selbst, und dieser Umstand hat, nebenbei gesagt, in der neuesten Physik zu sehr bemerkenswerten Konsequenzen geführt, die auch von philosophischer Bedeutung sind; doch kann darauf hier nicht eingegangen werden.

Außer Raum- und Zeitgroßen selber treten in der mathematischen Naturwissenschaft nun natürlich diejenigen Größen auf, deren räumliche und zeitliche Änderung eben in den Naturgesetzen ausgesagt wird: Man kann auf sie vielleicht den allgemeinen Namen Intensitäten anwenden. So viele Intensitäten von spezifisch verschiedener Qualität die mathematische Naturwissenschaft kennt, in so viele Disziplinen zerfällt sie auch, indem jeder einzelnen eine besondere spezifische Qualität zur Behandlung zukommt. Jede Qualität gehorcht nämlich ihren ganz besonderen Gesetzmäßigkeiten; darin besteht gerade ihre Eigenart gegenüber den anderen Intensitäten. So ist z. B. die in der Mechanik außer Raum und Zeit auftretende Größe die Masse, in der Wärmelehre die Temperatur, in der Elektrodynamik die elektrische und die magnetische Feldstärke.

Die Wissenschaft ist fortwährend bestrebt, alle Erscheinungen durch möglichst wenige allgemeine Gesetze darzustellen; denn eine Erklärung wird natürlich umso vollkommener heißen müssen, je kleiner die Zahl der Elemente ist, auf die sie das zu Erklärende reduziert. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, wird sie also die Zahl der qualitativ verschiedenen Intensitäten möglichst zu verringern suchen, indem sie eine Qualität nach der anderen dadurch eliminiert, daß sie sie auf die übrigen zurückführt und als von ihnen nicht spezifisch verschieden erweist. Denn je weniger spezifische Qualitäten, desto weniger verschiedene Gesetzmäßigkeiten, desto geringer die Zahl der nötigen Disziplinen, desto einfacher der ganze Bau der Wissenschaft. Um hier wenigstens ein Beispiel anzuführen: Mit Hilfe der kinetische Wärmetheorie sucht man die Temperatur als besondere Qualität zu beseitigen, und sobald diese Eliminierung endgültig gelungen sein wird, wird die Thermodynamik als selbständige Disziplin aufgehört haben zu bestehen, zumindest in prinzipieller Hinsicht. So läuft alle naturwissenschaftliche Hypothesenbildung im Grunde darauf hinaus, die Zahl der spezifischen Qualitäten zu verringern, und ehe sie nicht auf ein Minimum gebracht ist, bleibt das menschliche Erklärungsbedürfnis unbefriedigt.

Aus diesem Grund wird z. B. Ostwalds Auffassung aller Naturvorgänge als bloßer Umwandlungsprozesse verschiedener Energiearten ineinander niemals befriedigen können, ebensowenig wie die Wissenschaft sich jemals mit der bloßen Konstatierung von etwa 80 verschiedenen chemischen Elementen begnügen und den Versucht der Reduktion auf eine kleiner Anzahl aufgeben kann. Denn die einzelnen Energiearten gelten auf diesem Standpunkt als Größen von spezifisch verschiedenen Beschaffenheiten, die sich wohl auf nicht näher erklärbare Weise ineinander verwandeln können, aber prinzipiell nicht auf einander reduzierbar, sondern eben schlechthin different sind. Die rein energetische Betrachtungsweise hat unter den Naturforschern so wenig Anklang gefunden und kann nicht mehr finden, weil sich die Frage nach einer gemeinsamen Fundierung der verschiedenen Energiearten nie abweisen lassen wird.

Die Statuierung einer großen Anzahl verschiedener Qualitäten, die von vornherein als prinzipiell unreduzierbar angesetzt werden, bedeutet einen Pluralismus, der eine Reihe von Problemen vermeidet, aber nicht auflöst. Um hierfür ein charakteristisches Beispiel ebenfalls aus der energetischen Weltansicht anzuführen: Ostwald bemeistert das Problem des Verhältnisses zwischen Physischem und Psychischem auf die einfachste Weise, indem er sagt, es gebe eben eine bestimmte Art von Nervenenergie, deren spezifisches Charakteristikum die Bewußtheit ist, ebenso wie etwa die kinetische Energie durch die Bewegung gekennzeichnet wird, oder wie der Wärmeenergie als spezifische Qualität die Temperatur zukommt. Und in der Tat, warum sollte nicht, da die einzelnen Energiequalitäten doch ohnehin voneinander absolut verschieden sind, einer von ihnen die Bewußtheit als besonderes Merkmal eignen? "Ich habe mir die größte Mühe gegeben, irgendeine Absurdität oder Undenkbarkeit in der Annahme zu finden, daß bestimmte Eneregiearten Bewußtsein bedingten: Ich habe nichts Derartiges zu entdecken vermocht." (6) und auf derselben Seite heißt es: "Ich weiß keinen überzeugenderen Beweis für den philosophischen Wert der energetischen Weltanschauung, als den hier zutage tretenden Umstand, daß dieses alte Problem in ihrem Licht alle seine Schrecken verliert." Aber jeder andere Pluralismus wäre ebensogut wie die Energetik geeignet zur vermeintlichen "Auflösung großer Schwierigkeiten, deren versuchte Beseitigung den Scharfsinn mehrerer Jahrhunderte herausgefordert hatte ..." (7) Denn solange man überhaupt bei der Annahme einer Reihe unter sich absolut unähnlicher prinzipiell irreduzibler Qualitäten stehen bleibt, kann im Auftreten neuer, nämlich psychischer Arten nichts Rätselhaftes mehr liegen (8) (hierauf aufmerksam gemacht zu haben, ist vielleicht kein kleines Verdienst Ostwalds.) Die Schwierigkeit ist nur für den vorhanden, der Energien als aufeinander reduzierbar ansieht (also z. B. thermische und mechanische Energie für qualitativ dieselbe Sache hält); dieser findet, daß bei den "physischen" Energien eine solche Reduktion immer denkbar erscheint, daß aber jeder Versucht der Zurückführung der psychischen auf jene hoffnungslos ist.


3. Wir sahen, daß die Eigenart der exakt-naturwissenschaftlichen Begriffsbildung darin besteht, Qualitäten möglichst zu eleminieren und alle qualitativen Beziehungen auf rein quantitative, mathematisch formulierbare zurückzuführen. Jetzt handelt es sich darum, nachzusehen, welche Wirklichkeitsgebiet einer solchen Begriffsbildung erreichbar sind und von ihr beherrscht werden können.

Die Antwort auf diese Frage muß ohne Zweifel sein, daß alle Naturvorgänge überhaupt, in welcher besonderen Wissenschaft sie gegenwärtig auch immer behandelt werden mögen, sich exakt in jener mathematischen, raumzeitlichen Formulierung darstellen lassen. Dies ist ein Postulat, dessen Aufgaben einem Verzicht auf eigentliches Begreifen der Naturprozesse gleichkäme, ein Postulat, dessen Erfüllung wir nicht nur nirgends auf irgendeine Weise prinzipiell verhindert sehen, sondern auch überall, wo es sich prüfen läßt, erfüllt finden. Erst wenn alle Prozesse der äußeren Natur, wie die chemischen Verbindungsvorgänge, die Sekretionsvorgänge in der Physiologie, die Vererbungs- und Befruchtungsvorgänge der Biologie, die Entwicklung der Pflanzen und Tiere usw. so weit erforscht sind, daß jede dabei entstehende Frage durch die strenge Methode der mathematischen Physik beantwortet werden kann, und wenn außerdem in der letzteren Diszplin eine solche Vereinheitlichung erzielt ist, daß sie nicht mehr in differente Gebiete auseinanderfällt, wie etwa Mechanik und Elektrodynamik - dann erst wird die Naturerkenntnis glauben können, an ihrer letzten Grenze angelangt zu sein. Daß unüberwindbare Schwierigkeiten technischer Natur, die Unvollkommenheit unserer Forschungsmittel, die räumliche und zeitliche Beschränktheit unseres Lebens usw. es der theoretischen Physik für immer unmöglich machen werden, auf diese Weise alle übrigen Naturwissenschaften ihrer Herrschaft zu unterwerfen, macht für unsere rein prinzipiellen Betrachtungen nicht den geringsten Unterschied; es genügt, daß eine solche Grenzverschiebung rein begrifflich und theoretisch auf keinen Widerspruch führt. Selbstverständlich fallen unter den Begriff der Naturvorgänge auch die Bewegungen aller Lebewesen, alles Handeln der Menschen und alles historische Geschehen; eine besondere Geschichtswissenschaft würde es nach Erreichung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals nicht mehr geben, denn alle historischen Fragen würden mit absoluter Exaktheit beantwortet werden können mit Hilfe der von 'LAPLACE erträumten und seitdem oft besprochenen "Weltformel", deren Aufstellung die letzte Tat der Naturwissenschaft bilden würde.

Man wird hier nicht einwenden, es müßten zur eindeutigen Darstellung komplexer Lebenserscheinungen und historischer Ereignisse auch psychische Elemente mit herangezogen werden, die doch prinzipiell außerhalb des Machtbereichs der mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffsbildung lägen; denn es ist schon oft genug darauf hingewiesen worden, daß jede Einmischung psychischer Faktoren in die exakte Naturerklärung ein Selbstaufgeben der letzteren bedeutet, da für sie die Eleminierung solcher Faktoren gerade ein unumgängliches Postulat bildet; und das heuristische Prinzip des psychophysischen Parallelismus gestattet es ja, sie ganz außer acht zu lassen, ohne irgendwelche Lücken im physischen Geschehen anzusetzen.
    "Man muß sich", wie 'F. A. Lange (9) es ausdrückt, "zu dem Schluß erheben können, daß das ganze Tun und Treiben der Menschen, der einzelnen wie der Völker, durchaus so vor sich gehen könnte, wie es wirklich vor sich geht, ohne daß übrigens auch nur in einem einzigen dieser Individuen irgendetwas wie ein Gedanke, eine Empfindung usw. vor sich geht."
Ich brauche kaum zu erwähnen, daß auch die der Geschichte verwandten Wissenschaften, wie die Philologie, durch jene letzte Naturwissenschaft" (um einen Ausdruck von 'RICKERT zu borgen) ersetzt werden müßten.

4. So würde dann jede Frage, die über irgendeine beliebige Tatsache des gesamten physischen Universums überhaupt zu irgendeiner Zeit gestellt werden könnte, in den Bereich jener gedachten aufs Höchste vervollkommneten Physik fallen. Ist nun neben ihr überhaupt noch eine andere Wissenschaft möglich? Gibt es außer der von ihr beherrschten Natur noch ein Wirklichkeitsgebiet, das sie sich nicht unterwerfen kann? Und welches ist die Disziplin, die dies tun würde?

Die Antwort darauf ist sehr leicht. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Begriffsbildung, welche die ganze Welt in ein Spiel rein quantitativer Beziehungen auflöst, steht den reinen Qualitäten, die nicht mehr reduzierbar sind, schlechthin machtlos gegenüber. Wird die Reduktion auf raum-zeitliche Verhältnisse so weit getrieben, wie es prinzipiell nur möglich ist, so bleiben immer noch Qualitäten übrig; denn schließlich haben Raum und Zeit selbst sogar eine qualitative Seite. Und die zahllosen Qualitäten, die zum Zweck der exakten zahlenmäßigen Begriffsbildung eliminiert werden mußten, sind damit natürlich nicht aus der Welt geschafft. Im Gegenteil, die Weltk, wie sie uns ursprünglich gegeben ist, ist überhaupt nichts anderes als eine Mannigfaltigkeit reiner Qualitäten, nämlich von Farben, Tönen, Gerüchen, Tast- und Wärmequalitäten usw., und erst durch begriffliche Verarbeitung, durch die beziehende Tätigkeit des Denkens stellen wir quantitative Relationen her. Haben wir das aber einmal getan, haben wir also z. B. gelernt, statt von qualitativen Unterschieden der Tonhöhe von quantitativen der Schwingungszahlen zu reden, so ist uns die Rückkehr aus dem Zahlenreich zu den ersteren endgültig versperrt; nie kann es gelingen, aus den qualitätslosen raum-zeitlichen Prozessen der exakten Physik Qualitäten zu konstruieren, also etwa den Übergang von einem nervösen Prozeß in eine Empfindung zu vollziehen. Das wird von jedermann als evident zugegeben, und wir werden auf den Grund dieser Irreduzibilität gleich noch näher zu sprechen kommen.

Es gibt also ein Reich der reinen Qualitäten, das der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung fremd ist; und die Erkundung dieses Reiches, das Erforschen der qualitativen Beziehungen, das Aussprechen all dessen, was über die Qualitäten überhaupt gesagt werden kann, das ist, behaupte ich, die Aufgabe der Philosophie und nur der Philosophie. Sie und die Lehre von den Quantitäten, die Mathematik (denn wir sahen mit 'KANT, daß in der Naturlehre nur das Mathematische als eigentliche Wissenschaft gelten kann), teilen sich in die Erkenntnis der Wirklichkeit. Alle Einzelwissenschaften machen im Allgemeinen von beiden Arten der Begriffsbildung Gebrauch; sie verwenden sozusagen philosophische und naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen gemischt.

Diese Position wird nun noch etwas ausführlicher zu verteidigen sein. Zuerst wollen wir uns überzeugen, daß die anerkannte Eigenart der philosophischen Denkweise durch meine Definition richtig getroffen wird.

In der Tat, betrachten wir die verschiedenen Aufgaben, die der philosophische Denker zu lösen trachtet, sei es, daß er sich in der Metaphysik abmüht, durch ein Aufsuchen eines gemeinsamen Grundes für die Vielheit der Qualitäten zu einer befriedigenden Weltanschauungen zu gelangen, sei es, daß er in der Ethik nach den Normen des sittlichen Handelns forscht oder in der Erkenntnistheorie nach der Gültigkeit seiner wissenschaftlichen Aufstellungen frägt: immer sind die Beziehungen, die er untersucht und findet, qualitativer Natur, zahlenmäßig in keiner Weise ausdrückbar. Wo in den Naturwissenschaften noch unreduziere, wenn auch vielleicht nicht unreduzierbare Qualitäten zu finden sind, da nimmt sich die Naturphilosophie der zwischen ihnen bestehenden Relationen an; die Aufgabe, die gesetzmäßigen Verknüpfungen zwischen den ursprünglichsten, unmittelbar gegebenen Qualitäten, den psychischen, zu ermitteln, fällt der Psychologie zu, und die allgemeinste der philosophischen Disziplinen, die Logik, hat es ebenfalls mit rein qualitativen Verhältnissen, wie denen des Widerspruchs, des Grundes und der Folge und ähnlichem, zu tun. Übrigens herrscht in allen Disziplinen, ob sie nun gemeinhin zu den Natur- oder den Geisteswissenschaften gerechnet werden, die philosophische Begriffsbildung so weit vor, als sie sich mit dem Aufstellen qualitativer Gesetzmäßigkeiten begnügen müssen.

Nach meinen Erwägungen müßte offenbar die Psychologie, deren Gegenstand doch fast nur reine, bloß anschaulich und folglich nicht begriffs- und zahlenmäßig faßbare Qualitäten bilden, wie Sinnesempfindungen und Gefühle, als philosophische Wissenschaft par excellence betrachtet werden. Das steht nun im Gegensatz zu den modernen Anschauungen, welche die Psychologie durch die Einführung messender Methoden und des exakten Experiments möglichst zum Rang einer Naturwissenschaft erhoben wissen möchten. Wir müssen daher, bevor wir das Verhältnis unserer Begriffsbestimmung der Philosophie zu anderen Definitionen derselben betrachten, diesen Gegensatz aufzuklären suchen, indem wir einen Blick auf die Methode der Psychophysik werfen und zusehen, was es mit der von 'WEBER-FECHNER zuerst versuchten quantitativen Behandlung psychischer Prozesse auf sich hat.

5. Es unterliegt keinem Zweifel, daß 'FECHNER bei der Aufstellung seines "psychophysischen Grundgesetzes" eine ganz irrtümliche Voraussetzung machte. Er behandelte nämlich die Sinnesempfindungen ohne weiteres als addierbare oder, wie der Mathematiker sagen würde: extensive Größen. Größen, die der Addition fähig sein sollen, müssen teilbar sein, d. h. als eine Summe einzelner Summanden aufgefaßt werden können derart, daß jeder einzelne Summand unverändert in der Größe steckt. So kann man z. B. eine Strecke als Summe von Teilstrecken auffassen und jede einzelne der letzteren für sich in der ganzen aufzeigen. Eine Empfindung aber - wie auch jede andere psychische Größe - kann niemals als Summe von qualitativ gleichen Teilempfindungen betrachtet werden. Vergleiche ich die Lichtempfindung beim Anblicken einer Fläche, die von einer zwanzigkerzigen Lampe beleuchtet wird, mit der entsprechenden, wenn eine fünfundzwanzigkerzige sie erhellt, so besteht die letztere doch nicht aus der ersteren plus einer zweiten Größe, sondern sie ist etwas Neues von gleicher Einfachheit und Unteilbarkeit. Nie mann ich von einer Sinnesempfindung einen Teil, eine "kleinere" Empfindung etwa, wegnehmen, sondern ich kann nur (durch eine Änderung der Reizstärke) die eine in die andere von verschiedener Intensität überführen. Wohl kann man an jeder Empfindung (aber in den meisten Sinnesgebieten auch nicht scharf und nur bis zu einem gewissen Grad) Qualität und Intensität (beide Worte hier in einem engeren Sinn gebraucht) unterscheiden, aber man darf die Intensität keineswegs für eine teilbare und addierbare Größe halten, sondern sie ist selbst wieder durchaus qualitativer Natur. Nur wenn man das Letztere übersieht, kann man glauben, daß 'FECHNERs Maßformel wirklich eine Gesetzmäßigkeit der psychischen Empfindungsintensitäten quantitativ ausdrückt; denn bei ihrer Ableitung wird unter anderem bekanntlich vorausgesetzt, daß die Empfindungsintensität sich als Integral aus Empfindungsdifferentialen darstellen läßt. Bei der von 'FECHNER angewandten Methode der Aussuchung der Unterschiedsschwelle, auch Methode der Minimaländerungen genannt, wird ja festgestellt, welche Änderung des äußeren Reizes eine eben merkliche Änderung der Empfindung der Versuchsperson bewirkt; es wird also weiter nichts bestimmt als die äußeren Bedingungen des Auftretens eines psychischen Phänomens, nämlich des Bemerkens eines Empfindungsunterschiedes: das ist etwas von einer wirklichen Empfindungsmessung gänzlich Verschiedenes.

Der wahre Sachverhalt, der im Wesentlichen schon durch 'KANTs Worte angedeutet wird (10), daß "Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist", ist seitdem oft genug deutlich erkannt und ausgesprochen worden, so mit besonderer Klarheit von 'BERGSON (11), 'MÜNSTERBERG (12), 'MEINONG (13), 'WITASEK (14); doch selten findet man die Konsequenzen mit aller Schärfe gezogen, meist dient die obige Betrachtung den Autoren nur dazu, die von 'FECHNER selbst seinem Gesetz gegebene Deutung zurückzuweisen. 'WUNDT spricht, um den Fehler 'FECHNERs zu vermeiden, statt von einer Messung der Empfindungsstärken selbst, von einer Messung von "Merklichkeitsgraden der Empfindung" (15); doch auch diese Ausdrucksweise kann nicht befriedigen, die Merklichkeitsgrade selbst werden nicht gemessen, sondern es werden z. B. bei der Methode der Minimaländerungen nur die physischen Bedingungen gemessen, unter denen die Merkbarkeit eines Empfindungsunterschiedes auftritt.

Dies scheint sich wesentlich anders zu verhalten bei der sogenannten Methode der mittleren Abstufungen, bei welcher man untersucht, welche Empfindung der Versuchsperson der Intensität nachgerade in der Mitte zwischen zwei anderen Empfindungen zu liegen scheint. Hier handelt es sich also nicht um eine bloße Kontrastierung von Verschiedenheiten, sondern es werden die Empfindungsunterschiede direkt miteinander verglichen, scheinbar also die Größe zweier verschiedener psychischer Elemente unmittelbar abgeschätzt. Jedoch bei genauerer Betrachtung wird man auch diesen Versuchen eine andere Interpretation geben müssen. Ich glaube, daß man sagen muß: was hier gemessen und qualitativ verglichen wird, sind auch in diesem Fall nicht direkt die psychischen Größen, sondern die physischen Reizstärken. Die Versuchsperson vergleicht nämlich offenbar (wenn sie sich dessen auch nicht bewußt ist) nicht die Empfindungen oder ihre Unterschiede selbst, also etwa Druckempfindungsdifferenzen, sondern sie vergleicht die Reize, also etwa Druck- oder Gewichtsgrößen, anhand der Empfindungen. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Man wird ganz gewiß nicht annehmen dürfen, daß das Subjekt unmittelbar die Empfindung A um eine gewisse Größe von der Empfindung B und um eine gleich in der entgegengesetzten Richtung von C als verschieden erlebt, sondern es weiß aus Erfahrung, daß die Gewichte, die den Empfindungen A, B, C entsprechen, ungefähr um gleiche Größen verschieden sind. Die Methode ist also nichts anderes als ein Abschätzen physischer Größen mit Hilfe von Empfindungen; die Schätzung wird natürlich ermöglicht durch die Assoziationen zwischen bestimmten Empfindungsdifferenzen und den Vorstellungen bestimmter Reizgrößen, die sich durch die Erfahrung ausbilden müssen.

Die Richtigkeit dieser Interpretation wird vollkommen bestätigt durch die Resultate, die man durch die Anwendung der erwähnten Maßmethoden erhält. Die Methode der mittleren Abstufungen liefert nämlich, wenn man die Intervalle nur hinreichend groß nimmt, das sogenannte Merkelsche Gesetz, welches (freilich, wie wir jetzt sehen, in unzutreffender Ausdrucksweise) lautet: "Die Empfindung wächst proportional dem Reiz." Dies ist aber genau die Formulierung, die man erwarten muß, wenn unsere Anschauung zutreffend ist und wenn man annimmt, daß die Schätzung der Reizstärken anhand der Empfindungen einigermaßen korrekt stattfindet. Erlaubten die verschiedenen Methoden wirklich die Messung psychischer Größen im Sinne einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, so müßten sie natürlich zu demselben Ergebnis führen. Das ist aber bekanntlich nicht der Fall, denn die Minimalmethoden führen auf das Webersche Gesetz, nach welchem die Empfindung proportional dem Lograrithmus des Reizes wächst. Man hat diese Diskrepanz auf mancherlei künstliche Weise zu erklären versucht, aber sie ist nach der oben entwickelten Anschauung die natürlichste Sache der Welt, da die beiden Methoden es ja mit der Feststellung ganz verschiedener Tatsachen zu tun haben: bei der einen werden die Reizdifferenzen gemessen, für welche eine merkliche Empfindungsveränderung auftritt, bei der anderen werden Reizdifferenzen anhand von Empfindungsunterschieden abgeschätzt. Wären Empfindungen addierbare und teilbare Größen, so würde man beide Methoden (falls man zugleich annähme, bei derjenigen der mittleren Abstufungen würden wirlich die Empfindungen selbst verglichen) zu ihrer Messung benutzen können. Sie müßten dann aber auch zu demselben Resultat führen.

Trotz alledem kann man in einem bestimmten Sinn von einer Messung der Empfindung reden, welche die Psychophysik auch wirklich leistet. Zwar nicht in einem eigentlich naturwissenschaftlichen Sinn, in welchem Messen soviel bedeutet wie eine Größe mit einer anderen, der Einheit, vergleichen und angeben, wie oft diese Einheit in ihr enthalten ist - eine solche Messung ist nur bei extensiven (d. h. addierbaren und teilbaren) Größen möglich -, sondern in dem Sinne, daß man ganz bestimmten Empfindungsintensitäten ganz bestimmte Zahlen zuordnet, so daß man die ersteren durch die letzteren auf diese Weise eindeutig bezeichnet. Bei dieser Zuordnung, zu welcher eben die psychophysischen Methoden dienen, kann man natürlich willkürlich verfahren und das 'Webersche und Merkelsche Gesetz drücken weiter nichts aus als zwei solche verschiedene Zuordnungen; man bezeichnet in ihnen dieselben Empfindungen einmal durch eine arithmetische, einmal durch eine logarithmische Zahlenreihe.

Übrigens begnügt sich auch die Naturwissenschaft oft mit dieser besonderen Art der Messung, wo wie mit ihrer eigentümlichen Begriffsbildung noch nicht bis zum letzten Ende vordringen konnte. Die Temperatur z. B. betrachtet sie zunächst als rein intensive Größe; in der Tat, sie ist nicht teilbar oder addierbar; denn wenn man etwa eine Temperatur von auf 12° erhöht, so hat man natürlich nicht eine Temperatur von zu einer solchen von hinzugefügt. Hier mißt man also auch durch Zuordnung von Zahlen zu verschiedenen Temperaturen, und das muß wieder auf willkürliche Weise geschehen, indem man Thermometersubstanz und -skala nach Übereinkunft festsetzt. Solange man hierbei stehen bleibt, ist tatsächlich das Gebiet der Temperatur von den übrigen physikalischen Disziplinen ganz so scharf geschieden wie das Psychische vom Physischen: es besteht nur eine Zuordnung, keine Zurückführung auf einander. Der große Unterschied zwischen beiden Gegensätzen aber ist der, daß im einen Fall die Zurückführung durchaus möglich, ja prinzipiell wohl schon als erreicht anzusehen ist, indem man die Temperatur mechanisch interpretiert und sie so durch eine addierbare und teilbare Größe ersetzt, welche dann im eigentlichen Sinn gemessen, d. h. als Summe von Einheiten aufgefaßt werden kann; im Fall des Psychischen dagegen ist die Grenze der Begriffsbildung definitiv, hier ist eine andere Art der Messung als durch eine bloße Zuordnung prinzipiell ausgeschlossen, weil psychische Elemente nicht wie die Temperatur durch passendere Begriffe ersetzt werden können, sondern als schlechthin gegebene Realitäten keine begriffliche Umwandlung zulassen. Sie können daher, an sich unräumlich, nicht auf räumliche Verhältnisse reduziert werden und nur solche sind in letztere Linie direkt meßbar.

Nur die Zeitlichkeit haben die psychischen Prozesse mit den physischen gemeinsam, und ihre Zeitdauer wird dann auch oft gemessen (Reaktionsversuche, Feststellung von Gedächtnisleistungen usw.); aber das bedeutet natürlich nicht eine Reduktion qualitativer Gesetzmäßigkeiten auf rein quantititavie Verhältnisse.

So besteht also eine prinzipielle Unmöglichkeit, das psychische Geschehen jemals der exakt-naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zu unterwerfen. Seine Gesetze sind rein qualitativer Natur und fallen damit für immer der philosophischen Denkmethode zur Behandlung zu. Man könnte zwar, wie wir sahen, eine zahlenmäßige Behandlungsweise einführen durch eine Zuordnung von Zahlen zu Intensitäten (von den unüberwindlichen technischen Schwierigkeiten, die sich einer Verallgemeinerung der psychischen Maßmethoden über das Gebiet der Sinnesempfindungen hinaus entgegenstellen würden, sehe ich bei diesen prinzipiellen Erörterungen ab), aber damit wäre nur eine besondere Bezeichnungsweise gegeben, im Prinzip nichts gewonnen; die verschiedenen Qualitäten ständen sich in ihrer Einfachheit nach wie vor unreduzierbar gegenüber, von der bloßen Zuordnung zur quantitativen Reduktion gäbe es keinen Übergang.

6. Die unmittelbaren Daten des Bewußtseins, mit denen es die Psychologie zu tun hat, bieten das nächstliegende und unzweifelhafteste Beispiel von Größen, die von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nicht bemeistert werden können, sie sind für uns die Qualitäten kat exochen [schlechthin - wp]. Dieser Unterschied macht es einerseits verständlich, daß solche Autoren, die die Psychologie nicht selbst zu den philosophischen Wissenschaften rechnen, sie doch als "die erste Hilfswissenschaft der philosophischen Disziplinen" (16) angesehen wissen wollen, andererseits erklärt er auch, daß man, wie dies in der Gegenwart zuweilen geschieht, Naturwissenschaft und Philosophie als die Wissenschaften der "äußeren und der inneren Erfahrung" definieren und einander gegenüberstellen konnte. Man ist sich eben des ganz besonderen, der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung entgegengesetzten Charakters der sogenannten inneren Erfahrung wohl bewußt und erkennt in ihm richtig den eigentlichen philosophischen Charakter, übersieht aber dabei, daß er auch noch anderswo angetroffen wird, und daß sein wahres Wesen in der rein qualitativen Natur der betreffenden Begriffsbildungen zu suchen ist.

Wären die psychischen die einzigen existierenden Qualitäten, so würde die zuletzt erwähnte Definition der Philosophie mit der meinen zusammenfallen. Doch dies trifft nicht zu, denn gesetzt, es gelänge der Naturwissenschaft, alle Qualitäten aus der äußeren oder - um den korrekteren Ausdruck 'WUNDTs zu gebrauchen - mittelbaren Erfahrung zu eliminieren, so würden doch zumindest Raum und Zeit übrig bleiben, und es erwüchse die Aufgabe, zwischen ihnen und den Phänomenen der inneren, unmittelbaren Erfahrung die qualitative Verknüpfung zu finden: wiederum eine philosophische Aufgabe; ihre Lösung wäre Sache der Erkenntnistheorie, oder vielleicht der Metaphysik. Vorläufig begegnen wir aber in allen Wissenschaften der äußeren Erfahrung noch zahllosen unreduzierten Qualitäten; die meisten Gesetzmäßigkeiten können wir nur erst in qualitativer Form aussprechen. Äußerst langsam nähert sich die Begriffsbildung der Einzelwissenschaften ihren letzten Zielen, aber das Erkenntnisstreben des Menschen drängt weiter, und so macht dann, dem Lauf jener voraneilend, die Philosophie es sich zur Aufgabe, Gesichtspunkte zu finden, von welchen aus diese Vielheit der Qualitäten schon jetzt zu einer Einheit verschmolzen scheint; mit anderen Worten: sie sucht die Resultate und Anschauungsweisen der Einzelwissenschaften zu einer allgemeinen Weltanschauung zusammenzufassen, wozu diese selbst nicht aus eigenen Mitteln imstande sind.

Diese vermittelnde und zusammenfassende Tätigkeit der Philosophie wird in der Gegenwart mit Vorliebe als ihre einzige Aufgabe, als ihr wesentliches Charakteristikum angesehen und zu ihrer Definition benutzt. Die Philosophie wird demnach bestimmt als "die allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat". (17) Die Vereinigung geschieht in der Weise, daß die Grundbegriffe der einzelnen Wissenschaften untersucht, in Beziehung zueinander gesetzt und so in Einklang miteinander gebracht werden; diese Grundbegriffe sind eben die letzten Qualitäten, auf welche die speziellen Disziplinen stoßen und an denen sich nun die Philosophie versucht.

Hiermit ist wohl die wichtigste, aber nicht die einzige Aufgabe der Philosophie gekennzeichnet und die obige Definition muß deshalb als zu eng zurückgewiesen werden. Sie erklärt nicht, warum die Bearbeitung ganz bestimmter spezieller Wissenschaften, wie besonders der Ethik, Ästhetik und auch der Psychologie von jeher als natürliches Geschäft des Philosophen erschien, während seine Einmischung in andere Disziplinen oft übel empfunden wurde; sie trägt, kurz ausgedrückt, der Tatsache keine Rechnung, daß gewisse Einzedisziplinen in besonders hohem Grad ein philosophischer Charakter zukommt, obgleich sie keineswegs zu den allgemeinsten, ein sehr weites Gebiet umfassenden, gehören. Die Definition der Philosophie als Lehre von den Qualitäten dagegen schmiegt sich den im Reich der Wissenschaften tatsächlich und von Natur bestehenden Verwandtschaftsverhältnissen auf das Engste an und folgt mit Leichtigkeit den Grenzverschiebungen, die manchmal dadurch entstehen, daß mit dem Fortschritt der Erkenntnis eine Einzelwissenschaft sich eines Gebietes bemächtigt, auf dem bis dahin nur die allgemein philosophische Spekulation schaltete.

Es dient vielleicht noch zur Klärung, mit unserer Gegenüberstellung der mathematisch-naturwissenschaftlichen und philosophischen Begriffsbildung die gewohnte allbekannte Einteilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften zu vergleichen. Bei einer ganz oberflächlichen Betrachtung möchten vielleicht beide Grenzbestimmungen sich zu decken scheinen; aber das ist in Wirklichkeit ganz und gar nicht der Fall. Denn die geistigen, das heißt doch wohl psychischen, Qualitäten sind, wie schon bemerkt, keineswegs die einzigen, mit denen die Wissenschaft es zu tun hat; die philosophische Begriffsbildung ist daher nicht etwa auf die Geisteswissenschaften beschränkt, sondern findet reichlich Platz zur Entfaltung innerhalb der Naturwissenschaften, wie sie gegenwärtig sind, ja die letzteren mit ihrer Fülle qualitativer Relationen, die sie noch aufweisen, bieten gerade das Hauptfeld für ihre Tätigkeit; denn die sogenannten Geisteswissenschaften sind zum größeren Teil arm an gesetzmäßigen Erkenntnissen, reich nur an Tatsachenanhäufungen.

Unter den Philosophen finden wir den fundamentalen Gegensatz zwischen der mathematisch-naturwissenschaftlichen und der qualitativen Betrachtungsweise der Dinge mit allem Nachdruck betont von 'ALOIS RIEHL, dessen Entwicklungen daher gewissermaßen auf die oben dargelegte Anschauung von der Eigenart philosophischer Begriffsbildung hinzudrängen scheinen, wenn er meine Definition auch nicht explizit ausspricht.
    "Aus Gründen der Methode", so meint er (18), "ist die exakte Naturwissenschaft genötigt, bloß einen Teil der Wirklichkeit zu betrachten, - denjenigen Teil, der sich der Messung und Rechnung unterwerfen läßt. Die logische Voraussetzung aber für die Anwendung der messenden und rechnenden Methode ist die Gleichartigkeit der Größen. Also muß die theoretische Naturforschung von der Ungleichartigkeit der Qualitäten abstrahieren ..."
Hierdurch ist der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung dieselbe unüberschreitbare Grenze gezogen, durch die wir sie oben von der philosophischen geschieden haben.

7. Durch die scharfe Trennung beider Arten von Begriffsbildung scheint nun ein unversöhnbarer Dualismus des Erkennens statuiert zu sein (der sich übrigens nicht mit dem Gegensatz anschaulicher und begrifflicher Erkenntnis deckt, denn nicht alle Qualitäten sind anschaulicher, nicht alle Begriffe quantitativer Natur). Aber der Dualismus ist kein endgültiger, sondern beide Erkenntnisarten wachsen aus einer gemeinsamen Wurzel hervor, wie eine einfache psychogenetische Untersuchung der wissenschaftlichen Begriffe jederzeit lehren kann.

Zunächst ist im Bewußtsein nichts gegeben als eine Mannigfaltigkeit von Qualitäten; der Begriff der Quantität mit allen seinen Anwendungen ist erst eine Schöpfung des menschlichen Geistes, begünstigt durch den Umstand, daß die vorgefundene Ordnung der Qualitäten keine kontinuierliche [stetig, beliebige Zahlenwerte - wp], sondern eine diskrete [nur ganzzahlig - wp] ist. Durch die Unstetigkeit wird Zählbarkeit ermöglicht und damit Messung. Da übrigens alle Diskontinuitäten in Raum und Zeit auftreten, so sieht man, warum diese beiden die letzten Grundbegriffe der exakten Naturwissenschaft sein müssen. Doch die nähere Untersuchung dieser Verhältnisse ist Aufgabe der Erkenntnistheorie.

Bedenken wir diesen sekundären Charakter der quantitativen Begriffsbildung, welche erst durch eine Eliminierung der ursprünglichen Qualitäten ins Dasein tritt, so mag wohl der Gedanke aufsteigen, daß vielleicht die gesamte raum-zeitliche Naturwissenschaft, die uns die ganze Welt in ein System rein quantitativer Beziehungen aufzulösen strebt, nichts anderes ist als nur ein Mittel, die Wirklichkeit in einer für unsere Erkenntnis zugänglichen Weise darzustellen, und das von ihr geschaffene Weltbild nichts als ein Zeichensystem, das einer qualitativen Welt korrespondiert. Und man könnte die Meinung 'RIEHLs, nach welcher die Dinge neben den quantitativen Wirkungen (welche die exakte Naturwissenschaft untersucht) auch qualitative Wirkungen untereinander austauschen, dahin erweitern, daß man den Dingen, wie sie unabhängig von unserer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sind, nur qualitative Beziehungen zuschreibt und damit den Gegensatz des Quantitativen und Qualitativen allein zu einem Gesetz der Betrachtungsweise macht und nicht zwischen den Dingen selbst zwei verschiedene Arten realer Beziehungen annimmt. Das naturwissenschaftliche Weltbild würde dann nicht nur einen Teil der Wirklichkeit darstellen, denjenigen Teil, den man durch ein Weglassen der Qualitäten erhält, sondern es würde die ganze Welt darstellen, in der ihm eigentümlichen Ausdrucks- und Bezeichnungsweise, wie auch die rein qualitative unendliche Mannigfaltigkeit der unmittelbaren Erfahrung die ganze überhaupt erfahrbare Welt ohne Rest darstellt, wiederum in der ihr allein eigentümlichen Art.

Solche Gedanken aber weiter zu verfolgen und die Frage zu beantworten, welche von beiden Auffassungsweise etwa der realen Natur der Dinge entspricht - falls nicht die Erkentnistheorie die Unlösbarkeit oder Sinnlosigkeit der Frage darlegen kann - das wäre wieder eine philosophische Aufgabe, und ihre Lösung Sache der Metaphysik.
LITERATUR - Moritz Schlick, Die Grenze der naturwissenschaftlichen und philosophischen Begriffsbildung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 34, Neue Folge IX, Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Rede, Straßburg 1894 und daran anschließend: Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Freiburg. Br. 1896-1902.
    2) Vgl. Seite 255 der eingehenden Kritik von Rickerts Buch durch Frischeisen-Köhler, Archiv für systematische Philosophie, Bd. XII.
    3) Dasselbe bemerkt beiläufig Wundt, System der Philosophie, Bd. 1, Seite 141: "Auf diese Weise sind die Allgemeinbegriffe nur Hilfsmittel für die Analyse des Einzelnen, und nirgends besteht in ihrer Gewinnung der eigentliche Zweck der Erkenntnis, der überall auf die Tatsachen selbst gerichtet ist."
    4) Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Riga 1786, Seite VIII.
    5) Vgl. z. B. Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, fünfte Auflage, Seite 280. Wundt, Menschen- und Tierseele, dritte Auflage, Seite 23.
    6) Ostwald, Naturphilosophie, zweite Auflage, Leipzig 1902, Seite 396.
    7) Ostwald, a. a. O., Seite 398
    8) Ähnliches bemerkt gegen Ostwald, wie ich nachträglich sehe, Hausdorrf in Schottens "Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht", 1902, Seite 192.
    9) F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. II, Reclam-Ausgabe, Seite 204.
    10) Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, Seite X
    11) Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889.
    12) Münsterberg, Beiträge zur experimentellen Psychologie, Heft 3, Seite 4
    13) Meinong, Über die Bedeutung des Weberschen Gesetzes, 1896.
    14) Witasek, Grundlinien der Psychologie, 1908, Seite 114.
    15) Wundt, Physiologische Psychlogie, Bd. 1, Seite 497.
    16) Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie, Leipzig 1909, Seite 12.
    17) Wundt, System der Philosophie, Bd. 1, Seite 9.
    18) Riehl, Der philosophische Kritizismus, Bd. II, Seite 59, Leipzig 1879.