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MAURICE NADEAU
Dali und die kritische Paranoia

Die eigentlichen materiellen Notwendigkeiten und die Stillung unserer leiblichen Bedürfnisse ist nicht wichtiger, als die Notwendigkeit zu atmen, wenn wir schlafen.

DALI wirkt 1931 für die surrealistische Bewegung wie ein Jungbrunnen, indem er ihre Mitglieder die Methode der "paranoisch-kritischen" Analyse lehrt.

Was Paranoia ist, ist bekannt. Sie ist ein Beziehungswahn, in dem der Kranke systematisch die Welt und sein Ich, dem er eine übersteigerte Bedeutung verleiht, umdeutet. Im Unterschied zu andersartigen Geistesstörungen und Gemütskrankheiten gelingt der Paranoia ein vollkommen geordnetes, in sich klares, zusammenhängendes Wahnsystem. Der Paranoiker erlangt dadurch einen Zustand, in dem er sich allmächtig fühlt, was häufig darüber hinaus zu Größenwahn oder Verfolgungswahn führt.

Selbstverständlich tritt die Paranoia in vielerlei Erscheinungsformen auf, doch eine jede entwickelt sich völlig zusammenhängend von einem Ausgangspunkt her. Im paranoischen Wahnsystem treten Halluzinationen auf, werden Erscheinungen der Wirklichkeit wahnhaft mißdeutet. Der Paranoiker erfreut sich leiblich einer normalen Gesundheit, kennt keinerlei organische Störungen, geistig und seelisch jedoch lebt und handelt er in einer fremdartigen Welt. Statt sich der vorgefundenen Welt zu fügen, wie das zumeist die  normalen  Leute tun, beherrscht er sie autokratisch, gestaltet sie nach seiner Kaprice.

Schon 1930, in "La Femme visible" (Die sichtbare Frau), hatte DALI prophezeit, es werde recht bald möglich werden, "die Verworrenheit zu systematisieren und die Welt der Realität völlig unglaubwürdig zu machen":
"Die Paranoia", fährt DALI fort, "bedient sich der Außenwelt, um ihre Wahnvorstellungen mithilfe dieses Materials zu konkretisieren. Sie verwertet es aber auf eine so bestürzend eigenartige Weise, daß sie die Realität des Wahnsystems auch den nicht paranoischen Mitmenschen als Realität einsichtig macht und aufnötigt. Die Realität der Außenwelt dient als Veranschaulichung und Beweis, sie wird in den Dienst der Realität unseres Geistes gestellt."
Was soll nun aber die "kritische Paranoia" sein? Laut DALI ist sie eine "auf kritischer und systematischer Objektivierung wahnhafter Assoziationen und Interpretationen" beruhende spontane Methode irrationaler Erkenntnis, oder wie BRETON erläutert:
"Diese Eigenschaften des ununterbrochenen Werdens eines jeden Gegenstandes, den die paranoische Geistestätigkeit, oder anders ausgedrückt, die über alle Geistesstörung hinausgehende Geistestätigkeit, wie sie in der Wahnvorstellung ihren Ursprung nimmt, in ihren Strudel reißt, muß eingehend durchdacht werden. Kraft dieses ununterbrochenen Werdens und Sichwandelns dessen, was dem Paranoiker Gegenstand ist, kann er gerade die Erscheinungen der Außenwelt für unbeständig, rasch von einem Zustand zu einem anderen überwechselnd, wenn nicht gar für fragwürdig und unzuverlässig halten. Noch verwirrender aber ist, daß der Paranoiker die Macht hat, seinen normalen Mitmenschen die Realität seiner wahnhaften Eindrücke einsichtig und nachprüfbar zu machen ... Damit bestätigt sich uns, mit triftigen Belegen und Beweisstücken, aufs neue die Allmacht des Begehrens und Wünschens, die das einzige ist, woran der Surrealismus je geglaubt hat ..."
Woran läßt sich diese paranoisch-kritische Geistestätigkeit aus und wie wirkt sie auf die Gegenstände ein, mit denen sie sich befaßt? Sie kann sich mit allem befassen: mit dem Dichten; im Bereich der Dichtung fühlt sie sich am meisten zu Haus. Sie kann auch in der Malerei geübt werden, die dann dabei zu einer "Art von buntfarbigem, handbetriebenen, d.h. apparatfreien Photographieren der konkreten Irrationalität und der Welt der Phantasie überhaupt wird". Sie läßt sich von der Bildhauerkunst anwenden, die dadurch nur noch "ein Formen-von-Hand der konkreten Irrationalität" ist ... usw. Sie kann auch im Filmschaffen, bei der Kunstgeschichte und "gegebenenfalls sogar bei Deutungen und Auslegungen aller Art" eingesetzt werden.

Den Automatismus und den Traum faßt DALI als passive Geisteszustände auf, desto passiver, je mehr man sie aus der Außenwelt herauslöst, denn beließe man sie dort, würden sie sich in schrankenloser Freiheit in ihr austoben. Diese passiven Geisteszustände werden zu Zufluchtsstätten, zu "Fluchtmöglichkeiten für Idealisten". Dagegen sei die kritische Paranoia eine systematische Geistestätigkeit, die es darauf abgesehen habe, Wünsche, Sehnsüchte und Begierden des Menschen, alle Wünsche, Sehnsüchte und Begierden aller Menschen, in skandalöser Weise in die Welt einzuschleusen, hineinzuschmuggeln, der Welt aufzudrängen. Damit war dem Begriff "surreale Gegenstände" die Bahn gebrochen.

Was ist nun aber ein surrealer, d.h. überwirklicher Gegenstand? Grob gesagt ist jeder aus seinem Verweisungs- und Sinn-Zusammenhang gerissene, verfremdete, aus seinem üblichen Rahmen herausgelöste, zweckentfremdete Gegenstand, der zu anderem verwendet wird, als wozu er ursprünglich bestimmt war, oder dessen eigentlichen Verwendungszweck man, während man ihn vorfindet, nicht kennt, surreal oder überwirklich. Surreal ist also auch der Gegenstand, der ohne Grund, Sinn, Zweck, hergestellt worden zu sein scheint, dessen einziger Sinn und Zweck, hergestellt worden zu sein scheint, dessen einziger Sinn und Zweck ist, denjenigen, der ihn geschaffen hat, mit Befriedigung zu erfüllen. Surreal ist jeder Gegenstand, der gemäß und aus den Strebungen und Wünschen des Unbewußten, des Traums heraus verfertigt wurde.

MARCEL DUCHAMPs "fabrikmäßig konstruierte Gegenstände" entsprechen voll diesen Begriffsbestimmungen und Voraussetzungen. Was macht den DUCHAMPs "Flaschentrockner" oder das Rädergetriebe seiner "Schokoladenquetsche" in so hohem Maße zu Inbegriffen des Unbekannten, zu dinglichen Hinweisen auf das Dunkle? Doch nur der Umstand, daß sie beide die Wünsche, Sehnsüchte und Bestrebungen dessen, der sie schuf, verdinglichen und desto besser dem entsprechen, was man von einem Kunstwerk fordert, je mehr sich gerade diese Wünsche und Sehnsüchte des Künstlers vom Betrachter des Kunstgegenstandes nachempfinden lassen.

Man sehe sich doch einmal einen Flaschentrockner an! Sofern es überhaupt alltägliche Gegenstände gibt, gehört ein Flaschentrockner gewiß zu den alltäglichsten. Verleihen Sie ihm nun nun ganz aus Ihrer eigenen Machtfülle einen künstlerischen Wert, indem Sie ihn aus seinem gewohnten Rahmen und Sinnzusammenhang herausreißen! Fordern Sie das Unbewußte aller Leute auf, ihn in seiner Herausgelöstheit anzuschauen und seinen sonstigen Verwendungszweck einmal außer acht lassen! Und Sie werden sehen, schon haben Sie einen befremdlichen Gegenstand, den Katalysator vielfältiger Wünsche, Sehnsüchte, Triebe, Instinkte geschaffen.

Sieh PICASSO denn nicht schon lange den Wert eines Gegenstandes als Eigenwert im Gegenstande selbst? Wie anders sollte man seine "papiers collès", die Fetzen Zeitungspapier, die Stücke Bindfaden, die vielerlei Reste von Stoffen und sonstigen Materialien verstehen, die er in seine Bilder hineingearbeitet hat? Und die Technik der Collagen, die MAX ERNST und GEORGES HUGNET verwenden war doch auch schon nichts anderes als ein siegreicher Einbruch des Gegenstandes in Bereiche, in denen man nicht darauf gefaßt war, ihnen zu begegnen; nichts anderes als ein Aufknacken des Bewußtseins, das so genötigt wurde, sich an Bezügen und Verhältnissen entlangzutasten, die ihm bis dahin fremd waren.

Wenn man bedenkt, daß jeder Gegenstand kraft des Willens desjenigen, der ihn auswählt, in den Stand gesetzt wird, diese Rolle auszufüllen, dann begreift man, daß die Skala der Sinnesempfindungen, die durch die Gegenstände ausgelöst werden, immer länger wird, weil ja endlos viele Gegenstände vorkommen. Es ist einerlei, es darf ein Meteorstein sein oder ein "anamorphe-conique", d.h. ein "kegelförmiges zwiefach gestaltloses Etwas", à la DALI; es kann auch ein Fundgegenstand sein, und der wird den geheimen Wünschen und Sehnsüchten des Suchers und Finders desto mehr entgegenkommen, je wunderbarer und befremdlicher die Umstände sind, unter denen er gefunden wird, oder je mehr er der verdinglichte Inbegriff von etwas ist, was der Finder schon immer unbewußt suchte.

In dieser Hinsicht stellte der Trödelmarkt für BRETON und seine Freunde eine nie versiegende Quelle von Schätzen dar. Nur der allein, der das Glück hatte, die unzähligen Gegenstände sehen zu dürfen, die BRETON dort aufstöberte - die Reihe reicht von der Alraune bis zum Löffel, dem eine Holzschuh als Etui und Ständer dient -, kann sich von der Unerschöpflichkeit dieser Quelle als Vorstellung machen. Aber begleiten wir doch einmal BRETON, wenn er zur Jagd auf Wunder auszieht! Da verhält er sich plötzlich den Schritt, bleibt sinnend vor so einem Gegenstand stehen:
"Der erste unter all diesen Gegenständen, der uns wirklich anzuziehen vermochte, die Faszination des Nochniegesehenen auf uns ausübte, war eine metallene Halbmaske. Sie fiel uns wegen ihrer Starrheit, zugleich aber auch dadurch auf, daß sie die Fähigkeit zu haben schien, sich für uns unbekannte Verwendungszwecke zu eignen. Der erste, ganz phantastische Einfall, der einem bei ihrem Anblick kam, war, sie sei ein später, hochgezüchteter Abkömmling des mittelalterlichen, den ganzen Kopf umschließenden Ritterhelms, der sich in einen Flirt mit einer samtenen Halbmaske eingelassen hätte. Wir probierten sie auf und konnten uns bei dieser Gelegneheit davon überzeugen, daß die Augenblenden, die sich aus waagrecht, aber in je anderen Neigungswinkeln geschichteten Metallstreifen aufbauten, eine vorzügliche Durchsicht gestatteten ... Abgesehen vom Nasenvorsprung erschien die eigentliche Vorderseite, d.h. das Gesicht, sehr abgeplattet, und der Eindrüc von Flachheit wurde noch verstärkt durch das rapide und dennoch delikate Umbiegen der Plastik zu den Schläfen hin..."
Zu solch feinsinnigen Betrachtungen kam BRETON überhaupt nur, weil so etwas wie den in Rede stehenden Gegenstand noch niemals gesehen, nicht die blasseste Ahnung von seinem Verwendungszweck hatte. Dabei war es bloß eine Maske, wie es sie in den Anfangsmonaten des Ersten Weltkrieges noch im französischen Heer gab. JOE BOUSQUET klärt BRETON darüber auf: kaum ist das Mysteriöse zerronnen, da fällt der Gegenstand wieder völlig in seine einstige Alltäglichkeit zurück.

Auf eben diesen Streifzug über den Trödelmarkt hat übrigens der Bildhauer GIACOMETTI BRETON begleitet. Nach langem, kaum verständlichem Gezaudere ersteht GIACOMETTI die Maske. Viel später stellte sich heraus, daß GIACOMETTI, ohne es zu wissen, auf der Suche nach gerade dieser Maske war, er brauchte sie, er mußt sie in eine Plastik hineinarbeiten, deren Antlitz über eine rohe Skizzierung hinaus zu vollenden er sich bis dahin unerklärlicherweise einfach außerstande gezeigt hatte. Und in diesem Sinne auch redet BRETON von der katalysierenden Rolle des Fundstücks:
"So ein Zufallsfund wirkt genau wie der Traum, weil er den Finder von Hemmungen und lähmenden Bedenken befreit, ihm neuen Mut gibt, ihn einsehen läßt, daß das Hindernis, das ihm etwa bislang unüberwindlich vorgekommen war, längst überwunden ist."
Noch viel aufschlußreicher wäre für den, der sich für dieses Phänomen interessiert, die Aufklärung der Umstände, unter denen BRETON am selben Tag, auf dem nämlichen Flohmarkt den glücklichen Fund eines durchaus nicht alltäglichen hölzernen Löffels machte. BRETON fällt dazu ein Traum ein, den er früher einmal hatte und der nun in diesem Holzlöffel ebenfalls auf geheimnisvolle Weise dingliche Gestalt anzunehmen suchte.

Es ist gar nicht nötig, hier noch eigens nachzuweisen, wie sehr BRETONs Deutung des Phänomens ins Schwarze trifft. Jeder braucht da nur einmal an sich selbst zu denken und an die Gegenstände, mit denen er seine Wohnung schmückt; sich zu fragen, weshalb er eigentlich gerade dieses Ding da gekauft habe, warum er zeitenweise diesen oder jenen Gegenstand weniger, den einen oder anderen wiederum mag, und dann die Gründe für seine wechselnden Stimmungen und Gefühle diesen Dingen gegenüber möglichst klarzulegen.

Statt alles nur dem Zufall, der es gar nicht immer so gut meint, zu überlassen, müßte es da doch möglich sein, "surreale Gegenstände" selbst herzustellen, die möglichst treffend die unbekannten Kräfte, die Wünsche, Begierden und Sehnsüchte des Traums zum Ausdruck brächten, indenen flüchtig wahrgenommene Stimmungen, nur verschwommen geahnte Gebilde feste Gestalt annähmen.

In früher Vorwegnahme hatte BRETON der Erfindung und Schaffung surrealer Gegenstände schon damit einen Weg gebahnt, daß er einmal den präzisen Wunsch äußerte, Gegenstände seien in Umlauf zu setzen und unter die Leute zu bringen, die nach Vorbildern, die man im Traum erblickt, hergestellt werden müßten und bei deren Herstellung Schritt für Schritt ein Plan verwirklicht würde, den man bis ins kleinste Detail vor Augen habe.

Man hat den Surrealisten oftmals eine allzu blühende, üppige, überschwengliche, ja sogar verschrobene, verkünstelte Phantasie vorgeworfen, und manche nannten sie geradezu krankhaft. Mit den surrealen Gegenständen hat nun aber derjenige, der sie schuf, nur versucht, einem erträumten Gebilde Gestalt im Stoff zu verleihen, die Erzader, die er fand und die zu Tage drängt, vom tauben Ganggestein der Rationalität, von den Schlacken des bloß Vernünftigen freizulegen. Ist das Erfindung, Erdichtung, Tat des reinen Willens, Absicht, aufmerksames Beobachten, Scharfsinnigkeit? Nein! Kraft einer totalen Hingabe an das Unbewußte, einer bedingungslosen Unterwerfung wird vielmehr nur ganz automatisch, Buchstabe für Buchstabe, ein schon gelesener Text übersetzt.

Einen weiteren Schritt in dieses Gebiet hinein tat DALI, indem er Gegenstände oder vielmehr Geräte "mit symbolischen Funktionieren" verfertigte. Auf diesen Einfall brachte ihn eine Plastik von GIACOMETTI: "L'Heure des Traces" (Die Stunde der Spuren). Grob gesagt besteht diese Skulptur aus zwei getrennten Stücken: Der eine feste Körper hat die Gestalt eines Orangenschnitzels, dessen beide nach oben gekehrte Flächen in einer scharfen Kante aufeinandertreffen. Der zweite feste Körper hat die Gestalt einer Kugel, die an ihrer Unterseite so gespalten ist, als ein Schnitzel aus ihr herausgeschnitten. Die Kugel hängt an einer Schnur über dem Orangenschnitzel. Sie ist beweglich und kann so über dem darunterliegenden Körper hin und her schwingen, daß ihre gespaltene Unterseite über der scharfen Kante des Orangenschnitzels entlanggleitet, ihn gleichsam berührt. Ihre Berührung ist jedoch kein Ineinanderdringen.

Jeder, der diese Plastik betrachtete und sah, wie sie funktionierte, wurde von einem heftigen und unbeschreiblichen Gefühl gepackt, das wahrscheinlich mit seinen eigenen unbewußten sexuellen Wünschen etwas zu tun hatte. Diese Erregung ähnelte durchaus nicht einem Gefühl der Befriedigung, sondern glich eher einer unstillbaren Aufreizung, wei man sie verspürt, wenn man sich über ein Nichtvorhandensein, ein Unbefriedigtbleiben ärgert. GIACOMETTI hatte damit der Verfertigung zahlreicher Gegenstände dieser Art Bahn gebrochen. DALI konstruierte viel mehr dergleichen als irgend ein anderer, doch auch BRETON, MAN RAY und OSCAR DOMINGUEZ ersannen symbolisch funktionierende Gegenstände.

Dieser weitere Vorstoß ins Gebiet des Automatismus darf nicht zu gering veranschlagt werden. Das automatische Schreiben, Malen, Skulptieren (PICASSO, GIACOMETTI) und Photographieren (MAN RAY) kam über Darstellungen nicht hinaus. Nun aber war der Automatismus ins Alltagsleben vorgedrungen, oder vielmehr war das Alltagsleben in den Dienst am Unbewußten genommen worden. Stand das Alltagsleben denn nie im Dienste des Unbewußten? In dieser Hinsicht brauchte man doch nur einmal die Mode, vor allem die der Frauen, näher anzusehen; in ihr enthüllten sich ganz bestimmte Neigungen, Wünsche, Lüste. Doch die Weise, wie die Mode sich damit abgab, war zu beiläufig, zu unstet, schwankend und unvollkommen.

Die Surrealisten werden sich ihrer neuen Fähigkeit bewußt und trauen sich zu, die Welt, indem sie sie mit einer Unmenge symbolisch funktionierender Gegenstände überschwemmen, bedingungslos in den Dienst des Unbewußten zu stellen und sie zu einer Welt umzuschaffen, deren Alltäglichkeit und normaler Betrieb ganz den Wünschen, Sehnsüchten, Begierden und Trieben des Menschen angepaßt wäre. In diesem Sinne ist auch jener "Wille zur Versachlichung und Vergegenständlichung" im Surrealismus zu verstehen, von dem BRETON spricht. Der Bereich, worin sich dieser Wille zu Vergegenständlichung jetzt und künftig auswirkt, könnte sich als grenzenlos erweisen.

Gleicht übrigens das Leben nicht oft dem Traum? Wer wollte sich anmaßen, die Grenze, die diese beiden Zustände voneinander scheidet, festzulegen? Der eine Zustand scheint einer Welt anzugehören, die jeder von uns frei erfindet und erschafft, der andere einer materiellen, einer massiv widerständigen Welt. Wenn nun aber diese Unterscheidung nur trügerisch und scheinbar wäre? Die Welt unsere Träume ist dann, wenn wir darin leben und sie erleben, ebenso wirklich wie die Welt des Wachseins. Und erleben wir denn nicht im wachen Tagleben Ereignisse, "als geschähen sie im Traum"? Der Wachzustand wird charakterisiert durch dieselbe Unlogik, dieselbe Prinzipienlosigkeit, dieselbe Anwesenheit von Gebilden, Wesen, Geschöpfen, die wir nie gesucht haben, denselben Wirrwarr von Handlungen und Verhaltensweisen, die man uns aufzwingt, die uns durch ungefähre Ähnlichkeiten, durch Zufälle, die wir uns nicht ausgesucht haben, diktiert werden, wie der Traumzustand. "Man bringt sich um, wie man träumt", hatten die Surrealisten früher schon gesagt. Aber "man lebt auch genauso, wie man träumt."

Gerade diese Überlegungen sucht BRETON in "Les Vases communicants" darzutun. Er vergegenwärtigt darin einen Abschnitt seines Lebens und stellt fest, daß in seinen damaligen Träumen, wenn er sie psychoanalytisch deutet, eigentlich nur leicht verstellte und verschobene Geschehnisse aus seinem Wachleben vorkommen, daß aber im Wachleben sich die Geschehnisse, genau wie im Traum, um seine Hauptsorgen, seine wichtigsten Anliegen und Gedanken, seine Gefühle und Wünsche zentrieren: Es seien nur Begegnungen, Verknüpfungen von Vorstellungen und Gedanken, Wortspiele, erheiternde oder traurige Verzahnungen von nie zu Ende kommenden Erlebnissen.

Im wachen Tagleben leite ihn ein phantastisches, kapriziöses Luststreben, das in gar nichts vernünftiger sei als das, was seine Träume leite. Die eigentlichen materiellen Notwendigkeiten und die Stillung unserer leiblichen Bedürfnisse seien nicht wichtiger, erklärt BRETON, als die Notwendigkeit zu atmen, wenn wir schlafen. Sei die Möglichkeit zu atmen für den Schlafenden etwa wichtig? Viel wichtiger sei es da doch aufzuklären, warum ich mich, wenn ich wach bin, gerade an diesem oder jenem Ort aufhalte, mich durch die Augen einer Frau berücken lasse, dieselbe Augenfarbe an einer anderen wiederentdecke, mich nur aus diesem einzigen Grund zu ihr hingezogen fühle; warum ich mich zu gerade dieser Tätigkeit zwinge, die für mich weder notwendiger noch gleichgültiger als irgendeine andere ist; warum ich ausgerechnet heute einen Brief von gerade diesem Freund, nicht aber von irgendeinem anderen bekomme; und warum es Zusammenhänge zwischen seinem Namen und sonstigen Vorstellungen und Gedanken in mir gibt, die im übrigen gar nichts mit ihm zu schaffen haben, usw.
"Was soll denn dieser Prozeß bedeuten, den man gegen das wirkliche Leben unter dem Vorwand anstrengt, der Schlaf täusche dieses Leben nur vor, im Wachzustand aber komme man hinter die Täuschung? Im Schlaf wird doch das wirkliche Leben, sofern es ein Wahn ist, gar nicht kritisiert noch für ein Wahngebilde gehalten. Da dürfte man ja schließlich auch, weil Besoffene doppelt sehen, kategorisch festsetzen, daß es Symptom eines "etwas andersartigen" Rauschzustands sei, wenn ein Nüchterner ein und denselben Gegenstand zweimal unmittelbar nebeneinander erblickt."
In Wahrheit seien Traum und Wachzustand nur zwei kommunizierende Röhren, in denen ein und dieselbe Kraft in Erscheinung trete, nämlich das Begehren. Wichtig ist, festzustellen,
"wie der Anspruch des Begehrens, wenn es auf der Suche nach dem Gegenstand ist, er ihm Erfüllung verspricht, die Gegegebenheiten der Außenwelt sonderbar arrangiert, nämlich egoistisch aus den äußerlichen Umständen nur die registriert und auswählt, die seinen Zwecken zu dienen vermögen. Das müßige Treiben auf der Straße stört dann kaum noch stärker als die Knitterfalten im Laken. Das Wünschen und Verlangen ist da, schneidet mitten in die Fülle des Stoffs, der nur leider nicht rasch genug durch einen neuen Stoff ersetzt wird, und läßt dann seinen festen und doch zarten Faden zwischen den zerschnittenen Stoffstücken hin- und herlaufen. Das Verlangen träte diesen Faden an keine objektive Normierung des menschlichen Verhaltens je ab..."
Man höre doch endlich auf, von verschiedenartigen, ja einander widerstreitenden Bereichen zu reden. "Traum und Tat", das sei doch genau wieder so ein künstlicher Gegensatz. Es sehe gerade so aus, als fühle sich die Logik nur mitten unter ihren Zergliederungen, diesen Teilungen, Spaltungen, Entgegensetzungen, wohl: Das Normale und der Wahnsinn, das Unbewußte und das Bewußtsein, Reden und Handeln, Dein und Mein. Im Grunde genommen gebe es jedoch nur lauter Bereiche, in denen sich das eine und selbe Verlangen, Wünschen, Begehren auslebe; diese Bereiche unterschieden sich zwar voneinander, seien einander aber keineswegs entgegengesetzt, noch widerstritten sie sich.

Das Begehren, Wünschen, Verlangen interpretiert BRETON als die alles durchwaltende Triebkraft, den großen Einheitsstifter: Das Begehren und WÜnschen verleihe dem Menschen seine wahre Gestalt, es sei letztlich sein Wesen. Wiewohl es ständig abgewürgt, gedrosselt, gefoppt, um seine Befriedigungen betrogen, von seinen Zielen abgelenkt werde, gelinge es ihm trotz allem, sich immer wieder durchzusetzen. Schon immer habe der Surrealismus ausschließlich danach getrachtet, das Begehren und Wünschen aus seinen Ketten und von dem Tand und Flitterkram zu befreien, womit es sich bisweilen tarnen und verkleiden müsse. Es genüge nicht, seine Allmacht zu verkünden, man müsse ihm vielmehr die Hindernisse aus dem Wege räumen, derentwegen es nicht zu seinen Erfüllungen gelangen könne, sowohl jene Hindernisse nämlich, die die Gesellschaftsordnung gegen es auftürme, wie auch jene anderen, die von der allgemeinen Bedingtheit und Endlichkeit des menschlichen Daseins herrührten. Nur der Sieg, das totale Sichdurchsetzen des Begehrens und Wünschens, sei für die Surrealisten die wahre Revolution.

Sie bleibe aber solange eine Utopie für Dichter, wie sich die Surrealisten nicht bereitfänden, mit allem erdenklichen Nachdruck jenen Umsturz zu betreiben, der zuallererst durchgeführt werden müsse: jene Revolution, deren alle Umwälzungen im Leben, in Sitten und Bräuchen, im Fühlen und Empfinden als ihrer unerläßlichen Voraussetzung bedürften: den Umsturz der Gesellschaftsordnung, der die unerträglichen, unwürdigen Verhältnisse, unter denen sie und die übergroße Mehrheit der Menschen zu schmachten hätten, über den Haufen werfen werde.
LITERATUR - Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Reinbek 1965