ra-3cr-2ra-2Th. LittW. StarkE. SprangerM. HorkheimerRokitansky    
 
KARL MANNHEIM
Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie
[3/3]

"Die erkenntnistheoretische Situation kommt dadurch zustande, daß wir das in den Wissenschaften als  Tatsache Gegebene als  Erkenntnis betrachten, daß wir es als drittes Glied zwischen die beiden Endglieder der Korrelation von Erkennendem und zu Erkennendem hinein versetzen."

"Da die uns gegebene Erkenntnis aufgrund ihrer Voraussetzungen wertvoll ist, so wird nunmehr  (nachträglich) ein System konstruiert, durch das es einsichtig wird, wie sie als solche in unseren Besitz gelangen konnte; oder wie  Bela Szalay dieselbe Aufgabe doppelseitig formulierte: Wie muß der Erkennende beschaffen sein, damit er das Zu-Erkennende in der Tat erkennen kann, und wie muß die Erkenntnis beschaffen sein, damit sie zur gültigen Erkenntnis des Erkennenden zu werden vermag?"

"Obwohl wir uns dessen bewußt sind, daß die sogenannte  unmittelbare Beschreibung keineswegs so  unmittelbar ist, wie es die naive Meinung behaupten möchte, da auch sie mit Begriffen arbeitet, die eine theoretische Struktur und einen systematischen Ort haben; - so gibt es dennoch eine Differenz zwischen  Beschreibung und  Konstruktion. Beschreiben kann man nur etwas, was  irgendwie vorgegeben ist;  konstruieren, folgern, muß man dort, wo uns die Fragestellung  hinter das Vorgegebene zu greifen zwingt."


5. Ausgangspunkte einer Typologie
der Erkenntnistheorien.

Durch die Herausstellung und Analyse der Subjekt-Objekt-Korrelation sind wir im Besitz der wichtigsten Faktoren der erkenntnistheoretischen Begriffsbildung. Die Subjekt-Objekt-Korrelation ist für die Erkenntnistheorie derart konstitutiv, daß man sagen kann: ein jeder Gedankengang nimmt in dem Moment einen erkenntnistheoretischen Charakter an, in welchem diese Korrelation als eine wenn auch nur stillschweigende Voraussetzung hineingerät; hingegen büßt selbst die prägnanteste Erkenntnistheorie diesen ihren Charakter sofort ein, wenn im Laufe der inneren Dialektik eines dieser beiden aufeinander bezogenen relativen Glieder verabsolutiert wird, wodurch jene Korrelation ihrem Sinn nach notwendig als aufgehoben erscheint.

Um mögliche Äquivokationen [Gleichlaut des Wortes bei Verschiedenheit der Sache - wp] zu vermeiden, wollen wir den Terminus der Subjekt-Objekt-Korrelation durch den vom Erkennenden zum zu Erkennenden ersetzen und unsere bisherigen Behauptungen in diesem Sinne neu formulieren: die erkenntnistheoretische Situation kommt dadurch zustande, daß wir das in den Wissenschaften als "Tatsache" Gegebene als "Erkenntnis" betrachten, daß wir es als drittes Glied zwischen die beiden Endglieder der Korrelation von Erkennendem und zu Erkennendem hinein versetzen. Hierdurch entsteht die dreigliedrige Relation der Erkenntnistheorie: der Erkennende, das Erkannte (die Erkenntnis) und das zu Erkennende.

Jede erkenntnistheoretische Systematisierung ist auf die Setzung dieser drei Glieder gegründet, und jede mögliche Problemstellung ergibt sich aus der (auch logisch sinnvollen) Kombination dieser drei Glieder.

Demnach ist eine aufzustellende Typologie der Erkenntnistheorie vor folgende Aufgabe gestellt: es gilt für sie, nachzuweisen, daß die Zahl der möglichen Problemstellungen an diese logische Struktur gebunden ist, und zu untersuchen, wie diese einfache Situation durch die aus den einzelnen Grundwissenschaften geliehenen Begriffe und Korrelationen kompliziert wird. Auf diese Weise wird dann sichtbar, wie aus dem allgemeinsten Schema der erkenntnistheoretischen Systematisierung die inhaltlich noch so kompliziertesten System entspringen, - welches einfache, logisch-formale Gerüst all die inhaltlich so verschiedenen Motive doch in einen Gedankengang bannt.

Aber nicht nur eine logische  Typologie der möglichen Problemstellungen  läßt sich herstellen, sondern auch die Zahl der möglichen Lösungsversuche der so gestellten Probleme ist in gleicher Weise begrenzt; deshalb kann auch eine  Typologie der möglichen Lösungen  aufgestellt werden. Als Vervollständigung einer Typologie der Problemstellungen und Problemlösungen muß schließlich die wichtigste Frage aufgeworfen werden: wie nämlich das einmal gestellte Problem die möglichen Lösungen determiniert; gewisse enge  Zusammengehörigkeiten zwischen Problemstellung und -lösung  müssen dargelegt werden.

Eine in die Einzelheiten gehende Ausführung dieser, so im allgemeinen charakterisierten Typologie kann keineswegs die Aufgabe der vorliegenden Abhandlung sein; wir beabsichtigen hier bloß Beiträge zu liefern, und auch nur so viel, wie gerade genügt, um die Richtung einer solchen Ausführung vorzuzeichnen.

Wenn wir in die zuvor erwähnte grundlegende dreigliedrige Relation die Ergebnisse der Analyse des vorhergehenden Abschnittes einfügen, so kann die allgemeinste erkenntnistheoretische Position schematisch folgendermaßen dargestellt werden:

  1  
2   3
Der Erkennende
Subjekt

(jeweils rekonstruiert)
Das Erkannte.
(Die Erkenntnis)
a) Bewußtsein
b) Objektivität
Das Zu-Erkennende.
Objekt

Die drei Grundbegriffe, - der Erkennende, die Erkenntnis, das Zu-Erkennende - bekommen, wie wir bereits gesehen haben, je nach der Grundwissenschaft, mit der die betreffende Erkenntnistheorie arbeitet, einen verschiedenen Inhalt. Von den drei Gliedern ist es das mittlere, das sich am sichtbarsten verändert; in der logistischen Erkenntnistheorie heißt es  Objektivität  (Inbegriff der gültigen Sätze), in der psychologischen  Bewußtsein  (Inbegriff der möglichen Erlebnisse). Wir haben des weiteren gesehen, daß auch an der Stelle des Erkennenden verschiedene Subjekte stehen, deren gemeinsamer Zug es lediglich ist, stets rekonstruiert zu sein. Das dritte Glied hingegen ist ursprünglich ontologischen Charakters; es sind allein die monistischen Systeme, die danach trachten, diesen seinen Charakter in ihren Begriffsbildungen zu verwischen, indem sie es in einem der beiden anderen aufgehen lassen.

Die drei Glieder der Relation sind je zu zweit dreimal miteinander in Beziehung zu setzen (diese Beziehungen sind im Schema durch bezifferte Klammern bezeichnet), und von diesen Relationen kann eine jede zum Ausgangspunkt der Problemstellung dienen; je nach dem jeweiligen Ausgangspunkt gestalten sich ihrem Aufbau nach die übrigen beiden Relationen.

In den Erkenntnistheorien mit ontologischer Unterlage wird vor allem die Relation des Erkennenden und des Zu-Erkennenden als ursprünglich gegeben betrachtet (Nr. 1). Ihr ontologischer Zusammenhang wird schon vor dem Einsetzen des erkenntnistheoretischen Gedankens, stillschweigend angenommen. Schon  vor  der Problemstellung (eingestandenermaßen oder nicht) wissen wir, daß das erkennende Subjekt wie das zu-erkennende Objekt aus der  gleichen  "Seinsmaterie" sind (denken wir an Lösungen wie die von LEIBNIZ: der Erkennende und die zu-erkennende Welt sind beide Monaden). In einem Solchen Fall ist die eigentliche Frage nur die, wie wir aufgrund dieser als aproblematisch zu betrachtenden ontologischen Relation das Verhältnis des Erkennenden zum Erkannten (Nr. 2) und das des Erkannten zum Zu-Erkennenden (Nr. 3) aufzufassen haben.

Die logistische Erkenntnistheorie (deren nicht ganz reiner Typus die Kantische ist, die nach der in ihr enthaltenen logischen Tendenz am konsequentesten durch die Marburger Schule fortgeführt wird) geht demgegenüber vom Verhältnis der Objektivität und Realität aus (Nr. 3) und demgemäß gestalten sich dann die beiden anderen Verhältnisse (Nr. 1 und 2).

Bei der logistischen Erkenntnistheorie können wir schon aufgrund der bisher erreichten Stufe der Betrachtung ein besonderes Problem hervorheben, - ein Problem, das ausschließlich von der Position der Strukturanalyse aus scharf überblickbar wird. Dadurch nämlich, daß in der logistischen Erkenntnistheorie das erkennende Subjekt in zwei verschiedenen Korrelationen als erstes Glied fungieren kann, - da es sowohl der Objektivität (Nr. 2), als auch der zu-erkennenden Realität (Nr. 1) entgegengestellt wird, und von diesen Gliedern das erstere auf dem Niveau der logischen Gültigkeit, das letztere aber auf dem der Ontologie gesetzt ist, - kommt es vor, daß dasselbe Subjekt abwechselnd einen Gültigkeits- und einen Seinscharakter gewinnt. Die Tatsache, daß das eine Glied einer Korrelation im gegebenen Fall auch als Glied anderer Korrelationen fungieren kann, und der Umstand, daß die verschiedenen Gegenglieder, mit denen es in solchen Fällen konfrontiert wird, in verschiedenen Setzungsschichten heimisch sind (bald in der logischen Geltungsschicht, bald in der ontologischen Reihe), bewirkt, daß jenes erstere Glied durch sein jeweiliges Gegenüber ein jedes Mal sozusagen affiziert wird. So ist z. B. das Subjekt des kantischen System, das "Bewußtsein überhaupt", ursprünglich seiner Struktur nach ein rekonstruiertes Subjekt, das einen rein logischen Charakter trägt, ohne irgendeinen ontologischen Beiklang; wo es aber mit dem "Ding-ansich" in Korrelation tritt, verleiht die notwendig ontologische Beschaffenheit dieses letzteren auch ihm etwas von seinem Seinscharakter.

Eine Erkenntnistheorie rein logistischer Art strebt natürlich danach, selbst diese minimal ontologische Hypostase zu vermeiden, und versucht daher den Begriff des Dings-ansich womöglich auszuscheiden. Dies aber wäre nur auf dem Niveau einer reinen Logik möglich, denn in dem Moment, wo von neuem von Erkenntnistheorie die Rede ist, ist man gezwungen das Zu-Erkennende und das ihm entsprechende Inhaltliche zumindest als Grenzbegriff zu setzen; und gelänge es ihr auch, in dieser Setzung des Grenzbegriffs alles Inhaltlich auf Null zu reduzieren, so könnte sie dadurch dessen ontologischen Setzungscharakter doch noch immer nicht ausmerzen.

Nach dieser ausführlicheren Betrachtung der logistischen Erkenntnistheorie müssen wir weitergehend untersuchen, worin jene Relationsbeziehung  des näheren  besteht, durch die in der Erkenntnistheorie die den Ausgangspunkt bildenden Glieder zueinander gebracht werden. Der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt ist zu unbestimmt charakterisiert, wenn wir nur sagen, er setze die drei erwähnten Grundglieder in Relation. Die  Relation  überhaupt ist eine zu allgemeine Kategorie, als daß sie jenen Differenzen, die in dieser Hinsicht die einzelnen Systeme aufweisen, gerecht werden könnte. In jedem einzelnen gegebenen Fall stoßen wir auf viel bestimmter charakterisierbare Beziehungen, als daß wir auf viel bestimmt charakterisierbare Beziehungen, als daß wir diese immer mit demselben Ausdruck: "Relation" mit Fug bezeichnen könnten. Das Bewußtsein und das Sein z. B. stehen zueinander in den einzelnen Systemen nicht nur in einer Relation  überhaupt sondern es kann aus diesen stets entnommen werden, ob diese ihre Beziehung als eine wie die des Ganzen zum Teil oder die des Grundes zur Folge usw. zu betrachten ist.

Wie vielgestaltig diese Korrelation überhaupt sein kann, dafür läßt sich ein Kriterium a priori aufstellen: so vielerlei konkrete Relationen nämlich sind hier möglich, als es Relationskategorien in der Logik für die Inverhältnissetzung zweier Glieder überhaupt gibt und soviel von diesen vernünftig, ohne inhaltlichen Widerspruch anwendbar sind. Das Bewußtsein und das Sein, das Ich und die Realität können in den kategorialen Relationen der Gleichheit und der Kausalität oder der Inhärenz und Identität stehen.

WINDELBANDs (15) Verdienst ist es, zumindest darauf hingewiesen zu haben, daß die Relationskategorien die möglichen Lösungen schon in gewissem Maß prädeterminieren. Die möglichen Lösungen der Erkenntnistheorie wie der Dogmatismus, Skeptizismus, Agnostizismus, Problematismus, Phänomenologismus, Solipsismus, Konszientalismus werden gewissermaßen schon durch die Problemstellung bestimmt, und zwar hängt - nach WINDELBAND - die jeweilige Lösung mit den kategorialen Relationen aufs Engste zusammen, durch die wir das Verhältnis der den Ausgangspunkt bildenden Glieder bestimmen.

Die Setzung dieser kategorialen Relation vollzieht sich schon in der Problemstellung; sie zeichnet zugleich die Distanz der Korrelationsglieder zueinander bereits vor.

Die erkenntnistheoretische Problem lösung  hebt eigentlich erst dort an, wo wir die auf diese Weise gesetzte Distanz  de facto  zu  überbrücken  versuchen.

Das Wesen der erkenntnistheoretischen Systematisierung - betrachten wir sie vom Standpunkt ihres logischen Aufbaus - können wir in der Auflösung dieser mit der Problemstellung gesetzten Korrelationen erblicken. Die ganze erkenntnistheoretische Gedankenarbeit mit allen ihren Einzelheiten gruppiert sich um diese zentrale Aufgabe: jene Korrelation aufzulösen bzw. zu überbrücken, die sie sich selbst gesetzt hat.

So ist es z. B. eine ganz besonders schwere Aufgabe, die Objektivität einerseits in ihrer Relation zum Subjekt, andererseits zur Realität zu überbrücken, - anders ausgedrückt: die Frage zu beantworten, was für einen Anteil das Subjekt und die Realität am Zustandekommen der Objektivität hat.

Um diese ihre Aufgabe zu erfüllen, hat die Erkenntnistheorie viel weniger Lösungstypen zur Überbrückung, als wir es aufgrund der Kompliziertheit ihres Problems erwarten könnten. Schon KANT (16) hat gesehen, daß es hier drei Wege gibt, und auch LEIBNIZ hat in seinem Gleichnis von den zwei Uhren eine solche Typologie der Überbrückungsmöglichkeiten aufgestellt. Die drei Überbrückungstypen sind die folgenden:
    1. Der Erkennende bringt die Erkenntnis zustande, indem er das Zu-Erkennende nachbildet, - das ist der Typus des Abbildens oder des  Nachbildens. 

    2. Die gegenständliche Welt, das Erkannte wird vom erkennenden Subjekt in reiner Selbsttätigkeit geschaffen, - das ist der Typus der  Spontaneität. 

    3. Die Erkenntnis kommt aufgrund einer im Erkennenden und im Zu-Erkennenden gleichfalls vorhandenen Gesetzmäßigkeit zustande, - das ist der Typus der  Präformation,  der prästabilierten [vorgefertigten - wp] Harmonie.
Welche von diesen Überbrückungsmöglichkeiten die jeweilige Erkenntnistheorie wählt, hängt einerseits von der bereits erwähnten kategorialen Relation ab, durch die z. B. die Distanz von Bewußtsein und Sein bestimmt worden ist, andererseits von der jeweiligen Grundwissenschaft, schließlich aber noch davon, ob wir die Überbrückung von der Seite des Objekts oder von der des Subjekts beginnen. Die Bedeutung des zuletzt erwähnten Umstandes wurde von RICKERT (17) betont. Eine auf die Einzelheiten eingehende Typologie müßte hier gewissen stets zusammen auftretenden Erscheinungen nachgehen und feststellen, welchen Ausgangspunkten die verschiedenen Überbrückungstypen entsprechen können. Hier sei nur im Vorübergehen erwähnt, daß es schon von vornherein wahrscheinlich ist, daß ein jeder Ausgang vom Objekt her eher zu einer Lösung nach dem Typus des Abbildens und ein jeder Ausgang vom Subjekt her eher zu einem Spontaneitätstypus führt. Nicht minder einleuchtend ist es, daß eine Erkenntnistheorie, die vom Subjekt ausgegangen ist und sich im Laufe der inneren Entwicklung des Gedankens dem Standpunkt des Realismus oder Objektivismus nähert, gezwungen sein wird, den für sie so charakteristischen Begriff der Spontaneität aufzugeben und sich entweder zur Annahme des Nachbildens oder zur Einsetzung der prästabilierten Harmonie zu entschließen. So ist z. B. die Philosophie KANTs in der gegen EBERHARD gerichteten Schrift in ein Stadium getreten, wo er den Typus der LEIBNIZschen prästabilierten Harmonie anzunehmen geneigt war (18). Hierher gehört auch LASK (19), der vom Gedanken einer Weiterführung KANTs ausging und im Laufe der Problementwicklung den Begriff der Nachbildlichkeit einzuführen sich gezwungen sah.

Es ist allerdings überraschend, daß die erkenntnistheoretische Überbrückung der Korrelationen nur so wenige Typen aufweist, und man kann sich eigentlich gar nicht vor dem Gedanken verschließen, daß im Laufe der geschichtlichen Entwicklung ihre Zahl sich eventuell vermehren wird.

Schon diese Tatsache allein zeigt es zur Genüge, daß die vorhin erwähnten Überbrückungstypen nicht in demselben Maß spezifisch und rein genannt werden können, wie es die Subjekt-Objekt-Korrelation war. Während die Überbrückungstypen a priori keineswegs zu überblicken sind, weil sie sich an Zahl stehts vermehren können, ermöglicht es uns die Subjekt-Objekt-Korrelation, unabhängig von der geschichtlichen Entwicklung eine apriorische Typologie aufzustellen. Daß die Überbrückungstypen mehr oder weniger adoptiert, daß sie aus fremden Gebieten entliehen sind, beweist - außer ihrer Gebundenheit an die Geschichte - noch eine schlichte an ihnen vollzogene Bedeutungsanalyse. Wenn wir z. B. den Begriff der Spontaneität näher ins Auge fassen, gelangen wir zu der Überzeugung, daß der eigentliche Ort dieses Begriffes die Psychologie ist oder allenfalls die Ontologie; denn diese Selbsttätigkeit hat nur in Verbindung mit dem Bewußtsein oder mit der Substanz einen wahrhaften Sinn. Wenn wir nunmehr bedenken, daß KANT die Spontaneität einem unwirklichen, nur rekonstruierten Subjekt, dem "Bewußtsein überhaupt", beilegt, so stehen wir vor einer Paradoxie, deren letzte Gründe nur aus dem Mischcharakter der erkenntnistheoretischen Systematisierung zu erklären sind. Allerdings ist es richtig, daß die so adoptierten Begriffe, wie der der Spontaneität und die übrigen zur logischen Überbrückung dienenden Begriffe, im Laufe ihres Gebrauches im erkenntnistheoretischen System eine Veränderung erfahren, in der sie die ihnen durch ihre fremde Herkunft anhaftenden Momente allmählich abstreifen; deshalb können wir diese Begriffe, wenn auch nicht als erkenntnistheoretische Grundbegriffe, so doch zumindest als erkenntnistheorietische  Stamm begriffe bezeichnen und dies umso mehr, als sie in  allen  drei Typen der Erkenntnistheorie fungieren.

Wenn wir also in der Subjekt-Objekt-Korrelation und in diesen Stammbegriffen die spezifischen Elemente der Erkenntnistheorie sehen, so erhebt sich die Frage, ob es möglich ist, auf der Basis von Grundelementen dermaßen begrenzter Zahl in einer typologischen Einordnung jener ganzen Fülle gerecht zu werden, die die geschichtlich realisierten Systeme in ihrem Aufbau aufweisen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß eine in die Einzelheiten gehende Typologie auch mit jenen Begriffen rechnen muß, die aus den jeweiligen Grundwissenschaften unverändert in das Gebiet der Erkenntnistheorie übertragen werden.

Die Aufgabe, die sich die vorliegende Arbeit gestellt hat, besteht in der Festlegung und Analyse der spezifischen Elemente der Erkenntnistheorie, und demgemäß müßte sie keineswegs über das bisher Ausgeführt hinausgehen. Wenn wir dennoch mit einigen Worten auch jener Begriffe Erwähnung tun wollen, die die logistische Erkenntnistheorie aus der Logik übernimmt, so geschieht dies nur insofern und nur in dem Maße, als wir uns noch ein Urteil darüber bilden wollen, wie durch das Hineinspielen dieser fremdsystematischen Elemente die bisher so einfache typologische Situation kompliziert wird und wie sich des weiteren eine den Einzelheiten nachgehende Typologie demgemäß zu gestalten hätte.

Die logistische Erkenntnistheorie geht - wie bereits erwähnt - vom Verhältnis von Objektivität (Erkenntnis) und Realität (Zu-Erkennendem) aus; genauer gesprochen hebt sie eigentlich mit der Analyse des mittleren Gliedes der dreigliedrigen Relation, mit der Analyse der "Erkenntnis" an. Es wurde diesbezüglich bereits gesagt, daß die Erkenntnistheorie keine eigene Methode der Analyse besitzt, sondern sich im gegebenen Fall der Analyse der Logik bedient, die eben dadurch zugleich zu ihrer Grundwissenschaft wird. Das Resultat der Analyse, die an der Erkenntnis durch die Logik vollzogen wird, besteht in der Spaltung derselben in formale und inhaltliche Momente; hieraus wird das Hineingeraten der Form-Inhalt-Korrelation in die logistische Erkenntnistheorie verständlich. Sämtliche logistischen Erkenntnistheorien  stimmen darin überein,  daß sie diese Korrelation enthalten, - die  unterscheiden  sich aber dadurch, daß sie diese Korrelation auf verschiedene Weise zur Auflösung bringen (20).

Somit besitzt die logische Sphäre auch eine eigene axiomartige Grundlage in dieser von anderswoher unableitbaren Korrelation, und das  principium differentiationis  der darauf zu bauenden Systeme ergibt sich aus den Auflösungsmöglichkeiten dieser grundlegenden Korrelation: sie ist sozusagen die Urheberin der weiteren Verzweigungen.

Die Form-Inhalt-Korrelation läßt sich auf dreierlei Wegen auflösen: entweder reduziert man den Inhalt auf die Form (Marburger Schule), oder die Form auf den Inhalt (die Typen des logischen Realismus, in gewissem Sinne auch LASK), oder man nimmt ein drittes über ihnen stehendes Prinzip an, in welchem die beiden zusammenfallen; diese dritte Lösung führt jedoch zumeist in die Metaphysik. Man kann endlich auch über die Aufrechterhaltung der Dualität wachen und jeglicher Auflösung aus dem Weg gehen; dies hatte KANT getan.

Auf diese grundlegende logische Korrelation von Form und Inhalt baut, sozusagen in einer nächsten Schicht, die logistische Richtung der Erkenntnistheorie die spezifisch erkenntnistheoretische Korrelation von Subjekt und Objekt auf. Bald ist es die Form, die auf die Seite des Subjekts fällt, während der Inhalt irgendwie aus dem Objekt her abzuleiten ist, - bald fällt die Form auf die Seite des Objekts und der Inhalt ist subjektiv, so daß an diesem Punkt eine größere Beweglichkeit des Denkens und Systematisierens zu beobachten ist; hier geraten die verschiedenen Schulen und Richtungen, die von denselben Voraussetzungen ursprünglich ausgingen, in einen Gegensatz zueinander.

Hier ist der Ort, wo wir auch jenes Problem konkreter fassen können, das wir als die letzte Frage einer jeden Strukturanalyse bezeichneten: inwiefern nämlich sowohl die im erkenntnistheoretischen Gedanken aufweisbare  Einheitlichkeit  als auch das die einzelnen verschiedenen Systeme ermöglichende  Principium differentiationis  aus der Struktur der erkenntnistheoretischen Systematisierung ableitbar ist.

In dieser Hinsicht können wir schon aufgrund des Bisherigen sagen: die Einheitlichkeit ist durch die mit axiomartiger Notwendigkeit gesetzten Korrelationen gewährleistet; die Differenzen aber sind daraus zu verstehen, daß diese Korrelationen infolge ihrer eigentümlichen Gegebenheitsweise mehrere Auflösungsmöglichkeiten logisch zulassen. In dem uns zwar bindenden, jedoch keineswegs eindeutig bestimmenden Charakter der logischen Struktur der erkenntnistheoretischen Systematisierung ist der Angelpunkt einer jeden Typologie und zugleich die Garantie ihrer Möglichkeit zu erblicken.

War für die Erkenntnistheorie überhaupt die spezifische Korrelation von Subjekt und Objekt etwas Konstitutives und durch sie Gegebenes; erwies sich die Feststellung der zwischen ihnen jeweils obwaltenden Beziehung und ihre Auflösung als eine durchgehende erkenntnistheoretische Aufgabe, - so erscheint in der logischen Erkenntnistheorie, in diesem besonderen Zweig der Erkenntnistheorie überhaupt, diese allgemeine Situation durch die gleichzeitige Setzung der Form-Inhalt-Korrelation erweitert, und die Aufgabe wird durch die damit sich ergebenden Auflösungsmöglichkeiten kompliziert.

In der logistischen Erkenntnistheorie lassen sowohl die aus der Logik wie die aus der Erkenntnistheorie stammenden Grundkorrelationen eine gewisse Zahl von Auflösungsmöglichkeiten offen, und die einzelnen erkenntnistheoretischen Systeme stellen jedesmal ein Kreuzungsprodukt von zwei solchen überhaupt möglichen typischen Fällen dar. Genau entsprechend gestaltet sich die allgemeine Situation in den beiden anderen Zweigen der Erkenntnistheorie: in der psychologistischen und in der ontologistischen; die Form-Inhalt-Korrelation wird durch die Grundkorrelation der jeweiligen Grundwissenschaft ersetzt. So tritt z. B. in der ontologistischen Erkenntnistheorie an die Stelle der Form-Inhalt-Korrelation die von Substanz und Akzidenz [Merkmal - wp] (21).


6. Strukturanalyse des
erkenntnistheoretischen Wertens.

Wir haben bereits weiter oben darauf hingewiesen, daß jede Erkenntnistheorie sich eine doppelte Aufgabe stellt: erstens die letzten Voraussetzungen jeder möglichen Erkenntnis aufgrund einer eingehenden Analyse derselben aufzuweisen und, zweitens, diese letzten Voraussetzungen daraufhin zu prüfen, ob sie eine Bürgschaft dafür bieten können, daß das auf ihnen aufgebaute Wissen eine wahre Erkenntnis ist, - mit anderen Worten: die letzten Voraussetzungen zu  werten.  Mit der Erkenntnistheorie ist zugleich eine Aufgabe der Analyse und eine der Wertung gesetzt. Unsere bisherigen Untersuchungen betrachteten die Erkenntnistheorie nur bei der Lösung der erstgenannten Aufgabe. Wir fragten bisher nur, wie es die Erkenntnistheorie fertig bringt bringt, diese von ihr gesuchten letzten Voraussetzungen einer jeden Erkenntnis aufzuzeigen. Wir handelten von der Erkenntnistheorie, als wäre sie eine Theorie der Erkenntnis, nicht aber zugleich auch die Wertung derselben, und es bleibt uns nun die Aufgabe, auch dieses Moment an ihr, das des Wertens, zu untersuchen.

Das auch weiterhin festzuhaltende Ergebnis unserer bisherigen Erörterungen besteht darin, daß die Erkenntnistheorie die von ihr gesuchten letzten Voraussetzungen keineswegs mittels einer eigenen Methode, aus eigenen Mitteln, durch eine Analyse  sui generis [aus sich heraus - wp] gewinnt; sondern daß sie vielmehr, gerade im Interesse der Durchführbarkeit dieses ihr von ihr selbst aufgegebenen Unternehmens, auf andere Disziplinen angewiesen ist, und daß gerade hier der springende Punkt gegeben ist, wo die ihr eigentlich fremden Wissenschaften als ihre Grundwissenschaften in ihr Gebiet bestimmend hereinragen. Es ergab sich ferner, daß es keineswegs nur die Analyse als solche ist, die sie sich aus fremden Gebieten erborgt, sondern daß die jeweiligen Grundwissenschaften auch ihre Begriffsbildung beeinflussen. Als der Erkenntnistheorie spezifisch Eigenes haben wir die fundamentale Korrelation von Subjekt und Objekt erkannt, ihre konkrete inhaltliche Erfüllung jedoch als nicht von ihr selbst geleistet. Diese wird stets jener Disziplin entliehen, die jeweils bei der Analyse als Grundwissenschaft fungiert.

Es erhebt sich nun die Frage, ob die Erkenntnistheorie auch bei der Bewertung der aufgefundenen letzten Voraussetzungen den hierzu nötigen Wertmaßstab von wo andersher bekommt; genauer gefaßt: wie verhält sich die jeweilige Wertung der letzten Voraussetzungen und der Wert, der bei dieser Gelegenheit im Spiel ist, zu jener Disziplin, von der sie ihre jeweilige Analyse leiht?

Zur Beantwortung dieser Frage wird der kürzeste Weg wohl betreten, wenn wir vor allem die vorhandenen Wahrheits(Erkenntnis-)Kriterien zum Gegenstand einer Strukturanalyse machen. In ihnen findet die erkenntnistheoretische Wertung ihren prägnantesten Ausdruck; wir haben ihrer drei zu unterscheiden.
    I. Das transzendente, ontologische Wahrheitskriterium:  jeder Satz hat als wahr zu gelten, der der Wirklichkeit, dem Sein entspricht.

    II. Das psychologische  Wahrheitskriterium: jeder Satz, der von einem vollen Evidenzgefühl begleitet ist, hat als wahr zu gelten.
Diese verschiedenen Erkenntniskriterien einer Kritik zu unterwerfen, ist hier nicht unsere Aufgabe; wir wollen nur rein strukturanalytisch vorgehen, und daher fragen, wo in ihnen oder wohin durch sie der Wertakzent gesetzt wird.

In allen drei Erkenntniskriterien sind drei wichtige Faktoren enthalten:
    1. das, was bewertet wird,  das Bewertete; 

    2. der Wert,  auf den bezogen das Bewertet als wertvoll zu gelten hat;

    3. ein drittes Glied, das den  Maßstab  für die zu vollziehende Wertung abgibt.
Die ersten zwei Glieder bleiben sich in allen drei Wahrheitskriterien gleich: das Bewertete ist stets der Satz, der Wert, auf den bezogen wird, ist der der Wahrheit; - nur der Maßstab ist jeweils verschieden.

Im ersten Erkenntniskriterium wird als Wertmaßstab das Sein angesetzt, im zweiten das Logische und im dritten das Evidenzgefühl, also etwas Psychisches. Es fällt sofort ins Auge, daß es soviel Erkenntniskriterien gibt, wie wir Arten von Erkenntnistheorien gemäß den möglichen Grunddisziplinen zu unterscheiden vermochten. Ein jedes Erkenntniskriterium ist einer bestimmten Art von Erkenntnistheorie zugeordnet. Die ontologische Erkenntnistheorie erwählt sich zum erkenntnistheoretischen Maßstab das ontologische, die logistische das logische und die psychologistische das psychologische Erkenntniskriterium.

Eine jede Erkenntnistheorie mißt die mittels ihrer Grundwissenschaft herausgehobene letzte Voraussetzungen nicht - wie es zu erwarten wäre - an einem dieser fremden Maßstäbe, sondern sie deklariert vielmehr die in der Erkenntnis selbst enthaltene und von der jeweiligen Erkenntnistheorie herausgestellte letzte Voraussetzung zum Wertmaßstab, zum Kriterium. Anders ausgedrückt: die in der Erkenntnistheorie auftretenden Wahrheitskriterien stehen in einem engen Zusammenhang mit jener Disziplin, die ihre analytischen Mittel zur Erfoschung der letzten Voraussetzungen hergeliehen hat. Die Sphäre, in der wir die letzten Voraussetzungen als heimisch erachtet haben, wird zugleich als den Wertmaßstab enthaltend gesetzt. Wird behauptet, daß die Erkenntnis letzten Endes ein Erlebnis ist, so ist das Erlebnis wertenthaltend, Werte verbürgend; wird behauptet, daß sie letztlich logisch ist (22), so liefert das Logische das Wahrheitkriterium, und genau entsprechend bei der ontologischen Erkenntnistheorie. Das Schicksal des zu erwählenden Wahrheitskriteriums ist bereits in der der betreffenden Erkenntnistheorie vorangehenden Diskussion über den Primat entschieden. Es ist auch die  Distanz  des zu Bewertenden und des Maßstabes, woran es gemessen werden soll, bereits in der Fragestellung vorausbestimmt.

So ist bereits im 1. Kriterium schon bei seiner Aufstellung, also schon vor der Lösung, jene Relation, die zwischen Sein und Erkanntem (Satz) bestehen soll, entschieden. Denn wenn ich behaupte, daß nur der Satz wahr ist, der dem Sein entspricht, so muß ich schon vor der Aufstellung des Kriterium (als in der Sphäre des Seins liegendem) in irgendeiner vorausgehenden metaphysisch-ontologischen Theorie die Homogenität, die Zusammenmeßbarkeit der beiden Glieder bestimmt haben; - so daß die an dieses Erkenntniskriterium sich anschließende Erkenntnistheorie sich nicht die Aufgabe stellt, etwa eine Werthaftigkeit des in diesem Fall als letzte Voraussetzung fungierenden Seins nachzuweisen, vielmehr lediglich auf Grund seiner irgendwie stets vorausgesetzten Werthaftigkeit plausibel zu machen (zumeist durch die Annahme einer prästabilierten Harmonie), wie sich diese zwei Arten des Seienden, das Erkannte und das zu Erkennende, zueinander verhalten, bzw. wie das erstere dazu kommt, das letztere irgendwie zu enthalten.

Im Fall des 2. Wahrheitskriteriums steht die Sachlage genau so wie beim ersten. Auch hier ist  vor  jeder diesbezüglichen Diskussion das Verhältnis von Gedachtem und Sein bereits ausgemacht. Hier tritt das Sein als eine Art von Gedachtem auf (wie vorher das Gedachte als eine Art des Seins zu betrachten war). Das Sein kommt nur als gedachtes Sein vor, und dafür, welches überhaupt Denkbare "seiend" ist, gibt es nur logische Kriterien. Der Gedanke der Objektivität, wie er sich bei KANT und seinen Nachfolgern entwickelt hat, ist die notwendige Folge dieses lediglich aus der Logik gewählten Ausgangspunktes. Sein ist, was durch gewisse logische Formen zustande gekommen ist, man kann von keinem für einen Vergleich von anderswoher gegebenen Sein sprechen. Die Aufgabe ist nicht die, von der aus logischen Voraussetzungen gekommenen Objektivität zu beweisen, daß sie wahrhaft ist, d. h. daß die sie konstituierenden Formen wertvolle Formen sind, sondern aufgrund der nicht diskutierten Annahme der Werthaftigkeit der als letzte Voraussetzungen fungierenden logischen Formen plausibel zu machen (bei KANT durch die Annahme der Spontaneität), wie dieses als Objektivität uns Entgegentretende diesen seinen auszeichnenden Charakter bekommt.

Wir können also die Paradoxie der Erkenntnistheorie nunmehr wie folgt fassen: die Erkenntnistheorie, die aus Eigenem das Problem der Erkenntnisartigkeit eines jeden Wissens von Tatsachen zu lösen, über seinen Wert zu entscheiden sich aufgegeben und im Laufe des Gedankengangs dieses Problem in die Werthaftigkeit  der letzten Voraussetzungen  einer jeden Erkenntnis zurückgeschoben hat, ist gezwungen, nach der analytischen Hervorhebung jener Voraussetzungen dieselben einfach als  werthaft oder (im Fall einer skeptischen Erkenntnistheorie) als wertfeindlich zu deklarieren.  Ihre tatsächliche Aufgabe gestaltet sich nach diesem Schritt - im wert-bejahenden Fall - folgendermaßen: da die uns gegebene Erkenntnis aufgrund ihrer Voraussetzungen wertvoll ist, so wird nunmehr  (nachträglich) ein System konstruiert, durch das es einsichtig wird, wie sie als solche in unseren Besitz gelangen konnte;  oder wie SZALAY dieselbe Aufgabe doppelseitig formulierte: "Wie muß der Erkennende beschaffen sein, damit er das Zu-Erkennende in der Tat erkennen kann, und wie muß die Erkenntnis beschaffen sein, damit sie zur gültigen Erkenntnis des Erkennenden zu werden vermag?" (23)

Die erkenntnistheoretische Kritik - statt, wie sie prätendiert [vorgibt - wp], eine Kritik der Erkenntnis zu geben - wird durch diese innere Wendung, durch diese Umgruppierung des Problems vielmehr zu einer neuartigen Systematisierung derselben. Die Erkenntnistheorie löst ist der Tat - im Licht der Strukturanalyse betrachtet - eine ganz andere Aufgabe, als die sie sich in ihrem Programm gestellt hat.  Anstatt Wertkritik zu sein, wird sie zu einer Theorie der Erreichbarkeit, Realisierbarkeit eines Wertes. 

In der Tat gerät eine jede Erkenntnistheorie an jenem Punkt in die größte Verlegenheit, wo es gilt, die wahrhafte Wehrhaftigkeit der jeweils aufgezeigten letzten Voraussetzungen nachzuweisen. Hieraus ist jene bekannte Paradoxie des kantischen Systems erklärbar, die darin besteht, daß KANT die apriorische Notwendigkeit der synthetischen Urteile durch den Gedanken der Spontaneität, den Gedanken der Spontaneität aber wiederum durch die Apriorität rechtfertigt. Dieser Zirkel ist nach dem bisher Gesagten keineswegs zufällig: er ist die notwendige Folge der dargelegten Paradoxie einer jeden Erkenntnistheorie.

Es ist nun aber genauer zu fragen, ob der erkenntnistheoretische  Wert  ein fremder, aus den Grunddisziplinen entliehener, oder ob nur die jeweilige Entscheidung darüber, ob dieses oder jenes - das Ontische, das Psychische oder das Logische - wertvoll, werthaft ist, durch die jeweilige Grundwissenschaft bestimmt wird. Denn rein phänomenologisch ist, wie wir gesehen haben, zunächst ein Unterschied zu machen zwischen dem  Wert,  aufgrunddessen man wertet, und jenem Glied, welches als  Maßstab  bei der Wertung fungiert. Ist nun der  Wert  der Erkenntnistheorie aus einer fremden Disziplin erborgt, oder wechselt nur jener Faktor, der die Rolle des  Maßstabes  zu spielen hat?

Die soeben durchgeführte Analyse der Erkenntnistheorie bestätigt nur die zweite Annahme. Das stets sich Gleichbleibende in jedem der Kriterien war der  Wert der Wahrheit,  das wechselnd Untergelegte nur der Maßstab. Der Wert des Erkanntseins, das Wahr-sein ist ein  sui generis-Wert [Wert aus sich selbst heraus - wp] der erkenntnistheoretischen Fragestellung, der mit ihr als Novum [Neuheit - wp] auftritt. Das muß auch so sein; denn einen Wert (hier den der erkenntnistheoretischen Wahrheit) aus den genannten Grundwissenschaften zu leihen ist deshalb unmöglich, weil diese, jedenfalls die Psychologie und Ontologie, bekanntlich gar keine Wertwissenschaft sind.

Verwickelter steht es in dieser Hinsicht mit der Logik. Hier kann man allerdings zunächst den Wert der  Richtigkeit  antreffen, der aber keineswegs mit dem erkenntnistheoretischen Wahrheit zusammenfällt. Jedoch auch der Wert der Richtigkeit kommt in der  reinen Logik,  die unabhängig von jeder Subjektbezogenheit aufgebaut werden kann, noch gar nicht vor. An und für sich ist der Bereich des reinen Logos - um in der Sprache LASKs zu reden - das "schlichte Ineinander von Form und Inhalt", als solches ein geschlossenes Reich des Sinnes, auch "Geltung" genannt. Nur wenn wir uns diesem Reich des in sich beruhenden Sinnes von Seiten der "Denklehre" oder von Seiten der Erkenntnistheorie nähern, die erst beide das strebende Subjekt einführen und dadurch diese in sich beruhende Sphäre einer eindeutigen Ordnung irgendwelcher Elemente (Inhalte) als zu erreichende behandeln, wird diese Schicht zu etwas Normativem, Wertvollem, zu einem Maßstab, - nur dadurch wird das "schlichte Ineinander" des an und für sich Geltenden zu etwas Werthaftem (24).

Vom Standort der "Denklehre", der angewandten Logik aus betrachtet, ist dier Wert der der "Richtigkeit". Er besagt lediglich soviel, daß es nur  eine  Weise des Ordnens der Denkinhalte geben kann, die für ein denkendes Subjekt erstrebenswert ist.

Diese  Richtigkeit,  zu der von der Denklehre aus gesehen die "Geltung" der reinen Logik wird, hat noch gar nicht den Charakter, daß durch sie etwas erkannt, ein außerhalb des Sinngebildes liegendes reales und ideales Objekt erreicht oder erfaßt würde. Sie ist lediglich ein richtiges theoretisches Ordnen vorgegebener Inhalte. Und dieses Ordnen ist - in diesem Punkt - noch vollständig jener Ordnung ähnlich, die auch in der ästhetischen Sphäre, - wenn auch von anderen Formgesetzlichkeiten beherrscht, vorkommt; - auch hier kann man ja nicht sagen, daß das ästhetisch Wertvolle (die Parallelerscheinung zum logisch Richtigen), das einzelne Kunstgebilde, zugleich einen außerhalb seiner anzusetzenden Gegenstand irgendwie erreicht (oder gar erkennt). Gerade so wie die ästhetisch wertvolle ("schöne") Melodie (25) nicht etwas außer ihrer selbst Liegendes abbildet und dennoch normativ ist, so hat es die von erkenntnistheoretischen Setzungen freie Logik (Denklehre) nur mit organisierten theoretischen Gebilden zu tun, ohne die Frage in Betracht ziehen zu müssen, ob dadurch etwas erkannt wird.

Diese Sphäre der reinen Logik als wertungsjenseitig vorausgesetzten Zusammenhänge, "schlichten Gefüge", samt den sie konstituierenden Formen, die erst von der angewandten Logik aus den Charakter der "Richtigkeit" gewinnen, werden im Fall der logistischen Erkenntnistheorie zugleich als  wahr  angesetzt, so daß für diese Erkenntnistheorie der Wert der Richtigkeit mit der erkenntnistheoretischen Wahrheit zusammenfällt (26), ein Grund, weshalb diese beiden Werte so schwer auseinanderzuhalten sind. (Auch wir sprachen von Wahrheit, Geltung, wo es sich eigentlich nur erst um die Richtigkeit handelte. Erst auf der jetzt erreichten Stufe der Betrachtung ist es möglich, sie bestimmt auseinanderzuhalten.)

Sehen wir nun von der angewandten Logik ab, so ist es klar, daß die Zusammenhänge, der logischen Sphäre ansich geradeso ohne jeden normativen Beiklang formulierbar sind wie psychische und ontische Zusammenhänge und daß also die Geltungssphäre in ihrer originären Gestalt genausowenig den erkenntnistheoretischen Wert erhält, wie die übrigen Grundwissenschaften.

In der psychologischen, ontologischen, logischen Systematisierung  mitten darin stehend  gibt es nichts Wertvolles Normatives. Wertvoll, maßstäblich wird ein ansich bestehender Zusammenhang nur von einer anderen, fremden Systematisierung aus gesehen. Jeder schlichte Tatsachenzusammenhang kann zu einem normativen, wertmaßstäblichen dadurch gemacht werden, daß er von einem anderen Zusammenhang aus auf einen Wert bezogen,  als ein zu Erreichendes  gesetzt wird. Die Gesetze der Mechanik sind an und für sich keine normativen Zusammenhänge; für den Techniker aber, der eine Maschine anfertigen will, werden sie zu zu erreichenden, zu als Maßstäbe dienenden Zusammenhängen. Dieses krasse Beispiel soll nur so viel beweisen, daß Werthaftigkeit - vom Standpunkt der Strukturanalyse aus betrachtet - voraussetzt, daß wir einen Zusammenhang aus einer ihm fremden Systematisierung und einem von dort gegebenen Wert aus betrachten. Das Eigentümliche der  "Bezogenheit",  die bei jeder Wertung auftritt, ist nur aus diesem Umstand zu verstehen. (Daß eine jede Tatsachensphäre auf einen jeden Wert bezogen sein kann, soll damit keineswegs behauptet werden.) Erkenntnistheorie ist eben dadurch eine eigene Systematisierung, daß sie dieses Stehen außerhalb der universellen Systematisierungen ermöglicht; hierdurch, indem sie die dort schlichten gegebenen Zusammenhänge auf ihren eigentümlichen Wert bezieht, gelingt es ihr, sie zu werthaften, zu Wertmaßstäben zu machen (27).

Es ist nicht unsere Aufgabe, den Wert, die Möglichkeit der Erkenntnistheorie zu beurteilen. Unser Interesse war stets nur darauf gerichtet, sie ihrer Struktur nach zu zerlegen, und insbesondere die Frage zu beantworten, wieviel in ihr den anderen Systematisierungen gegenüber Eigenartiges liegt, ob sie als eine reine oder gemischte Systematisierung zu betrachten ist

. Das Ergebnis kann man dahin zusammenfassen, daß sie keineswegs eine reine Systematisierung in dem Sinne ist, wie jene Ursystematisierungen:  Ontologie, Logik  und  Psychologie,  es sind. Es ist prinzipiell unmöglich, eine reine Erkenntnistheorie aufzubauen, wogegen eine reine Logik oder eine reine Gegenstandstheorie sich vorzustellen, die beide aller erkenntnistheoretischen Setzungen bar wären, keine Schwierigkeit bietet. Sie gehört nicht zu den Ursystematisierungen, sondern ihre Leistung besteht eben darin, daß sie sich  zwischen  ihnen bewegt, damit eine Position ermöglicht, von der aus jene Regionen in ihrer ganzen Ausbreitung sichtbar werden. Als  inter systematisches Gebilde ist sie natürlich dennoch nicht  außer systematisch, da keine Vernunfttätigkeit jemals diesen Charakter wird aufweisen können. Es gibt keine im letzten Sinn des Wortes isolierten selbständigen Setzungen. Schon eine Handlung, umso mehr aber in jeder Begriff  hat  die Struktur der Systematisierung und ist nur dadurch sinnvoll und festhaltbar, ja überhaupt  er selbst.  Nur bedeutet die These, daß ein jeder Begriff bereits die Systematisierung voraussetzt, keineswegs, daß nicht mehrere Systematisierungen, verschieden nach Struktur und Kohärenz ihrer Elemente, im vollen Bereich der Vernunft möglich wären. Zwei verschiedene Typen solcher Systematisierungen haben wir gerade dadurch herausgestellt, daß wir die homogenen Ursystematisierungen und die der Struktur nach gemischten intersystematischen Systematisierungen einander gegenüberstellten. Zu den letzteren gehört die Erkenntnistheorie. Die Region der Erkenntnistheorie verdankt ihre eigentümliche Kohärenz (trotz ihrer Angewiesenheit auf die ihr fremden Grundwissenschaften)
    1. einer eigenen Fragestellung,
    2. einem Wert  sui generis,  und
    3. einer ihr eigentümlichen Grundkonstellation, deren Setzung axiomartig ist und im Gesamtgefüge der theoretischen Sphäre einmal erfolgen muß (28).
Als eine weitere Eigenschaft der erkenntnistheoretischen Systematisierung müssen wir feststellen - es fiel uns dies hauptsächlich beim Aufbau ihrer Ichbegriffe auf -, daß sie eine  konstruierende  Wissenschaft ist, - eine Konstruktion im Gegensatz zu einer "unmittelbaren" Beschreibung. Obwohl wir uns dessen bewußt sind, daß die sogenannte "unmittelbare Beschreibung" keineswegs so unmittelbar ist, wie es die naive Meinung behaupten möchte, da auch sie mit Begriffen arbeitet, die eine theoretische Struktur und einen systematischen Ort haben; - so gibt es dennoch eine Differenz zwischen  Beschreibung  und  Konstruktion.  Beschreiben kann man nur etwas, was  irgendwie  vorgegeben ist;  konstruieren,  folgern,  muß  man dort, wo uns die Fragestellung  hinter  das Vorgegebene zu greifen zwingt. Eine beschreibende Disziplin beantwortet immer eine Frage, die so gestellt ist: Wie ist es? - eine konstruierende: Wie muß es sein? Die erkenntnistheoretische Fragestellung greift so tief  hinter  die Vorgegebenheit - darin besteht ja ihr Sinn -, daß hier eine Beschreibung ganz unmöglich wäre und nur  eine  Konstruktion am Platz ist.

Es wäre aber ein nicht zu rechtfertigendes Vorurteil, wollte man behaupten, daß man nur mittels einer "unmittelbaren Anschauung" und ihr sich angliedernder "Beschreibung" zu Wahrheiten gelangen kann. Auch eine "Konstruktion" hat ihren vollen Wahrheitswert, sofern ihre Ausgangspunkte  cum fundamento in re [in der Sache begründet - wp] und ihre darauf aufgebauten Folgerungen immanent widerspruchslos sind; und dies ist bei der Erkenntnistheorie der Fall.

Eine Analyse, die die Rechtfertigung der Erkenntnistheorie von diesem Gesichtspunk aus unternehmen will, hat vor allem jene Grenzen zu bestimmen, bis zu denen ihre noch immanent gegebenen Grundlagen reichen und bei denen die auf sie gebaute Konstruktion beginnt, und festzustellen, inwieweit diese noch immanent faßbaren letzten Voraussetzungen gerade durch ihre  Gegebenheitsweise  eine sie ergänzende Konstruktion nicht nur möglich machen, sondern auch fordern. Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, die sich eigentlich nur mit dem logischen Aufbau ihres konstruierenden Teils beschäftigte, muß durch eine Untersuchung ergänzt werden, die sich die Feststellung der Gegebenheitsweise ihrer letzten Voraussetzungen zur Aufgabe macht.  Erst aus einer solchen Analyse der Gegebenheitsweise der letzten Voraussetzungen kann zumindest die Möglichkeit des Divergierens der auf sie gebauten Lösungsversuche eingesehen werden.  Denn es gehört zur Eigenart der konstruierenden Wissenschaften - im Gegensatz zu den immanent beschreibenden -, daß (zwar in beiden von den auftauchenden Lösungsversuchen stets nur eine die wahre sein kann, daß aber) während bei der Beschreibun die falsche Lösung zugleich unmöglich ist, sie bei den konstruierenden Disziplinen - zwar niemals wahr, aber doch - immer noch "möglich" sein kann. Es entspringt dies eben daraus, daß sich hier die wahre These nicht durch einen unmittelbaren Rekurs auf etwas Vorgebenes, sondern hauptsächlich durch  Argumente  durchsetzen muß. Dies sind jedoch bereits Probleme, die über die einer Logik und Strukturanalyse der Erkenntnistheorie weit hinausgreifen, und gesondert gestellt und beantwortet werden müssen.
LITERATUR: Karl Mannheim, Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Ergänzungsheft Nr. 57, Berlin 1922
    Anmerkungen
    15) WINDELBAND, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1919, Seite 213f.
    16) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe B, Seite 166f.
    17) RICKERT, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Transzendentalpsychologie und Transzendentallogik, Kant-Studien XIV, 1909, Seite 169f.
    18) Vgl. ALFRED BRUNSWIG, Das Grundproblem Kants, Leipzig-Berlin 1914, Seite 41f.
    19) EMIL LASK, Die Lehre vom Urteil, Tübingen 1912
    20) Daß es sinngemäß möglich ist, diese Korrelation auf verschiedene Weise aufzulösen, kann nur aus der eigentümlichen  Gegebenheitsweise  der Form-Inhalts-Korrelation eingesehen werden. An diesem Punkt müßte sich eine gesonderte Analyse anschließen, die gerade das Problem dieser Gegebenheitsweise zu untersuchen hätte (siehe auch weiter unten).
    21) Vgl. AKOS PAULER, A Korrelativitas elve (Das Prinzip der Korrelativität), erschienen in der Zeitschrift "Athenaeum", Budapest 1915, Seite 46 und 48.
    22) Die widerspruchloseste ist diesbezüglich die logische Erkenntnistheorie. Da die Erkenntnistheorie selbst eine theoretische Disziplin ist, muß sie, sofern sie selbst gelten will, die ganze Sphäre, in der sie heimisch ist, als gültig ansetzen.
    23) BELA SZALAY, "A filozofai rendszerezés problémaja. (Das Problem der philosophischen Systematisierung). Erschienen in der Zeitschrift "Szellem", Nr. 2, Budapest 1911, Seite 173.
    24) Vgl. diesbezüglich eine Andeutung EMIL LASKs, Die Lehre vom Urteil, Tübingen 1912, Seite 126.
    25) Als Beispiel wurde absichtlich ein musikalisches Gebilde gewählt und kein bildnerisches, weil das Problem des Abbildens, Nachbildens, die Sachlage nur überflüssigerweise komplizieren würde. Aber auch in diesem Fall wäre es nicht allzuschwer nachzuweisen, daß das Erreichen des Vorbildes (des "Sujets") in der Kunst ein sekundäres Problem ist und auch als solches mit dem Erreichen des Objektes im Sinne des  "Erkennens"  nichts zu tun hat.
    26) Wir sahen bereits, wie für den an der Logik orientierten Erkenntnistheoretiker in ähnlicher Weise das logische und erkenntnistheoretische Subjekt zusammenfallen (vgl. oben Anmerkung 11)
    27) Diesen ihren intersystematischen Charakter zu beobachten hatten wir schon beim Primatstreit Gelegenheit (siehe oben). Auch die Fähigkeit der "freien Blickwendung" hängt damit zusammen.
    28) Ist aber die Subjekt-Objekt-Korrelation gesetzt (betrachten wir einmal die theoretischen Sätze als Erkenntnisse), so ist auch die ganze daran sich knüpfende Problematik mitgesetzt. Folglich wird auch derjenige eine Erkenntnistheorie, als Inbegriff nämlich bestimmter notwendiger Probleme, haben, der sich gegenüber der Lösbarkeit der Aufgabe skeptisch verhält.