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Über Wesen und Bedeutung der Philosophie (1)
Die Meisten sind darin einig, daß Griechenland die Geburtsstätte der Philosophie ist, und solange wir noch nach einer bestimmten und scharfen Definition suchen, müssen wir uns damit begnügen, der Meinung der Mehrheit passiv zu folgen. Man ist ferner darin ganz einig, daß die mythologische Dichtung auf die Bezeichnung Philosophie keinen Anspruch erheben darf. THALES wird im Allgemeinen als "Vater der Philosophie" bezeichnet, und frägt man, weshalb, so pflegt man die Antwort zu erhalten: Weil er der Erste war, der sich mit Bewußtsein die Frage gestellt hat: Was ist denn in letzter Instanz diese ganze bunte Mannigfaltigkeit? und weil er versuchte, diese Frage nicht wie die Dichter der Mythen auf dem subjektiven Weg der Phantasie, sondern auf dem objektiven, streng gesetzmäßigen Weg des Denkens zu lösen. Schon hierdurch werden wir zur Aufstellung einer bestimmten Definition geführt: Philosophie ist also Wissenschaft, und genauer: die universelle, Alles umfassende Wissenschaft, die Wissenschaft von der Beschaffenheit und dem Wesen der ganzen Welt. Wir wollen weiter wandern und untersuchen, wieweit die gefundene Definition wirklich die richtige ist! Die erste überraschende Tatsache, der wir begegnen, ist die, daß wir nirgendwo auf die Philosophie stoßen, so wie wir z. B. auf die Physik oder die Chemie stoßen können, nein, wir treffen auf lauter weit verschiedene Philosophie; jeder Philosoph hat die seine. Zuerst kommt THALES und sagt: "Alles ist Wasser!" Aber gleich darauf sagt ANAXIMANDER, daß Alles ein unbestimmter Urstoff ist, und kaum hat er ausgesprochen, als ANAXIMENES einfällt: "Nein, Alles ist Luft!" Und nicht nur die ersten Versuche sind so unvollkommen, nein, so bleibt es die ganze griechische Philosophie hindurch. Während des Mittelalters verstummt die selbständige Philosophie fast ganz, und als man in der neueren Zeit ungehemmt durch fremde Fesseln wieder anfängt zu philosophieren, so fährt man fort, ganz wie man begonnen hatte. DESCARTES, SPINOZA und LEIBNIZ belehren uns alle über das Wesen der Welt, aber jeder auf seine Art. Dann erscheint KANT und behauptet, daß wir in der erwähnten Beziehung eigentlich so gut wie gar nichts wissen. Aber weit davon entfernt, ihm Recht zu geben, greifen FICHTE, SCHELLING und HEGEL die Sache nur noch leidenschaftlicher an und jeder trägt mit großer Bestimmtheit und Ausführlichkeit seine eigene Lehre von den letzten Gründen vor; und wollte man einwenden, daß neben der Ungleichheit doch auch eine gewisse Gleichheit zwischen ihren Anschauungen existiert, so brauchen wir nur einige gleichzeitige Philosophen, wie z. B. HERBART und SCHOPENHAUER, mit in die Untersuchung zu ziehen, um sofort die Ungleichheit als das durchaus Überwiegende erscheinen zu lassen. Wenn wir überhaupt jemals das Recht haben, einen Schluß zu ziehen, so haben wir offenbar hier das Recht, zu schließen: Folglich haben alle diese Männer nicht ausschließlich wissenschaftlich gearbeitet, nicht mittels des streng gesetzmäßigen objektiven Denkens, sondern zugleich mehr oder weeniger mit der ungebundenen subjektiven Phantasie. Was hier geleistet ist, ist in der Tat keine Wissenschaft, sondern eine mehr oder weniger phantastische Lösung des Welträtsels, also mehr oder weniger Mythologie. Natürlich läßt sich nicht leugnen, daß diese Behauptung die verschiedenen Systeme in einem außerordentlich verschiedenen Grad trifft. Bei Männern wie KANT, MILL und LOTZE finden sich Gebiete, wo das Phantasieelement in der Tat auf ein verschwindendes Minimum reduziert ist. Aber diese Ausnahmen sind nur einzelne Lichtpunkte auf einem weit ausgedehnten dunklen Firmament. Ich muß mich indessen beeilen, noch eine Tatsache zu betonen: Diese weitgehende Anwendung der Phantasie geschieht keineswegs vollbewußt oder vorsätzlich. Jeder dieser Männer fühlt sich fest davon überzeugt, daß er seine Resultate nur durch objektives, streng gesetzmäßiges Denken, also auf vollkommen wissenschaftlichen Weg erreicht hat. Keiner von ihnen zweifelt daran, daß diese Resultate die wirkliche Wahrheit ausdrücken und etwas ganz Anderes und Höheres sind, als des betreffenden Autors individuelle Meinung von einer Sache. Das wird hinlänglich durch diese äußere Form sämtlicher Systeme bezeugt. Äußerlich betrachtet stellt sich Alles als Grund und Folge dar; SPINOZA gibt sogar seinem ganzen System die Form einer Geometrie, und etwas Ähnliches geschieht bei HEGEL. Keiner von diesen Männern glaubt oder wünscht, eine Mythologie zu dichten; hierzu gelangen sie beständig wider Wissen und Willen. In Kürze läßt sich das folgendermaßen ausdrücken: Die Philosophie ist ihrem Ideal nach eine Universalwissenschaft. Aber dieses Ideal ist noch vollkommen unerreicht; die faktisch vorliegenden Systeme sind alle mehr oder weniger, und häufig sogar in außerordentlich hohem Grad, mit Phantasieelementen durchsetzt. Hiermit haben wir die erste Bestimmung unserer Definition untersucht; hiermit haben wir die Wissenschaftlichkeit der Philosophie geprüft. Wir gehen nun zur zweiten Bestimmung der Definition über und fragen: Wie verhält es sich eigentlich mit der Universalität der Philosophie? Auch diese Frage spaltet sich bei genauerer Betrachtung in zwei, da wir - um es kur zu sagen - von einer Universalität sowohl hinsichtlich der Breite wie der Höhe sprechen können. Es ist indessen kaum möglich, diese beiden Seiten der Sache ganz voneinander zu trennen, und wir wollen sie deshalb auch als Ganzes behandeln. Anfangs scheint die Bestimmung der Universalität recht gut auf die faktische Philosophie zu passen, denn diese hat keine andere Wissenschaft außer sich und kennt kein Problem, welches ihr zu fern oder zu schwierig wäre. Ist irgendeine Frage übergangen, so ist das einfach deswegen geschehen, weil dieselbe überhaupt noch nicht gestellt war; ist irgendeine Provinz der Welt übersprungen, so ist das einfach deswegen geschehen, weil dieselbe noch nicht entdeckt war. Bald stoßen wir indessen auf eine neue unerwartete Tatsache: Eine Disziplin nach der anderen scheidet sich von der "Universalwissenschaft" aus und beginnt ganz auf eigene Hand zu leben und sich zu entwickeln. Zuerst kommt die Mathematik; dieser folgt bald die Astronomie; aber namentlich in den Zeilen der neueren Philosophie werden diese Ausscheidungen in mehrfacher Beziehung auffallend und lehrreich. Fast gleichzeitig mit dem Beginn der neueren Philosophie bildet sich eine ausgeprägte selbständige Naturwissenschaft oder richtiger eine ganze Gruppe von Naturwissenschaften. Die Astronomie blüht aufs Neue auf, gepflegt von Männern wie KOPERNIKUS, BRAHE, KEPLER und GALILEI. Der letztgenannte Forscher schafft ferner durch seine scharfsinnigen mechanischen Untersuchungen die moderne Physik, und fast gleichzeitig lenken ROBERT BOYLE die Chemie und HARVEY die Physiologie in ihre gegenwärtigen Bahnen. Manche andere Ausscheidungen würden sich noch nennen lasen, aber die erwähnten genügen für unseren Zweck. Wir wollen etwas näher auf die Erscheinungen eingehen, welchen diesen Ausscheidungsprozeß begleiten! Die ausscheidenden Disziplinen stellen sich in dreifacher Hinsicht in einen gewissen Gegensatz zur Philosophie. Erstens erhalten dieselben bald nach ihrer Absonderung einen merkwürdig festen und ruhigen, von allen größeren Umwälzungen unberührten Entwicklungsgang. Während in der Philosophie ein System das andere ablöst, während jeder Forscher hier gewöhnlich bei seinem Auftreten zunächst alles Frühere für verfehlt und die Wahrheit erst jetzt als gefunden erklärt, während die Anschauungen hier mit unglaublicher Geschwindigkeit wechseln, selbst was die fundamentalsten Fragen betrifft, so türmt man in einer Wissenschaft wie die Physik ruhig Stein auf Stein und gelangt auf diese Weise beständig vorwärts. Hat es gelegentilch den Anschein, als ob man auch hier gewaltsame und willkürliche Revolutionen kennen würde, so beruth das in der Regel auf einem Mangel an Verständnis. Als Beispiel für eine solche individuelle Willkür muß besonders TYCHO BRAHEs Weltsystem herhalten, aber durchaus mit Unrecht. So gewichtig die Gründe waren, aus denen KOPERNIKUS Merkur, Venus, Mars usw. sich um die Sonne drehen ließ, so wissenschaftlich bedeutungslos waren in der Tat die Motive, aus denen er die Sonne der Erde als ruhende Mitte des Systems vorgezogen hat. Ebenso wie KOPERNIKUS ließ auch BRAHE in seinem System die genannten Planeten um die Sonne kreisen; dagegen ließ er wieder die Sonne mit ihren Begleitern sich um die Erde bewegen. Mit Rücksicht auf alle von KOPERNIKUS vorgebrachten Tatsachen war diese Veränderung durchaus unwesentlich; nichts von dem, was KOPERNIKUS gewonnen hatte, wurde hierdurch verloren. Aber BRAHE hatte noch eine Tatsache vor Augen - den vollständigen Mangel einer jährlichen geozentrischen Ortsveränderung der Fixsterne -, und mit dieser vor Augen war es schlechthin logisch und methodisch am richtigsten, das kopernikanische System so zu verändern, wie er es getan hat. Erst als GALILEI sein Fernrohr gegen den Himmel gerichtet und aus dem Umstand, daß die Fixsterne gar nicht vergrößert erscheinen, den Schluß gezogen hatte, daß dieselben unmeßbare Abstände von der Erde haben müssen, erst da konnte man mit logischem und methodischem Recht von TYCHO BRAHEs Bedenken gegen die Kreisbewegung der Erde im Raum absehen, und später trat dann eine Tatsache nach der anderen auf, welche die Forscher nötigte, wieder zu KOPERNIKUS zurückzukehren. Ganz ebenso war NEWTONs Lichttheorie die mit den zu seiner Zeit bekannten Tatsachen am besten übereinstimmende Erklärung der Sache, und erst mit der Entdeckung und Deutung der Interferenzerscheinungen wurde die schon von DESCARTES angedeutete Wellentheorie eigentlich berechtigt. Im Großen und Ganzen läßt sich deshalb der Entwicklungsgang der Naturwissenschaften folgendermaßen schildern: Das System des einzelnen Forschers läßt sich stets aus dem seiner Vorgänger ableiten in Verbindung mit den Tatsachen, welche später mit Anspruch auf eine Erklärung hinzugetreten sind. Eine solche Entwicklung ist natürlich und notwendig, wo ein so beschränktes und unvollkommenes Wesen wie der Mensch forscht. Aber auf dieselbe Weise läßt sich nicht FICHTE aus KANT oder LEIBNIZ aus SPINOZA ableiten. Sollte man eine Entwicklungsformel für die philosophischen Erscheinungen geben, so müßte man etwa sagen: Das System des einzelnen Forschers läßt sich nur verstehen als das Resultat seiner ganzen konkreten Individualität in Verbindung mit der gesamten herrschenden Kulturströmung und mehreren oder wenigeren der früheren Systeme. Nur auf diese Weise lassen sich gewaltsame Sprünge nach allen Richtungen verstehen, auf welche wir beständig in der Geschichte der Philosophie stoßen. Der Grund für diese Eigentümlichkeiten liegt nicht so fern, und indem ich nun dazu übergehe, denselben genauer hervorzuheben, stehe ich beim zweiten der eben angedeuteten Unterschiede zwischen den ausgeschiedenen Disziplinen oder den sogenannten Fachwissenschaften (Spezialwissenschaften) und der Philosophie. Dieser Unterschied ist ein Unterschied in der Methode. Die Fachwissenschaften erhalten ihren ruhigen Entwicklungsgang, weil sie sich eine neue Methode, eine neue Art des Aufbauens schaffen. Diese allbekannte Wahrheit ist jedoch sehr oft unklar aufgefaßt worden und muß deshalb etwas genauer erläutert werden. Jeder, der sich wissenschaftlich beschäftigt hat, weiß ja heutigentags sehr wohl, daß man nur auf eine Art eine Wirklichkeitswissenschaft aufbauen kann, nämlich durch die logische Bearbeitung von Beobachtungen. Beides gehört dazu, sowohl die Beobachtungen, wie die Bearbeitung. Kein Fachmann (Spezialforscher) ist noch in dem Irrtum befangen, daß man Wissenschaft aufbauen kann durch bloß passives Aufhäufen von Beobachtungen, und ebenso sind wir alle davon überzeugt, daß man eine Wirklichkeitswissenschaft nicht aufbauen kann und niemals hat aufbauen können allein durch eine logische (oder unlogische) Behandlung eines einzelnen, dürftigen oder sogar keines Ausgangspunktes. Wir lernen das Wesen der Welt nicht kennen durch lauter Deduktionen von einigen einfachen Definitionen, vom reinen Sein oder dem reinen Nichts oder von den inneren Tiefen des Selbstbewußtseins aus. Das läßt sich höchstens tun durch Deduktionen von einem im Voraus mit zahlreichen und reichen Erfahrungen angefüllten Bewußtsein aus, und wenn SPINOZA, HEGEL und mehrere andere Philosophen geglaubt haben, das eben erwähnte Kunststück wirklich auszuführen, so ist das ein großartiger Selbstbetrug, dadurch ermöglicht, daß sie im Feuer der Begeisterung die Augen ganz geschlossen haben gegenüber der lebhaften Einschmuggelung von Erfahrungstatsachen, welche auf allen Seiten des Systems vor sich ging. Auch die Philosophen haben insofern zu jeder Zeit, sofern sie Wissenschaft aufgebaut haben, auf die oben erwähnte Weise gebaut: durch die logische Bearbeitung von Beobachtungen; und gleichviel, was sie auch selbst über ihre Methode gesagt und gemeint haben, so ist diese doch faktisch - sofern sie eine Wissenschaft aufgebaut haben - beständig dieselbe wie die des Fachmanns gewesen. Das Rede über eine empirische und apriorische, induktive und deduktive Methode usw. usf. zur Bezeichnung des Unterschiedes ist also streng genommen ein Reden über Einbildungen. Sowohl der Fachmann wie der Philosoph braucht sowohl Beobachtungen wie die Bearbeitung von Beobachtungen. Aber der ganz große Unterschied zwischen beiden - denn es ist keineswegs meine Absicht, denselben zu leugnen oder abzuschwächen - beruth genau genommen allein auf einer verschiedenen Durchführung der Methode. In den Fachwissenschaften - und bei diesem Ausdruck denke ich hier sowohl, wie in der Folge wiederum zunächst an solche Musterwissenschaften wie Physik und Chemie -, in diesen wird die Methode mit klarem Bewußtsein von ihrem Wesen und ihren Grenzen und mit der größten Sorgfalt und Genauigkeit durchgeführt. Man wendet zunächst alle Mittel an, um sich so genaue und sichere Beobachtungen wie möglich zu verschaffen, und man wacht demnächst genau über die Denkoperationen, durch welche man das Resultat aus den Beobachtungen zieht. Man unterscheidet streng, ob man eine Gewißheit oder eine Wahrscheinlichkeit erreicht hatf; man vermischt nicht die noch unbegründeten Hypothesen mit den begründeten, und man ist überall sorgfältig bedacht, seine individuellen Meinungen, Wünsche und dgl. von der Sache fern zu halten. Ganz anders geht es gewöhnlich in der Philosophie zu. Hier findet sich meistens die größte Unklarheit hinsichtlich des Charakters der Methode und fast niemals das ernsthafte Bestreben, den Forderungen derselben nachzukommen. Gewißheiten, Wahrscheinlichkeiten und ganz vage Möglichkeiten werden bunt durcheinander gemischt; oft sieht man keine Spur von Begründung, sondern nur lauter aus den Wolken heruntergefallene "Resultate", und wo eine "Begründung" gegeben wird, da ist dieselbe oft voll von Lücken und großen Sprüngen, sich gegen alle Logik versündigend und den ernsthaftesten Anstrengungen des logischen Lesers trotzend. Man nehme irgendeine philosophische Schrift in die Hand! Es wird ein ganz besonderes Glück sein, auf eine zu stoßen, welche nicht vollständig das hier Hervorgehobene beweist. Aber was ist denn der Grund für diese Eigentümlichkeit? fragt man. Auf diesen stoßen wir, indem wir nun zum letzten der drei Unterschiede zwischen Philosophie und Fachwissenschaft übergehen: Während es in den Fachwissenschaften von offenen Fragen und ungelösten Problemen nur so wimmelt, erhält man in der Regel bei den Philosophen sozusagen Auskunft über Alles. Woher kommt diese so wohlbekannte Allwissenheit? Woher kommt es, daß der Naturforscher, der doch sein ganzes Leben dem Studium der Natur geweiht hat, noch heutigentags uns gar nichts darüber sagen kann, wie weit die Natur selbst das Letzte ist, oder ob eine Gottheit hinter derselben steht, während der Philosoph A sicher "weiß", daß die Atome der ewige Urgrund sind, und der Philosoph B sicher "weiß", daß hinter den Atomen ein persönlicher Schöpfer steht? Offenbar kann das nur von den verschiedenen Methoden herrühren. Die Schwalbe fliegt besser als der Sperling, weil sie bessere Flügel hat. Wenn die Flügel des Gedankens nicht höher tragen, so hält der Fachmann inne; aber der Philosoph hat zugleich die Flügel der Sehnsucht entfaltet, und für diese ist keine Luft zu dünn und keine Kluft zu breit. Mit anderen Worten: die Beantwortung der vielen Fragen wird möglich, weil man es mit der Methode nicht so genau nimmt; wo die Logik nicht ausreicht, wendet man Lyrik an - natürlich nicht vorsätzlich, sondern getrieben von der Sehnsucht nach einem Resultat, und zumal einem Resultat von bestimmter Farbe. Hat man z. B. infolge der Forderungen seiner ganzen konkreten, undurchschaubaren Individualität den Glauben an einen persönlichen Gott angenommen, so wünscht man ganz natürlich, daß auch diese Annahme als wissenschaftliches Resultat aufgestellt wird, und man weist dann z. B. dem Leser ganz naiv auf die "unendliche Weisheit und Schönheit der Natur" hin, ohne des Umstandes zu gedenken, daß die ganz voraussetzungslose Betrachtung der Natur uns vor allem ein Bild von lauter Qual und Leiden gibt, vom Kampf Aller gegen Alle, von einer unfaßbaren Fülle von Grausamkeiten. Kurz: es ist die mächtigste Sehnsucht des Menschengeistes nach der wissenschaftlichen Lösung aller Rätsel, welche die Philosophen dazu gebracht hat, die Grenzen der Methode zu übersehen und das, was sie wünschen, mit dem, was sie wissen, zu vermischen. Daher stammt die scheinbare Allwissenheit, und da diese eine falsche Allwissenheit ist, so erhält man wieder mit Notwendigkeit einen reißenden Strom von einander widersprechenden Systemen." Daß auch diese Auslassungen die verschiedenen Philosophen in sehr verschiedenem Grad treffen, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Ich habe bei diesen Dingen verweilt, weil wir später von diesem Entwickelten Gebrauch machen werden. Nun nehmen wir wieder unsere Frage auf: wie verhält es sich faktisch mit der Universalität der Philosophie? Aus dem Vorhergehenden folgt, daß sich hierauf keine einfache kurze Antwort geben läßt. Universell in vollstem Umfang kann die Philosophie (wenn wir dieses Wort in der gewöhnlichsten Bedeutung nehmen) nicht genannt werden; denn außer ihr gibt es die erwähnten und viele andere Fachwissenschaften, und sie hat niemals auf eigenem Weg alle Resultate dieser Wissenschaften zu gewinnen vermocht. Indessen erhalten wir doch in den meisten philosophischen Systemen gewisse Hauptlehren über alle Gebiete der Wirklichkeit. Insofern kann von einer gewissen abstrakten oder relativen Universalität die Rede sein. Hier müssen wir indessen den Unterschied zwischen den verschiedenen Systemen ganz besonders betonen: Je weniger streng man es mit der Methode, mit der Wissenschaftlichkeit nimmt, umso weiter gelangt man natürlich sowohl der Höhe als auch der Breite nach. Die Universalität der Philosophie steht insofern im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wissenschaftlichkeit, und wir können sowohl Systeme antreffen, welche uns über Alles im Himmel und auf Erden belehr, als auch Systeme, welche von der Entstehung und dem innersten Wesen der Welt nichts wissen, sondern sich darauf beschränken, uns die Grundzüge einer Erkenntnislehre, einer Psychologie, einer Ethik und vielleicht noch einiger anderer Disziplinen zu liefern. Selbst hier ist die Universalität indessen nicht ganz verschwunden. Äußerlich betrachtet haben wir hier wohl nur eine Art "Torso mit abgerissenen Gliedern", einem begrenzten Komplex von Disziplinen, die zum Teil sogar drohen, sich noch weiter zu spalten. Etwas näher betrachtet, ergibt sich jedoch ein gewisser natürlicher Grund dafür, daß eben diese Disziplinen in einer Hand vereinigt geblieben sind: Sie haben alle mehr oder weniger ausschließlich das menschliche Bewußtsein zum Gegenstand. Aber eben hierdurch wird auch eine gewisse Universalität bewahrt: In der Erkenntnislehre werden Gesetze und Bedingungen für alles richtige Forschen aufgestellt; die Psychologie behandelt den Menschengeist; aber der Menschengeist ist es, der alle verschiedenen Wissenschaften hervorbringt; usw. usf. Ganz und vollkommen verschwindet die Universalität also nie; aber in der vollsten Bedeutung - so daß man Philosophie und Wissenschaft einander gleichsetzen könnte - ist sie andererseits auch niemals vorhanden (2). Das Hauptresultat dieser historischen Untersuchung läßt sich deshalb folgendermaßen ausdrücken: Die Philosophie ist ihrem Ideal nach eine universelle Wissenschaft; aber sowohl mit der Universalität wie mit der Wissenschaftlichkeit ist es faktisch sehr unvollkommen bestellt; ja, diese beiden Bestimmungen schließen sich sogar teilweise aus, so daß die Universalität faktisch umso geringer wird, je größer die Wissenschaftlichkeit wird und umgekehrt. Das ist die Antwort auf unsere erste, historische Frage: Was ist Philosophie faktisch? Wir wollen nun die Antwort suchen auf unsere zweite Frage: Was muß die Philosophie sein? Schon aus der Tatsache, daß der Mensch einen unendlichen Erkenntnistrieb hat, folgt offenbar das Wünschenswerte einer Alles umfassenden Wissenschaft. Aber sobald wir demnach nach der Möglichkeit einer solchen fragen, treten uns sofort die eben entwickelten historischen Erfahrungen entgegen und erinnern uns daran, daß die beiden Bestimmungen Universalität und Wissenschaft sich jedenfalls in hohem Maß gegenseitig ausschließen: Wir können eine Alles umfassende Lehre aufbauen, aber dann wird sie nicht wissenschaftlich; und wir können eine wissenschaftliche Lehre aufbauen, aber dann wird sie nicht allumfassend. Hier entsteht dann die bedeutungsvolle Frage: Sollen wir wie bisher fortfahren, System nach System aufzubauen, so daß der kommende Philosoph beständig das niederreißt, was der vorhergende aufgerichtet hat, um im nächsten Augenblick selbst auf dieselbe Weise behandelt zu werden? Oder sollen wir dem Beispiel der übrigen, der wirklichen Wissenschaften folgen, jeden Schritt ausschließen, der durch Gefühl, Phantasie oder auf andere subjektive Weise gewonnen ist, und uns streng an das objektive gesetzmäßige Denken halten? Selbstverständlich würde die Antwort hierauf leicht genug zu geben sein, wenn das Resultat beider Verfahrensarten mit alleiniger Ausnahme der Zuverlässigkeit ganz dasselbe wäre. Aber so ist es, wie oben berührt, nicht. Beschließe ich wirklich wissenschaftlich zu verfahren, so muß ich zu gleicher Zeit auf die Lösung einer Menge von Fragen verzichten, und diese Fragen sind überdies meistens die allerwichtigsten und brennendsten. Eine wirklich wissenschaftliche Philosophie wird uns - zumindest vorläufig - nicht sagen können, ob die Natur geschaffen oder emaniert [aus dem göttlichen Einen hervorgegangen - wp] oder ursprünglich und ewig ist; ob die Atome das Letzte sind, oder ob hinter denselben eine Gottheit angenommen werden muß; ob in einem solchen Fall diese Gottheit persönlich oder unpersönlich, bewußt oder unbewußt, frei wollend oder in die Fesseln der Notwendigkeit geschmiedet ist. Eine solche Philosophie wird uns - zumindest vorläufig - nicht sagen können, ob wir ein nach dem Tod fortgesetztes Leben erhoffen (oder fürchten) dürfen, oder ob die psychischen Tätigkeiten mit den organischen, mit dem Tod des Körpers aufhören. Eine solche Philosophie wird uns nicht sagen können, ob wir wirklich - wie vielleicht die Meisten glauben - mehr oder weniger frei wollende Wesen sind, oder ob wir - wie HUXLEY sich ausdrückt - bewußte Automaten sind (3). Den Beweis hierfür werden wir finden, wenn wir mit der Logik in der Hand irgendeinen von den Autoren durchlesen, welche der Meinung sind, auf wissenschaftlichem Weg zu dem einen oder anderen von diesen Resultaten gelangen zu können. Wir werden dann immer Lücken in der Argumentation finden. Schon der Umstand, daß die Philosophen noch heutigentags hinsichtlich all dieser Fragen in entgegengesetzte Lager geteilt sind, und daß sämtliche Naturwissenschaften hier durchaus gar keine Meinung äußern, ist ein sprechendes Zeugnis. Hieraus ergibt sich dann, daß wirklich viel zu verlieren ist, wenn man an der Wissenschaftlichkeit der Philosophie festhält, und daß man wohl versucht sein könnte, zu fragen: Wäre es doch nicht viel besser, an den Forderungen etwas nachzulassen, wenn man dann die Lösung all dieser Probleme erwarten dürfte? Diese Frage - so behaupte ich indessen - muß mit einem entschiedenen Nein beantwortet werden. Eine solche Vermischung von Wissenschaft und subjektiven Meinungen kann niemals etwas Anderes werden, als ein unbrauchbares und schädliches Unding. Ein Blick auf den Begriff der Wissenschaft wird uns das sofort zeigen. Was ist wohl in letzter Instanz die Wissenschaft? Der geordnete Inbegriff all derjenigen Behauptungen, welche sich logisch garantieren lassen! Das wird mir gewiß Jeder einräumen. Und weshalb sucht man wohl eben alle diese Behauptungen in eine Gruppe für sich zu vereinigen zum Unterschied von einer Menge anderer Behauptungen, von deren Wahrheit man persönlich vielleicht ebenso fest überzeugt ist? Offenbar, weil ihnen allen eine bedeutungsvolle Eigenschaft gemein ist: Sie lassen sich alle jedem Unbefangenen aufzwingen und werden auf solche Weise ein gemeinschaftlicher Besitz der Menschen, ein fester Grund, von dem alle ausgehen können und den Alle während ihres ferneren Wirkens und Meinens Rücksicht nehmen müssen. Hieraus ergibt sich dann, daß wir hier eine außerordentlich natürliche Grenze vor uns haben; überschreiten wir dieselbe, so finden wir keine andere natürliche Grenze, bei der wir innehalten könnten, sondern wir werden konsequent in die individuellste Subjektivität hinausgeführt. Ich stelle hiermit keiner Wertvergleichung zwischen diesen beiden Seiten des Menschen an, sondern behaupte nur, daß man sich, wenn man Philosophie aufbauen und dieselbe als objektiv verpflichtend, als Wissenschaft betrachten will - und das hat bisher jeder philosophische Schriftsteller getan - auch damit begnügen muß, nur diejenigen Behauptungen aufzuzeichnen, welche man logisch garantieren kann, daß man also ganz ebenso verfahren muß, wie die Physik und alle übrigen Fachwissenschaften. Daraus folgt nicht, daß ich meine übrigen Anschauungen verwerfen oder auf dieselben herabblicken soll. Ich kann dieselben recht wohl ebenso hoch oder gar höher als die oben erwähnten stellen; ich kann ebenso fest von ihrer Richtigkeit überzeugt sein, wie von der Richtigkeit der anderen. Nur Eins kann ich nicht: Ich kann nicht meinen Nachbarn oder mein Gegenüber zwingen, darauf einzugehen. Ich selbst einen vorzüglichen Beweis für die Wahrheit haben: aber dieser Beweis ist der Voraussetzung zufolge nicht logisch, derselbe beruth mehr oder weniger auf meiner konkreten Individualität, auf meinen persönlichen äußeren und inneren Erlebnissen, und er läßt sich deshalb nicht wie der logische Beweis von Hand zu Hand transportieren, ohne seine Kraft zu verlieren - einfach deshalb, weil wir nich Alle dasselbe erlebt haben oder ganz gleich konstruiert sind. Aber es ist doch offenbar, daß alle solche Behauptungen von der Philosophie als Wissenschaft streng ausgesondert werden müssen; es ist offenbar, daß ich nur mich selbst und meinen Leser verwirre, wenn ich hier keine strenge Grenzwacht halte und vorsätzlich oder unvorsätzlich mehrere oder wenigere von diesen persönlichen Anschauungen hineinschlüpfen lasse, ja dieselben vielleicht mit illusorischen Beweisen versehe, um ihre Anwesenheit zu verteidigen oder den Leser glauben zu machen, daß dieselben früher an einem anderen Ort bewiesen sind, so daß man nun nur nötig hat, sie anzuführen. Will ich endlich auch meine persönlichen Annahmen aufzeichnen, so steht dem gleichfalls nichts im Weg; aber dann muß ich das, um keine Verwirrung anzurichten, in einem besonderen Werk tun und mit dem Eingeständnis beginnen, daß sie alle mehr oder weniger subjektiv sind und deshalb niemanden verpflichten. Möglicherweise können solche subjektive Aufzeichnungen einen hohen Wert besitzen, ja vielleicht sogar Pflicht jeder hervorragenden Persönlichkeit sein (4); aber Eins kann niemals Pflicht sein: solche Selbstbekenntnisse mit Wissenschaft zu vermischen oder dieselben unter einem wissenschaftlichen Titel herauszugeben. Es kann allerdings schwierig und unwillkommen sein, die hier geforderte Trennung mit Ernst und Genauigkeit vorzunehmen. Es ist äußerst natürlich, daß z. B. ein psychologischer Schriftsteller, welcher sich persönlich von der Wahrheit des Materialismus überzeugt fühlt, auch wünscht, alle seine Leser zu derselben Überzeugung zu bringen; es ist äußerst natürlich, daß er kraft der Wärme seiner Überzeugung meint, einen objektiven Beweis für die Richtigkeit seiner Annahme zu haben, und es ist äußerst natürlich, daß er bei dem Versuch, diesen Beweis zu formulieren, Alles übersieht, was zugunsten der entgegengesetzten Lehre sprechen könnte, und in gutem Glauben Behauptungen aufführt, wie etwa: eine psychische Substanz ist ja an und für sich eine Unmöglichkeit; der nahe Zusammenhang zwischen Denken und Gehirn ist ja ein vollständiger Beweis dafür, daß das Gehirn hier die Ursache ist! Das ist Alles sehr natürlich und leicht zu verstehen. Aber andererseits ist durch die vielen wechselnden grundverschiedenen Systeme bewiesen, daß eine Menge von Überschreitungen der Grenze der Wissenschaft stattgefunden haben müssen. Ist man hierauf aufmerksam geworden, so wird es zur Pflicht, doppelt genau auf sich selbst zu achten, und fast sämtliche übrigen Wissenschaften bezeugen, daß diese Arbeit von Menschen zu bewältigen ist. Auch der Naturforscher hat natürlich seine Lebensanschauung; aber er schmuggelt dieselbe niemals oder zumindest außerordentlich selten in seine Wissenschaft ein. Und was würde denn auch das Resultat einer solchen Vermischung werden? Die Systeme würden fortfahren, sich mit reißender Schnelligkeit abzulösen, und die Philosophen würden immer tiefer und tiefer in der Achtung der wirklichen Forscher sinken, wo ihr Platz bereits tief genug ist. (5) Der Leser eines solchen Systems wird, wenn er im Voraus anderer Meinung ist, durchaus nicht von dieser abgebracht werden, sondern die Behauptungen des Verfassers mehr oder weniger willkürlich finden, und ist er von vornherein derselben Meinung, wie der Verfasser, so wird er leicht die Lücken in der Beweisführung übersehen und dadurch leicht zu einem Selbstbetrug geführt werden, daß seine Meinung nun bewiesen und wissenschaftlich ist. Es sei mir erlaubt, hier innezuhalten und mein hinsichtlich des Wesens der Philosophie gewonnenes Resultat zusammenzufassen! Mein Grundgedanke ist folgender:
Man könnte ferner einwenden: diese kritische Enthaltsamkeit mag ihr Gutes haben; aber niemals wird der Menschengeist sich das Recht nehmen lassen, über die höchsten und letzten Probleme der Welt nachzudenken. Mag auch ein Versuch nach dem andern mißlingen, niemals wird der Mensch deshalb aufhören, eine Metaphysik aufzubauen. Und dasselbe gilt von der Ethik und der Religionsphilosophie: niemals wird der Mensch aufhören, sich Gesetze für sein Handeln zu formulieren, niemals wird er aufhören, über religiöse Dinge zu spekulieren! - Ich antworte hierauf: Vollkommen wahr! Aber ich habe auch mit keiner Silbe Einwände gegen irgend eine der erwähnten Disziplinen oder gegen irgendeine Disziplin überhaupt erhoben. Mein Einwand bezieht sich auf keinen Inhalt, keinen Stoff, kein Gebiet, sondern allein auf die Form, das Verfahren, die Methode. Ob man eine Metaphysik, Ethik, Religionsphilosophie, Erkenntnislehre oder Psychologie aufbaut, ist für mich im gegenwärtigen Zusammenhang unwesentlich und gleichgültig. Ich behaupte nur, daß man, was man auch aufbauen mag, sorgfältig unterscheiden muß zwischen dem, was wissenschaftlich erreicht werden kann, und dem, was sich erst dadurch gewinnen läßt, daß man seine persönlichen Neigungen hineinmischt; ich fordere nur, daß das, was man direkt oder indirekt für Wissenschaft ausgeben will - und für Wissenschaft hat man bisher die aufgestellte Metaphysik, Ethik usw. beständig ausgegeben -, auch Wissenschaft sein soll, d. h. gewonnen sein soll durch eine ausschließlich logische Bearbeitung unbestreitbarer Ausgangspunkte. Ob wir mit dieser Forderung vor Augen die Metaphysik ganz oder teilweise für eine Unmöglichkeit erklären müssen oder nicht, das ist eine Frage, auf deren Beantwortung ich mich hier nicht einlassen kann, umso mehr, da die Antwort ganz davon abhängen wird, wie man den vieldeutigen Ausdruck "Metaphysik" definiert; aber selbst wenn auch das Schlimmste eintreten sollte, selbst wenn man auch den Ausdruck so auffassen würde, daß eine Metaphysik in dieser Bedeutung des Wortes bei Aufrechterhaltung der gestellten Forderung eine Unmöglichkeit wäre, so sehe ich nicht ein, was man gewinnen würde, wenn man diese Unmöglichkeit in eine Möglichkeit dadurch verwandelt, daß man den alten Ausweg einschlägt: der Phantasie überall da den Zutritt gestattet, wo das Denken seine Dienste verweigert, und gleichzeitig sich selbst und seinem Leser einbildet, daß das Denken allein das Wort führt. Ich wiederhole hier, daß selbstverständlich dem nichts im Weg steht, sich mit Hilfe von Phantasie, Gefühl usw. ein vollständiges Weltsystem zu bauen und dasselbe seinen Mitmenschen vorzulegen. Aber man darf nur nicht gleichzeitig behaupten oder es so scheinen lasen, als ob die Resultate durch lauter logische Schritte gewonnen werden, ja man kann - so wie die faktischen Verhältnisse nun einmal sind - nicht leicht zu kräftig betonen, daß man dann nur subjektiv spricht und nur durch seine Autorität verpflichtet. Noch eine erläuternde Bemerkung dürfte hier vielleicht noch am Platze sein: Ich habe durch die an die Philosophie gestellte Forderung weder die Hypothese, noch die Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, auch nicht die kühnste Hypothese, auch nicht die schwächste Wahrscheinlichkeit. Wie in jeder anderen Wissenschaft ist es selbstverständlich auch in einer wissenschaftlichen Philosophie erlaubt, Hypothesen aufzustellen und ihre Konsequenzen zu prüfen, nun dieselben dadurch zu begründen oder umzustürzen; nur vor einem muß man sich hüten: Man darf nicht wie früher die noch unbegründete oder unzureichend begründete Hypothese mit einer bewiesenen Wahrheit verwechseln; man soll dieselbe, wie in den Fachwissenschaften, nur für das ausgeben, was sie ist. Und ebenso notwendig wie Hypothesen sind Wahrscheinlichkeiten; ja, in aller Wirklichkeitswissenschaft kommt man - wie ich anderswo (8) nachzuweisen versucht habe - im Wesentlichen nicht über die großen Wahrscheinlichkeiten und Annäherungen hinaus. Aber daamit ist die Wissenschaftlichkeit keineswegs aufgehoben, insofern alle diese Wahrscheinlichkeiten logisch notwendige Wahrscheinlichkeiten sind, Wahrscheinlichkeiten, welche der denkende Mensch aufzustellen genötigt wird. Erst indem man eine solche Wahrscheinlichkeit oder Annäherung für eine Gewißheit oder Genauigkeit ausgibt oder sie nachlässigerweise damit verwechselt, hat man die Grenze der Wissenschaftlichkeit überschritten. Ich habe hiermit meine Anschauungen über das Wesen der Philosophie ausgesprochen, Anschauungen, welche sich dann auch in der letzten Zeit bei den Philosophen mehr und mehr Bahn gebrochen haben, wenn auch eine so radikale Umwälzung selbstverständlich ihre Zeit haben muß. Ich gehe nun über zur Besprechung der Bedeutung der Philosophie. Manche werden vielleicht der Meinung zuneigen, daß eine Philosophie, wie die hier geschilderte, keine große Bedeutung erlangen kann. Ich selbst bin entgegengesetzter Meinung: ich glaube sogar, daß dieselbe eine außerordentlich große Bedeutung wird erhalten können. Eins müssen wir allerdings sofort feststellen: eine vollständige Lebensanschauung kann dieselbe nicht geben, ebensowenig wie überhaupt irgendeine Wissenschaft eine vollständige Lebensanschauung geben kann. Ebenso wie ein Physiker oder Physiologe über alle Resultate seiner Wissenschaft verfügen und doch nahezu jeder beliebigen Lebensanschauung huldigen kann, weil seine Wissenschaft ihm nur verschwindend wenige Grenzbestimmungen gibt, ebenso wird es sich - wenn auch in etwas geringerem Maße - mit dem Philosophen in der erwähnten Bedeutung verhalten. Seine Philosophie wird ihm kaum eine einzige der großen praktischen Lebensfragen lösen, ja ihm an überwiegend vielen Stellen nicht einmal Wahrscheinlichkeit in bestimmter Richtung gewähren. Ich kann hier auf meine Beispiele von vorhin zurückweisen. Will ich mir eine bestimmte Lebensanschauung erwerben - und das werden, wie ich glaube, mehr oder weniger Alle wollen -
Man wendet ein: Aber weshalb sollen wir uns denn überhaupt eine vollständigere Lebensanschauung bilden, als die Wissenschaft nun einmal gewähren kann? Ist es nicht viel männlicher, sich mit dem zu begnügen, was man wirklich weiß, als diesen Inhalt [weibisch - wp] zu erweitern und zu vermehren mit Hilfe des unbestimmten Gefühls und nebelhafter Wünsche? Wir erhalten dadurch eine sichere und feste Lebensbasis, und sollten auch die Verschiedenen auf diesem Weg jeder zu einem besonderen Resultat gelangen - die Menschen sind nun einmal nicht vollkommen -, so würden diese verschiedenen Lebensanschauungen doch nicht so schlecht mit Rücksicht auf gegenseitige Verträglichkeit gestellt sein wie diejenigen, welche auf einer Wahl beruhen; denn wir sind ja doch faktisch Alle viel nachsichtiger denen gegenüber, welche falsch gedacht haben, als denen, welche falsch gewollt haben, viel nachsichtiger gegen Dummheit, als gegen Bosheit. Zu dieser Einwendung will ich zunächst im Allgemeinen bemerken, daß, sofern man es ernsthaft mit der Wissenschaftlichkeit nehmen und alle Subjektivität von der Philosophie fern halten will, die Grundzüge zu einer Lebensanschauung, welche die Philosophie bieten kann, so äußerst dürftig und unbestimmt werden, daß es außerordentlich zweifelhaft ist, wieweit irgendein lebender Mensch sich wirklich würde damit begnügen können. Und wäre dies auch rein abstrakt genommen möglich, so ist es doch eine unzweifelhaften Wahrheit, daß fast Jeder von uns in seinem Leben faktisch weit, weit über diese dürftigen Grundzüge hinausgeht und dieselben durch Tausende von mehr oder weniger subjektiven Überzeugungen ergänzt. Wie oft stellt die Wissenschaft uns nicht vor zwei oder mehrere grundverschiedene Möglichkeiten, zwischen welchen wir wissenschaftlich gar nicht wählen können, während wir andererseits kaum einen einzigen Schritt im Leben vornehmen können, ohne eine Wahl zwischen denselben zu treffen! Ich finde z. B. durch psychologische Untersuchungen, daß im Menschen ein Gefühl von Verantwortlichkeit wohnt, welches mir nur verständlich wird, sofern der Mensch in einem höheren oder geringeren Grad selbst der Ausgangspunkt für seine Handlungen ist oder ein gewisses Vermögen zu beginnen besitzt. Aber gleichzeitig finde ich auch im Menschen einen Erkenntnistrieb, welcher mir versichert, daß jede Veränderung eine mathematisch notwendige Folge einer früheren Veränderung ist, diese wieder von einer früheren usw. Hiernach wird also jede von meinen Handlungen eine notwendige Folge des Weltzustandes lange vor meiner Geburt; ich selbst werden nur ein einfaches Durchgangsglied der Kausalreihe, und während ich nach der ersten Auffassung mir selbst eine wesentliche "Schuld" an jeder meiner unrichtigen Handlungen zuschreiben muß, so muß ich nach der letzten Auffassung mich entweder für ganz unschuldig erklären, oder ich muß die Begriffe Schuld und Unschuld auf eine ganz andere Weise auffassen, als vorhin, als "etwas unpersönlich Metaphysisches", oder wie man es sonst lieber nennen will. Für das Individuum als Gelehrten oder ausschließlich denkendes Wesen kann es nun vielleicht ziemlich gleichgültig sein, welche von diesen Auffassungen die richtige ist: aber für das konkrete Individuum, den ganzen denkenden, fühlenden und handelnden lebendigen Menschen ist das nicht gleichgültig; dieser muß und will versuchen, mit sich selbst darüber ins Reine zu kommen, wie er seine "Schuld" auffassen soll; denn danach muß er offenbar in einer Menge von Fällen sein Handeln ganz verschieden einrichten. Hier ergibt sich jedoch die Mißlichkeit, daß die Wissenschaft mir nicht sagen kann, welche Auffassung die richtige ist; denn ich kann den Erkenntnistrieb gegen das Verantwortlichkeitsgefühl auf wissenschaftliche, allgemeingültige Weise weder abwägen, noch messen; ich kann höchstens eine ausgeprägte Vorliebe für eins von beiden hegen; aber gleichzeitig finde ich leicht, daß diese Vorliebe bei den verschiedenen von verschiedener Richtung und Stärke ist. Auf diese läßt sich also keine wissenschaftliche (allgemeingültige) Wahl gründen, und deshalb bleibt mir, soviel ich sehe, nur Eins übrig, nämlich zu mir selbst zu sagen: Auf diese Doppelmöglichkeit hin kann ich nicht leben; ich will deshalb wagen, auf mein individuelles Ermessen zu vertrr Eins übrig, nämlich zu mir selbst zu sagen: Auf diese Doppelmöglichkeit hin kann ich nicht leben; ich will deshalb wagen, auf mein individuelles Ermessen zu vertrauen, auf jene Vorliebe (welche ich leider nicht in ihre einzelnen Elemente zu zerlegen vermag) und künftig - zumindest bis ich von Anderen oder mir selber eines Besseren belehrt werde - annehmen und den Glauben leben, daß es sich so und so mit dem menschlichen Handeln verhält! Das war ein einzelnes Beispiel, welches für Jeden, der annimmt, daß die Wissenschaft mir gerade hier leicht zu einem Resultat verhelfen könnte, ohne Mühe mit zahlreichen anderen vertauscht werden kann. Es würde auch zu schwierig sein, nachzuweisen, wie das "nicht wählen zu wollen" in vielen Fällen eben selbst eine Wahl wird; kurz: die Behauptung ist kaum zu kühn: daß wir Alle in unserer Lebensanschauung faktisch weit über das hinaus gehen, was die Wissenschaft uns lehren kann. Wie weit das nun männlich oder unmännlich genannt werden muß, interessiert mich eigentlich weniger; doch will ich bemerken, daß man es im Allgemeinen männlicher nennt, zu wagen, als nicht zu wagenk, sofern es sich um etwas Wesentliches handelt, während ich auf der anderen Seite willig einräume, daß es auch Lebensanschauungen gibt, welche wie geschaffen sind, um Weichlichkeit und Unmännlichkeit zu befördern. - Was den nächsten Punkt der Einwendung betrifft, so ist derselbe eigentlich schon im Vorhergehenden beantwortetk. Es gibt wohl kaum einen denkenden Menschen, der seine Lebensanschauung auf unbestimmten Gefühlen oder dgl. aufbaut, außer da, wo er aus guten Gründen dazu gezwungen wird, d. h. da, wo das Leben eine Wahl verlangt und die Wissenschaft oder das Denken ihm keine ausreichenden Motive gibt, um nach der einen oder der anderen Seite zu gehen. Der Wichtigkeit der Sache wegen werde ich noch ein Beispiel anführen! Man hat zu allen Zeiten mehr oder weniger Tatsachen in der Welt gefunden, welche anzudeuten scheinen, daß ein Gott existiert, während man andererseits auf eine Reihe von Umständen hingewiesen hat, welche dagegen zu sprechen scheinen. Gesetzt nun, ein Mann macht die Entdeckung, daß man sein Handeln verschieden einrichten muß, je nachdem man annimmt, daß ein Gott existiert oder nicht! Wir können uns leicht den sehr vagen Ausdruck "Gott" derartig definiert denken, daß er unbedingt Recht erhältk. Was hat er nun zu tun? Offenbar nicht gleich zu dem "unbestimmten Gefühl" zu gehen, sondern zunächst muß er seine Vernunft, sein Denken veranlassen, sich nach äußersten Kräften anzustrengen. Das zu unterlassen, würde schlechthin unethisch sein. Das Resultat dieser ersten rationalen (wissenschaftlichen) Überlegung wird dann beispielsweise, daß 17 Gründe für und 19 gegen die Annahme sprechen. Diese beiden Zahlen helfen ihm indessen nichts; durch eine etwas veränderte Fassung lassen die 19 Gegengründe sich recht wohl auf 16 reduzieren, und überdies lassen die einzelnen Argumente sich gar nicht gegeneinander abwägen, da sie höchst ungleichartig sind. Ebensowenig gelingt es ihm, durch irgendwelche Kombinationen einen vollständigen Beweis auf irgendeiner der beiden Seiten zu erhalten. Jedes Argument gewährt nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit und überdies eine sehr unbestimmbare. Die wissenschaftliche Wahl ist das für Alle Zwingende, das Allgemeingültige. Wissenschaftlich läßt sich also hier nicht wählen; das wissenschaftliche Resultat wird folgendes: Ob es einen Gott gibt oder nicht, weiß ich nicht. Damit ist die rein rationale Verhandlung zu Ende; nun kommt die persönliche. Auf diese Doppelmöglichkeit hin kann ich nicht leben, sagt der Mann; ich muß weiter, wie es auch gehen mag! Das Denken, die Wissenschaft läßt mich im Stich, aber tief in meinem Innern bleibt doch ein dunkles, unzerlegbares Gefühl zurück, welches mir sagt, daß ein solcher Gott, der sich um das Tun und Treiben der Menschen bekümmern sollte, ein Traumbild ist. Ich will wagen, auf dieses Gefühl zu vertrauen, obgleich ich weiß, daß bei Weitem nicht Alle dasselbe teilen, und ich möchte deshalb künftig - zumindest bis ich eines Besseren belehrt werden - auf die Annahme hin zu leben, daß es keinen solchen Gott gibt! Diese Beispiele zeigen doch zur Genüge, daß "die persönliche Wahl" nicht gerade dasselbe ist, wie ein Abzählen an seinen Knöpfen. Der Mann wählt vielleicht falsch, denn das individuelle Gefühl ist ganz gewiß kein unbedingt zuverlässiger Führer. Aber ich sehe nicht ein, daß er anders hätte handeln können, als er getan hat, und namentlich finde ich nicht, daß er seine Sache dadurch verbessert hätte, daß er durch eine unklare Vermengung von Wissen und Fühlen der ganzen Handlung einen wissenschaftlichen Zuschnitt gegeben und gesagt hat: Die Annahme einer solchen Gottheit enthält einen logischen Widerspruch oder ist eine nachweisliche Ungereimtheit; folglich zwingt meine Vernunft mich, jene Annahme zu wählen, und jeder andere Mensch, der seine Vernunft gebraucht, muß notwendigerweise dasselbe wählen! Noch auf einen Punkt der Einwendung habe ich zurückzukommen. Wir zürnen weniger dem, welcher falsch denkt, als dem, der falsch will, wurde gesagt. Gegen diese Behauptung habe ich an und für sich eigentlich nichts weiter Wesentliches einzuwenden, und so, wie man sie gewöhnlich versteht, finde ich sie sogar durchaus wahr (9). Aber durch diese Einräumung werden meine Auslassungen über die beiden Arten von Toleranz in keiner Weise umgestürzt; denn hier ist nicht lauter Denken in dem einen und lauter Wollen in dem anderen Fall, und die ungleiche Verteilung dieser beiden Momente wird jedenfalls zugunsten meiner Auffassung sprechen. Hege ich die Überzeugung, daß jede beliebige Lebensanschauung das Resultat einer persönlichen Wahl ist und sein muß, so sage ich von B: Er hat das gewählt, was ich für das Unrichtige halte; aber selbst wenn er den besten und stärksten Willen gelebt hat, das Rechte zu ergreifen, so konnte der Fehlgriff doch geschehen; es führt nun einmal keine makadamisierte Hauptstraße zu den großen Lebenswahrheiten; er ist auf sein Gefühl angewiesen gewesen, und dessen sind wir selbst so wenig Herr! Bin ich dagegen des Glaubens, daß man auf rein rationellem, wissenschaftlichem Weg zu meiner Lebensanschauung gelangen kann, so muß ich von B sagen: Er besitzt diese Lebensanschauung nicht, obgleich sich doch objektiv beweisen läßt, daß es die richtige ist. Er muß deshalb entweder leichtsinnig gewählt haben, ohne daß er seine Vernunft hinlänglich zu Rate gezogen hat, und dafür ist er zu tadeln, auch wenn er sich alle mögliche Mühe gegeben hat; aber dann muß er ein weniger guter Kopf sein, denn sonst usw. Hier ist mit anderen Worten in beiden Fällen gewählt und gewollt, und im letzteren Fall hätte die Wahl obendrein "richtig" ausfallen müssen, jedenfalls für den ausreichend Begabten, wenn nur das rechte ernsthafte Wollen vorhanden gewesen wäre, denn dann hätten sich objektiv zwingende Motive finden lassen. Daß man überhaupt am wenigsten Abweichungen vom Realen duldet, wo dieses sich mit allgemeingültiger Notwendigkeit dokumentiert, ist ja im Übrigen die Grundlage für die gesamten modernen Bestrebungen der Gesellschaft, wie bereits in den alten Worten ausgedrückt ist: "In necessaris unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas." [In notwendigen Dingen Einheit, in zweifelhaften Freiheit, in allen aber Liebe. - wp] Hiermit betrachte ich dann jene Einwendungen als hinreichend widerlegt. Aber kann eine wirklich wissenschaftliche Philosophie mir auch nicht geradezu eine bestimmte Lebensanschauung geben, so kann sie mir einen anderen bedeutungsvollen Dienst leisten, indem sie mich psychologisch darüber belehren kann, wie die verschiedenen bestimmten Lebensanschauungen überhaupt zustande kommen, nicht durch eine wissenschaftliche, sondern durch eine persönliche Wahl. Und sie kann ferner dadurch, daß sie mich nach Kräften über die Einrichtung der Welt und der menschlichen Natur belehrt, bewirken, daß ich mich nöglichst allseitig und wohl gerüstet an diese Wahl begebe, welche infolge ihres individuellen, subjektiven, persönlichen Charakters niemals als vollkommen abgeschlossen und in allen Einzelheiten fertig betrachtet werden darf. Man könnte mir noch einwenden: Aber da wir doch faktisch alle, uns selber bewußt oder unbewußt, schon in der Hauptsache gewählt haben, welchen Wert oder welches Interesse kann dann jene wissenschaftliche Philosophie überhaupt erhalten? Wird nicht Jeder an derselben vorübergehen? Wird nicht der Materialist sie verwerfen, weil sie nicht absolut solche Möglichkeiten wie Unsterblichkeit, Freiheit, Gott ausschließt, und wird nicht der Christ sie verwerfen, weil sie alle diese Dinge als ganz unsichere Möglichkeiten betrachtet? Wird nicht meine Wahl bewirken, daß ich künftig Alles auf ganz neue Weise betrachte, so daß jene neutrale Betrachtung der Sache für mich lauter Unwahrheit und Nichtigkeit wird? - Auch diese Einwendung finde ich nicht haltbar. Was auch mit einem Menschen geschehen mag, indem er Materialist oder Christ wird, so glaube ich nicht, daß er damit eine neue formale Logik oder eine neue Netzhaut und dergleichen erhält. Aber schon daraus folgt, daß er künftig ebenso früher der gewöhnlichen Mathematik, der gewöhnlichen Physik, Chemie, Astronomie usw. huldigen muß. Aber ganz ebenso wie diese Wissenschaften kommt der Voraussetzung zufolge die hier beschriebene Philosophie zustande. Sollte A oder B dieser nicht huldigen wollen, so geschieht das nicht deshalb, weil er Materialist oder Christ ist, sondern weil er unklar ist, ebenso wie verschiedene Christen einstmals dem kopernikanischen Sonnensystem und den Sonnenflecken gegenüber unklar waren. Und ebenso gering ist in letzter Instanz die Gefahr, daß die erwähnte Philosophie dem positiv oder negativ Gläubigen vollkommen gleichgültig werden sollte. Es wird offenbar stets für jede ernste und wahrheitsliebende Natur, einerlei von welcher Lebensanschauung, von großem Interesse sein, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie weit man auf rein wissenschaftlichem Weg kommen kann, welche Möglichkeiten die Wissenschaft unzweideutig abzuschneiden vermag, und welche Gebiete dieselbe aufgrund ihrer eigentümlichen Begrenzung der Persönlichkeit zur subjektiven Ausfüllung überlassen muß. Ich kann hier die Bemerkung einflechten, daß ich mit Empfindungen von ganz ähnlicher Natur wie die in der zuletzt angedeuteten Einwendung vor sechs Jahren meinen ersten philosophischen Versuch veröffentlichte, in welchem die hier vertretenen Anschauungen geltend gemacht waren. Was kannst du eigentlich von einem solchen Buch erwarten? fragte ich mich. Muß nicht jeder Philosoph seine Lösung von jedem Hauptproblem haben? Und du hast gar keine! Wird nicht jede Partei sich für eine solche Unwissenheit bedanken und dich ganz allein und unbeachtet stehen lassen? - Die Erfahrung hat mich jedoch gelehrt, daß ich mich falschen Gedanken hingegeben und alles andere als einen Grund habe zu einer Klage über die Aufnahme, welche meine Versuche gefunden haben. Es ist allein die praktische Seite der Philosophie, welche ich hiermit angedeutet habe; ich habe mich an diese Seite der Sache gehalten, weil ihre mehr theoretische Bedeutung weit genauer mit der aller übrigen Wissenschaften zusammenfällt. So ist es zum Teil ihre besondere Bedeutung als Philosophie, bei der ich verweilt habe, und ich habe hier wieder vorzugsweise eine Seite der Sache betont, zu deren Hervorhebung nach meinem Ermessen zur Zeit bei uns eine gewisse Veranlassung vorhanden ist. Sollte der ein oder andere finden, daß diese Bedeutung dennoch, Alles in Allem genommen, eine ziemlich dürftige und indirekte ist, so bitte ich ihn zu bedenken, daß es der Wissenschaft niemals zum Vorteil gereicht hat, wenn sie allzu eifrig nach einem unmittelbaren großen praktischen Resultat gejagt hat. Diese lassen sich gewöhnlich nicht künstlich erzwingen, sondern werden kommen, wann und wo man es am wenigsten erwartet, und der echte wissenschaftliche Forscher hat stets die goldene Wahrheit vor Augen gehabt, daß er in seinem wissenschaftlichen Wirken selbst sein hohes und bedeutungsvolles Ziel hat, und daß er deshalb vor Allem seine ganze Kraft und Fähigkeit einsetzen muß, um dieses Wirken den Forderungen des Ideals so nahe wie möglich zu bringen und erst in zweiter Linie nach großen Resultaten ausspähen darf. Es will mir vorkommen, daß alle großen Mängel der Philosophie in der Verleugnung dieser goldenen Wahrheit ihren Ursprung haben, und mit diesen Gedanken vor Augen will ich schließen, wie ich schon einmal geschlossen habe: "Wer um die Götting freit, suche in ihr nicht das Weib!" ![]() ![]()
1) Die folgende kleine Abhandlung ist im Wesentlichen eine Wiedergabe eines Vortrages, den ich am 29. September 1883 im "Studentenverein" in Kopenhagen gehalten habe. Dem Vortrag folgte ein Diskussion, und auf diese habe ich möglichst dadurch Rücksicht zu nehmen gesucht, daß ich die verschiedenen Einwendungen und deren Beantwortung an passenden Stellen in die Abhandlung eingefügt habe. Da ich nicht mit Sicherheit behaupten kann, überall gerade den Kernpunkt dieser Einwendungen getroffen zu haben, so sind nirgends Namen erwähnt. Einzelne von meinen Entgegnungen erscheinen hier auch in etwas ausführlicherer Form. 2) Natürlich würde an und für sich dem nichts entgegenstehen, zu sagen: "Die Philosophie" ist eben der Inbegriff aller Wissenschaft und sämtliche Fachwissenschaften sind ihre einzelnen Glieder. Daß viele Forscher sich mit dem Aufbau beschäftigen, ist nur eine unwesentliche äußere Arbeitsteilung! - Auch dieser Sprachgebrauch hat selbstverständlich seine Berechtigung, er ist aber nicht der gewöhnliche. 3) Namentlich hinsichtlich dieses letzten Punktes herrscht wohl noch etwas Uneinigkeit. Einer der Anwesenden machte hierauf aufmerksam; doch war die Zeit damals schon so weit fortgeschritten, daß die Sache nicht zur Verhandlung kommen konnte. 4) Das Letztere wurde während der Diskussion behauptet; ob mit Recht oder nicht, braucht hier nicht untersucht zu werden, da diese Frage unsere Abhandlung nicht berührt. 5) Gegen diese Behauptung wurde geltend gemacht, daß ein so bedeutender Forscher wie Helmholtz keineswegs die Philosophie abgewiesen hat. Das ist richtig, insofern Helmholtz in seinen verschiedenen Schriften mit Anerkennung von Kant, Mill und Lotze gesprochen, ja sogar des Letzteren Lehre von den Lokalzeichen angenommen hat. Aber eben diese drei Männer sind auch im Vorhergehenden als seltende Ausnahmen vom Begriff Philosophie im Allgemeinen aufgestellt. Daß Fachmänner geringe Achtung vor der Wissenschaftlichkeit der Philosophie überhaupt haben, ist sicher eine benso unumstößliche wie natürliche Tatsache. Im entgegengesetzten Fall müßten die Fachwissenschaften offenbar den Schwankungen der Philosophie gefolgt sein. 6) Das Folgende ist im Wesentlichen ein Auszug aus einem Teil der Diskussion: auf den Rest derselben werde ich später zurückkommen. 7) Ich betrachte es als ein erfreuliches Zeichen, daß Keiner als Ritter aufgetreten ist für die einstmals so beliebte Behauptung, daß "die Philosophie ihr Sein in ihrem Werden hat", ihre Wahrheit nicht im einzelnen System, sondern in der Reihe sämtlicher Systeme. Diese unwillkürliche Falliterklärung [Bankrotterklärung - wp] dürfte dann auch ferner Niemanden als Rettungsplanke täuschen. 8) Kroman, Unsere Naturerkenntnis, Kopenhagen 1883. 9) Das Bedingte meiner Zustimmung rührt daher, daß das Denken eigentlich eine sehr zusammengesetzte Tätigkeit ist, welche unter Anderem auch das Wollen einschließt, so daß falsch denken vielleicht in letzter Instanz genauer genommen nichts Anderes ist, als falsch wollen. |