Geschichte
Das Schema Altertum - Mittelalter - Neuzeit ist eine durch die Kirche übermittelte Schöpfung der Gnosis - also des semitischen, insbesondere syrisch-jüdischen Weltgefühls während der römischen Kaiserzeit. Innerhalb der sehr engen Grenzen, welche die geistige Voraussetzung dieser bedeutenden Konzeption bilden, bestand sie durchaus zu Recht. Hier fällt weder die indische noch selbst die ägyptische Geschichte in den Kreis der Betrachtung. Das Wort Weltgeschichte bezeichnet im Munde dieser Denker einen einmaligen, höchst dramatischen Akt, dessen Schauplatz die Landschaft zwischen Hellas und Persien war. In ihm gelangt das streng dualistische Weltgefühl des Morgenländers zum Ausdruck, nicht polar wie in der gleichzeitigen Metaphysik durch den Gegensatz von Seele und Geist, sondern periodisch, als Katastrophe gesehen, als Wende zweier Zeitalter zwischen Weltschöpfung und Weltuntergang, unter Absehen von allen Elementen, die nicht einerseits durch die antike Literatur, andrerseits durch die Bibel fixiert waren. In diesem Weltbilde erscheint als "Altertum" und "Neuzeit" der damals handgreifliche Gegensatz von heidnisch und christlich, antik und orientalisch, Statue und Dogma, Natur und Geist in z e i t l i c h e r Fassung, als Prozeß der Überwindung des einen durch das andre. Der historische Übergang trägt die religiösen Merkmale einer Erlösung. Ohne Zweifel ein auf engen, durchaus provinzialen Ansichten beruhender, aber logischer und in sich vollkommener Aspekt, der indessen an dieser Landschaft und diesem Menschentum haftete und keiner n a t ü r l i c h e n Erweiterung fähig war. Erst durch die additive Hinzufügung eines dritten Zeitalters - u n s r e r "Neuzeit" - auf abendländischem Boden ist in das BIld eine Bewegungstendenz gekommen. Das orientalische Gegenbild war r u h e n d , eine geschlossene, im Gleichgewicht verharrende Antithese, mit einer einmaligen göttlichen Aktion als Mitte. Das so sterilisierte Fragment der Geschichte, von einer ganz neuen Art Mensch aufgenommen und getragen, wurde nun plötzlich, ohne daß man sich des Bizarren einer solchen Änderung bewußt worden wäre, in Gestalt einer L i n i e fortgesponnen, die von HOMER oder ADAM - die Möglichkeiten sind heute durch die Indogermanen, die Steinzeit und den Affenmenschen bereichert - über Jerusalem, Rom, Florenz und Paris hinauf oder hinab führte, je nach dem persönlichen Geschmack des Historikers, Denkers oder Künstlers, der das dreiteilige Bild mit schrankenloser Freiheit interpretierte. Man fügte also den k o m p l e m e n t ä r e n Begriffen Heidentum und Christentum - beide sukzessiv, als Weltalter gefaßt - den a b s c h l i e ß e n d e n einer "Neuzeit" hinzu, die scherzhafterweise ihrerseits eine Fortsetzung des Verfahrens nicht gestattet und, nachdem sie seit den Kreuzzügen wiederholt "gestreckt" worden ist, einer weiteren Dehnung nicht fähig erscheint. Man war, ohne es auszusprechen, der Meinung, daß hier jenseits von Altertum und Mittelalter etwas Endgültiges beginne, ein drittes Reich, in dem irgendwie eine Erfüllung lag, ein Höhepunkt, ein Ziel, das erkannt zu haben von den Scholastikern an bis zu den Sozialisten unserer Tage jeder sich allein zuschrieb. Es war das eine ebenso bequeme als für ihren Urheber schmeichelhafte Einsicht in den Lauf der Dinge. Man hatte ganz einfach den Geist des Abendlandes mit dem Sinn der Welt verwechselt. Aus einer geistigen Not haben dann große Denker eine metaphysische Tugend gemacht, indem sie das durch den consensus omnium (= allgemeine Übereinstimmung) geheiligte Schema, ohne es einer ernsthaften Kritik zu unterwerfen, zur Basis einer Philosophie machten und als Urheber ihres jeweiligen "Weltplanes" Gott bemühten. Die mystische Dreizahl der Weltalter hatte für den metaphysischen Geschmack ohnehin etwas höchst Verführerisches. HERDER nannte die Geschichte eine Erziehung des Menschengeschlechts, KANT eine Entwicklung des Begriffs der Freiheit, HEGEL eine Selbstentfaltung des Weltgeistes, andre anders. In Entwürfen dieser Art hat sich die historische Gestaltungskraft aber bereits erschöpft. Die Idee eines dritten Reiches kannte schon der Abt JOACHIM von FLORIS (gest. 1202), der die drei Phasen mit den Symbolen des Vaters, des Sohnes und des heilgen Geistes in Verbindung brachte. LESSING, der seine Zeit im Hinblick auf die Antike mehrmals geradezu als Nachwelt bezeichnet, hat den Gedanken für seine "Erziehung des Menschengeschlechts" (mit den Stufen des Kindes, Jünglings und Mannes) aus den Lehren der Mystiker des 14. Jahrhunderts übernommen, und IBSEN, der ihn in seinem Drama "Kaiser und Galiläer" gründlich behandelte, ist in seiner bekannten Stockholmer Rede von 1887 keinen Schritt darüber hinausgekommen. Augenscheinlich ist es eine Forderung des west-europäischen Selbstgefühls, mit der eignen Erscheinung eine Art Abschluß zu statuieren. Aber es ist eine völlig unhaltbare Manier, Weltgeschichte zu deuten, indem man seiner politischen, religiösen oder sozialen Überzeugung die Zügel schießen und den drei Phasen, an denen man nicht zu rütteln wagt, eine Richtung angedeihen läßt, die genau dem eignen Standort zuführt, und je nachdem die Reife des Verstandes, die Humanität, das Glück der Meisten, die wirtschaftliche Evolution, die Aufklärung, die Freiheit der Völker, die Unterwerfung der Natur, die wissenschaftliche Weltanschauung und dergleichen als absoluten Maßstab an Jahrtausende anlegt, von denen man beweist, daß sie das Richtige nicht begriffen oder nicht erreicht haben, während sie in Wirklichkeit nur etwas andres wollten als wir.
Das gleiche Bild wird von den Historikern jeder einzelnen Kunst und Wissenschaft, Nationalökonomie und Philosophie nicht zu vergessen, gezeichnet. Da sehen wir "die" Malerei von den Ägyptern (oder den Höhlenmenschen) bis zu den Impressionisten, "die" Musik vom blinden Sänger HOMERs bis nach Bayreuth, "die" Gesellschaftsordnung von den Pfahlbaubewohnern bis zum Sozialismus in linienhaftem Aufstieg begriffen, dem irgendeine gleichbleibende Tendenz zugrunde gelegt wird, ohne daß man die Möglichkeit ins Auge faßt, daß Künste eine gemessene Lebensdauer besitzen, daß sie an eine Landschaft und eine bestimmte Art Mensch als dessen Ausdruck gebunden sind, daß also diese Gesamtgeschichten lediglich eine äußerliche Summierung einer Anzahl von Einzelphänomenen, von Sonderkünsten sind, die nichts als den Namen und einiges der handwerklichen Technik gemein haben. Dieser Weltblick ist nicht ohne Komik. Auf jedem andern Gebiete der lebendigen Natur nehmen wir das Recht in Anspruch, aus der Erscheinung selbst, sei es durch Erfahrung, sei es durch intuitives Erfassen des innern Wesens, die Gestalt abzuleiten, welche ihrem Dasein zugrunde liegt. Wir wissen, daß die Lebensphänomene eines Tieres, einer Pflanze auf die der verwandten Arten schließen lassen, daß alles Lebende eine geheimnisvolle Ordnung, die mit Gesetz, Kausalität, Zahl nichts zu tun hat, in sich trägt und wir ziehen daraus die morphologischen Folgerungen. Nur hier, wo es sich um Menschen selbst handelt, lassen wir die historische Form des Daseins, die irgendwann einmal behauptet worden ist, ohne Nachprüfung gelten und zwingen die Tatsachen, so gut oder schlecht es geht, in das vorgefaßte Schema. Geht es nicht - um so schlimmer für die Tatsachen. Wir behandeln sie mit Verachtung wie die Geschichte der Chinesen oder würdigen sie überhaupt keines Blickes wie die Kultur der Maya. Sie haben "zum Bau der Weltgeschichte nichts beigetragen" - ein köstlicher Ausspruch. Von jedem Organismus wissen wir, daß Tempo, Gestalt und Dauer seines Lebens und jeder einzelnen Lebensäußerung bestimmt sind. Niemand wird von einer tausendjährigen Eiche erwarten, daß sie eben jetzt im Begriff ist, mit dem eigentlichen Lauf ihrer Entwicklung zu beginnen. Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, daß sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. Hier hat jeder mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer G r e n z e , das mit einem Gefühl für organische Formen identisch ist. Der Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein grenzenlos trivialer Optimismus in bezug auf die Zukunft. Hier schweigt alle psychologische und physiologische Erfahrung, so daß jedermann im zufällig Gegenwärtigen die "Ansätze" zu einer ganz besonders hervorragenden linienhaften "Weiterentwicklung" feststellt, weil er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten - nie mit einem natürlichen Ende - gerechnet und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine höchst naive Konstruktion der Fortsetzung entworfen. Aber "die Menschheit" hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. "Die Menschheit" ist ein leeres Wort. Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen überraschenden Reichtum w i r k l i c h e r Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch eine Phrase, durch ein dürres Schema, durch persönliche "Ideale" verdeckt wurde. Ich sehe statt des monotonen Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Zahl der Tatsachen das Auge schließt, das Phänomen einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre e i g n e Form aufprägt, von denen jede ihre e i g n e Idee, ihre e i g n e n Leidenschaften, ihr e i g n e s Leben, Wollen, Fühlen, ihren e i g n e n Tod hat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geistiges Auge entdeckt hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte Eichen und Pinien, Blüten, Zweige, Blätter gibt, aber es gibt keine alternde "Menschheit". Jede Kultur hat ihre eigenen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und Früchte, ihren eigenen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur GOETHEs, nicht der toten Natur NEWTONs an. Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der Gestalt eines Bandwurms, er unermüdlich Epochen "ansetzt". Indessen hat die Kombination "Altertum - Mittelalter - Neuzeit" endlich ihre Wirkung erschöpft. So winkelhaft eng und flach sie war, so stellte si doch die einzige nicht ganz unphilosophische Fassung dar, die wir besaßen, und was als Weltgeschichte literarisch geordnet wurde, hat ihr den Rest von philosophischem Gehalt zu verdanken; aber die Zahl von Jahrhunderten, die durch dies Schema h ö c h s t e n s zusammengehalten werden konnte, ist längst erreicht. Das traditionelle Bild beginnt sich bei rascher Zunahme des historischen Stoffes, namentlich des außerhalb dieser Ordnung liegenden, in ein unübersehbares Chaos aufzulösen. Jeder nicht ganz blinde Historiker weiß und fühlt das und nur um nicht ganz zu versinken, hält er um jeden Preis das einzige ihm bekannte Schema fest. Das Wort Mittelalter, 1667 von Professor Horn in Leyden geprägt, muß heute eine formlose, sich beständig ausdehnende Masse decken, die rein negativ durch das begrenzt wird, was sich unter keinem Vorwand den beiden andern, leidlich geordneten Komplexen zurechnen läßt. Die unsichere Behandlung und Wertung der neupersischen, arabischn und russischen Geschichte sind Beispiele dafür. Vor allem läßt sich der Umstand nicht länger verhehlen, daß diese angebliche Geschichte der Welt sich anfangs tatsächlich auf die Region des östlichen Mittelmeeres und später, seit der Völkerwanderung, einem nur für uns wichtigen und deshalb stark vergrößerten, in Wirklichkeit rein lokalen Ereignis, das schon die arabische Kultur nichts angeht, mit einem plötzlichen Wechsel des Schauplatzes auf das mittlere Westeuropa beschränkt. HEGEL hatte in aller Naivität erklärt, daß er die Völker, die in sein System der Geschichte nicht paßten, ignorieren werde. Aber das war nur ein ehrliches Eingeständnis von methodischen Voraussetzungen, ohne die k e i n Historiker zum Ziel kam. Man kann die Disposition sämtlicher Geschichtswerke daraufhin prüfen. Es ist heute in der Tat eine Frage des wissenschaftlichen Taktes, welche der historischen Phänomene man e r n s t h a f t mitzählt und welche nicht. |