ta-2Maurice NadeauHans HolländerJudy Freeman    
 
ROBERT SHORT
Dada lebt!

"Die Informationen, die die Sinne dem Menschen übermittelten, waren irreführend, ja, selbst die Vorstellungen, die man von der individuellen  Persönlichkeit  und der Außenwelt hatte, waren unzuverlässig und unlogisch."

"Dada" - diese beiden kurzen, prägnanten Silben ergaben wie RAOUL HAUSMANN sich später erinnerte, das "Zauberwort". Es war ein Katalysator, der es während des Ersten Weltkrieges Dichtern, Künstlern und unzufriedenen Intellektuellen in einem Dutzend Ländern ermöglichte, ihren Haß, aber auch ihre Ideale in einem kulturellen Programm zusammenzufassen. Wie "Coca Cola" - dessen Erfindung damals schon dreißig Jahre zurücklag - wurde das Wort "Dada" zu einem Markenzeichen, das jeder, ungeachtet der Nationalität, sofort erkannte. Und so ist es kein Wunder, daß sich nach dem raschen Ende der Bewegung die "Väter" des Dadaismus darum stritten, wer das Wort erfunden habe - ein Streit, der erst vor relativ kurzer Zeit durch den Tod der Kontrahenten ein Ende fand.

Damals wie heute glaubte jeder zu wissen, was "Dadaismus" bedeutet. Seine Impressarios - TRISTAN TZARA, FRANCIS PICABIA und RICHARD HUELSENBECK - brauchten in ihren provokativen Manifesten nur noch auszuformulieren, was bereits im Namen selbst steckte. Der Begriff "Dadaismus", selbst schon ein Manifest, hat sich eingeprägt. Der Klischeevorstellung nach steht er für eine radikale kulturelle Revolte: für die angewiderte Reaktion der Künstler auf den Zusammenbruch der westlichen Zivilisation und deren Werte im Ersten Weltkrieg.

Der Dadaismus war eine Revolte gegen die Kunst, und Träger dieser Revolte waren die Künstler selbst. Entsetzt über die Entwicklungen in der zeitgenössischen Gesellschaft erkannten sie, daß die Kunst zwangsläufig ein Produkt, Spiegelbild, ja sogar Stütze jener Gesellschaft und somit mitschuldig war. Der Begriff "Dadaismus" steht für erbitterten Individualismus, alles in Frage stellenden Zweifel und aggressive Zerstörung althergebrachter Ideale und Konventionen. Dada holte die geltenden Wertmaßstäbe des Verstandes, des Geschmacks, der Hierarchie, Ordnung und Disziplin in der Gesellschaft und der rational kontrollierten schöpferischen Inspiration von ihrem Podest herunter und wandte sich dem Willkürlichen, Zufälligen, Unbewußten und Primitiven zu - Bereichen also, in denen der Mensch der Natur untertan ist und nicht so tun kann, als beherrsche er sie. Und seine Verfechter ergötzten sich an der Schockwirkung, die ihre Blasphemien bei den konventionell Denkenden auslösten.

Die Dadaisten selbst leisteten dieser Vorstellung, die man von ihren Aktivitäten hatte, energisch Vorschub - und sie bestimmt denn auch das Bild des Dadaismus, das in die Geschichte eingegangen ist. Sie beharrten darauf, daß der Dadaismus sich nicht definieren lasse, betonten aber gleichzeitig seine Einfachheit, damit er eine möglichst große Wirkung erzielen könne. Und auch wir scheinen einer völlig nihilistischen Bewegung zu bedürfen, um die Liste jener "Ismen" vervollständigen zu können, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das Drama des Modernismus zu Ende gespielt haben.

Doch trotz ihrer Klarheit ist diese klischeehafte Definition unvollkommen und irreführend. Nicht nur, weil sie angesichts der außergewöhnlichen Vielgestaltigkeit des Dadaismus zu sehr vereinfacht und einander widersprechende Strömungen innerhalb der Bewegung außer acht läßt, sondern vielmehr, weil sie die grundlegenden, fruchtbaren Widersprüche verbirgt, die einem von begabten Künstlern zur Beseitigung der Kunst erdachten Programm innewohnen mußten.

Ein Kritiker des  Times Literary Supplement  reagierte angesichts des Phänomens "Dadaismus" mit verständlicher Verwirrung und stellte die Frage:
"Wie soll man eine Bewegung definieren oder gar eingrenzen, die sich mit keiner bestimmten Persönlichkeit und keinem bestimmten Ort, Standpunkt oder Thema identifizieren läßt, die alle Künste beeinflußt, deren Schwerpunkt sich ständig verlagert und die noch dazu ganz bewußt negativ, kurzlebig, unlogisch und unüberzeugend ist?"
Der Begriff "Dadaismus" bezeichnet gleichzeitig eine Avantgarde-Bewegung, eine ganze Reihe von Lebenshaltungen und - wie aus dadaistischen Schriften klar hervorgeht - die Idee einer in der Welt wirkenden Lebenskraft. Zwischen 1915 und 1923 waren die Dadaisten in New York, Zürich, Barcelona, Berlin, Köln, Hannover und Paris am Werk. Auch in Holland, Belgien, Italien, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Rumänien, Polen und Rußland tauchte der Dadaismus auf. Jede seiner Ausformungen war einzigartig. Er konnte nie zweimal in genau der gleichen Form erscheinen, da er stets zu einem anklagend verzerrten Spiegelbild seiner jeweiligen Umgebung wurde.

In New York war die Bewegung noch namenlos. Erst Zürich taufte sie "Dadaismus" - aber man konnte sich hinterher nicht darüber einigen, wer diesen Namen erfunden oder entdeckt hatte. Der Nachkomme des Züricher Dadaismus bot wieder ein anderes Erscheinungsbild. In Berlin fand der Dadaismus seine Identität in der Rivalität mit dem Expressionismus, verlor sie aber wieder, als der fruchtbare innere Konflikt zwischen künstlerischer und revolutionärer Aktion seine Spannung verlor. Sein langes friedliches Leben in Hannover verdankte er der Tatsache, daß er dort die Schöpfung eines einzigen Mannes - KURT SCHWITTERS - war.

SCHWITTERS nannte die Bewegung MERZ. Die beiden eng zusammengehörigen Funktionen des Dadaismus - Entweihung der bestehenden Kultur und Lebensbejahung - standen nie ganz gleichberechtigt nebeneinander, sondern das Schwergewicht verlagerte sich einmal nach der einen und dann wieder nach der anderen Seite. Das gilt sowohl für die Städte, in denen der Dadaismus Fuß faßte, als auch für die Gefühle der meisten seiner Verfechter.

TRISTAN TZARA bemerkte zu Recht, der Dadaismus haben ebenso viele verschiedene Standpunkte wie Präsidenten, nämlich 391. Die wahren Dadaisten, schrieb er später, seien gegen den Dadaismus. Kaum war dieser wirksame Slogan bekannt geworden, gingen die Dadaisten daran, alle Versuche, ihr Projekt in ein System zu bringen oder ein zusammenhängendes Programm auszuarbeiten, durch mutwillige Widersprüchlichkeit zu sabotieren. Die letzte trotzige Geste des Dadaismus bestand schließlich darin, daß führende Dadaisten die Bemühungen der Kritiker und Historiker, ihre Bewegung festzulegen, vereitelten, indem sie verwirrende und einander widersprechende Berichte über ihre früheren "Großtaten" und deren Bedeutung veröffentlichten.

Ein Versuch, die wahre Identität des Dadaismus zu erfassen, muß irgendwo in der Mitte zwischen der irreführenden Einfachheit des Etiketts "Dada" und der Mannigfaltigkeit der Äußerungen des Dadaismus ansetzen. Einen möglichen Ausgangspunkt bietet der Titel von GEORGE GROSZ Autobiographie  Ein kleines Ja und ein großes Nein.  Das "große Nein" des Dadaismus richtete sich gegen die gesamte westliche humanistische Tradition, wie sie sich seit der Renaissance entwickelt hatte. Es war inspiriert von jener kritischen Unterminierung "bürgerlicher Credos", die in dem vorausgegangenen halben Jahrhundert so unterschiedliche Persönlichkeiten wie NIETZSCHE, BAKUNIN und BERGSON, EINSTEIN und HEISENBERG im Bereich der Physik, FREUD in dem der Psychologie und de SAUSSURE in dem der Linguistik betrieben hatten.

Die Dadaisten spotteten über das Vertrauen der westlichen Welt in die Autonomie des rationalen Ichs und die Wirksamkeit des Verstandes. Sie prangerten jene seit der Renaissance herrschende Vorstellung an, die den Menschen in den Mittelpunkt des Weltgeschehens stellte und annahm, daß die Welt nach für den menschlichen Verstand erkennbaren Gesetzen aufgebaut sei. Und sie verdammten die jedes Gefühl abtötende Entschlossenheit der bürgerlichen Kultur, alle Erscheinungen in feste Kategorien zu zwängen.

Für die Dadaisten war die Natur etwas ständig Fließendes, sich Veränderndes. Sie war Energie und Bewegung, die sich in einem Prozeß gleichzeitigen Entstehens und Vergehens befand und den Belangen der Menschen fremd und gleichgültig gegenüberstand. Die gleiche Gesetzlosigkeit sah man auch in der menschlichen Psyche, wo unkontrollierte und einander widersprechende Tendenzen die bewußten Absichten des Menschen zu einem nur noch auf dem Strom des Unbewußten umhertreibenden Wrack machten und dämonische Triebe ihn von seinen Vorhaben ablenkten.

In den Augen der Dadaisten war der Erste Weltkrieg die wohlverdiente Strafe für die Selbstüberhebung und den Größenwahn des modernen Menschen der westlichen Welt. Der Krieg machte deutlich, daß die zügellosen Kräfte der Natur, welche die Menschen hätten anerkennen und respektieren sollen, zerstörerisch und mörderisch geworden waren, weil eine übermäßig intellektuell ausgerichtete Zivilisation sie vernachlässigt hatte. Wie RICHARD SHEPPARD bemerkte, waren die Dadaisten der Ansicht, der Krieg sei "ein unmittelbares Produkt des Konkurrenzdranges des industriellen Kapitalismus und sein mechanisierter Stellungskrieg eine groteske und gräßliche Version des Produktionsprozesses selbst" (1)

Aus dieser Ablehnung des Glaubens an den Fortschritt, an die zähmbare Natur und an den rationalen Menschen ergab sich zwangsläufig auch ein Zweifel an der Fähigkeit der Sprache, Literatur und Kunst, die Realität darzustellen. Die Informationen, die die Sinne dem Menschen übermittelten, waren irreführend, ja, selbst die Vorstellungen, die man von der individuellen "Persönlichkeit" und der Außenwelt hatte, waren unzuverlässig und unlogisch. Wie konnte dann die Sprache - per definitionem ein der öffentlichen Kommunikation dienendes Werkzeug - anders, als das wahre Wesen des Lebens (Leben als eine Folge von zusammenhanglosen Augenblicks-Erlebnissen) zu entstellen und zu verraten?

Die Antwort der Dadaisten auf diese Frage lautete, Worte seien bloße Fiktionen, und es gebe keine Übereinstimmung zwischen den Strukturen der Sprache und denen der Realität. Der Glaube an die Ordnung, den das Vorhandensein einer gemeinsamen, ererbten Sprache in den Menschen erwecke, sei eine Illusion.

Das "Nein", an dem die meisten Dadaisten den Grad ihrer Entfremdung von der bestehenden Ordnung maßen, war also in der Tat ein sehr großes. Angesichts des Ausmaßes dieser Verneinung überrascht es vielleicht, daß die Dadaisten nicht gemeinsam Selbstmord begingen, ja, daß es den meisten von ihnen sogar gelang, Künstler und Dichter zu bleiben. Wir müssen uns an dieser Stelle jedoch daran erinnern, daß das "großes Nein" durch ein "kleines Ja" ausgeglichen wurde. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausformungen des Dadaismus lassen sich am besten anhand des Ausmaßes und der Art der neuen Bejahung verzeichnen, für die die Zuversicht der Dadaisten ausreichte.

Dadaisten wie FRANCIS PICABIA, MARCEL DUCHAMP, WALTER SERNER, GEORGES RIBEMONT-DESSAIGNES und TRISTAN TZARA scheinen ziemlich genau in das klischeehafte, nihilistische Bild des Dadaismus zu passen. Für sie war die Realität absurd und chaotisch; sie stand den menschlichen Vorstellungen von Recht und Ordnung mit unbeugsamer Feindseligkeit gegenüber. Doch selbst diese Nihilisten fanden eine moralische Befriedigung in der intellektuellen Ehrlichkeit, mit der sie dem herrschenden Chaos treu blieben und inmitten der Absurdität eine gewisse verzerrte persönliche Integrität aufrechterhielten.

TZARA zielte in seiner Dichtung auf eine ernste, traurige, weltumfassende Schönheit ab; sie drückte das bewußte Einfließen der Identität des Dichters in den Strom des Universums aus und maß "jedem Gegenstand, Wesen, Material und Organismus dieses Universums" gleiche Bedeutung bei. Andere Dadaisten glaubten, durch Anerkennung des Nichts und Untertauchen in den Strom des Alls könne man die Prinzipien einer dem dynamischen Fluß der Natur innewohnenden, wenn auch nur undeutlich erkennbaren Gesetzmäßigkeit enthüllen. Dunkle Ahnungen dieser für den Verstand nicht sichtbaren Struktur, so meinten sie, würden hin und wieder der dichterischen Phantasie gewährt. HANS ARP, HUGO BALL undmanche anderen deutschen Dadaisten teilten dieses Vertrauen in die Möglichkeit, inmitten der Verwirrung alternative Ordnungen zu entdecken. Und ARP unterschied zwischen einer rein destruktiven, der Natur innewohnenden Energie und einer gütigen, geistigen Kraft. Dadaisten äußerten auch die Vermutung, die natürlichen Energien würden nur dadurch dämonisch und bestialisch, daß man sie unwissentlich unterdrücke.

Schließlich wurde der Dadaismus trotz des seiner Metaphysik innewohnenden Pessimismus vor der beklemmenden Angst und übersteigerten Verzweiflung des frühen Expressionismus (der in anderer Beziehung dadaistische Grundsätze teilte) bewahrt - und zwar durch seinen unbezähmbaren Sinn für Humor. Die Dadaisten benahmen sich, als hätten sie die Erfahrung der Lebenstragödie durchlebt und seien "auf der anderen Seite wieder herausgekommen".

Auch ihren fatalistischen Äußerungen nahmen sie stets durch Selbstironie den Wind aus den Segeln. Sie akzeptierten die Verwirrung der Dinge, das Durcheinander, und ahmten in ihren Werken spielerisch die überschäumende Gesetzlosigkeit der Lebenskraft nach. Um es frei nach dem Schlußwort zu ROGER SHATTUCKs  The Banquet Years  (die Belle Epoque) auszudrücken: Den Künstlern war der Teppich unter den Füßen weggezogen worden, und nun mußten sie tanzen, um ihr Gleichgewicht zu halten. Aber sie vollbrachten das Kunststück, so zu tun, als sei dies genau das, was sie ohnehin wollten.

Man sieht also, warum die Dadaisten so leidenschaftlich darauf beharrten, der Dadaismus sei nicht irgend ein neuer "Ismus", der seinen Platz unter den modernen Kunstrichtungen suche, sondern eine Gemütsverfassung oder eine "moralische Revolution". Wie ANDRÈ BRETON es in seinem Manifest  Geographiè Dada  ausdrückte:
"Der Kubismus war eine Stilrichtung der Malerei, der Futurismus eine politische Bewegung: DADA ist ein Geisteszustand. Diese beiden Dinge einander gegenüberzustellen, ist ein Zeichen von Ignoranz oder mangelndem Vertrauen. Die Ideen religiöser Freidenker haben nichts mit irgendeiner bestehenden Kirche gemein. Dadaismus ist künstlerische Freigeisterei."
Die kompromißlosesten Dadaisten kehrten der Kunst den Rücken, da sie sie für eine gefährliche Täuschung hielten. Die Kunst, so fanden sie, verleihe dem Vergänglichen eine scheinbare Stabilität und nähre die Illusion, der Mensch stehe im Mittelpunkt des Universums. Als Entschädigung oder Trost inmitten der Verwirrung des Lebens lenke sie die Aufmerksamkeit der Menschen von der wahren Quelle ihrer Probleme ab. Bestenfalls sei sie ein protziger Luxus, den eine Zivilisation, die gerade eben die Massenvernichtung zugelassen habe, nicht verdiene.

Trotz der unverblümten Äußerungen von Künstlern wie FRANCIS PICABIA, "Kunst sei nutzlos und unmöglich zu rechtfertigen", erwies sich die dadaistische Ablehnung der Kunst paradoxerweise als enormer Ansporn. Dadurch, daß die Dadaisten die Kräfte der Phantasie auf Kosten des Rationalismus auf ein Podest erhoben, förderten und ermutigten sie notwendigerweise den künstlerischen Ausdruck. Ähnlich wie DESCARTES schufen sie zunächst einmal eine  tabula rasa,  um eine sichere Grundlage zu schaffen, von der aus man neu beginnen konnte.

Was die Dadaisten vorschlugen, war nicht das Ende der Kunst schlechthin, sondern eine völlig neue Auffassung von schöpferischer Tätigkeit, eine neue Gleichung mit den Variablen Kunst - Ich - Realität. Die Eigenart des Dadaismus lag hier nicht so sehr in seinen Kunstprodukten, die in der Form oft schamlos vom Kubismus, Futurismus und Expressionismus abgeleitet waren. Der Dadaismus sah den Künstler - ebenso wie später auch der Surrealismus - als einen geistigen Abenteurer, für den Produktivität nur zweitrangige Bedeutung hatte.

Man maß einer bestimmten Lebenshaltung dichterische Ausdruckskraft und dichterischen Wert bei. Moralische Erfordernisse erhielten den Vorrang vor ästhetischen. Da es keinen Sinn mehr hatte, über Erlebnisse oder Erfahrungen zu schreiben, bestand die Tätigkeit des Dichters oder Künstlers darin, sein ganzes Empfindungsvermögen im Zustand kosmischer Passivität in unmittelbaren Kontakt mit dem Universum zu bringen. In Übereinstimmung mit dem dadaistischen Glauben an ein in der Welt wirkende, verborgene Kraft sah man das Charakteristikum des Künstlers darin, daß er sich vom Zufall, von unbewußten inneren Impulsen und Antrieben sowie von allem Spontanen erfassen ließ.


Die Bildersprache des Surrealismus

Als die "Zeit der Intuitionen" des Surrealismus im Jahre 1924 von seiner "heroischen Periode" abgelöst wurde, brach die surrealistische Revolution über die Welt herein mit einem grenzenlosen und verzweifelten Vertrauen auf ihre Kraft, das "Leben zu verändern", indem sie die Tore des Wunderbaren öffnete. Der Surrealismus war, ebenso wie der Dadaismus, keine Ansammlung von Künstlern, die einen bestimmten gemeinsamen Stil hatten, sondern ein kollektives geistiges Abenteuer. Im Gegensatz zum Hauptanliegen des Dadaismus jedoch versuchte er, den Menschen mehr als nur die Tatsache ihrer Entfremdung bewußtzumachen. Der Surrealismus unterbreitete die Idee, daß die lächerliche Existenz - jenes allen Menschen gemeinsame Los - kein unabänderliches Schicksal sei, sondern ein heilbarer, zufälliger, kulturell bedingter Zustand.

Für den Surrealismus stand der Einbruch des Irrationalen und des Unbewußten in die Realität des täglichen Lebens im Einklang mit dem Feldzug für ungehinderte Freiheit. Das scheinbar negative "Entrealisieren" des Realen war untrennbar mit der Befreiung des Menschen aus seiner Entfremdung verbunden. Wenn die Stabilität der anthropozentrischen Welt eine Illusion war, wie der Dadaismus gezeigt hatte, dann ließ das der Phantasie um so mehr Freiheit, den Dingen eine neue, großzügigere und offenere Bedeutung zu gewähren - eine Bedeutung, die die vom Nützlichkeitsdenken ignorierten menschlichen Fähigkeiten vollauf berücksichtigte. In dem Maße, in dem die Zwangsjacke des Rationalismus vom Menschen abfiel, konnten die in der Psyche wohnenden Kräfte des Verlangens, die der Rationalismus unterdrückte, wieder zur Geltung kommen.

Der Surrealismus sollte eine riesige Substanz geistig-seelischer Quellen durchforschen und auswerten, die die westliche kulturelle und ökonomische Tradition mit voller Absicht einzudämmen versucht hatte. Anstelle von Wissenschaft und Ratio sollte er das Bild und die Analogie fördern und pflegen. In seinen Bemühungen, die assoziativen Fähigkeiten des Geistes wieder anzuregen, wandte er seine Aufmerksamkeit voller Ehrerbietung und Begeisterung den Denkprozessen der Kinder und der primitiven Völker, den lyrischen Äußerungen des Wahnsinns und den verbindenden Ideen des Okkultismus zu.

Die surrealistische Revolution war gleichbedeutend mit dem Niederreißen jener Barrieren, die zu einem fragmentlerten Bewußtsein und zur immerwährenden Frustration aller Sehnsüchte und Begierden führte. Sie sollte zeigen, daß Phänomene, von denen man im allgemeinen annahm, sie lägen hoffnungslos im Widerstreit miteinander - Träumen und Wachen, Bewußtes und Unbewußtes, das Subjektive und das Objektive, geistige Vorstellung und physische Wahrnehmung -, in Wirklichkeit eine Synthese zuließen und daß diese Synthese wiederum eine umfassende Befreiung bringen würde.

Es mag weit hergeholt erscheinen, daß eine Bewegung, die als eine Reihe von Experimenten im Bereich der Sprache und der bildenden Kunst begann, sich so rasch als Vorbote einer Revolution etablierte. Doch dieser Sprung war für die Surrealisten leicht vollziehbar und ganz natürlich, da sie glaubten, die dem menschlichen Geist innewohnenden Kräfte der Phantasie würden direkt durch das Verlangen angetrieben. So bestand für sie nur eine geringe oder gar keine Kluft zwischen einer veränderten Wahrnehmung der Welt und der tatsächlichen, objektiven Veränderung der Welt. Als freier Ausdruck der Phantasie wurde die Kunst ein ins Leben selbst führendes Abenteuer.

Eine solche Kunst war keine Luxusware mehr, die von Spezialisten zum Vergnügen einer Elite hergestellt wurde, Sie war kein Zeitvertreib, sondern eine Herausforderung an den Status quo. An dem "Ernst", den die Surrealisten im Vergleich zu den Dadaisten an den Tag legten, läßt sich ermessen, welch enge Beziehung sie zwischen unseren Ausdruckskräften und dem Wesen unseres Universums herstellten. Diese Beziehung lud dem Künstler eine schwere Bürde moralischer Verantwortung auf. Denn so, wie er die mögliche Welt darstellte, würden die Menschen das Potentielle in Realität zu verwandeln versuchen. Der Künstler war mithin der Anführer in jenem Kampf, dessen Ziel es war, die Realität zur Ebene der menschlichen Träume emporzuheben.

Das Werkzeug dieses veränderten Bewußtseins war nichts anderes als das Grundmaterial der bildenden Kunst und der Dichtung selbst - nämlich das Bild. Die aus dem Unbewußten emporquellenden Bilder - "deine Zunge, der Goldfisch in der Schale deiner Stimme" (ARAGON); "Gelächter eines verborgenen Teiches, in dem geistesabwesende Propheten ertrinken" (PÈRET); "meine Frau mit den Augen aus Wasser, das man im Gefängnis trinkt" (BRETON) - waren in ihrer Kraft so gebieterisch, daß dieses Erdachte, dieses "als ob" eine Realität annahm, die es auf einen gleichberechtigten Platz neben den wahrnehmbaren, greifbaren Erscheinungen der Außenwelt stellte. Diese Bilder waren nicht künstlich, sondern Teil der "Naturgeschichte", so behaupteten MAX ERNST und RENE CRÈVEL. Das surrealistische Bild ließ das vermittelnde und Distanz schaffende "wie" und "als" des üblichen dichterischen Vergleichs weg und erlangte dadurch eine bestürzende, neue Direktheit.

Im freien Assoziieren wurden ebenso wie im Traum - jene Identitäten aufgelöst, die die Intelligenz im wachen Zustand den Dingen aufzwingt: Ein Sarg konnte zum Mutterleib werden, ein Zimmer zu einer Frau, eine Krawatte zum männlichen Geschlechtsteil. Das surrealistische Bild entnahm dem Traum das Phänomen der Austauschbarkeit und projizierte es auf die Realität. Und das Bild konnte sowohl verbale als auch malerische Gestalt annehmen. Das künstlerische Medium war belanglos, denn -wie TRISTAN TZARA es später einmal ausdrückte - die Dichtung (des Surrealismus) war kein Ausdrucksmittel, sondern eine geistig-seelische Aktivität.

So repetierte DALI sowohl in Farbe als auch in Worten immer wieder seine grausame Parade erotischer Phantasien. Picasso experimentierte mit automatischem Schreiben. DESNOS beschäftigte sich mit Zeichnungen, und nahezu alle Schriftsteller schufen Collagen, Gedicht-Objekte und Objekte verschiedenster Art. Die Wahl der Mittel selbst war nicht von Bedeutung, da das verkörperte Bild nichts bereits in der Außenwelt Vorgegebenes darstellte, sondern vielmehr einen einzigartigen Gedanken, der seine Form erst finden mußte: das Bild im Geist.

Ob verbal oder optisch - das surrealistische Bild erfüllte stets eine dreifache Funktion. Erstens zerschlug es konventionelle Erwartungen und sabotierte das passive Genießen der Welt, indem es Elemente nebeneinanderstellte, die der Verstand für unvereinbar hielt. Die Surrealisten stellten häufig fest, daß die Kraft eines Bildes in direktem Verhältnis zu der Inkongruenz der Dinge stand, die es zusammenstellte.

Zweitens kennzeichnete es den Beginn einer Erforschung des Unbekannten und war nicht - wie in der traditionellen Kunst - das Endprodukt der ästhetischen Phantasie, die versuchte, etwas Schönes zu schaffen, einen Gedanken oder eine Wahrnehmung zu illustrieren. Es war die Aufzeichnung einer Reise ins Innere, in das Niemandsland jenseits der Grenzen des Vertrauten und des gesunden Menschenverstan- Die Kunst der Surrealisten ist deshalb oft so schwer verständlich, weil sie sich weigerten, ihre Treue dem "inneren Vorbild" gegenüber einer leichten Zugänglichkeit zu opfern. Sofortiges Begreifen war für sie ein Zeichen dafür, daß man die falschen Ausdrucksmöglichkeiten gewählt hatte - jene nämlich, die an den durch die Umstände bedingten, inakzeptablen Status quo gebunden waren.

Die Surrealisten glaubten, wenn man das Wort und das plastische Bild von konventionellen, deformierenden Ablagerungen befreie, würden sie nach und nach aufgrund der Unverfälschtheit der psychischen Materie, in der sie wurzelten, verstanden werden. Um es frei nach WOLFGANG PAALEN auszudrücken: Der Wert eines Bildes hing nicht von der Genauigkeit seiner Darstellung ab, sondern von seiner Fähigkeit, Dinge vorzubilden, eine neue, verborgene Ordnung auszudrücken. Schließlich -und hierüber soll später noch mehr gesagt werden - war das surrealistische Bild eine Offenbarung des feinen Netzes von Entsprechungen, das die individuelle Psyche mit den in der Außenwelt wirkenden Kräften verband.

Wenn die Surrealisten das Wesen eines in einem Gemälde oder Gedicht vorkommenden Bildes evozieren wollten, sprachen sie häufig von seiner "Leuchtkraft" oder "Intensität". In ähnlicher Weise wandte BRETON Kriterien wie "Beunruhigung", "Verwirrung", "Funke", "innere Verwandtschaft" und "Anziehungskraft" an um die Angemessenheit bestimmter Analogien zu überprüfen (im freien und schrankenlosen Spiel der Analogien, so behauptete er, liege "der Schlüssel zu unserem geistigen Gefängnis"). Diese Begriffe veranschaulichen, daß die Surrealisten die Wirksamkeit des Ausdrucks der Phantasie nicht nur nach seiner geistigen Überzeugungskraft beurteilten, sondern auch nach dem "Schock", den er dem gesamten Empfindungsvermögen versetzte.

Die surrealistische Erfahrung der Schönheit schloß eine psychische Erschütterung mit ein, die sowohl den Geist als auch die Sinne berührte und auf diese Weise den Unterschied zwischen Denken und Fühlen negierte. Hierin war man absolut konsequent, denn das Unbewußte, das zu rehabilitieren man sich vorgenommen hatte, war der Sitz der Libido, des vorbewußten Verlangens, und gleichzeitig auch die Quelle der von der Phantasie bestimmten Inspiration. Die surrealistische Ästhetik definierte sich also in Begriffen des Verlangens. Die Schönheit verursachte einen "Schauder", den ANDRÈ BRETON mit "einem großen Blätterrauschen, das durch die Pappeln meines Blutes geht" und mit einem "Sprühen und Wehen an den Schläfen" verglich.

Statt sich die traditionelle Ästhetik der Nachahmung zu eigen zu machen, nahmen die Surrealisten DIAGHILEWs Schlagwort "Erstaune mich" wörtlich und schlugen eine Ästhetik der absoluten Originalität vor. An die Stelle der traditionellen Ästhetik, die auf der Idee beruhte, die Beziehungen zwischen einem Gedanken und seinem Ausdruck, zwischen einem Inhalt und seinem Kontext müßten angemessen sein, setzten die Surrealisten eine Schönheitsvorstellung, die auf Nichtübereinstimmung und Unwahrscheinlichkeit basierte. Die konvulsivische Schönheit, die der Surrealismus anstrebte, ist beunruhigend, überschäumend und unvollständig; sie erlaubt keine ruhige Kontemplation. Sie ergötzt sich an der prekären Spannung, die durch die Kombination des Gegenteiligen entsteht - beispielsweise des Statischen und des Dynamischen, des Banalen und des Barocken, des Idealen und des Obszönen.

Dieses Wesen des Konvulsivischen erweist sich, sobald man es einmal erkannt hat, als das deutlichste Merkmal, an dem man das Surrealistische nicht nur in einem Bild, sondern auch in der gelebten Erfahrung identifizieren kann. Es umfaßt das ungeklärte Rätsel, die kurzgeschlossene Metapher, die zufällig mitgehörte Bemerkung, den Fetisch, die zufällige Begegnung, die den Motor des Bewußtseins mit einem Ruck in einen höheren Gang schaltet, den Galgenhumor des Verurteilten, der noch am Fuße des Scheiterhaufens zu lachen imstande ist, das Straßenschild, das eine nicht näher bezeichnete Offenbarung verheißt ...
LITERATUR: Robert Short, Dada und Surrealismus, Stuttgart/Zürich 1984
    Anmerkungen
  1. Richard Sheppard, Aspects of European Dada, the limitations of vitalism, Seite 147, unveröffentlichte Dissertation, University of East Anglia, 1979