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MORITZ SCHLICK
Die Kausalität in
der gegenwärtigen Physik


"Für den Physiker als Erforscher der Wirklichkeit ist es das einzig Wichtige, das schlechthin Entscheidende und Wesentliche, daß die aus irgendwelchen Daten abgeleiteten Gleichungen sich auch für neue Daten bewähren. Erst wenn dies der Fall ist, hält er seine Formel für ein Naturgesetz. Mit anderen Worten: Das wahre Kriterium der Gesetzmäßigkeit, das wesentliche Merkmal der Kausalität ist das  Eintreffen von Voraussagen."

"Die Bestätigung einer Voraussage  beweist im Grunde niemals das Vorliegen von Kausalität, sondern macht sie immer nur  wahrscheinlich. Spätere Beobachtungen können ja das vermeintliche Gesetz stets Lügen strafen, und dann müßten wir sagen, daß es  nur zufällig gestimmt hat. Eine endgültige Verifikation ist also, prinzipiell gesprochen unmöglich."

"Prüfbar sind bekanntlich immer nur die Einzelaussagen, die aus einem Naturgesetz abgeleitet werden und diese haben stets die Form: Unter den und den Umständen wird dieser Zeiger auf jenen Skalenstrich weisen, unter den und den Umständen tritt an dieser Stelle der photographischen Platte eine Schwärzung ein, und ähnlich. Von dieser Art sind die verifizierbaren Aussagen, von dieser Art ist jede Verifikation."

"Die Unmöglichkeit, alle Daten eines Zustandes exakt zu messen, verhindert die Vorherbestimmung des weiteren Ablaufs. Dadurch verliert das Kausalitätsprinzip in seiner üblichen Fassung jeden Sinn. Denn wenn es prinzipiell unmöglich ist, alle Bedingungen (Ursachen) eines Vorgangs zu kennen, so ist es leeres Gerede, zu sagen, jedes Ereignis habe eine Ursache."


1. Vorbemerkungen

Unendlich ist die Zahl der denkbaren, logisch möglichen physikalischen Welten; aber die menschliche Phantasie erweist sich als erstaunlich arm, wenn sie neue Möglichkeiten darin auszudenken und durchzudenken versucht. Ihr Vorstellungsvermögen ist so fest an die anschaulichen Verhältnisse der gröberen Erfahrung gebunden, daß es sich auf eigene Faust kaum einen Schritt von dieser entfernen kann; erst der strenge Zwang der feineren wissenschaftlichen Erfahrung vermag das Denken von seinen gewohnten Standpunkten fortzuziehen. Das bunteste Märchenreich der 1001 Nächte ist nur aus den Bausteinen der Welt des täglichen Lebens durch im Grund ganz geringfügige Umgruppierungen des vertrauten Materials gebildet. Und wenn man die kühnsten und tiefsten philosophischen Systeme genauer betrachtet, so sieht man, daß von ihnen schließlich dasselbe gilt: war es beim Dichter ein Bauen mit anschaulichen Bildern, so ist es beim Philosophen ein Konstruieren mit abstrakteren, aber doch gewohnten Begriffen, aus denen mit Hilfe ziemlich durchsichtiger Kombinationsprinzipien neue Gebilde geformt werden.

Auch der Physiker verfährt bei seinen Hypothesenbildungen zunächst nicht anders. Das zeigt besonders die Zähigkeit, mit der er jahrhundertelang an dem Glauben festhielt, daß zur Naturerklärung eine Nachbildung der Prozesse durch sinnlich-anschaulich vorstellbare Modelle nötig sei, so daß er z. B. den Lichtäther immer wieder mit den Eigenschaften sichtbarer und greifbarer Substanzen ausstatten wollte, obgleich nicht der geringste Grund dazu vorlag. Erst wenn die beobachteten Tatsachen ihm die Verwendung neuer Begriffssysteme nahelegen oder aufdrängen, sieht er die neuen Wege und reißt sich von seinen bisherigen Denkgewohnheiten los - dann aber auch bereitwillig, und leicht macht er den Sprung etwa zum RIEMANNschen Raum oder zur EINSTEINschen Zeit, zu Konzeptionen so kühn und tief, wie sie weder die Phantasie eines Dichters noch der Intellekt irgendeines Philosophen zu antizipieren vermocht hätte.

Die Wendung, zu der die Physik der letzten Jahre in der Frage der  Kausalität  gelangt ist, konnte ebenfalls nicht vorausgesehen werden. Soviel auch über Determinismus und Indeterminismus, über Inhalt, Geltung und Prüfung des Kausalprinzips philosophiert wurde - niemand ist gerade auf diejenige Möglichkeit verfallen, welche uns die Quantenphsyik als den Schlüssel anbietet, der die Einsicht in die Art der kausalen Ordnung öffnen soll, die in der Wirklichkeit tatsächlich besteht. Erst nachträglich erkennen wir, wo die neuen Ideen von den alten abzweigen, und wundern uns vielleicht ein wenig, früher an der Kreuzungsstelle immer achtlos vorbeigegangen zu sein. Jetzt aber, nachdem die Fruchtbarkeit der quantentheoretischen Begriffe durch die außerordentlichen Erfolge ihrer Anwendung dargetan ist und wir schon einige Jahre Gelegenheit zur Gewöhnung an die neuen Ideen gehabt haben, jetzt dürfte der Versuch nicht mehr verfrüht sein, zur philosophischen Klarheit über den Sinn und die Tragweite der Gedanken zu kommen, welche die gegenwärtige Physik zum Kausalproblem beiträgt.


2. Kausalität und Kausalprinzip

Die Bemerkung, daß philosophische Betrachtungen infolge ihrer engen Bindung an das vorhandene Gedankenmaterial die später gefundenen Möglichkeiten nicht voraussahen, gilt auch von den Erwägungen, die ich vor mehr als zehn Jahren vorgetragen habe (Naturphilosophische Betrachtungen über das Kausalprinzip, in "Die Naturwissenschaften", Jhg. 8, 1920, Seite 461 - 474). Dennoch ist es vielleich nicht unzweckmäßig, an einigen Punkten an die älteren Überlegungen anzuknüpfen; der inzwischen erzielte Fortschritt kann dadurch nur umso deutlicher werden.

Es gilt zunächst festzustellen, was der Naturforscher eigentlich meint, wenn er von "Kausalität" spricht. Wo gebraucht er dieses Wort? Offenbar überall da, wo er eine "Abhängigkeit" zwischen irgendwelchen Ereignissen annimmt. (Daß nur Ereignisse, nicht etwa "Dinge", als Glieder eines Kausalverhältnisses in Frage kommen, versteht sich heute von selbst, denn die Physik baut die vierdimensionale Wirklichkeit aus Ereignissen auf und betrachtet "Dinge", etwa dreidimensionale Körper, als bloße Abstraktionen.) Was bedeutet aber "Abhängigkeit"? Sie wird in der Wissenschaft jedenfalls immer durch ein  Gesetz  ausgedrückt; Kausalität ist demnach nur ein anderes Wort für das Bestehen eines Gesetzes. Den Inhalt des Kausal prinzips  bildet nun offenbar die Behauptung, daß  alles  in der Welt gesetzmäßig geschieht; es ist ein und dasselbe, ob wie die Geltung des Kausalprinzips behaupten oder das Bestehen eines  Determinismus  [Vorherbestimmtheit - wp]. Um den Kausalsatz oder die deterministische These formulieren zu können, müssen wir zuerst definiert haben, was unter einem Naturgesetz oder unter der "Abhängigkeit" der Naturvorgänge voneinander zu verstehen ist. Denn erst wenn wir dies wissen, können wir den Sinn des Determinismus verstehen, welcher besagt, daß  jedes  Ereignis Glied einer Kausalbeziehung sei, daß  jeder  Versuch, eine Aussage über "alle" Naturvorgänge zu machen, zu logischen Schwierigkeiten führen könnte, soll dabei unerörtert bleiben.)

Wir unterscheiden also jedenfalls die Frage nach der Bedeutung des Wortes "Kausalität" oder "Naturgesetz" von der Frage nach der Geltung des Kausalprinzips oder Kausalsatzes und beschäftigen uns zunächst allein mit der ersten Frage.

Die Unterscheidung, die wir damit machen, fällt sachlich mit derjenigen zusammen, die HANS REICHENBACH in seiner Arbeit "Die Kausalstruktur der Welt" (Sitzungsbericht der bayer. Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-physikalische Klasse, 1925, Seite 133) an den Anfang seiner Untersuchung stellt. Er spricht dort vom Unterschied zweier "Formen der Kausalhypothese". Die erste nennt er die "Implikationsform". Sie liegt vor, "wenn die Physik Gesetze aufstellt, d. h. Aussagen macht von der Form:  wenn A ist, dann ist B".  Die zweite ist die "Determinationsform der Kausalhypothese"; sie ist identisch mit dem Determinismus, welcher besagt, daß der Ablauf der Welt als Ganzes "unveränderlich feststeht, daß mit einem einzigen Querschnitt der vierdimensionalen Welt Vergangenheit und Zukunft völlig bestimmt sind." Mir scheint es einfacher und treffender, den gedachten Unterschied als den Unterschied zwischen Kausalbegriff und Kausalprinzip zu charakterisieren.

Es handelt sich jetzt also um den Inhalt des Kausalbegriffs. Wann sagen wir, daß ein Vorgang  A  einen anderen  B  "bestimmt", daß  B  von  A  "abhängt", daß  B  mit  A  durch ein  Gesetz  verknüpft ist? Was bedeuten in dem Satz  wenn A, so B  die das Kausalverhältnis anzeigenden Worte  wenn - so? 


3. Gesetz und Ordnung

In der Sprache der Physik wird ein Naturvorgang dargestellt als ein Verlauf von Werten bestimmter physikalischer Größen. Wir merken schon hier an, daß natürlich im Verlauf immer nur eine endliche Zahl von Werten gemessen werden kann, daß also die Erfahrung immer nur eine diskrete Mannigfaltigkeit von Beobachtungszahlen liefert, und ferner, daß jeder Wert als mit einer bestimmten Ungenauigkeit behaftet angesehen wird.

Es sei uns nun eine Menge solcher Beobachtungszahlen gegeben, und wir fragen ganz allgemein: Wie muß diese Menge beschaffen sein, damit wir sagen, es sei durch sie ein  gesetzmäßiger  Verlauf dargestellt, es bestehe eine kausale Beziehung zwischen den beobachteten Größen? Wir dürfen dabei voraussetzen, daß die Daten bereits eine natürliche Ordnung besiten, nämlich die räumlich-zeitliche, d. h. jeder Größenwert bezieht sich auf eine bestimmte Stelle des Raums und der Zeit. Es ist zwar richtig, daß wir erst mit Hilfe kausaler Betrachtungen dazu gelangen, den Ereignissen ihre definitive Stelle in der physikalischen Raum-Zeit anzuweisen, indem wir von der phänomenalen Raum-Zeit, welche die natürliche Ordnung unserer Erlebnisse darstellt, zur physikalischen Welt übergehen; aber diese Komplikation kann außer Betracht bleiben für unsere Überlegungen, die sich ganz auf den Bereich des physikalischen Kosmos beschränken. Als fundamentalste Voraussetzung liegt ferner eine Annahme zugrunde, auf die ich nur im Vorübergehen hinweise, da sie in einer früheren Arbeit bereits besprochen wurde ("Naturwissenschaften", a. a. O., Seite 463): es ist die Voraussetzung, daß in der Natur irgendwelche "Gleichheiten" auftreten in dem Sinne, daß verschiedene Weltbezirke überhaupt miteinander  vergleichbar  sind, so daß wir z. B. sagen können: "dieselbe" Größe, die an diesem Ort den Wert  f1  hat, hat an jenem Ort den Wert  f2.  Die Vergleichbarkeit ist also eine der Vorbedingungen der Meßbarkeit. Es ist nicht leicht, den eigentlichen Sinn dieser Voraussetzung anzugeben, wir dürfen aber hier nicht darüber hinweggehen, da diese letzte Analyse für unser Problem gleichfalls irrelevant ist.

Nach diesen Bemerkungen reduziert sich unsere Frage nach dem Inhalt des Kausalbegriffs auf diese: Was für eine Eigenschaft muß die räumlich-zeitlich geordnete Menge der Größenwerte haben, damit sie als Ausdruck eines "Naturgesetzes" aufgefaßt wird? Diese Eigenschaft kann nichts anderes sein als wieder eine  Ordnung,  und zwar, da die Ereignisse extensiv in Raum und Zeit bereits geordnet sind, eine Art von  intensiver  Ordnung. Diese Ordnung muß in einer  zeitartigen  Richtung stattfinden, denn bekanntlich sprechen wir bei einer Ordnung in raumartiger Richtung (populär ausgedrückt: bei "gleichzeitigen", koexistierenden Ereignissen) nicht von Kausalität; der Begriff des Wirkens findet dort keine Anwendung. Regelmäßigkeiten in raumartiger Richtung, falls es solche geben sollte, würde man "Koexistenzgesetze" nennen.

Nach der Beschränkung auf die Zeitdimension müssen wir aber nun, glaube ich, sagen:  Jede  Ordnung der Ereignisse in der Zeitrichtung, welcher Art sie auch sonst sein möge, ist als kausale Beziehung aufzufassen. Nur das vollständige Chaos, gänzliche Regellosigkeit, wäre als akausales Geschehen, als reiner Zufall zu bezeichnen; jede Spur einer Ordnung würde schon Abhängigkeit, also Kausalität bedeuten. Ich glaube, daß diese Verwendung des Wortes "kausal" einen besseren Anschluß an den natürlichen Sprachgebrauch ergibt, als wenn man das Wort, wie es viele naturphilosophische Autoren zu tun scheinen, auf eine solche Ordnung beschränken würde, die wir etwa als "Vollkausalität" bezeichnen könnten, womit so etwas wie "völlige Determiniertheit" des betrachteten Geschehens gemeint sein soll (wir können uns natürlich hier nur inexakt ausdrücken). Wollte man die Bedeutung des Wortes Vollkausalität einschränken, so setzte man sich der Gefahr aus, in der Natur überhaupt keine Verwendung dafür zu finden, während wir doch das Bestehen von Kausalität  in irgendeinem Sinn  als Erfahrungstatsache vorfinden. Und die Grenze zwischen Gesetz und Zufall an irgendeiner anderen Stelle zu ziehen, wäre erst recht kein Anlaß.

Die einzige Alternative, vor der wir stehen, ist also: Ordnung oder Unordnung? Identisch mit Ordnung ist Kausalität und Gesetz, identisch mit Unordnung Regellosigkeit und Zufall.

Das bisherige Resultat scheint also zu sein: ein durch eine Menge von Größenwerten beschriebener Naturvorgang heißt kausal oder gesetzmäßig, wenn jene Werte in zeitartiger Richtung überhaupt irgendeine Ordnung aufweisen. Diese Definition wird aber erst sinnvoll, wenn wir wissen, was unter "Ordnung" zu verstehen ist, wie sie sich vom Chaos unterscheidet. Eine höchst bedenkliche Frage!


4. Definitionsversuche
der Gesetzmäßigkeit

Daß wir im täglichen Leben wie in der Wissenschaft den Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Gesetzmäßigkeit und Regellosigkeit ziemlich deutlich machen, ist sicher. Wie sollen wir ihn fassen? Im ersten Augenblick scheint die Antwort nicht so schwer zu sein. Wir brauchen ja, so scheint es, nur nachzusehen, auf welche Weise die Physik tatsächlich Naturgesetze darstellt, in welcher Form sie die Abhängigkeit von Ereignissen beschreibt. Nun, diese Form ist die mathematische  Funktion.  Die Abhängigkeit eines Ereignisses von anderen wird dadurch ausgedrückt, daß die Werte eines Teils der Zustandsgrößen als Funktionen der übrigen dargestellt werden. Jede Ordnung von Zahlen wird mathematisch durch eine Funktion dargestellt; und so scheint es, als ob das gesuchte Kennzeichen der Ordnung, das sie von der Regellosigkeit unterscheidet, die Ausdrückbarkeit durch eine Funktion ist.

Aber kaum ist dieser Gedanke der Identität von Funktion und Gesetz ausgesprochen, so sieht man auch schon, daß er unmöglich richtig sein kann. Denn wie immer die Verteilung der gegebenen Größen sein mag: es lassen sich bekanntlich  stets  Funktionen finden, welche gerade diese Verteilung mit beliebiger Genauigkeit darstellen. Und dies bedeutet, daß jede beliebige Verteilung der Größen, jede nur denkbare Folge von Werten als eine Ordnung anzusehen wäre. Es gäbe kein Chaos.

Auf diese Weise gelingt es also nicht, Kausalität von Zufall, Ordnung und Unordnung zu unterscheiden und Regel und Gesetz zu definieren. Es scheint nur übrigzubleiben - und dieser Weg wurde auch in unseren früheren Betrachtungen eingeschlagen - an die Funktionen, welche die beobachteten Wertfolgen beschreiben, gewisse Anforderungen zu stellen und durch sie den Begriff der Ordnung festzulegen. Wir würden sagen müssen: Wenn die Funktionen, welche die Größenverteilung beschreiben, einen so und so bestimmten Bau haben, dann soll der dargestellte Ablauf als gesetzmäßig, sonst als ungeordnet gelten.

Damit sind wir in eine ziemlich verzweifelte Lage geraten, denn es ist klar, daß auf diesem Weg der Willkür Tür und Tor geöffnet wird, und eine auf so willkürlicher Basis beruhende Unterscheidung von Gesetz und Zufall könnte niemals befriedigen, es sei denn, es ließe sich eine so prinzipielle und scharfe Unterscheidung im Bau der Funktionen festlegen, die zugleich eine so sichere empirische Anwendungsmöglichkeit besäße, daß jedermann sie sogleich als die richtige Formulierung der Begriffe Gesetzmäßigkeit und Regellosigkeit anerkennen würde, wie man sie in der Wissenschaft zu verwenden pflegt.

Hier bieten sich sogleich zwei Wege dar, die man beide einzuschlagen versucht hat. Der erste wurden bereits von MAXWELL benutzt, um die Kausalität zu definieren. Er besteht darin, daß wir vorschreiben: es dürfen in den Gleichungen, die den fraglichen Ablauf beschreiben, die Raum- und Zeitkoordinaten nicht explizit vorkommen. Diese Forderung ist dem Gedanken äquivalent, der populär in dem Satz ausgesprochen zu werden pflegt: Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen. In der Tat, sie bedeutet ja, daß ein Vorgang, der sich irgendwo und irgendwann in bestimmter Weise abspielt, an jedem beliebigen anderen Ort und zu jeder beliebigen Zeit unter denselben Bedingungen sich genau in derselben Weise abspielen wird; mit anderen Worten: die Vorschrift besagt die  Allgemeingültigkeit  des dargestellten Zusammenhangs. Die allgemeine Geltung ist aber, wie man längst erkannt hat, gerade das, was man bei den Naturgesetzen mit dem fragwürdigen Ausdruck "Notwendigkeit" bezeichnete, so daß es scheint, als wäre der wesentliche Charakter des Kausalverhältnisses durch diese Bestimmung richtig getroffen.

Zur MAXWELL'schen Definition der Naturgesetzlichkeit für die ich früher (an der mehrfach zitierten Stelle) selbst eingetreten bin, ist folgendes zu sagen:

Zweifellos tritt in der Physik der Gesetzesbegriff nur so auf, daß diese Forderung immer erfüllt ist; tatsächlich denkt kein Forscher daran, Naturgesetze aufzustellen, in denen ein ausdrücklicher Bezug auf bestimmte Ort- und Zeitstellen des Universums vorkäme. Träten Raum und Zeit in den physikalischen Gleichungen explizit auf, so würden sie eine ganz andere Bedeutung haben, als sie in unserer Welt tatsächlich besitzen; die für unser Welbild schlechthin grundlegende Relativität von Raum und Zeit wäre dahin, und sie könnten nicht mehr die eigentümliche Rolle von "Formen" des Geschehens spielen, die sie in unserem Kosmos haben. Es stünde uns also wohl frei, die MAXWELL'sche Bedingung der Kausalität aufrechtzuerhalten - wäre sie aber eine notwendige Bedingung? Das werden wir kaum sagen dürfen, denn sicherlich ist eine Welt denkbar, in der alles Geschehen durch Formeln wiedergegeben werden müßte, in denen Raum und Zeit explizit auftreten, ohne daß wir leugnen würden, daß diese Formeln richtige Gesetze darstellen und daß diese Welt völlig geordnet wäre. Soviel ich sehe, wäre es z. B. denkbar, daß regelmäßige Messungen des Elementarquantums der Elektrizität (Elektronenladung) für diese Größe Werte ergeben würden, die ganz gleichmäßig, etwa in jeweils 7 Stunden, und wieder 7 Stunden, und dann in 10 Stunden, um 5 % auf und ab schwanken, ohne daß man auch nur die geringste "Ursache" dafür finden könnte; und darüber würde sich vielleicht noch eine andere Schwankung lagern, für die man eine absolute Ortsveränderung der Erde im Raum verantwortlich machen würde. Dann wäre die MAXWELL'sche Bedingung nicht erfüllt, aber man würde die Welt gewiß nicht ungeordnet finden, sondern ihre Gesetzmäßigkeit formulieren und mit ihrer Hilfe Voraussagen machen können. Wir werden deshalb zu der Ansicht neigen, daß die MAXWELL'sche Definition zu eng ist, und uns fragen, was denn wohl in dem soeben fingierten Fall als Kriterium der Gesetzmäßigkeit zu gelten hat.

Nun scheint das Entscheidende in diesem gedachten Fall zu sein, daß wir den Einfluß von Raum und Zeit so leicht berücksichtigen konnten, daß sie auf eine so  einfache  Weise in die Formeln eingehen. Würde nämlich in unserem Beispiel etwa die Elektronenladung sich jede Woche und Stunde ganz anders verhalten, in einer völlig "unregelmäßigen Kurve" verlaufen, so könnten wir zwar ihre Abhängigkeit von der Zeit hinterher immer noch durch eine Funktion darstellen, aber diese würde sehr kompliziert sein; wir würden dann sagen, daß keine Gesetzmäßigkeit vorliegt, sondern daß die Schwankungen der Größe vom "Zufall" regiert werden. Fälle solcher Art brauchen wir nicht erst in Gedanken zu konstruieren, sondern die neuere Physik nimmt bekanntlich an, daß sie etwas ganz Alltägliches sind: die diskontinuierlichen Vorgänge im Atom, welche die BOHR'sche Theorie als Sprünge eines Elektrons aus einer Bahn in eine andere deutete, werden als rein zufällig, als "ursachlos" aufgefaßt, obwohl wir uns ihr Eintreffen natürlich nachträglich als Funktion der Zeit aufgezeichnet denken können; aber diese Funktion wäre sehr kompliziert, nicht periodisch, nicht überschaubar, und nur deswegen sagen wir, daß keine Regelmäßigkeit besteht. Sowie sich über die Sprünge die geringst  einfache  Behauptung aufstellen ließe, wenn z. B. die zeitlichen Abstände immer größer würden, so erschiene uns das sofort als eine Gesetzmäßigkeit, wenn auch die Zeit explizit in die Formel einginge.

Hiernach sieht es so aus, als ob wir von Ordnung, Gesetz, Kausalität immer dann sprechen, wenn der Ablauf der Erscheinungen durch Funktionen  einfacher  Gestalt beschrieben wird, während Kompliziertheit der Formel das Kennzeichen der Unordnung, der Gesetzlosigkeit, des Zufalls wäre. So gelangt man sehr leicht dazu, Kausalität durch die  Einfachheit  der beschreibenden Funktionen zu definieren. Einfachheit ist aber ein halb pragmatischer, halb ästhetischer Begriff. Wir können diese Definition deshalb vielleicht die ästhetische nennen. Auch ohne angeben zu können, was hier eigentlich mit "Einfachheit" gemeint ist, müssen wir es doch als Tatsache konstatieren, daß jeder Forscher, dem es gelungen ist, eine Beobachtungsreihe durch eine sehr einfache Formel (z. B. lineare, quadratische, Exponentialfunktion) darzustellen, sofort ganz sicher ist, ein  Gesetz  gefunden zu haben. Also hebt auch die ästhetische Definition, ebenso wie die MAXWELL'sche, offenbar ein Merkmal der Kausalität hervor, das wirklich als entscheidendes Kriterium angesehen wird. Für welchen der beiden Versuche, den Begriff der Gesetzmäßigkeit zu fassen, sollen wir uns entscheiden? Oder sollen wir durch Kombination von beiden eine neue Definition bilden?


5. Unzulänglichkeit der
Definitionsversuche

Wir resümieren die Lage: Für die MAXWELL'sche Definition spricht, daß alle bekannten Naturgesetze ihr tatsächlich genügen und daß sie als adäquater Ausdruck des Satzes "Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen" betrachtet werden kann.  Gegen  sie spricht, daß Fälle  denkbar  sind, in denen wir sicherlich Regelmäßigkeit sehen würden, ohne daß das Kriterium erfüllt wäre.

Für die "ästhetische" Definition spricht, daß sie auch für die eben gedachten Fälle noch zutrifft, in denen die andere versagt, und daß auch zweifellos im Betrieb der Wissenschaft selbst die "Einfachheit" der Funktionen als Kennzeichen von Ordnung und Gesetz benutzt wird.  Gegen  sie aber spricht, daß Einfachheit offenbar ein ganz relativer und unscharfer Begriff ist, so daß eine strenge Definition der Kausalität nicht erreicht wird und Gesetz und Zufall sich nicht genau voneinander unterscheiden lassen. Es wäre ja möglich, daß wir das letztere eben in Kauf nehmen müssen, und daß ein "Naturgesetz" tatsächlich nicht etwas so scharf Faßbares ist, wie man zunächst denken möchte; aber eine solche Ansicht wird man gewiß erst annehmen, wenn man sicher ist, daß keine andere Möglichkeit bleibt.

Es ist sicher, daß man den Begriff der Einfachheit nicht anders als durch eine Konvention festlegen kann, die stets willkürlich bleiben muß. Wohl werden wir eine Funktion ersten Grades als einfacher zu betrachten geneigt sein als eine zweiten Grades, aber auch die letztere stellt zweifellos ein tadelloses Gesetz dar, wenn sie die Beobachtungsdaten mit weitgehender Genauigkeit beschreibt; die NEWTON'sche Gravitationsformel, inder das Quadrat der Entfernung auftritt, gilt doch gerade meist als Musterbeispiel eines einfachen Naturgesetzes. Man kann ferner z. B. übereinkommen, von allen stetigen Kurven, die durch eine vorgegebene Zahl von Punkten mit genügender Annäherung hindurchgehen, diejenige als die einfachste zu betrachten, die im Durchschnitt überall den größten Krümmungsradius aufweist (hierüber eine noch unveröffentlichte Arbeit von MARCEL NATKIN); aber solche Kunstgriffe erscheinen unnatürlich, und allein die Tatsache, daß es  Grade  der Einfachheit gibt, macht die auf sie gegründete Definition der Kausalität unbefriedigend.

Die Sachlage wird noch dadurch verschlimmert, daß es bekanntlich gar nicht auf die Einfachheit eines isolierten Naturgesetzes ankommt, sondern vielmehr auf die Einfachheit des Systems aller Naturgesetze; so hat z. B. die wahre Zustandsgleichung der Gase keineswegs die einfache BOYLE-MARIOTTE'sche Form, wir wissen aber, daß gerade ihre komplizierte Gestalt sich durch ein besonders einfaches System von Elementargesetzen erklären läßt. Für die Einfachheit eines Formel systems  Regeln zu finden, dürfte aber prinzipiell noch viel schwieriger sein. Sie blieben stets vorläufig, so daß sich eine scheinbare Ordnung mit fortschreitender Erkenntnis als Unordnung herausstellen könnte.

So scheint weder das MAXWELL'sche noch das ästhetische Kriterium eine wirklich befriedigende Antwort auf die Frage zu geben, was Kausalität eigentlich ist: die erste erscheint zu eng, die zweite zu vage. Durch eine Kombination beider Versuche wird kein prinzipieller Fortschritt erreicht, und man sieht bald ein, daß die Mängel sich nicht durch irgendwelche Verbesserungen auf dem eingeschlagenen Weg beheben lassen. Die hervorgehobenen Unvollkommenheiten haben offenbar einen tiefliegenden Grund und das bringt uns auf den Gedanken, den bisherigen Ausgangspunkt einer Revision zu unterziehen und uns zu überlegen, ob wir denn mit unserer Fragestellung überhaupt auf dem richtigen Weg waren.


6. Prophezeiung als
Kriterium der Kausalität

Wir gingen bisher davon aus, daß eine bestimmte Werteverteilung vorgegeben ist, und fragten: Wann stellt sie einen gesetzmäßigen, wann einen zufälligen Ablauf dar? Es könnte sein, daß sich diese Frage durch eine bloße Betrachtung der Werteverteilung überhaupt nicht beantworten läßt, sondern daß es notwendig ist, über diesen Bereich hinauszugehen.

Betrachten wir für einen Augenblick die Konsequenzen, die das über den Kausal begriff  Gesagte für das Kausal prinzip  hat! Wir denken uns in einem physikalischen System während einer bestimmten Zeit für möglichst viele Punkte des Innern und an den Grenzen die Zustandsgrößen durch Beobachtung möglichst genau festgelegt. Man pflegt nun zu sagen, das Kausalprinzip gilt, wenn sich aus dem Zustand des Systems während einer sehr kleinen Zeit und aus den Grenzbedingungen alle übrigen Zustände des Systems ableiten lassen. Eine solche Ableitung ist aber  unter allen Umständen  möglich, denn nach dem Gesagten kann man stets Funktionen finden, die alle beobachteten Werte mit beliebiger Genauigkeit darstellen, und sowie wir solche Funktionen haben, können wir mit ihrer Hilfe aus irgendeinem Zustand des Systems alle früheren oder späteren  bereits beobachteten  Zustände berechnen. Die Funktionen sind ja gerade so gewählt, daß sie eben alles im System Beobachtete darstellen. Mit anderen Worten: das Kausalprinzip wäre  unter allen Umständen  erfüllt. Ein Satz aber, der für jedes beliebige System gilt, wie es auch beschaffen sein mag, sagt überhaupt nichts über dieses System, er ist  leer,  er stellt eine bloße Tautologie dar, es ist zwecklos, ihn aufzustellen. Wenn also der Kausalsatz wirklich etwas sagen soll, wenn er einen Inhalt hat, so muß die Formulierung, von der wir ausgingen, falsch sein, denn sie hat sich als tautologisch herausgestellt. Fügen wir aber die Bedingungen hinzu, daß die benutzten Gleichungen die Raum- Zeitkoordinaten nicht explizit enthalten sollen, oder daß sie sehr "einfach" sein sollen, so bekommt das Prinzip zwar einen wirklichen Inhalt, aber im ersten Fall gilt das Bedenken, daß wir einen zu engen Begriff der Kausalität formuliert haben; und im zweiten Fall würde das einzige Merkmal dieses sein, daß die Berechnung leichter wäre; wir werden aber den Unterschied zwischen Chaos und Ordnung gewiß nicht so formulieren wollen, daß wir sagen, das erstere sei nur einem ausgezeichneten Mathematiker zugänglich, die letztere schon einem mittelmäßigen.

Wir müssen also von Neuem beginnen und den Sinn des Kausalsatzes auf einem anderen Weg zu fassen versuchen. Unser bisheriger Fehler war, daß wir uns nicht genau genug an das tatsächliche Verfahren hielten, durch das man in der Wissenschaft tatsächlich prüft, ob Vorgänge voneinander abhängig sind oder nicht, ob ein Gesetz, ein kausaler Ablauf vorliegt oder nicht. Wir untersuchten bisher nur die Art, wie ein Gesetz  aufgestellt  wird; um aber seinen eigentlichen Sinn kennenzulernen, muß man zusehen, wie es  geprüft  wird. Es gilt ganz allgemein, daß uns der Sinn eines Satzes immer nur durch die Art seiner Verifikation offenbart wird. Wie also geschieht die Prüfung?

Nachdem es uns gelungen ist, eine Funktion zu finden, welche eine Menge von Beobachtungsresultaten befriedigend miteinander verbindet, sind wir im allgemeinen noch keineswegs zufrieden, auch dann nicht, wenn die gefundene Funktion einen sehr einfachen Bau hat; sondern nun kommt erst die Hauptsache, die unsere bisherigen Betrachtungen noch nicht berührt hatten: wir sehen nämlich zu, ob die erhaltene Formel nun auch solche Beobachtungen richtig darstellt, die wir zur Gewinnung der Formel  noch nicht benutzt  hatten. Für den Physiker als Erforscher der Wirklichkeit ist es das einzig Wichtige, das schlechthin Entscheidende und Wesentliche, daß die aus irgendwelchen Daten abgeleiteten Gleichungen sich nun auch für neue Daten bewähren. Erst wenn dies der Fall ist, hält er seine Formel für ein Naturgesetz. Mit anderen Worten: Das wahre Kriterium der Gesetzmäßigkeit, das wesentliche Merkmal der Kausalität ist das  Eintreffen von Voraussagen. 

Unter dem Eintreffen einer Voraussage ist nach dem Gesagten nichts anderes zu verstehen als die Bewährung einer Formel für solche Daten, die zu ihrer Aufstellung nicht verwendet wurden. Ob diese Daten schon vorher beobachtet worden waren oder erst nachträglich festgestellt werden, ist dabei vollständig gleichgültig. Dies ist eine Bemerkung von großer Wichtigkeit: Vergangene und zukünftige Daten sin in dieser Hinsicht vollständig gleichberechtigt, die Zukunft ist nicht ausgezeichnet; das Kriterium der Kausalität ist nicht Bewährung in der Zukunft, sondern Bewährung überhaupt.

Daß die Prüfung eines Gesetzes erst erfolgen kann,  nachdem  das Gesetz aufgestellt ist, versteht sich von selbst, aber dadurch ist keine Auszeichnung der Zukunft gegeben; das Wesentliche ist, daß es gleichgültig ist, ob die verifizierenden Daten in der Vergangenheit oder Zukunft liegen; nebensächlich ist, wann sie bekannt oder zur Verifikation benutzt werden. Die Bewährung bleibt dieselbe, ob nun ein Datum bereits vor der Aufstellung einer Theorie bekannt war, wie die Anomalie der Merkurbewegung, oder durch die Theorie prophezeit wurde, wie die Rotverschiebung der Spektrallinien. Nur für die  Anwendung  der Wissenschaft, für die Technik, ist es von fundamentaler Bedeutung, daß die Naturgesetze Künftiges, noch von niemandem Beobachtetes vorauszusagen gestatten. So haben dann ältere Philosophen, BACON, HUME, COMTE, längst gewußt, daß Wirklichkeitserkenntnis zusammenfällt mit der Möglichkeit von Voraussagen. Sie haben also im Grunde das Wesentliche der Kausalität richtig erfaßt.


7. Erläuterung des Resultates

Wenn wir das Eintreffen von Voraussagen als wahres Kennzeichen eines Kausalverhältnisses anerkennen - und mit einer alsbald zu erwähnenden wichtigen Einschränkung werden wir es anerkennen müssen -, so ist damit zugleich zugestanden, daß die bisherigen Definitionsversuche nicht mehr in Betracht kommen. In der Tat, wenn wir wirklich neue Beobachtungen richtig voraussagen können, so ist es vollkommen gleichgültig, wie die Formeln gebaut waren, mit denen wir das zustande brachten, ob sie einfach oder kompliziert erscheinen, ob Zeit und Raum explizit auftreten oder nicht. Sobald jemand die neuen Beobachtungsdaten aus den alten berechnen kann, werden wir zugeben, daß er die Gesetzmäßigkeit der Vorgänge durchschaut hat; Voraussage ist also ein hinreichendes Merkmal der Kausalität.

Daß die Bewährung aber auch ein notwendiges Merkmal ist und daß das MAXWELL'sche und das ästhetische Kriterium nicht ausreichen, erkennt man leicht, wenn man sich den Fall ausmalt, daß man für einen bestimmten beobachteten Vorgang eine sehr genau geltende Formel von außerordentlicher Einfachheit gefunden hatte, daß aber diese Formel sofort versagte, wenn wir sie auf den weiteren Verlauf des Vorganges, also auf neue Beobachtungen anzuwenden versuchten. Wir würden dann offenbar sagen, die einmalige Verteilung der Größenwerte habe uns eine Abhängigkeit der Naturereignisse vorgetäuscht, die in Wirklichkeit gar nicht besteht; es sei vielmehr bloßer Zufall gewesen, daß jener Ablauf sich durch einfache Formeln beschreiben ließ; daß kein Naturgesetz vorliegt, wird eben dadurch bewiesen, daß unsere Formel keiner Prüfung standhält, denn bei dem Versuch, die Beobachtungen zu wiederholen, findet der Ablauf ja ganz anders statt, die Formel paßt nicht mehr. Eine zweite Alternative scheint allerdings die zu sein, daß man sagt, das Gesetz habe zwar während der einmaligen Beobachtungsreihe gegolten, dann aber zu bestehen aufgehört; es ist aber klar, daß dies nur eine andere Sprechweise für das tatsächliche Fehlen einer Gesetzmäßigkeit wäre, die Allgemeingültigkeit des Gesetzes wäre doch negiert; die beobachtete einmalige "Regelmäßigkeit" wäre gar keine, sondern Zufall. Die Bestätigung von Voraussagen ist also das  einzige  Kriterium der Kausalität; nur durch sie spricht die Wirklichkeit zu uns; das Aufstellen von Gesetzen und Formeln ist reines Menschenwerk.

Hier muß ich zwei Bemerkungen einschalten, die unter sich zusammenhängen und von prinzipieller Wichtigkeit sind. Erstens sagte ich bereits vorhin, daß wir die "Bewährung" einer Regelmäßigkeit doch nur mit einer Einschränkung als hinreichendes Merkmal der Kausalität anerkennen dürfen: diese Einschränkung besteht darin, daß die Bestätigung einer Voraussage das Vorliegen von Kausalität im Grunde niemals  beweist,  sondern immer nur  wahrscheinlich  macht. Spätere Beobachtungen können ja das vermeintliche Gesetz stets Lügen strafen, und dann müßten wir sagen, daß es "nur zufällig gestimmt hat". Eine endgültige Verifikation ist also, prinzipiell gesprochen unmöglich. Wir entnehmen daraus, daß eine Kausalbehauptung logisch überhaupt nicht den Charakter einer  Aussage  hat, denn eine echte Aussage muß sich endgültig verifizieren lassen. Wir kommen gleich kurz darauf zurück, ohne doch hier, wo wir nicht Logik treiben, das scheinbare Paradoxon ganz aufklären zu können.

Die zweite Bemerkung bezieht sich darauf, daß zwischen dem Kriterium der Bewährung und den beiden vorhin verworfenen Definitionsversuchen doch ein merkwürdiger Zusammenhang besteht. Er liegt einfach darin, daß  tatsächlich  die verschiedenen Kennzeichen Hand in Hand gehen: gerade von denjenigen Formeln, die dem MAXWELL'schen Kriterium genügen und außerdem durch die ästhetische Einfachheit ausgezeichnet sind, erwarten wir mit großer Sicherheit, daß sie sich bewähren werden, daß die mit ihrer Hilfe gemachten Aussagen eintreffen - und wenn wir auch darin manchmal enttäuscht werden, so ist es doch Tatsache, daß die Gesetze, die sich wirklich als gültig herausgestellt haben, immer auch von einer tiefen Einfachheit waren, und die MAXWELL'sche Definition erfüllten sie immer. Was es mit dieser "Einfachheit auf sich hat, ist allerdings schwer zu formulieren, und es wurde mit dem Gedanken viel Mißbrauch getrieben, wir wollen kein zu großes Gewicht darauf legen. Daß wir uns viel "einfachere" Welten als die unsrige denken können, ist gewiß. Es gibt auch eine "Einfachheit", die allein eine Sache der  Darstellung  ist, d. h. zu einem Symbolismus gehört, durch den wir die Tatsachen ausdrücken; ihre Betrachtung führt auf die Frage des "Konventionalismus" und interessiert uns in diesem Zusammenhang nicht.

Jedenfalls sehen wir: entspricht eine Formel den beiden zuerst aufgestellten und unzureichend befundenen Kriterien, so halten wir es für wahrscheinlich, daß sie wirklich der Ausdruck eines Gesetzes, einer tatsächlich bestehenden Ordnung ist, daß sie sich also  bewähren  wird. Hat sie sich bewährt, so halten wir es wiederum für wahrscheinlich, daß sie sich auch weiter bewähren wird (und zwar ist gemeint: ohne Einführung neuer Hypothesen. Denn die physikalischen Gesetze sind im allgemeinen so gebaut, daß sie sich durch  ad hoc  neu eingeführte Hypothesen immer aufrechterhalten lassen; werden diese aber zu kompliziert, so sagt man, das Gesetz besteht doch nicht, man habe die richtige Ordnung noch nicht gefunden). Das Wort  Wahrscheinlichkeit,  das wir hier verwenden, bezeichnet übrigens etwas völlig anderes als den Begriff, der in der Wahrscheinlichkeitsrechnung behandelt wird und in der statistischen Physik auftritt (Vgl. hierüber FRIEDRICH WAISMANN, Logische Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, Erkenntnis I, Seite 238, mit dessen Ausführungen ich mich prinzipiell vollständig identifiziere).

Um der logischen Sauberkeit willen (um diese ist es dem Philosophen in erster Linie zu tun) ist es von höchster Wichtigkeit, sich die Sachlage genau zu vergegenwärtigen. Es hat sich gezeigt, daß im Grunde Kausalität in dem Sinne überhaupt nicht definierbar ist, daß man bei einem  vorgegebenen  Ablauf auf die Frage antworten könnte: war er kausal oder nicht? Nur in Bezug auf den  einzelnen Fall,  auf die einzelne Verifikation kann man sagen: es verhält sich so, wie es die Kausalität fordert. Für das Weiterkommen in der Naturerkenntnis (um diese ist es dem Physiker in erster Linie zu tun) genügt dies zum Glück durchaus. Wenn ein paar Verifikationen - unter Umständen eine einzige - geglückt sind, so bauen wir praktisch fest auf das verifizierte Gesetz mit der Zuversicht, mit der wir kein Bedenken tragen, unser Leben einem nach den Naturgesetzen konstruierten Motor anzuvertrauen.

Es ist ja oft bemerkt worden, daß man von einer absoluten Verifikation eines Gesetzes eigentlich nie sprechen kann, da wir sozusagen stets stillschweigend den Vorbehalt machen, es aufgrund späterer Erfahrungen modifizieren zu dürfen. Wenn ich nebenbei ein paar Worte über die logische Situation sagen darf, so bedeutet der eben erwähnte Umstand, daß ein Naturgesetz im Grunde auch nicht den logischen Charakter einer "Aussage" trägt, sondern vielmehr eine "Anweisung zur Bildung von Aussagen" darstellt. (Diesen Gedanken und Terminus verdanke ich LUDWIG WITTGENSTEIN). Wir hatten das oben schon von der Kausalbehauptung angedeutet, und in der Tat ist eine Kausalbehauptung identisch mit einem Gesetz: die Behauptung "der Energiesatz  gilt"  sagt z. B. nicht mehr und nicht weniger über die Natur als das, was der Energiesatz selbst sagt. Prüfbar sind bekanntlich immer nur die Einzelaussagen, die aus einem Naturgesetz abgeleitet werden und diese haben stets die Form: "Unter den und den Umständen wird dieser Zeiger auf jenen Skalenstrich weisen", "unter den und den Umständen tritt an dieser Stelle der photographischen Platte eine Schwärzung ein", und ähnlich. Von dieser Art sind die verifizierbaren Aussagen, von dieser Art ist jede Verifikation.

Die Verifikation überhaupt, das Eintreffen einer Voraussage, die Bewährung in der Erfahrung, ist also das Kriterium der Kausalität schlechthin, und zwar in dem praktischen Sinn, in dem allein von der Prüfung eines Gesetzes gesprochen werden kann. In diesem Sinne aber ist die Frage nach dem Bestehen der Kausalität prüfbar. Es kann kaum genug betont werden, daß die Bewährung durch die Erfahrung, das Eintreffen einer Prophezeigung ein  Letztes,  nicht weiter Analysierbares ist. Es läßt sich durchaus nicht in irgendwelchen Sätzen sagen, wann sie eintreten muß, sondern es muß einfach abgewartet werden, ob sie eintritt oder nicht.


8. Kausalität und Quantentheorie

In den bisherigen Überlegungen wurde nichts anderes ausgesprochen, als was sich nach meiner Meinung aus dem Verfahren des Naturforschers herauslesen läßt; es wurde nicht irgendein Kausalbegriff konstruiert, sondern nur die Rolle festgestellt, die er in der Physik tatsächlich spielt. Das Verhalten der Mehrzahl der Physiker gegenüber gewissen Ergebnissen der Quantentheorie beweist nun, daß sie das Wesentliche der Kausalität tatsächlich gerade dort sehen, wo auch die vorstehenden Betrachtungen es fanden, nämlich in der Möglichkeit der  Voraussage.  Wenn die Physiker behaupten, daß eine genaue Geltung des Kausalprinzips mit der Quantentheorie nicht vereinbar ist, so liegt der Grund, ja der  Sinn  dieser Behauptung einfach darin, daß jene Theorie genaue  Voraussagen  unmöglich macht. Dies müssen wir uns recht klarzumachen versuchen.

Auch in der gegenwärtigen Physik ist es als Sprechweise mit unten zu erwähnenden Einschränkungen wohl erlaubt zu sagen, daß jedes physikalische System als ein System von Protonen und Elektronen anzusehen ist, und daß sein Zustand dadurch vollkommen bestimmt ist, daß zu jeder Zeit Ort und Impuls sämtlicher Partikel bekannt ist. Nun wird bekanntlich in der Quantentheorie eine gewisse Formel abgeleitet - es ist die sogenannte "Ungenauigkeitsrelation" von HEISENBERG -, welche lehrt, daß es unmöglich ist, für ein Partikel  beide  Bestimmungsstücke, Ort  und  Geschwindigkeit, mit beliebig großer Genauigkeit anzugeben, sondern je schärfer der Wert der einen Koordinate festgelegt ist, eine desto größere Ungenauigkeit muß man bei der Angabe der anderen in Kauf nehmen. Wissen wir etwa, daß die Ortskoordinate innerhalb eines kleines Intervalls  Δp  liegt, so läßt sich die Geschwindigkeitskoordinate  q  nur so genau angeben, daß ihr Wert bis auf ein Intervall  Δq  unbestimmt bleibt, und zwar so, daß das Produkt  Δp ½ Δq  von der Größenordnung des PLANCK'schen Wirkungsquantum  h  ist. Prinzipiell könte also die eine Koordinate mit beliebig großer Schärfe bestimmt werden, ihre absolut genaue Beobachtung würde aber zur Folge haben, daß wir über die andere Koordinate schlechthin  gar nichts  mehr sagen könnten.

Diese Unbestimmtheitsrelation ist so oft, auch in poulärer Form, dargestellt worden, daß wir die Situation nicht näher zu schildern brauchen; uns muß es darauf ankommen, ihren eigentlichen  Sinn  restlos genau zu verstehen. Wenn wir nach dem Sinn irgendeines Satzes fragen, so heißt das immer - nicht nur in der Physik -: durch welche besonderen Erfahrungen prüfen wir seine Wahrheit? Wenn wir uns also z. B. den Ort eines Elektrons durch Beobachtung mit einer Ungenauigkeit von  Δp  bestimmt denken, was bedeutet es dann, wenn ich etwa sage, die Richtung der Geschwindigkeit dieses Elektrions läßt sich nur mit einer Ungenauigkeit  Δδ  angeben? Wie stelle ich fest, ob diese Behauptung wahr oder falsch ist?

Nun, daß ein Teilchen in einer bestimmten Richtung geflogen ist, läßt sich schlechterdings nur dadurch prüfen, daß es in einem bestimmten Punkt ankommt. Die Geschwindigkeit eines Teilchens angeben,  heißt  absolut nichts anderes als voraussagen, daß es nach einer gewissen Zeit in einem gewissen Punkt eintreffen wird. "Die Ungenauigkeit der Richtung beträgt  Δδ"  bedeutet: bei einem bestimmten Versuch werde ich das Elektron innerhalb des Winkels  Δδ  antreffen, ich weiß aber nicht, wo daselbst. Und wenn ich "denselben" Versuch immer wiederhole, so werde ich das Elektron immer an verschiedenen Punkten innerhalb des Winkels vorfinden, nie aber weiß ich  vorher,  an welchem Punnkt. Würde der Ort der Korpuskel mit absoluter Genauigkeit betrachtet, so hätte dies zur Folge, daß wir nun prinzipiell überhaupt nicht mehr wissen, in welcher Richtung das Elektron nach einer kleinen Zeit anzutreffen sein wird. Nur eine spätere Beobachtung könnte uns nachträglich darüber belehren, und bei sehr häufiger Wiederholung "desselben" Experimentes müßte sich zeigen, daß im Durchschnitt keine Richtung ausgezeichnet ist.

Die Tatsache, daß man Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons nicht beide völlig genau messen kann, pflegt man so auszudrücken, daß man sagt, es sei unmöglich, den Zustand eines Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt vollständig anzugeben, und deshalb werde das Kausalprinzip unanwendbar. Da dieses nämlich behauptet, daß die künftigen Zustände des Systems durch seinen Anfangszustand bestimmt sind, da es also voraussetzt, daß der Anfangszustand prinzipiell angebbar ist, so bricht das Kausalprinzip zusammen, denn diese Voraussetzung ist eben nicht erfüllt. Ich möchte diese Formulierung nicht für falsch erklären, aber sie erscheint mir doch unzweckmäßig, weil sie den wesentlichsten Punkt nicht deutlich zum Ausdruck bringt. Wesentlich aber ist, daß man einsieht: die Unbestimmtheit, von der in der HEISENBERG-Relation die Rede ist, ist in Wahrheit eine Unbestimmtheit der  Voraussage. 

Es steht prinzipiell nichts im Weg (dies betont z. B. auch EDDINGTON in einem ähnlichen Gedankenzusammenhang), den Ort eines Elektrons zweimal zu zwei beliebig nahe beieinanderliegenden Zeitpunkten, zu bestimmen und diese beiden Messungen als einer Orts- und Geschwindigkeitsmessung äquivalent zu betrachten, aber der springende Punkt ist: mit Hilfe der so erlangten Daten über einen Zustand sind wir niemals imstande, einen zukünftigen Zustand genau vorauszusagen. Würden wir nämlich durch die beobachteten Orte und Zeiten eine Geschwindigkeit des Elektrons in der üblichen Weise definieren (durchlaufene Strecke dividiert durch die Zeit), so wäre doch im nächsten Augenblick seine Geschwindigkeit eine andere, weil ja bekanntlich angenommen werden muß, daß seine Bahn durch den Akt der Beobachtung in ganz unkontrollierbarer Weise gestört wird. Nur dies ist der wahre Sinn der Behauptung, daß ein Momentanzustand nicht genau festlegbar sei, nur die Unmöglichkeit der Voraussage ist also tatsächlich der Grund, warum der Physiker ein Versagen des Kausalsatzes für vorliegend erachtet.

Es ist zweifellos, daß die Quantenphysik das Kriterium der Kausalität genau dort findet, wo auch wir es entdeckt haben, und von einem Scheitern des Kausalprinzips nur deshalb spricht, weil es unmöglich geworden ist, beliebig genaue Voraussagen zu machen. Ich zitiere MAX BORN (Die Naturwissenschaften, Bd. 17, 1929, Seite 117):
    "Die Unmöglichkeit, alle Daten eines Zustandes exakt zu messen, verhindert die Vorherbestimmung des weiteren Ablaufs. Dadurch verliert das Kausalitätsprinzip in seiner üblichen Fassung jeden Sinn. Denn wenn es prinzipiell unmöglich ist, alle Bedingungen (Ursachen) eines Vorgangs zu kennen, so ist es leeres Gerede, zu sagen, jedes Ereignis habe eine Ursache."
Die Kausalität als solche, das Bestehen von Gesetzen, aber wird nicht geleugnet; es gibt noch gültige Voraussagen, nur bestehen sie nicht in der Angabe exakter Größenwerte, sondern sie sind von der Form: die Größe  x  wird in einem Intervall  a  bis  a + Δa  liegen.

Das Neue, was die jüngste Physik zur Kausalitätsfrage beiträgt, besteht nicht darin, daß die Geltung des Kausalsatzes überhaupt bestritten wird, auch nicht darin, daß etwa die Mikrostruktur der Natur durch statistische statt durch kausale Regelmäßigkeiten beschrieben würde, oder darin, daß die Einsicht in eine bloß wahrscheinliche Geltung der Naturgesetze den Glauben an ihre absolute Gültigkeit verdrängt hätte - alle diese Gedanken sind schon früher, zum Teil vor langer Zeit, ausgesprochen worden -, daß durch die Naturgesetze selbst eine prinzipielle Grenze der Genauigkeit von Voraussagen festgesetzt ist. Das ist etwas ganz anderes als der naheliegende Gedanke, daß tatsächlich und praktisch eine Genauigkeitsgrenze von Beobachtungen vorhanden ist und daß die Annahme absolut genauer Naturgesetze auf jeden Fall entbehrlich ist, um von allen Erfahrungen Rechenschaft zu geben. Früher mußte es immer so scheinen, als ob die Frage des Determinismus prinzipiell unentschieden bleiben muß; die jetzt vorliegende Art der Entscheidung, nämlich mit Hilfe des Naturgesetzes selbst (der HEISENBERG-Relation), ist nicht vorhergesehen worden. Allerdings, wenn man jetzt von einer Entscheidbarkeit spricht und die Frage zu ungunsten des Determinismus für beantwortet hält, so ist die Voraussetzung, daß jenes Naturgesetz wirklich als solches besteht und über jeden Zweifel erhaben ist. Daß wir dessen absolut sicher sind oder je sein könnten, wird ein besonnener Forscher sich natürlich hüten zu behaupten. Im Bau der Quantenlehre aber bildet die Unbestimmtheitsrelation einen integrierenden Bestandteil, und wir müssen ihrer Richtigkeit so lange vertrauen, als nicht neue Versuche und Beobachtungen zu einer Revision der Quantentheorie zwingen (in Wirklichkeit wird sie von Tag zu Tag immer besser bestätigt). Aber es ist schon eine große Errungenschaft der modernen Physik, gezeigt zu haben, daß eine Theorie von einer derartigen Struktur in der Naturbeschreibung überhaupt möglich ist; es bedeutet eine wichtige philosophische Verdeutlichung der Grundbegriffe der Naturwissenschaft. Der prinzipielle Fortschritt ist klar: es kann jetzt  in demselben Sinne  von einer empirischen Prüfung des Kausalprinzips gesprochen werden wie von der Prüfung irgendeines speziellen Naturgesetzes. Und daß man in irgendeinem Sinne davon mit Recht reden kann, wird durch die bloße Existenz der Wissenschaft bewiesen.
LITERATUR - Moritz Schlick, Gesammelte Aufsätze 1926 - 1938, Wien 1938