ra-1G. MehlisP. KampitsW. WindelbandL. PohorillesG. Landauer    
 
BERTRAND RUSSELL
Was ist die Materie?

Statt anzunehmen, daß die Materie in der physikalischen Welt das wahrhaft "Reale" sei, müssen wir die Materie als eine logische Konstruktion betrachten.

Ich möchte in diesem Kapitel nichts Geringeres erörtern als das alte metaphysische Problem: "Was ist die Materie?" Soweit die Frage: "Was ist die Materie?" die Philosophie betrifft, ist meiner Meinung nach bereits eine Antwort möglich, die im Prinzip so vollständig sein wird, als man je erhoffen kann; das heißt, wir können das Problem in einen im wesentlichen lösbaren und einen im wesentlichen unlösbaren Teil zerlegen, und wir werden sehen, wie der lösbare Teil zumindest in seinen Grundzügen zu beantworten ist.

Das allgemeine Denken hat sich an die Teilung der Welt in Geist und Materie gewöhnt. Wer nie Philosophie studierte, nimmt an, daß die Unterscheidung zwischen Geist und Materie vollkommen klar und leicht sei, daß sich die beiden nie überschneiden und daß nur ein Narr oder Philosoph im Zweifel sein könne, ob eine gegebene Einheit geistig oder materiell sei. Dieser einfache Glaube ist noch bei DESCARTES und in etwas modifizierter Form bei SPINOZA lebendig; mit LEIBNIZ beginnt er jedoch zu schwinden, und von damals bis heute hat noch jeder Philosoph von Rang den Dualismus des naiven Denkens kritisiert und abgelehnt. Es ist meine Absicht, in diesem Kapitel den Dualismus zu verteidigen; ehe wir ihn aber verteidigen, müssen wir noch einige Augenblicke bei den Gründen verweilen, die zu seiner Ablehnung geführt haben.

Unser Wissen um die Materie erlangen wir mit Hilfe der Sinne, des Gesichts- und Tastsinnes usw. Zuerst vermutet man, daß die Dinge genau so sind, wie sie scheinen, doch zerstören zwei gegensätzliche Einwände bald diesen naiven Glauben. Einerseits zerlegt der Physiker die Materie in Moleküle, Atome und Elektronen und so viele weitere Unterteilungen, als in Zukunft erforderlich sein mögen, und die Einheiten, zu denen sie gelangen, sind außergewöhnlich verschieden von den greifbaren Objekten des täglichen Lebens. Eine Einheit der Materie zeigt immer stärker die Neigung, etwas wie ein elektromagnetisches Feld zu sein, das den gesamten Raum erfüllt, obwohl es nur in einem kleinen Gebiet die größte Intensität besitzt. Eine Materie, die aus solchen Elementen besteht, ist vom Alltagsleben ebenso weit entfernt wie irgend eine metaphysische Theorie. Sie unterscheidet sich von Theorien der Metaphysiker nur dadurch, wie ihre praktische Verwendbarkeit beweist, daß sie ein gewisses Maß von Wahrheit enthält, die Geschäftsleute veranlaßt, Geld zu investieren; doch bleibt sie trotz ihrer Zusammenhänge mit dem Geldmarkt metaphysische Theorie.

Die zweite Art von Einwand, der sich die Welt des gesunden Menschenverstandes unterwerfen muß, kommt von den Psychologen und Physiologen. Der Physiologe weist darauf hin, daß alles, was wir sehen, vom Auge, und was wir hören, vom Ohr abhängt, und daß alles, was das Gehirn affiziert, z. B. Alkohol oder Haschisch, auch Einfluß auf die Sinne hat. Der Psychologe wieder weist darauf hin, wie viel von dem, was wir zu sehen glauben, durch Assoziationen oder durch unterbewußtes Folgern beigesteuert wird, wie viel davon geistige Interpretation und wie zweifelhaft der Rest ist, der als Rohbestand angesehen werden kann. Aus diesen Tatsachen folgert der Psychologe, daß die Vorstellung eines passiv vom Geiste empfangenen Sinneseindrucks eine Täuschung sei, und weiters der Physiologe, daß selbst dann, wenn ein solcher reiner Sinneseindruck durch eine Analyse der Erfahrung gewonnen werden könnte, dieser Sinneseindruck nicht, wie gemeiniglich angenommen wird, der Außenwelt angehört, da er seiner ganzen Natur nach durch unsere Nerven und Sinnesorgane bedingt ist und sich mit ihnen in einer Weise ändert, die man unmöglich mit einer Änderung in der angeblich wahrgenommenen Materie in Verbindung bringen kann. Die Beweisführung des Physiologen ist dem scheinbar plausiblen Einwand ausgesetzt, daß unsere Kenntnis von der Existenz der Sinnesorgane und Nerven durch denselben Vorgang erlangt wurde, den er sich bemüht in Mißkredit zu bringen, da die Existenz der Sinnesorgane und Nerven nur durch die Evidenz der Sinne selbst bekannt ist. Dieses Argument mag beweisen, daß die Ergebnisse der Physiologie einer Neuinterpretation, bedürfen, bevor sie metaphysische Gültigkeit erlangen können. Doch widerlegt es nicht den physiologischen Beweis, soweit es sich darum handelt, den naiven Realismus ad absurdum zu führen.

Diese verschiedenen Beweisführungen zeigen jedoch, wie ich meine, daß der allgemein verbreitete Glaube in manchen Teilen nicht länger haltbar ist. Sie beweisen, daß wir, wenn wir diesen Glauben als Ganzes nehmen, zur Schlußfolgerungen gezwungen sind, die sich zum Teil selbst widersprechen; doch können die Beweise nicht entscheiden, welcher Teil des allgemein Geglaubten einer Korrektur bedarf. Der allgemeine Glaube geht dahin, daß das, was wir sehen, physisch und außerhalb des Geistes sei und auch dann weiterbestehe, wenn wir unsere Augen schließen oder unsere Blicke in eine andere Richtung lenken. Ich glaube, daß das naive Denken recht hat, wenn es das, was wir sehen, als physisch und (in einer von verschiedenen möglichen Bedeutungen) als außerhalb des Geistes liegend ansieht, daß es aber wahrscheinlich unrecht hat, wenn es meint, daß es weiterbestehe, wenn wir nicht länger hinschauen. Es scheint mir, daß die ganze Diskussion der Materie durch zwei Irrtümer verdunkelt wurde, die einander stützen. Der erste Irrtum ist der, daß das, was wir sehen oder durch irgend einen unserer Sinne wahrnehmen, subjektiv sei, der zweite Irrtum besteht in der Annahme, daß alles, was physisch ist, auch Dauer besitze. Was immer die Physiker als letzte Bestandteile der Materie annehmen mögen, so glaubt man doch immer, daß diese Bestandteile unzerstörbar seien. Da die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen aber nicht unzerstörbar sind, sondern sich ständig im Fluß befinden, argumentiert man, daß sie daher selbst nicht zu den letzten Bestandteilen der Materie gehören könnten. Dies halte ich für einen reinen Irrtum. Die dauerhaften Atome der mathematischen Physik betrachte ich als logische, Konstruktionen als symbolische Fiktionen, die uns gestatten, ein sehr kompliziertes Tatsachenmaterial umfassend auszudrücken; und anderseits glaube ich, daß die tatsächlichen Daten der Sinneswahrnehmung, die unmittelbaren Objekte des Sehens, Hörens oder Tastens, nicht geistig, sondern rein physisch sind und zu den letzten Bestandteilen der Materie gehören.

Vielleicht kann ich meine Ansicht von der mangelnden Dauer der physikalischen Einheiten deutlicher machen, wenn ich BERGSONs Lieblingsvergleich mit dem Kinematographen verwende. Als ich zum ersten Male BERGSONs Feststellung las, daß der Mathematiker die Welt nach der Analogie eines Kinematographen auffasse, hatte ich noch nie einen Kinematographen gesehen, und mein erster Kinobesuch entsprang dem Wunsche, BERGSONs Behauptung zu überprüfen, und ich fand, zumindest soweit sie mich betraf, daß er vollkommen recht hatte. Wenn wir im Kino einen Mann einen Hügel hinunterrollen oder vor der Polizei davonlaufen oder in einen Fluß fallen sehen, so wissen wir, daß sich in Wirklichkeit nicht ein Mann bewegt, sondern eine Folge von Filmen, jeder mit einem verschiedenen augenblicklichen Mann. Die Illusion der Dauer entsteht nur durch die annähernd verwirklichte Kontinuität in der Reihe augenblicklicher Männer. Was ich damit sagen will, ist, daß in dieser Hinsicht das Kino ein besserer Metaphysiker ist als das naive Denken, als Physik und Philosophie. Auch der Mann der Wirklichkeit ist meiner Ansicht nach, mag die Polizei noch so sehr seine Identität beschwören, tatsächlich eine Reihe augenblicklicher Männer, jeder vom anderen verschieden, nicht durch numerische Identität zusammengehalten, sondern durch Kontinuität und bestimmte damit verbundene Kausalgesetze. Und was für den Menschen gilt, gilt auch für Tische und Stühle, Sonne, Mond und Sterne. Ein jedes davon darf nicht als eine einzelne Ganzheit von Dauer betrachtet werden, sondern als eine Reihe von Ganzheiten, die einander in der Zeit folgen, deren jede nur ganz kurze Zeit, obwohl wahrscheinlich länger als einen rein mathematischen Augenblick, währt. Wenn ich dies ausspreche, so verlange ich nur die gleiche Art von Teilung in der Zeit, wie wir gewohnt sind, sie für den Raum anzuerkennen. Von einem Körper, der einen Kubikmeter ausfüllt, geben wir ohneweiters zu, daß er aus vielen kleineren Körpern besteht, deren jeder nur ein winziges Volumen ausfüllt; die Ähnlichkeit eines Dinges, das eine Stunde währt, muß aus vielen Dingen von weit geringerer Dauer zusammengesetzt betrachtet werden. Eine richtige Theorie der Materie erfordert eine Teilung der Dinge sowohl in Zeit- als auch in Raumatome.

Man kann sich vorstellen, daß die Welt aus einer Vielzahl von Ganzheiten besteht, die in einem bestimmten Muster angeordnet sind. Ich nenne sie "Sinnesgegebenheiten". Die Anordnung oder das Muster ergibt sich aus den Beziehungen, die zwischen diesen "Sinnesgegebenheiten" bestehen. Klassen oder Reihen von "Sinnesgegebenheiten" zusammengefaßt auf Grund einer Eigenschaft, die es bequem erscheinen läßt, von ihnen als Ganzes zu reden, sind das, was ich logische Konstruktionen oder symbolische Fiktionen nenne. Man soll sich die "Sinnesgegebenheiten" nicht nach der Analogie von Ziegeln in einem Gebäude, sondern eher nach der von Noten in einer Symphonie vorstellen. Die letzten Bestandteile einer Symphonie sind (abgesehen von Relationen) eben die Noten, deren jede nur eine sehr kurze Zeit dauert. Wir können nun alle Noten zusammenfassen, die von einem Instrument gespielt werden; diese könnte man mit den sukzessiven Sinnesgegebenheiten vergleichen, die das naive Denken gewohnt ist, als sukzessive Zustände eines "Dinges" zu betrachten. Doch sollte man das "Ding" nicht "realer" oder "substanzieller" auffassen als z.B. die Rolle des Trombons. Sobald man die "Dinge" in dieser Weise auffaßt, zeigt es sich, daß die Schwierigkeiten zum großen Teile verschwunden sind, die sich daraus ergeben, daß man unmittelbare Objekte der Sinneswahrnehmung als physisch ansieht.

Wenn Leute fragen, sind die Objekte der Sinneswahrnehmung geistig oder physisch, so haben sie selten eine klare Vorstellung davon, was "geistig" oder "physisch" bedeutet, oder welche Kriterien gelten, um zu entscheiden, ob eine gegebene Einheit zu der einen oder anderen Klasse gehört. Ich weiß nicht, wie ich das Wort "geistig" scharf definieren soll, doch ist schon etwas getan. wenn man Vorgänge aufzählt, die zweifellos geistig sind: Glauben, Zweifeln, Wünschen, Wollen, Erfreut- oder Betrübtsein, dies sind gewiß geistige Vorgänge; ebenso das, was man Erfahrung, Sehen, Hören, Riechen, Wahrnehmung im allgemeinen nennt. Doch folgt nicht daraus, daß das, was gesehen, gehört, gerochen und im allgemeinen wahrgenommen wird, geistig sein müsse.

Wenn ich einen Blitz sehe, so ist der Vorgang des Sehens geistig, doch ist das, was ich sehe, obwohl es nicht ganz das gleiche ist, was irgend jemand anderer sieht, und obwohl es sehr ungleich dem zu sein scheint, was der Physiker als Blitz beschreiben würde, nicht geistig. Ich behaupte allen Ernstes, wenn der Physiker richtig und vollständig alles das beschreiben könnte, was in der physikalischen geschieht, wenn es blitzt, so würde seine Beschreibung als Bestandteil auch das enthalten. Was ich sehe oder was irgend jemand anderer sehen könnte, von dem man allgemein sagt, er habe den gleichen Blitz gesehen. Vielleicht kann ich das, was ich meine, noch deutlicher machen, wenn ich sage, daß, könnte mein Körper in genau der gleichen Lage bleiben, in der er sich befindet, auch wenn mein Geist zu bestehen aufgehört hat, jenes Objekt, das ich jetzt sehe, wenn ich einen Blitz sehe, bestehen würde, obwohl ich es natürlich nicht sehen würde, da ja mein Sehen geistig ist. Der Hauptgrund, der die Menschen veranlaßte, diese Ansicht abzulehnen, war, glaube ich, ein zweifacher: erstens konnten sie nicht hinreichend zwischen meinem Sehen und dem, was ich sehe, unterscheiden, und zweitens ließ sie die kausale Abhängigkeit dessen, was ich sehe, von meinem Körper vermuten, daß das was ich sehe, nicht außer mir sein könne. Der erste dieser Gründe braucht uns nicht lange aufhalten, da schon ein Hinweis; auf die Verwirrung genügt, sie zu beseitigen; der zweite der Gründe, verlangt jedoch einige Erläuterung, da er nur widerlegt werden kann, wenn man einige landläufige irrige Vorstellungen beseitigt, so einerseits die von dem Wesen des Raumes und anderseits die von der Bedeutung der kausalen Abhängigkeit.

Wenn z.B. Leute fragen, ob Farben oder andere sekundäre Qualitäten innerhalb oder außerhalb des Geistes seien, scheinen sie anzunehmen, daß das, was sie meinen, klar sein müsse und daß es möglich sein sollte, einfach ohne Erörterung der damit verbundenen Begriffe ja oder nein zu sagen. Tatsächlich sind jedoch Begriffe wie "innerhalb" und "außerhalb" sehr mehrdeutig. Was meint man damit, wenn man fragt, ob dies oder jenes "im" Geist sei? Der Geist ist nicht ein Sack oder eine Pastete; er nimmt nicht eine bestimmte Stelle im Raum ein oder, wenn er dies (in einem bestimmten Sinne) doch tut, dann ist diese Stelle vermutlich ein Teil des Gehirns, von der man aber nicht sagen würde, daß sie im Geiste sei. Wenn Leute sagen, daß Sinnesqualitäten im Geiste seien, so meinen sie nicht räumlich darin enthalten, in dem gleichen Sinn wie die Füllung in der Pastete. Wir könnten den Geist als eine Zusammenfassung von Sinnesgegebenheiten, das heißt als Zusammenfassung von Zuständen des Geistes, die kraft einer spezifischen Eigenschaft zusammengehören. Die gemeinsame Qualität aller Geisteszustände wäre dann die Qualität, die durch das Wort bezeichnet wird; außerdem müßten wir aber noch annehmen, daß die Geisteszustände jeder einzelnen Person irgendein gemeinsames Charakteristikum haben, das sie von den Geisteszuständen anderer Personen unterscheidet. Lassen wir diesen letzten Punkt außer acht und fragen wir uns, ob die Qualität, die durch das Wort "geistig" bezeichnet wird, tatsächlich auf Grund der Beobachtung den Objekten von Sinneswahrnehmungen wie Farben oder Geräusche angehört. Ich glaube, jede aufrichtige Antwort muß lauten, daß es zwar schwierig sei zu erkennen, was wir unter "geistig" verstehen, daß es jedoch ein Leichtes sei einzusehen, daß Farben und Geräusche nicht in dem Sinne geistig sind wie Glauben, Wünschen oder Wollen, daß sie aber auch nicht der physikalischen Welt angehören.

BERKELEY bringt zu diesem Thema ein plausibles Argument, das jedoch, wie mir scheint, auf einer Zweideutigkeit des Wortes "Schmerz" beruht. Er argumentiert, daß der Realist annimmt, die Hitze, die er fühlt, wenn er sich einem Feuer nähert, sei außerhalb seines Geistes, daß aber mit dem Näherkommen ans Feuer die Empfindung der Hitze unmerklich in Schmerz übergehe und daß niemand den Schmerz als etwas außerhalb des Geistes betrachten, könne. Gegen dieses Argument läßt sich erstens einwenden, daß die Hitze, deren wir uns unmittelbar bewußt werden, nicht im Feuer, sondern in unserem Körper ist. Erst durch Inferenz schließen wir auf das Feuer als Ursache der Hitze, die in unserem Körper ist. Zweitens (und dies ist der wichtigere Punkt) können wir, wenn wir von Schmerz reden, eines von zwei Dingen meinen: wir können das Objekt der Empfindung oder einer anderen Wahrnehmungstatsache meinen, die die Qualität besitzt, schmerzhaft zu sein, oder wir können die Qualität der Schmerzhaftigkeit selbst meinen. Wenn jemand sagt, er habe einen Schmerz in der großen Zehe, so meint er damit, er habe eine Empfindung, die mit seiner großen Zehe in Verbindung steht und die Qualität der Schmerzhaftigkeit besitzt. Die Empfindung selbst besteht wie jede Empfindung darin, daß man ein wahrnehmbares Objekt erlebt, und das Erlebnis selbst hat jene Qualität der Schmerzhaftigkeit, die nur geistige Vorgänge haben können, die aber ebenso gut dem Denken und Wünschen wie dem Bereich der Empfindungen angehören können. In der Ausdrucksweise des Alltags bezeichnen wir jedoch das Objekt der Empfindung, das in einer Schmerzempfindung erlebt wird, als Schmerz, und diese Ausdrucksweise trägt Schuld an der Verwirrung, von der das Plausible an BERKELEYs Argument abhängt. Es wäre sinnlos, die Qualität der Schmerzhaftigkeit irgend etwas Nichtgeistigem zuzuschreiben, und daraus entspringt die Ansicht, daß das, was wir einen Schmerz in der Zehe nennen, geistig sein müsse. Tatsächlich ist es aber in einem solchen Falle nicht das wahrnehmbare Objekt, welches schmerzhaft ist, sondern die Empfindung, das heißt die Erfahrung des wahrnehmbaren Objekts. So geht mit dem Stärkerwerden der Hitze, die das Feuer ausstrahlt, das Erlebnis von einem angenehmen in ein schmerzhaftes über, doch sind weder das Angenehme noch der Schmerz Eigenschaften des erlebten Objekts, die im Gegensatz zum Erlebnis stehen, und es ist daher ein Trugschluß, wenn man, argumentiert, daß dieses Objekt deshalb geistig sein müsse, weil Schmerzhaftigkeit nur etwas Geistigem zugeschrieben werden kann.

Wenn wir also dann, wenn wir sagen, daß etwas im Geiste sei, meinen, daß ihm ein bestimmtes erkennbares Charakteristikum anhafte, wie es zu Gedanken und Wünschen gehört, muß man auf Grund unmittelbarer Einsicht feststellen, daß Objekte der Sinneswahrnehmung nicht im Geiste sind.

Eine andere Bedeutung des "im Geiste sein" müssen wir aus den Argumenten derer deduzieren, die die Ansicht vertreten, daß Objekte der Sinneswahrnehmung im Geiste seien. Die dabei verwendeten Argumente pflegen in der Hauptsache zu beweisen, daß eine kausale Abhängigkeit der Objekte der Sinneswahrnehmung vom Wahrnehmenden, bestehe. Nun ist der Begriff der kausalen Abhängigkeit noch um vieles dunkler und schwieriger, als die Philosophen im allgemeinen wahrhaben wollen. Ich werde gleich auf diesen Punkt zurückkommen. Augenblicklich möchte ich jedoch den Begriff der kausalen Abhängigkeit akzeptieren, ohne daran Kritik zu üben, und nachdrücklich betonen, daß die fragliche Abhängigkeit eher für den Körper als für den Geist gilt. Die sichtbare Erscheinung eines Objekts ändert sich, wenn wir ein Auge schließen, blinzeln oder vorher etwas blendend Helles anschauen, aber all dies sind körperliche Akte, und die Veränderungen, die sie bewirken, zu erklären, ist eher Sache des Physiologen und der Optik als des Psychologen. Sie sind tatsächlich nichts anderes als die Veränderungen, die durch Brillen oder das Mikroskop verursacht werden. Sie bilden daher einen Teil der Theorie der physikalischen Welt und können keinen Einfluß auf die Frage haben, ob das, was wir sehen, kausal vom Geiste abhängt. Was sie jedoch die Tendenz haben nahezulegen, und was ich für meine Person gar nicht leugnen will, ist, daß das, was wir sehen, kausal von unserem Körper abhängt und nicht etwas ist, wie der gesunde Menschenverstand gern annimmt, das in der gleichen Art, existieren würde, auch wenn unsere Augen, Nerven und unser Gehirn nicht da wären. Dies ist ebensowenig der Fall, wie ein Unverändertbleiben der sichtbaren Erscheinung, die ein Objekt bietet, das durch ein Mikroskop betrachtet wird, wenn man das Mikroskop entfernen wollte. Solange man annimmt, daß die physikalische Welt aus stabilen und mehr oder weniger dauerhaften Bestandteilen besteht, scheint die Tatsache, daß das, was wir sehen, durch körperliche Veränderungen gewandelt wird, Grund zu der Annahme zu geben, daß das, was wir sehen, nicht ein letzter Bestandteil der Materie sei. Sobald man jedoch erkennt, daß die letzten Bestandteile der Materie ebenso begrenzte Dauer wie begrenzte räumliche Ausdehnung besitzen, löst sich die ganze Schwierigkeit.

Doch bleibt noch eine andere Schwierigkeit, die mit dem Raum zusammenhängt. Wenn wir die Sonne ansehen, so wollen wir etwas über die Sonne selbst wissen, die 93 Millionen Meilen entfernt ist; was wir aber sehen, hängt von unseren Augen ab, und es ist, kaum anzunehmen, daß unsere Augen auf etwas Einfluß haben können, das sich in einer Entfernung von 93 Millionen Meilen abspielt. Die Physiker sagen uns, daß gewisse elektromagnetische Wellen von der Sonne ausgehen und unsere Augen nachungefähr acht Minuten erreichen. Dort verursachen sie Störungen in den Stäbchen- und Zäpfchenzellen, dann im Sehnerv und von ihm aus im Gehirn. Am Ende dieser rein physikalischen Reihe steht kraft eines seltsamen Wunders die Erfahrung, die wir "das Sehen der Sonne" nennen, und solche Erfahrungen bilden die ganze und einzige Grundlage für unseren Glauben an den Sehnerv, die Stäbchen und Zäpfchen, die 93 Millionen Meilen, die elektromagnetischen Wellen und die Sonne selbst. Dieser seltsame Richtungsgegensatz zwischen der kausalen Ordnung, wie sie von den Physikern behauptet wird, und der Reihenfolge der Evidenz, wie sie die Erkenntnistheorie offenbart, verursacht die ernstesten Schwierigkeiten in bezug auf die Natur der physikalischen Realität. Alles, was unser Sehen als Erkenntnisquelle der physikalischen Realität entwertet, entwertet auch die gesamte Physik und Physiologie. Und doch gelang der Physik durch die Annahme der allgemeinen Vorstellung vom Sehen Schritt für Schritt der Aufbau einer Kausalkette, in der unser Sehen das letzte Glied bildet, und trotzdem kann das Objekt, das wir sehen, und von dem wir annehmen, daß es 93 Millionen Meilen entfernt ist und das wir geneigt sind als die "wirkliche" Sonne anzusehen, nicht als erste Ursache betrachtet werden.

Ich habe diese Schwierigkeit so grell wie möglich herausgearbeitet, weil ich glaube, daß sie nur durch eine radikale Analyse und Rekonstruktion all der Begriffe behoben werden kann, von deren Verwendung sie abhängt. Raum, Zeit, Materie und Ursache sind die wichtigsten dieser Begriffe. Beginnen wir mit dem der Ursache.

Wie ich vorhin bemerkt habe. ist, kausale Abhängigkeit ein Begriff, den es gefährlich ist, zum Nennwert zu akzeptieren. Es besteht eine Vorstellung, daß es in bezug auf jedes beliebige Ereignis etwas gäbe, das man die Ursache des Ereignisses nennen könnte irgendein bestimmtes Geschehen, ohne dessen Eintreten das Ereignis unmöglich gewesen, wäre und durch dessen Eintreten es notwendig wurde. So behaupten Leute, daß der Geist vom Gehirn abhänge oder, ebenso plausibel, daß das Gehirn vom Geist abhänge. Es scheint nicht unwahrscheinlich, daß wir, vorausgesetzt, daß wir über hinreichendes Wissen verfügten, aus dem Gehirnzustand eines Menschen auf seinen Geisteszustand oder aus seinem Geisteszustand auf den Zustand seines Gehirnes schließen könnten. Solange die übliche Vorstellung von kausaler Abhängigkeit beibehalten wird, solange kann auch der Materialist behaupten, daß der Gehirnzustand unsere Gedanken verursache, und der Idealist kann mit dem gleichen Recht behaupten, daß unsere Gedanken den Zustand des Gehirns bewirken. Jede Behauptung ist gleich gültig und gleich ungültig. Tatsächlich scheinen die Dinge, so zu liegen, daß es viele Korrelationen der Art gibt, die man als kausale bezeichnen kann, und daß ein physikalisches oder geistiges Ereignis entweder aus einer ausreichenden Zahl physikalischer Antezedentien (Vorhergängen) oder aus einer ausreichenden Zahl geistiger Antezedentien vorhergesagt werden kann. Es ist deshalb irreführend, von der Ursache eines Ereignisses zu sprechen. Jede Gruppe von Antezedentien, aus der das Ereignis theoretisch mit Hilfe von Korrelationen erschlossen werden kann, könnte man eine Ursache des Ereignisses nennen. Der Ausdruck die Ursache schließt jedoch eine Einzigartigkeit in sich, die tatsächlich nicht besteht.

Die Beziehung des Gesagten zu der Erfahrung, die wir das "Sehen der Sonne" genannt haben, ist offensichtlich. Die Tatsache, daß es eine Kette von Antezedentien gibt, die unser Sehen von den Augen, den Nerven und dem Gehirn abhängig machen, gibt keinen Hinweis darauf, daß es nicht noch eine andere Kette von Antezedentien gibt, bei der Augen, Nerven und Gehirn als physikalische Dinge keine Rolle spielen. Wenn wir aus dem Dilemma herauskommen wollen, das sich aus der physiologischen Kausation dessen ergibt, was wir sehen, wenn wir sagen, wir sehen die Sonne, müssen wir einen Weg finden, zumindest theoretisch, Kausalgesetze für die physikalische Welt aufzustellen, in denen die Einheiten nicht materielle Dinge, wie Augen, Nerven und Gehirn sind, sondern momentane Sinnesgegebenheiten der gleichen Art wie unsere momentanen visuellen Objekte es sind, wenn wir die Sonne anschauen. Die Sonne selbst, Augen, Nerven und Gehirn müssen als Mengen momentaner Sinnesgegebenheiten betrachtet werden. Statt anzunehmen, wie wir es naturgemäß tun, wenn wir von einer unkritischen Hinnahme der scheinbaren Aussagen der Physik ausgehen, daß die Materie in der physikalischen Welt das wahrhaft "Reale" sei und daß die unmittelbaren Objekte der Sinne bloß Phantasmen seien, müssen wir die Materie als eine logische Konstruktion betrachten, deren Bestandteile ebenso flüchtige Sinnesgegebenheiten sind, wie es unsere Sinneswahrnehmungen für einen zufällig anwesenden Beobachter wären. Was die Physik als 'die Sonne vor acht Minuten' betrachtet, wird zu einer Menge von Sinnesgegebenheiten, die zu verschiedenen Zeiten existieren, sich mit Lichtgeschwindigkeit von einem Zentrum entfernen und unter anderem alle jene visuellen Wahrnehmungen enthalten, die von Leuten gemacht werden, welche gerade die Sonne anschauen. So besteht die 'Sonne vor acht Minuten' aus einer Klasse von Sinnesgegebenheiten, und was ich sehe, wenn ich jetzt die Sonne anschaue, ist ein Mitglied dieser Klasse. Alle die Sinnesgegebenheiten, welche diese Klasse bilden, werden durch eine gewisse Kontinuität, und durch gewisse inhärente Variationsgesetze, wenn wir uns vom Zentrum entfernen, miteinander in Korrelation stehen und ebenso wird mit gewissen Modifikationen, die nicht inhärent sind, eine Korrelation zu anderen Sinnesgegebenheiten bestehen, die nicht zu dieser Klasse gehören. Diese nicht inhärenten Modifikationen stellen nun diese Art von Tatsachen dar, die in unserer früheren Beschreibung als Einfluß der Augen und Nerven bei der Modifikation der Erscheinung der Sonne auftauchten.

Die Schwierigkeiten, die sich zunächst aus einer solchen Ansicht ergeben, stammen hauptsächlich aus einer ungebührlich konventionellen Theorie des Raumes. Es könnte auf den ersten Blick scheinen, als hätten wir mehr in die Welt hineingepreßt, als sie enthalten kann. An jedem Ort zwischen uns und der Sonne soll, so sagten wir, eine Sinnesgegebenheit vorhanden sein, die zur Sonne gehörte, wie sie vor wenigen Minuten war. Es werden sich natürlich auch Sinnesgegebenheiten finden, die irgendwelchen Planeten oder Fixsternen zugehören, die zufällig von jenem Orte aus sichtbar sind. An dem Ort, an dem ich mich befinde, werden Sinnesgegebenheiten vorhanden sein, di e jedes einem der "Dinge" zugehören, die ich gerade wahrnehme. So werden überall auf der Welt ungeheuer viele Sinnesgegebenheiten sein, die am selben Ort koexistieren. Doch ergeben sich diese Schwierigkeiten daraus, daß wir uns allzu bereitwillig mit dem bloß dreidimensionalen Raum zufriedengeben, an den uns unsere Lehrer gewöhnt haben, Der Raum der wirklichen Welt ist ein sechsdimensionaler Raum, und sobald wir dies erkannt haben, sehen wir auch, daß Raum genug für alle die Sinnesgegebenheiten vorhanden ist, für die wir Raum finden wollen. Um dies einzusehen, brauchen wir nur für einen Augenblick aus dem geglätteten Raum der Physik in den rauhen und ungeordneten Raum unserer sinnlichen Erfahrung zurückkehren. Dieser ist dreidimensional. Es erscheint unwahrscheinlich, daß je zwei Menschen zur gleichen Zeit ein und dasselbe Objekt sinnlich wahrnehmen; auch wenn man sagt, sie sähen dieselbe Gestalt oder hörten dasselbe Gespräch, wird es doch immer irgendeinen, wenn auch noch so kleinen Unterschied zwischen den tatsächlich gesehenen Umrissen oder den tatsächlich gehörten Tönen geben. Wenn dem so ist, und wenn, wie allgemein angenommen wird, die Lage im Baum eine rein relative ist, so folgt daraus, daß der Raum der Objekte des einen Menschen und der Raum der Objekte eines anderen keinen Ort gemeinsam haben, daß sie also tatsächlich verschiedene Räume sind, nicht bloß verschiedene Teile ein und desselben Raumes. Damit meine ich, daß solche unmittelbaren räumlichen Relationen, die zwischen den verschiedenen Teilen des sinnlichen Raumes, wie er von einem Menschen wahrgenommen wird, als bestehend erkannt werden, nicht zwischen den Teilen des sinnlichen Baumes, wie er von verschiedenen Menschen wahrgenommen wird, bestehen. Es gibt deshalb eine Vielzahl dreidimensionaler Räume auf der Welt: es gibt alle die dreidimensionalen Räume, die von Beobachtern wahrgenommen werden und vermutlich auch jene, die einfach darum nicht wahrgenommen werden, weil kein Beobachter die geeignete Lage einnimmt, um sie wahrzunehmen.

Aber obgleich diese Räume nicht die gleiche Art von räumlichen Relationen zueinander haben, wie sie für die Teile eines von ihnen gelten, ist es trotzdem möglich, diese Räume dreidimensional zu ordnen. Dies geschieht mittels der korrelierten Sinnesgegebenheiten, die wir als Teile (oder Aspekte) eines physikalischen Dinges betrachten. Wenn man sagt, daß eine Anzahl von Leuten dasselbe Objekt sehen, dann sehen die, von denen man sagen würde, daß sie sich in der Nähe des Objekts befinden, eine Sinnesgegebenheit, die einen größeren Teil ihres Gesichtsfeldes einnimmt als eine korrespondierende Sinnesgegebenheit einnimmt, die von jemandem gesehen wird, von dem man sagt, daß er, sich in größerer Entfernung vom Objekt befindet. Mit Hilfe solcher Überlegungen ist es möglich, durch Verfahren, auf die nicht, näher eingegangen werden kann, alle verschiedenen Räume in einer dreidimensionalen Reihe anzuordnen. Da jeder der Bäume selbst, dreidimensional ist, ist demnach die ganze Welt der Sinnesgegebenheiten in einem sechsdimensionalen Raum angeordnet, d.h. es sind sechs Koordinaten nötig, um die Lage irgendeiner bestimmten Sinnesgegebenheit eindeutig zu bestimmen, nämlich drei, um ihre Lage im eigenen Raum und drei weitere, um die Lage ihres Raumes, zu den anderen Räumen zu bestimmen.

Es gibt, zwei Einteilungsmöglichkeiten der Sinnesgegebenheiten: wir können alle die zusamenfassen, die zu einer gegebenen "Perspektive" gehören, oder alle jene, die, wie der Laie sagen würde, verschiedene "Aspekte" desselben "Dinges" sind. Wenn ich zum Beispiel, wie gesagt, die Sonne sehe, gehört das, was ich sehe, zwei Gruppen an:
  1. der Gruppe aller meiner augenblicklichen Objekte der sinnlichen Wahrnehmung, dies ist das, was ich eine "Perspektive" genannt habe;
  2. der Gruppe all der verschiedenen Sinnesgegebenheiten, die Aspekte der 'Sonne vor acht Minuten' genannt, werden können - diese Gruppe ist das, was ich als Sein der Sonne vor acht Minuten definiert habe.
So sind "Perspektiven" und "Dinge" nur zwei verschiedene Arten, Sinnesgegebenbeiten einzuteilen. Man beachte, daß es für die Sinnesgegebenheiten keine a-priori-Notwendigkeit gibt, dieser zwiefachen Einteilung zugänglich zu sein. Es mögen, nennen wir es, "wilde" Sinnesgegebenheiten vorkommen, die nicht die üblichen Relationen besitzen, auf Grund derer die Einteilung erfolgt; vielleicht setzen sich Träume und Halluzinationen aus Sinnesgegebenheiten zusammen, die "wild" in diesem Sinne sind.

Eine exakte Definition dessen, was mit Perspektive gemeint ist, fällt nicht ganz leicht. Solange wir uns auf sichtbare oder greifbare Objekte beschränken, könnten wir die Perspektive einer bestimmten Sinnesgegebenheit definieren als "alle Sinnesgegebenheiten, die zu einer bestimmten Sinnesgegebenheit eine einfache (direkte) Beziehung haben". Zwischen zwei Farbflecken, die ich gerade sehe, besteht eine direkte räumliche Beziehung, die ich auch sehe. Aber zwischen den Farbflecken, die von verschiedenen Menschen gesehen werden, gibt es nur eine indirekte, konstruierte räumliche Beziehung, indem ich die "Dinge" in den physikalischen Raum stelle (was dasselbe ist wie der Raum, zusammengesetzt aus den Perspektiven). Solche Sinnesgegebenheiten, die zu einer bestimmten Sinnesgegebenheit direkte räumliche Beziehungen haben, gehören zur selben Perspektive. Aber wenn zum Beispiel die Töne, die ich höre, zu derselben Perspektive gehören wie die Farbflecken, die ich sehe, dann müssen Sinnesgegebenheiten vorhanden sein, die keine direkten räumlichen Beziehungen haben, aber trotzdem derselben Perspektive angehören. Wir können Perspektive nicht als alle die Wahrnehmungen eines Wahrnehmenden zu einem gegebenen Zeitpunkt definieren, weil wir die Möglichkeit von Perspektiven offen lassen wollen, die von niemandem wahrgenommen werden. Es wird darum bei der Definition einer Perspektive ein Prinzip notwendig sein, das weder aus der Psychologie noch aus dem Raume abgeleitet ist.

Ein solches Prinzip ergibt sich aus der Betrachtung der Zeit. Die allumfassende Zeit ist ebenso eine Konstruktion wie der allumfassende Raum; es gibt keine direkte Zeitbeziehung zwischen den Sinnesgegebenheiten, die zu meiner Perspektive gehören und den Sinnesgegebenheiten, die zu der eines anderen gehören. Doch sind irgendwelche zwei Sinnesgegebenheiten, deren ich mir bewußt bin, entweder simultan oder sukzessiv, und ihre Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge ist für mich manchmal selbst eine Erfahrung. Wir können daher die Perspektive, zu der eine bestimmte Sinnesgegebenheit gehört, definieren als "alle Sinnesgegebenheiten, die mit der bestimmten Sinnesgegebenheit gleichzeitig sind", wobei "gleichzeitig" als eine direkte einfache Relation zu verstehen ist, nicht als abgeleitete, konstruierte Relation der Physik. Man beachte, daß die Einführung der "lokalen Zeit" durch das Relativitätsprinzip aus rein wissenschaftlichen Gründen zu einer ganz ähnlichen Vielfalt von Zeiten geführt hat, wie wir sie gerade befürworteten.

Die Gesamtsumme aller Sinnesgegebenheiten, die (direkt) entweder gleichzeitig oder früher oder später als eine bestimmte Sinnesgegebenheit sind, könnten als die "Biographie" definiert werden, zu der die Sinnesgegebenheit gehört. Man beachte, daß ebensowenig wie eine Perspektive tatsächlich von irgend jemandem wahrgenommen werden braucht, auch eine Biographie nicht tatsächlich von jemandem erlebt werden muß. Solche Biographien, die von niemandem erlebt werden, nennt man "offizielle".

Die Definition eines "Dinges" geschieht mit Hilfe der Kontinuität und von Korrelationen, die eine gewisse differentielle Unabhängigkeit von anderen "Dingen" besitzen. Das heißt, nehmen wir eine bestimmte Sinnesgegebenheit in einer bestimmten Perspektive, wird sich gewöhnlich in der benachbarten Perspektive eine sehr ähnliche Sinnesgegebenheit finden, die sich von der bestimmten Sinnesgegebenheit entsprechend einem Gesetz, das nur den Unterschied der Lage der zwei Perspektiven im perspektivischen Raum und nicht den zu irgendeinem der anderen "Dinge" im Universum betrifft, nach der ersten Ordnung kleiner Quantitäten unterscheidet. Die Klasse der Sinnesgegebenheiten, die man "ein Ding" nennt, werden durch Kontinuität und die differentielle Unabhängigkeit nach dem Gesetz der Veränderung, wenn wir von einer Perspektive zu einer anderen übergehen, definiert.

Ganz allgemein ausgedrückt, dem Physiker paßt die Einteilung der Sinnesgegebenheiten in Dinge", während der Psychologe es vorzieht, sie in "Perspektiven" und "Biographien" einzuteilen, da eine Perspektive die augenblicklichen Sinneswahrnehmungen eines Wahrnehmenden bilden kann und eine Biographie die Gesamtheit der Sinneswahrnehmungen eines Wahrnehmenden im Ablauf seines Lebens bilden 'kann'.

Wir können nun zusammenfassen. Unser Ziel war es, soweit als möglich das Wesen der letzten Bestandteile der physikalischen Welt zu entdecken. Wenn ich von physikalischer Welt spreche, so meine ich zunächst die Welt, mit der sich der Physiker abgibt. Es ist klar, daß die eine empirische Wissenschaft ist, die uns eine gewisse Wissenssumme vermittelt und auf der Evidenz unserer Sinne fußt, teils durch die Entwicklung selbst, teils durch Argumente, die aus der und Metaphysik stammten, kann man jedoch auf den Gedanken, daß die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen nicht selbst einen Teil der letzten Bestandteile der physikalischen Welt, bilden könnten, sondern in irgendeinem Sinne "geistig", "seelisch" seien. Die Gründe für diese Ansicht, soweit sie mit der Physik zusammenhängen, lassen sich adäquat nur durch sehr ausführliche Konstruktionen behandeln, die von der symbolischen Logik abhängen und zeigen, daß es möglich ist, aus dem Material, das die Sinne liefern, Klassen und Reihen zu konstruieren, welche die Eigenschaften besitzen, die die Physiker der Materie zuschreiben. Da dieser Beweis schwierig ist und technische Spezialkenntnisse voraussetzt, ging ich an dieser Stelle nicht näher darauf ein.

Soweit jedoch die Ansicht, daß Sinneswahrnehmungen "geistig" seien, auf Argumenten aus der Physiologie, der Psychologie und der Metaphysik fußt, habe ich zu zeigen versucht, daß diese auf Irrtümern und Vorurteilen beruhen - auf dem Vorurteil, daß die, letzten Bestandteile der Materie Dauer besäßen, und auf Irrtümern, die daher abzuleiten sind, daß man eine allzu einfache Vorstellung vom Raum von der kausalen Korrelation der Sinneswahrnehmungen mit den Sinnesorganen hatte, und schließlich aus der mangelnden Unterscheidung zwischen Sinneswahrnehmungen, und dem Bewußtwerden des Wahrgenommenen.

Wenn das, was wir über diese Themen gesagt haben dann ist, die Existenz der Sinneswahrnehmungen logisch von der Existenz des Geistes unabhängig, und hängt kausal eher vom 'Körper' des Wahrnehmenden als von seinem Geist ab. Wir fanden auch, daß die kausale Abhängigkeit vom Körper des Wahrnehmenden komplizierter ist, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, und daß sie, wie alle Fälle von kausaler Abhängigkeit, durch mißverständliche Auffassung von der Natur der kausalen Korrelationen zu irrigen Vorstellungen Anlaß geben kann. Wenn wir mit unseren Behauptungen recht hatten, dann stellen die Sinneswahrnehmungen bloß jene letzten Bestandteile der physikalischen Welt dar, deren wir uns zufällig unmittelbar bewußt werden; sie selbst sind rein physisch, und alles, was in Verbindung mit ihnen geistig ist, ist die Tatsache, daß wir uns ihrer bewußt werden, ein Umstand, der für ihre Natur und ihre Stellung in der Physik bedeutunngslos ist.

Die Realisten kamen über eine allzu einfache Vorstellung vom Raum zu Fall. Sie nahmen an, wenn zwei Menschen denselben Tisch sehen, daß sich das, was der eine sieht, und das, was der andere sieht, am gleichen Ort befinde. Da jedoch Gestalt und Farbe nicht für beide Menschen ganz die gleichen sind, entsteht, eine Schwierigkeit, die man hastig löste oder besser gesagt, verdeckte, indem man erklärte, daß das, was jeder sieht, rein sei - obwohl es denen, die dieses Wort so zungenfertig gebrauchen, nicht leicht fallen dürfte zu erklären, was sie damit meinen. Die Wahrheit scheint die zu sein, daß der Raum - und auch die Zeit - komplizierter ist, als es der vollendete Bau der Physik erkennen läßt, und daß der eine, allumfassende, dreidimensionale Raum eine logische Konstruktion ist, die man mit Hilfe von Korrelationen aus einem sechsdimensional Raum erhielt. Die Sinnesgegebenheiten die diesen sechsdimensionalen Raum erfüllen, bilden, nach der einen Einteilungsart "Dinge", aus denen wir mittels weiterer Manipulationen das erhalten können, was die Physik als Materie betrachtet; nach der anderen Art eingeteilt, bilden sie "Perspektiven" und "Biographien", die, wenn ein geeigneter Empfänger zufällig vorhanden ist, die Sinneswahrnehmungen einer augenblicklichen, bzw. einer totalen Erfahrung bilden können. Nur dann, wenn man, wie wir es getan haben, die in Reihen und Klassen von Sinnesgegebenheiten zerlegt, kann der Konflikt zwischen dem Standpunkt der Physik und dem der Psychologie überwunden werden. Dieser Konflikt geht, wenn das Gesagte richtig ist, von verschiedenen Methoden der Klassifikation aus und verschwindet sofort, wenn seine Quelle entdeckt wird.

Ich behaupte nicht, daß die hier kurz skizzierte Theorie mit Sicherheit wahr sei. Abgesehen von der Wahrscheinlichkeit von Fehlern, ist vieles zugegebenermaßen hypothetisch. Ich behaupte nur, daß sie wahr sein kann, und dies ist mehr, als man von jeder anderen Theorie, abgesehen von der ziemlich ähnlichen Theorie LEIBNIZens, sagen kann. Die Schwierigkeiten, die den Realismus bedrängen, die Verwirrung, die sich jeder philosophischen Behandlung der Physik in den Weg stellen, das Dilemma, das sich aus der Diskreditierung der Sinneswahrnehmungen ergibt, die immer noch die einzige Quelle für unsere Erkenntnis der Außenwelt bilden, sie alle lassen sich durch die Theorie, für die ich eintrete, vermeiden. Dies beweist najürlich nicht, daß die Theorie tatsächlich richtig ist, da wahrscheinlich viele andere Theorien erfunden werden könnten, welche die gleichen Verdienste hätten. Aber es beweist doch, daß die Theorie mehr Aussicht hat, wahr zu sein, als irgendeiner ihrer derzeitigen Konkurrenten, und es legt die Vermutung nahe, daß das, was mit Sicherheit erkannt werden kann, auch wahrscheinlich zu entdecken ist, wenn man unsere Theorie als Ausgangspunkt nimmt und sie allmählich von allen Annahmen befreit, die bedeutungslos, unnötig oder unbegründet erscheinen. Aus diesen Gründen empfehle ich sie als Hypothese und als Grundlage für weitere Arbeit der Aufmerksamkeit, obwohl sie an sich keine vollkommene oder zureichende Lösung des Problems, mit dem sie sich beschäftigt, darstellt.
LITERATUR - Bertrand Russell, Mystik und Logik, Wien/Stuttgart 1952