Sozialismus und soziale BewegungDie Quintessenz des Sozialismus | |||||
Die soziale Idee [3/4]
Die Entwicklung der Persönlichkeitsidee I. Der humane Individualismus An die Spitze der Gedankenbewegung des 19. Jahrhunderts, in der sich die Philosophie mit dem Gemeinschaftsproblem auseinandersetzte, stellen wir den humanen Individualismus. Es ist die Weltanschauung unserer deutschen Klassiker, die unter uns noch in dem Grad lebendig ist, wie die Namen HERDER, GOETHE, SCHILLER und WILHELM von HUMBOLDT, wenn wir auch wenig gewöhnt sind, sie in ihrer Beziehung zu sozialen Problemen zu denken. Im humanen Individualismus wird eigentlich die Seele des 19. Jahrhunderts geboren. Wenn wir versuchen, das Wesen der modernen Kultur als ein einheitliches und zusammenhängendes zu erfassen, so leitet uns das Heimatgefühl, das bei dieser Vertiefung entsteht, bis zu den Anfängen des humanen Individualismus zurück. Das 19. Jahrhundert als geschichtliche Größe, als Kultureinheit gefaßt, beginnt in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Hier liegen die zeitlichen Grenzen des Reiches, das dem modernen Menschen gehört. Noch sind die Wege, die sich von jenem Gipfel aus darboten, nicht alle begangen und hinter dem Horizont, der sich damals ausbreitete, ist noch kein neuer erschienen. Wie weit und bedeutsam der Schritt war, um den die Entwicklung der sozialen Idee im humanen Individualismus vorwärts rückte, kann nur an seinen historischen Vorbedingungen ermessen werden. Wir nehmen den Ausgangspunkt im 18. Jahrhundert. Es ist die Zeit der Herrschaft der deutschen Popularphilosophie, in die der großartige und tiefsinnige Rationalismus eines LEIBNIZ schließlich versandet war. In letzter Linie aus dem religiösen Individualismus des protestantischen Bewußtseins schöpfen, hatte der Rationalismus die Demokratie des Denkens neben die Demokratie des Glaubens gestellt, die Gedankenfreiheit neben die Gewissensfreiheit und damit dem kirchlichen Dogma und zugleich der staatlichen Autorität, die damals weit über kirchliche Fragen hinaus die geistige Bewegung in ihrem Bann hielten, neue Lebensgebiete entwunden. Er hatte das Reich der Lebensfragen erweitert, die der selbständigen Kritik und Entscheidung des Individuums unterworfen werden. Aus diesem Prinzip einer durch keinerlei Machtgebote zu beeinträchtigenden, unverletzlichen geistigen Freiheit des Einzelnen, die eine selbstverständliche Konsequenz seiner Selbstverantwortlichkeit in Gedanken und Gewissensfragen war, geht ein zweites noch mächtigeres Motiv hervor, nämlich der Gedanke der Gleichheit aller Menschen, als Träger jenes göttlichen Funkens, als Hüter der Vernunft, die der eigentliche Grund aller Menschenwürde und jedem in einem Funken geschenkt ist. Deshalb gehen dem Rationalismus mit seiner Forderung der Denk- und Gewissensfreiheit die sogenannten naturrechtlichen Gesellschaftstheorie parallel, die den Individualismus des Glaubens und Denkens übertrugen auf die Rechtsstellung des Einzelnen zur Gesellschaft, auf die Herrschaftverhältnisse im Staat, auf die politischen und sozialen Zusammenhänge. Freilich erhob sich die deutsche Philosophie noch keineswegs zum Gedanken einer Mitbestimmung des Volkes im Staatsleben. Dazu fehlten die sachlichen Vorbedingungen. Die sozialen und politischen Zustände schränkten den Bürger auf eine eng umgrenzte Privatexistenz ein, er konnte von seinem Winkel aus den Staat nicht einmal sehen, geschweige denn sich eine Mitarbeit aller an seinen Funktionen vorstellen. Alles, was der deutsche Bürger sub specie [unter dem Gesichtspunkt der - wp] Freiheit auf dem Herzen hatte, war der Wunsch, nicht mißbraucht und schikaniert zu werden. Und so ist der großartigste Ausdruck, auf den das Recht des Volkes der Regierung gegenüber gebracht wurde, das Wort FRIEDRICHs des Großen, daß der König der Diener des Staates sei. Im Bewußtsein seiner bescheidenen Rechtschaffenheit und Tugend erhob sich der Bürger zu dem Anspruch, daß diese Eigenschaften ihm die Anwartschaft auf ein friedliches, arbeitsames Dasein und auf eine angemessene Achtung seiner Menschenwürde erwürben. Der wohlwollende Despotismus ist die Form, in der man sich die neue Wertschätzung des Einzelnen als Selbstzweck, nicht als Mittel für die Zwecke des Herrschers allein vorstellen konnte. Der aufgeklärte Monarch, der seine Untertanen glücklich macht und ihnen den behaglichen Genuß ihrer bürgerlichen Tugendhaftigkeit sichert, das ist das deutsche Staatsideal. Nur eine positive Aufgabe wird dem Staat seinen Bürgern gegenüber zugeschoben, nämlich die, Aufklärung zu verbreiten. Hier liegt denn auch in der Tat eine wesentliche soziale Wirkung der Aufklärung und zwar ihre unmittelbar bedeutendste: sie stellte die Wissenschaft konsequenz in den Dienst des Lebens. Von THOMASIUS an, der diesen Gedanken zuerst aussprach und durch Einführung der deutschen Sprache im Universitätsunterricht verwirklichte, bis zu BASEDOW und den Philanthropen durchzieht das 18. Jahrhundert der sozialpädagogische Gedanke, daß Wissen gemeinnützig sein müsse, mitteilbar und verwertbar und daß es seinen Zweck erst erfülle, wenn es dem allgemeinen Wohl und dem praktischen Leben zugute komme. Die Wochenschriften, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehende umfangreiche populärwissenschaftliche Literatur, das Anschwellen der pädagogischen Interessen und Bestrebungen, das alles ist aus diesem Geist heraus geboren. Die wesentlichen positiven Leistungen der Aufklärung für die Entwicklung der sozialen Ideen sind also diese: sie schränkt die kirchliche Herrschaft über das geistige Leben ein und schafft dadurch der Wissenschaft Licht und Luft zur Entfaltung ihrer selbst nach ihren eigenen Gesetzen. Sie untergräbt den Machtgedanken, auf dem die politischen Herrschaftsverhältnisse beruhten, durch die Einsetzung eines objektiven Maßstabes - der Vernunft -, vor dem sie gerechtfertigt werden mußten, wenn sie auch in Deutschland noch nicht die politische Energie hatte, alle Konsequenzne dieses Prinzips zu entwickeln. Und schließlich: sie erreichte von den Regierungen die Anerkennung einer Verpflichtung , den Massen des Volkes Aufklärung, Wissen, Erziehung zu bringen und die Wissenschaft in den Dienst des Lebens zu stellen. Im 18. Jahrhundert liegt die eigentlichen Geburtsstunde der modernen Volksschule. Aber es stehen diesen positiven Leistungen des Rationalismus seine sehr stark befestigten Schranken gegenüber. Und diese werden für die Weiterentwicklung der sozialen Idee zu Hemmnissen. Sie liegen erstens darin, daß der Mensch lediglich als Vernunftwesen gefaßt wird. Alle seine anderen Fähigkeiten, seine sinnlichen Äußerungen, die Gefühlsseite, die ästhetischen Bedürfnisse, werden als belanglos und unwesentlich betrachtet. Dadurch entsteht ein zu enger Kulturbegriff und eine falsche Einschätzung der Kulturkräfte in Persönlichkeit und Gesellschaft. Denn die starken geschichtlichen Wirkungen sind nicht oder doch nur zum kleinen Teil, rationaler Art. Sie beruhen auf dunkleren, schwerer zu definierenden Kräften und bestehen in einer Ergriffenheit, die weit über das Reich der Erkenntnis und der Moralbegriffe hinausreicht. Darum war das, was der Rationalismus zur Kultur der Persönlichkeit und der Massen beibrachte, dürftig und unkräftig und raschem Verleben ausgesetzt. Und es läßt sich auf ihn das Wort WILHELM von HUMBOLDTs anwenden vom Schaden, "den das Formelle in unserer Erkenntnis dem Materiellen derselben gebracht hat und noch immer bringt." Der Rationalismus befreite das Individuum, aber nicht die Persönlichkeit. Das heißt, indem er die Selbstbestimmung des Menschen gegen irrationale Autorität und äußere Willkür sicher stellte, unterwarf er ihm zugleich einem rationalen Lebensideal, dessen Wessen darin bestand, obligatorisch zu sein und in dem für die geniale oder auch nur eigenartige Persönlichkeit kein Raum war. Ferner muß diese Verkennung der ganzen emotionallen Seite der menschlichen Natur zu einer einseitigen Auffassung der Gesellschaftsfragen führen. Indem man nämlich sehr optimistisch annahm, daß der Mensch mit einer natürlichen Fähigkeit, das Rechte zu erkennen und zu tun, ausgestattet sei, die man sich nur in Freiheit entwickeln zu lassen brauche, bereitete sich im Rationalismus die später so verhängnisvolle Theorie des laisser aller vor, die meint, daß die Gesellschaft bei vollkommen freier und unbeschränkter Entfaltung aller individuellen Kräfte am besten führe. Man verkannte eben, wie das einmal der englischen Staatsmann BURKE ausgesprochen hat, daß der Mensch nicht nur aus Vernunft, sondern noch aus allerhand anderen Kräften bestehe, die sich unter Umständen stärker zur Geltung bringen als jene. Ein zweiter Mangel in der rationalistischen Auffassung der Gesellschaft ist die Überschätzung jener abstrakten Gleichheit aller Menschen als Träger der Vernunft. Dabei wird übersehen, daß die Gesellschaft eben nicht lediglich ein moralisches, ein Rechtsverhältnis zwischen gleichen Individuen ist, sondern ein Organismus, in dem die verschiedenartigsten Kräfte in mannigfachster, durch die menschliche Vernunft nicht zu kontrollierender und noch weniger zu regelnder Weise aufeinander wirken. Die Aufmerksamkeit wurde mit der Energie, die das sittliche Ideal der Gerechtigkeit noch immer entfesselt hat, von der tatsächlichen Verschiedenheit der Menschen in Beanlagung und Leitungen abgelenkt und einseitig auf ihre moralische Gleichheit eingestellt. Mit dieser einseitigen Auffassung der Gesellschaft geht Hand in Hand eine Unterschätzung der historischen Bedingungen, auf denen alle gesellschaftliche und staatliche Entwicklung beruth, jene Unterschätzung, die im Fiasko der französischen Revolution ihre gewaltigste Korrektu durch die Weltgeschichte erlebte. Indem man nur die Vernunft als Gesetzgeberin für Staat und Gesellschaft gelten lassen wollte, übersah man, daß die Zustände hier an eine Reihe geschichtlicher Bedingungen, wirtschaftlicher Verhältnisse, ethnographischer Umstände etc. gebunden sind und daß man nicht beliebig die vollkommene Staatsform auf irgendwelche Kulturzustände aufpflanzen kann. Der Rationalismus spürte nicht, daß die gesetzgeberische Schwierigkeit die ist, in die formalen Kategorien die historischen Posten richtig einzusetzen. Er sah in der Gesellschaft eben überhaupt nicht ein in sich zusammenhängendes organisches Gebilde, eine Symbiose, sondern er sah nur eine beliebige Summe einzelner abstrakter Individuen, Vernunftträger, die sich über die Formen ihres Zusammenlebens in vernunftgemäßer Übereinkunft geeinigt haben und ihre Rechte und Pflichten nach vernünftigen Gesetzen gegeneinander abgrenzen. Im Gegensatz zu ihrer Einseitigkeit entsteht nun die Gesellschaftsbetrachtung des humanen Individualismus. Ihr Begründer ist HERDER. Zwar hatte schon LESSING seine mächtige Individualität über die Schranken dieses kleinbürgerlichen und subalternen Lebensideals trotzig hinausgereckt und auf Kosten einer kümmerlichen Korrektheit vielfältigere, reichere und fruchtbarere Beziehungen zu Welt und Leben gesucht. In seinem kräftigen Persönlichkeitsgefühl - mehr noch als in seinen künstlerischen Instinkten - hatte er das Organ, das ihn für das Recht der Sonderart, das Eigene, nicht Generalisierbare im Menschen empfänglich machte. Und eben daraus gewinnt er die Vorstellung einer Berechtigung, die nicht in der Übereinstimmung mit abstrakten Gesetzen, sondern mit den Bedingungen und dem Wesen einer bestimmten Zeit besteht. Diese Einsicht bildet er fort zu dem Begriff einer Entwicklung der Menschheit, in deren Verlauf eine jede geschichtliche Epoche das Ideal auf ihre Art und mit ihren Mitteln ausprägt, so daß eine aufwärts führende Linie dauernder Annäherung an das höchste Ziel entsteht. Und schon formuliert er den Gedanken, daß nicht im Besitz, sondern im Erstreben der Vollkommenheit der Sinn des Lebens liege. Aber diese Gedankenreihen waren doch immer noch zu fest in das Begriffsschema des Rationalismus gespannt, um zu einer wirklichen Auflösung und Neuschöpfung des rationalistischen Kulturbegriffs, seiner Vorstellungen von der Persönlichkeit und dem Zusammenhang der Gesellschaft führen zu können. Eine andersartige Erweichung dieses Schemas bringt ROUSSEAU. Er wendet sich gegen die Aufklärung, weil sie das Gewicht der geistigen Persönlichkeit in den Verstand verlegte und stellt ihr den vom Gefühl beherrschten Menschen als den vollkommenere und wertvolleren Typus gegenüber. Und zwar, weil der Mensch sich im Gefühl als einfach und ganz, frei und ursprünglich erlebt, während der Verstand ihn zersetzt und zerspaltet, an Regeln bindet und in unnatürliche Beziehungen (rapports artificiels [künstliches Geschehen - wp]) hineingezwängt. In der amour de soi [Selbstliebe - wp] spricht sich der Drang der Persönlichkeit aus, sich in ihrer Totalität frei und ungehemmt durch äußere Normen zu entfalten. Aber dieser Idealtypus ROUSSEAUs, der ursprüngliche Mensch, ist aller individuellen Sonderart bar, er ist das in allen Menschen vorhandene gleichartige Stück Natur, eben der Mensch schlechthin und alle inégalité ist Verzerrung, die der Kultur zur Last fällt. Dadurch ist ROUSSEAUs Gesellschaftsauffassung bestimmt. Der Eintritt des Menschen in die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist eine Entäußerung vom Besten, was er hat, seiner Ganzheit und Einfachheit. Er spaltet sich in Mensch und Berufsmensch, Mensch und Bürger und verzichtet darauf, er selbst zu sein. Die Überleitung von diesem Gedanken zu ROUSSEAUs Gesellschaftstheorie ist der Gedanke, daß dieser Zwiespalt überwunden werden müsse, indem die Gesellschaft in ihrer volonté générale [allgemeiner Wille - wp] wieder diese reine Idee des Menschen zur Geltung bringe. Und indem der Einzelne sich zu dieser volonté générale durch die Überwindung seiner subjektiven Einschränkung erhebt, und indem der Staat dem Einzelnen einen aktiven Anteil an der Bildung der volonté générale sichert, kann der Mensch in der Gesellschaft die verlorene Ganzheit der Idee nach wiederfinden. Trotzdem hier ein neues und fruchtbares Kriterium der Persönlichkeit - ihre Äußerung im Gefühl - gefunden, trotzdem ihr Wert in sie selbst, ihre Totalität, statt in ihre Übereinstimmung mit äußeren Maßstäben gesetzt wird, bleibt auch hier die rationalistische Schranke: dieses gegenüber der Aufklärung erweiterte, aber doch noch einförmige Ideal des Menschseins ist wieder nicht imstande, die Mannigfaltigkeit des Menschentums, die Individualität zu umfassen. Und aus diesem nicht individualisierbaren Persönlichkeitsideal ergibt sich das Ideal einer vollkommen strukturlosen Gesellschaft. HERDER erst löste die letzten rationalistischen Fesseln, in die der Persönlichkeitsbegriff und die Auffassung des sozialen Lebens eingeschlossen war. In HERDERs Reisetagebuch vom Jahre 1769 haben wir das erste Dokument seiner Loslösung vom Rationalismus. Hinter sich die kleinlichen Verhältnisse, aus denen er sich befreit hatte, in der Spannung einer jugendlich unbestimmten, aber jugendlich ausgreifenden Lebenserwartung, in der großartigen Einsamkeit einer langen Meerfahrt, erlebt er eine jener Erlösungen, die welt- und kulturgeschichtliche Bedeutung haben. "Wie eine im Sturm aufgehängte Aeolsharfe", so sagt sein Biograf RUDOLF HAYM, klingt seine Seele von der Macht des neuen Lebensgefühls, das über sie hinbraust. Die sich überstürzenden wissenschaftlichen Pläne quellen aus der Fülle einer großen Intuition: "Welche große Aussicht auf die Natur der Menschen und Seegeschöpfen und Klimata, um sie, und eins aus dem andern und die Geschichte der Weltszenen zu erklären". Darin liegt die Idee einer organischen Einheit alles Seienden, die nicht mehr wie bei LEIBNIZ in einem transzendenten Weltzusammenhang besteht, sondern in einer Gesetzmäßigkeit des Werdens. Diese Gesetzmäßigkeit zu erfassen, ist der Begriff nicht das geeignete Organ. Sie wird vielmehr geahnt in der kongenialen Anschauung. Nur wer sie schaut, kann die große Aufgabe der Bildung des Menschengeschlechts erfassen. Man darf diese Gesetzmäßigkeit nicht wie MONTESQUIEU nur in den bewußten und zweckvollen Regelungen der Gesellschaft aufsuchen; sie kann vielmehr nur durch eine Natur geschichte des Menschengeschlechts festgestellt werden, die alle Dunkelheiten seines unbewußten Lebens mit umfaßt. Nicht an den Kulturvölkern allein, sondern an den lebendigsten - und das sind die wilden und die halbwilden, die gesittet zu werden anfangen - sind die treibenden Kräfte für die Entwicklung der Menschheit aufzusuchen. Und dem Blick, der sich hier für die Erkenntnis der elementaren Wesenheit eines Volkes geschult hat, wird deutlich werden, daß auch die Äußerungen höchster Kultur nur der verfeinerte Ausdruck einer in mannigfachen ethnographischen Bedingungen und ursprünglichen Anlagen wurzelnden Volksseele sind. Niemals also ist weder ein Gesetz noch eine Staatsordnung, weder eine Sitte noch ein Rechtsbegriff etwas Absolutes, sondern sie alle haben ihren Sinn nur in ihrem historischen Zusammenhang, im Rahmen der jeweiligen Entwicklungssphase. Und schon schreitet HERDER über die Schranken seines Lehrmeisters ROUSSEAU kühn und bewußt hinaus, indem er den Menschen in seiner organischen Eingliederung in die Gesellschaft erfaßt und sein Bildungsideal nicht nur für ein isoliertes, sondern für ein im vollen Sinne soziales Dasein prägt. Diese gewaltige neue Konzeption diente HERDER nun zunächst nur zur Deutung von Sprache, Dichtung und Religion aus dem Gesamtcharakter und dem Leben eines Volkes. So brach er die Macht des Rationalismus in der Literatur. Das Problem der Gesellschaft als solcher wird erst in das Licht dieser neuen Anschauungen gerückt durch die Schrift "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". Schon 1774 geplant und skizzenhaft angelegt, beschäftigte ihn dieses Werk in den achtziger Jahren intensiver und fand, ein Torso, erst im Jahre 1791 seinen endgültigen Abschluß. Die viel später erscheinenden Briefe zur Beförderung der Humanität bringen Ausführungen des Grundgedankens der Ideen nach den verschiedensten Richtungen hin, aber in einer zerfließenden, trotz einzelner Schönheiten unfruchtbaren Form Es ist wesentlich, daß die Ausarbeitung der Ideen in der Zeit eines neuen Freundschaftsbundes zwischen HERDER und GOETHE vor sich ging und ebenso bedeutsam ist es, daß GOETHE gerade in jener Zeit mit den Forschungen beschäftigt war, die ihn zur Entdeckung des Zwischenknochens und damit zum Grundgedanken einer Morphologie führten. GOETHE selbst bemerkt in einer späteren Notiz zur Morphologie: "Meine mühselige qualvolle Nachforschung ward erleichtert, ja versüßt, indem HERDER die Ideen zur Geschichte der Menschheit aufzuzeichnen unternahm. Unser tägliches Gespräch beschäftigte sich mit den Uranfängen der Wassererde und der darauf von altersher sich entwickelnden organischen Geschöpfe; der Uranfang und dessen unablässiges Fortbilden ward immer besprochen und unser wissenschaftlicher Besitz durch wechselseitiges Mitteilen und Bekämpfen täglich geläutert und bereichert." In den "Ideen" erscheinen die Gedanken des Reisetagebuchs geklärt und befestigt wieder. Ihre Grundlage bildet der Gedanke der Entwicklung. Der französische Kulturhistoriker TAINE hat einmal gesagt: von allen Kulturvölkern sei es Deutschland, das die Ideen des 19. Jahrhunderts bestimmt, das für die gesamte europäische Gedankenarbeit gewissermaßen das Motiv gegeben habe und zwar dadurch, daß es die Idee der Entwicklung in die philosophische Gedankenwelt einführte. "Durch diesen Gedanken haben die Deutschen den Geist von Zeitaltern, Zivilisationen und Rassen erfaßt und das, was nur ein Haufen von Tatsachen war, umgewandelt in ein System geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten." Den größten Anteil an diesem Einfluß hat ohne Zweifel HERDER. Wenn auch seine Ideen überall da, wo sie sich auf die Ergebnisse der Einzelforschung stützen müssen, unhaltbar und durch die Folgezeit überwunden sind, so hat er doch das Verdienst jenes unabsehbar fruchtbaren Gedankens, daß es möglich sein müsse, Gesetze des Werdens zu finden und daß diese Gesetze, Natur und Menschenwelt umspannend, imstande sein müßten, die ganze Summe der einzelnen Tatsachen, aus denen sich Werden und Vergehen in scheinbar regelloser, willkürlicher Folge zusammensetzt, unter große einheitliche Notwendigkeiten einzuordnen. Was HERDER hier, wie er einmal JACOBI gegenüber sagt, "im Schattenraum vorschwebt", ist die Beantwortung der Frage: Bleibt nicht aus jeder Entwicklungssphase der Welt ein letztes Fazit, auf dem die folgende Stufe des Werdens aufbaut und läßt sich in der Kette dieser bleibenden Elemente, die sich aus allem Verfallenden, Vergänglichen leuchtend hervorhebt, eine bestimmte gesetzmäßige Folge erkennen, eine innere Gliederung, die uns gestattet, Anfang und Ende einer Reihe zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufassen? Gewiß kann unser Verstand die Welt des Seins in Begriffe zusammenfassen und gleichsam ein Netz der Ordnung und des Systems über die Dinge spannen; aber die Frage ist: wohnt ihnen selbst eine solche Ordnung inne oder vielmehr: erzeugen sie eine solche aus sich selbst? Im Vorwort führt HERDER diesen Gedanken in seiner kräftigen und plastischen Sprache in folgenden Worten aus: "Der stolze Mensch wehrt sich, sein Geschlecht als eine Brut der Erde und als seinen Raub der alles-zerstörenden Verwesung zu betrachten; und dennoch drängen Geschichte und Erfahrung ihm nicht diese Bild auf? Was ist denn Ganzes auf der Erde vollführt; was ist auf ihr Ganzes? Sind also die Zeiten nicht geordnet, wie die Räume geordnet sind? und beide sind ja die Zwillinge eines Schicksals. Jene sind voll Weisheit; diese voll scheinbarer Unordnung; und doch ist offenbar der Mensch dazu geschaffen, daß er Ordnung suchen, daß er einen Fleck der Zeiten übersehen, daß die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen soll: denn dazu hat er Erinnerung und Gedächtnis. Und macht nun nicht eben dieses Bauen der Zeiten aufeinander das Ganze unseres Geschlechts zum unförmlichen Riesengebäude bleibt, was nie hätte gebaut werden sollen und in Jahrhunderten endlich alles ein Schutt wird, unter dem, je brüchiger er ist, die zaghaften Menschen desto zuversichtlicher wohnen? - Ich will die Reihe solcher Zweifel nicht fortsetzen und die Widersprüche des Menschen mit sich selbst, untereinander und gegen die ganze andere Schöpfung nicht verfolgen. Genug, ich suchte nach einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, wo ich suchen konnte." Daß es HERDER nicht gelingen konnte, für diese umfassendste wissenschaftliche Frage, die überhaupt gestellt werden konnte, eine befriedigende oder gar endgültige Antwort zu finden, weiß er selbst. Er sagt es mit den schönen und großartigen Worten, mit denen er sein Vorwort am 23. April 1784 schließt: "Und so lege ich, großes Wesen, Du unsichtbarer hoher Genius unseres Geschlechts, das unvollkommenste Werk, das ein Sterblicher schrieb und in dem er Dir nachzusinnen, nachzugehen wagte, zu Deinen Füßen. Seine Blätter mögen verwehen und seine Charaktere zerstieben; auch die Form und Formeln werden zerstieben, in denen ich Deine Spur sah und für meine Menschenbrüder auszudrücken strebte; aber Deine Gedanken werden bleiben, und Du wirst sie Deinem Geschlecht von Stufe zu Stufe mehr enthüllen und in herrlichern Gestalten darlegen. Glücklich, wenn alsdann diese Blätter im Strom der Vergessenheit untergegangen sind und dafür hellere Gedanken in den Seelen der Menschen leben." So also versucht er in den Ideen, die Welt als ein sinnvolles Ganzes zu begreifen, in dem alle Erscheinungen aufeinander bezogen, durcheinander bestimmt sind, ineinander ruhen. In monistischer Erfassung der Erscheinungswelt ordnet er Natur und Kultur in eine fortlaufende aufsteigende Linie, in der nirgends ein Riß oder Bruch ist, sondern eins mit dem andern durch Ursache und Wirkung, durch Voraussetzung und Folge verbunden ist. Die Geschichte der Menschheit setzt ein nicht mit ADAM, sondern mit viel weiter zurückliegenden Grundbedingungen, nämlich der Lage der Erde im Sonnensystem; sie setzt sich fort in der Entwicklung der organischen Welt, aufsteigend von den niedrigsten Lebewesen zu Pflanzen und Tieren. In der Bestimmung der treibenden Kraft dieser Entwicklung hat HERDER schon den Darwinismus in genialen Intuitionen vorausgenommen. Der Gedanke vom Kampf ums Dasein mit dem Zweck, die Gattung zu steigern und zu erhalten durch den Sieg der Tüchtigsten, findet sich hier bereits ganz klar angedeutet. Der Mensch gilt als Fazit, Inbegriff und Gipfel der Entwicklungsreihe, die aus dem Tierreich aufwärts führt. Ohne tiefere Einschnitte setzt seine Fortentwicklung durch die Kultur am Schluß dieser Entwicklungsreihe der Natur ein. Der Mensch ist ein Produkt aus den ethnographischen klimatischen Verhältnissen, in die er hineingestellt ist und der in ihm ruhenden bildenden Kraft, seinem formalen Prinzip, seiner Dominante. Seine ganze seelische Gestaltung, die Empfindlichkeit seiner Sinne und das Spiel seiner Phantasie, der Inhalt seiner religiösen Vorstellungen und das Wesen seiner sittlichen Ideen spiegelt den Einfluß seiner Umgebung. "Der Metaphysiker", sagt HERDER mit deutlicher Wendung gegen die geschichtslose Auffassung des Rationalismus, "hat es hier leichter: er setzt einen Begriff der Seele fest und entwickelt aus ihm, was sich entwickeln läßt, wo und in welchen Zuständen es sich auch finde". Ihm entgeht das Weben der lebendigen Kräfte, die aus dem Boden der Heimat in alle Zellen des menschlichen Wesens aufsteigen. Er glaubt darum, durch "Aufklärung" alle Veränderungen der menschlichen Natur bewirken zu können. HERDER spricht nicht von Veränderungen, sondern von "Verartungen", die sich nur ganz langsam im Zusammenwirken aller schaffenden Kräfte vollziehen. Welches ist nun das Ziel der Entwicklung, deren Gesetze und deren Wesen HERDER dargelegt hat? Der Rationalismus würde sagen: das Ziel ist die Herrschaft der Vernunft. HERDER sagt: das Ziel ist die Humanität. Dieser Begriff hab bei ihm einen anderen Sinn als den, in dem wir heute gewohnt sind, ihn zu gebrauchen. Er bedeutet nämlich die volle harmonische Entwicklung des menschlichen Typus nach allen in ihm angelegten Richtungen und Kräften. Statt daß eine geistige Kraft des Menschen, die Vernunft, über alle anderen erhöht und von ihr allein Wert und Würde des Menschen abhängig gemacht wird, schafft HERDER den Begriff der voll entwickelten, nach der Seite des Willens, der Sinne, des Gefühls gleichmäßig ausgebildeten Persönlichkeit. "Nur auf dem Gebrauch der ganzen Seele, insonderheit ihrer tätigen Kräfte, ruht der Segen der Gesundheit. In den Briefen zur Beförderung der Humanität wendet HERDER diesen Begriff in noch schärferer Fassung kritisch gegen den Rationalismus. Die spezialistische Verfeinerung des Vestandes ist kein Kulturfortschritt, im Gegenteil, sie schwächt die Energien der Persönlichkeit: "Unsere Fähigkeiten verwelken auf diesem prangenden Kreuz." Die Entwicklung des Menschen beginnt auch nicht mit der Ausbildung des Verstandes, sondern mit der Verfeinerung der Sinne. Ja, schließlich löst sich auch die Vernunft, jenes letzte absolute gesetzgeberische Prinzip im Menschen, für HERDER im Strom des Werdens auf. Sie ist ihm nichts Einfaches und Eindeutiges, sondern eine Kraft, die entstanden ist durch Vergleichen und Verknüpfen, durch das fortgehende Werk der Bildung des menschlichen Lebens. Sie ist dem Menschen nicht angeboren, "sondern er hat sie erlangt und nachdem die Eindrücke sind, die er erlangt, die Vorbilder, denen er folgte, nachdem die innere Kraft und Energie waren, mit der er diese mancherlei Eindrücke zur Proportion seines Innersten verwandt, nachdem ist auch seine Vernunft reich oder arm, krank oder gesund, verwachsen oder wohl erzogen wie sein Körper." Damit ist auch das letzte konstante Element des Begriffs "Mensch", das letzte Merkmal der Gleichheit aller, der wandelbaren Mannigfaltigkeit des Lebens geopfert. Auch die Vernunft unterliegt der formenden Kraft der äußeren Verhältnisse und der Dominante der Persönlichkeit. Es gibt kein gemeinsames Ideal der Vollkommenheit. Vollkommenheit ist keine Beschaffenheit, sondern das Verhältnis von Beschaffenheiten zueinander, Harmonie, Form. Jeder Einzelne hat zur Gestaltung seines Wesens einen eigenen Weg. Fortschritt der Menschheit ist nicht Steigerung einzelner Kräfte und Leistungen, sondern Erhöhung des Typus. Und indem diese Höherentwicklung des menschlichen Typus in der Gesamtheit seiner Anlagen als Ziel der Kultur aufgestellt wird, faßt HERDER schon einen ähnlichen Gedanken wie den des NIETZSCHEschen Übermenschen, zu dem die Gegenwart nur die Brücke bilden solle. Denn HERDER richtet wie NIETZSCHE den Blick hinaus in dem Glauben, daß die Entwicklung heute nicht abgeschlossen ist, sondern über den gegenwärtigen Typus zu einem höheren hinaufführen muß. Da wird das Begriffsnetz des Rationalismus bis auf die letzte Masche zerrissen und über der Fülle der Erscheinungen, die nun wieder in ungeordneter wildwüchsiger Buntheit vor ihm liegen, schaut HERDER in unbestimmten, verschwimmenden Zügen - aber doch ihres Sinnes und ihrer Wahrheit gewiß - die neue Einheit der , des gestalteten Lebens. Jeder Versuch sie festzuhalten und mit Worten nachzuformen, bleibt widerspruchsvoll und vor allem nach der begrifflichen Seite unzulänglich. Und doch schlummert in diesen dunklen und ungelenken Worten die kommende Wahrheit. Mit dieser Bestimmung der Individualität - statt des abstrakten Individuums als der sozialen Einheit, hängt nun auch eine neue Auffassung der Volksgemeinschaft zusammen. Sie ist auch eine Individualität, ein Organismus ineinanderwirkender Kräfte, dessen Wesen so wenig in den rationalen Zusammenhängen, in der Staatsform und den Gesetzen beruth, wie das Wesen des Einzelnen in der Vernunft. Im Zusammenhang von HERDERs Entwicklungsbegriff bekommt die Gesellschaft eine neue überragende Bedeutung als Kulturschöpferin. Sie schafft Kulturtraditionen, die, von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben, der bleibende und stetig vermehrte Hort sind, aus dem der einzelne Mensch sein höheres Leben nährt und ohne den er nichts sein würde. Auch hier wendet sich HERDER gegen den ehrfurchtslosen Dünkel der Aufklärung - des "europäischen Pöbels", - die sich alles selbst zu verdanken meint. "Kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch geworden. Das ganze Gebilde der Humanität in ihm hängt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen, das irgend in einem Gliede eine seiner Seelenkräfte berührte." "Wo und wer du geboren bist, o Mensch, da bist du, der du sein solltes: verlaß die Kette nicht, noch setze dich über sie hinaus; sondern schlinge dich an sie. Nur in ihrem Zusammenhang, in dem, was du empfängst und gibst und also in beidem Falle tätig wirst, nur da wohnt für dich Leben und Friede." Mit diesen Gedanken ist zugleich die Haltung ruhigen Verstehens für alle Erscheinungen des geschichtlichen Lebens gewonnen. Ist man einmal zu der Erkenntnis vorgedrungen, daß jede Stufe der menschlichen Entwicklung durch sich selbst, als ein Glied in der Kette der Bildung, wertvoll ist, so darf keine noch so gewaltsame Veränderung in der Geschichte der Menschheit einen erschrecken. Ganz und wenig kann ohnedies kein Menschendenkmal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Händen der Zeit für die Zeit errichtet war und augenblicklich der Nachwelt verderblich wird, sobald es ihr neues Bestreben unnötig macht oder aufhält. HERDER beschließt diesen Gedankengang mit einer Apotheose [Vergötterung - wp], wie sie etwa KANT an den Pflichtbegriff richtet: "Goldene Kette der Bildung, du, die die Erde umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron der Vorsehung reicht, seitdem ich dich ersah - ist mir die Geschichte nicht mehr, was sie mir sonst schien, ein Greuel der Verwüstung auf einer heiligen Erde. - Das Maschinenwerk der Revolutionen irret mich also nicht mehr, es ist unserem Geschlecht so nötig, wie dem Strom seine Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf werde. Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität auf und zieht palingenetisch [wiedergebürtlich - wp] in Völkern, Generationen und Geschlechtern weiter." Aus dieser Einschätzung der Gesellschaft als der Macht, von der der Einzelne sein geistiges Leben empfängt, ließe sich nun eine unbedingte Überordnung der gesellschaftlichen Zwecke über die des Einzelnen ableiten. Wir werden sie später aus einer gleichartigen Auffassung der Entwicklung gefolgert finden bei COMTE. HERDER zieht diese Konsequenz nicht. Er bleibt trotz dieser Wertschätzung der Gesamtheit Individualist, ja, er wird durch sie Individualist. Wenn er auch zugibt, daß ohne das Zusammenwirken der Menschen von Generaton zu Generation der Einzelne nichts wäre und nichts werden könnte, so erscheint ihm doch als Oberwert, gewissermaßen als höchstes Gut der Kultur, als Zweck dieser durch die Gesamtheit geschaffenen Entwicklung die Individualität. Sie ist Repräsentant dessen, was die Gattung erarbeitete, ihr jedesmaliger Gipfel und ihr letztes Ziel. In ihr kommt zu Bewußtsein und Erscheinung, was die Gesamtheit an verborgenen Kräften und Schätzen aus fernen Jahrtausenden in die Gegenwart herübertrug. Der Staat erscheint HERDER als ein künstliches Gebilde, ja eigentlich als ein notwendiges Übel. Da er in seiner organischen Auffassung des menschlichen Zusammenlebens vor allem die sogenannten natürlichen, die ganze Persönlichkeit in Anspruch nehmenden Zusammenschlüsse, Familie, Freundschaft usw. für die wesentlichen Hält, so dünken ihn nur die sozialen Bande wertvoll, dauerhaft und für die Kultur fruchtbar, die freiwillig von Mensch zu Mensch geschlossen werden, innerhalb deren die Persönlichkeit als solche zu ihrem Recht kommen kann. Das Verhältnis des Einzelnen zur staatlichen Gemeinschaft ist etwas so Abstraktes, so unendlich Mittelbares und Fernes, daß im Grunde wenig darauf ankommt, wie es sich gestaltet. In scharfer Frontstellung gegen KANT betont er deshalb, daß es sinnlos sei zu verlangen, daß der Einzelne sich den Zwecken der Gesamtheit unterordne und für den Staat stellt er das Prinzip auf, das sich aus seiner Eigenschaft als notwendiges Übel von selbst ergibt, nämlich sich so wenig als möglich bemerkbar zu machen und in die natürlichen, fruchtbaren menschlichen Zusammenschlüsse, in den freien ungeregelten Kulturaustausch, in die organisch wachsenden geistigen Lebensmächte, wie Religion, Kunst usw. möglichst wenig regulierend einzugreifen. Des letzten Restes von elementarem, natürlichem Zusammenhalt entäußert sich der Staat dann, wenn er nicht mehr Nationalstaat ist. Der Rationalismus war kosmopolitisch; ihm schien es, falls nur das Staatssystem vernunftgemäß war, vollkommen gleichgültig, welche Summe von Menschen unter ihm vereinigt und durch seine Gesetze zusammengefaßt war. HERDER stellt demgegenüber das Prinzip des nationalen Zusammenschlusses auf, weil nur dann die Staatsform der Volksart angepaßt sein könne und die Gleichheit, mit der sie für alle Bürger angewendet wird, einer natürlichen Gleichheit und Humanität entspricht. Auch damit hat HERDER einen ganz modernen Gedanken durchgeführt und wir meinen die Formel für die Nöte so mancher modernen Staaten zu hören, wenn er sagt, "das Menschenzepter sei viel zu schwach und klein, daß so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten. Sie würden nur zusammengeleimt in eine brechliche Maschine, die man Staatsmaschine nennt, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander." Ein merkwürdiges Schauspiel, wie hier in einem Geist die Motive für die Gedankenwelt eines ganzen Jahrhunderts aufsprießen. Keimhaft, ungestaltet, ungeordnet, wie unter einem Himmel voll dunkler schwerer Fruchtbarkeit. Immer verleitet die instinktive Sicherheit, mit der hier bei aller theoretischen Hilflosigkeit, das Wesen kommender Werte erfühlt ist, dazu, in der Darstellung von HERDERs Gedanken die Linien schon bestimmter zu ziehen, als er selbst sie gesehen hat. Unverlierbar sind bei aller Anfechtbarkeit im einzelnen einige große Intuitionen für die Entwicklung der sozialen Idee gewonnen: Die Vorstellung von der "Persönlichkeit", die gestaltete Kultur ist, die Form, die das geistige Prinzip der Welt aus sich heraustreibt, in der es greifbar und anschaulich wird. Und daneben die Idee der Gesellschaft als eines Organismus, innerhalb dessen jede Erscheinung durch die Summe der andern bestimmt ist, die fester noch als durch bewußte und vernunftgemäße Ordnungen durch das ungeschriebene Gesetz der "Bildung des Menschengeschlechts" zusammengehalten wird. Ferner: die Ahnung von der Bedeutung der Gesellschaft als Trägerin und Vermittlerin der Kultur durch die Weite der Jahrhunderte. Und schließlich die Bestimmung des Fortschritts durch den Begriff der "Humanität" und damit die Unterstellung aller menschlichen Zustände unter das Kriterium persönlicher Kultur. Die Eiseitigkeit dieser Konstruktion ist auffallend genug. Es fehlt sozusagen die eine Hälfte der Welt, nämlich die des bewußten, sich selbst bestimmenden, die Welt nach Ideen planvoll gestaltenden Handelns. Der Mensch wird ausschließlich in der Passivität des Werdens erfaßt; die Kultur treibt ihn gewissermaßen aus sich hervor, ohne sein Zutun. Alle seine Lebensbeziehungen erscheinen naturhaft, wie die Abhängigkeit und Selbstbehauptung der Pflanze in ihrer Umgebung. darum liegt der Staat eigentlich außerhalb des HERDERschen Gesellschaftsbegriffs. Er ist etwas Künstliches, Gemachtes, fast eine Entgleisung und ein Irrtum. Aber nur bei dieser Einseitigkeit war eine Überwindung des Rationalismus möglich. Und wenn HERDERs Ideen eben um der Blößen willen, die sie der philosophischen Kritik gaben, eine direkte Wirkung auf die Wissenschaft nicht hatten, so reiften ihr umso schönere Früchte in der Kunst. Und erst auf einem Umweg, - dem über GOETHEs Dichtung, die das Lebensgefühl, das HERDERs Ideen diktierte, in künstlerischer Gestaltung aussprach - kam der humane Individualismus zur Philosophie zurück. |