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Ideologie und Wahrheit - eine soziologische Kritik des Denkens - [3/4]
Kapitel III Die "Wirklichkeit" Bisher mußten wir uns mit einer vorläufigen Kennzeichnung des Ideologiebegriffs begnügen. Ideologien - so sagten wir - sind Aussagen, die in gewisser charakteristischer Weise von der Wirklichkeit abweichen. Es ist nun endlich an der Zeit, strenger festzulegen, was das heißt. Damit sind zwei Aufgaben gestellt:
2. Die besondere, als Ideologie bezeichnete Art der Nicht-Übereinstimmng mit dieser Wirklichkeit ist von anderen Arten der Abweichung deutlich abzugrenzen. Was ist Wirklichkeit? Die Antwort darauf kann nicht einfach in einer Angabe der Merkmale bestehen, die das Wirkliche vom Nichtwirklichen unterscheidet. Auch das wäre schon schwierig genug. Ihm geht aber eine Frage voraus: in welchem Sinn ist denn überhaupt der Gegensatz zwischen Übereinstimmung und Abweichung von der Wirklichkeit gemeint? Inhalt und Bedeutung dieser Frage lassen sich am Besten durch zwei Beispiele erläutern. Jemand sagt: "Die Institution des Privateigentum ist die unverzichtbare Grundlage jeder geordneten Gesellschaft." Ihm wird von anderer Seite geantwortet: "Was du sagst, ist eine Ideologie der Besitzenden." Führt man hier die Nicht-Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als Kainsmerkmal der Ideologie ein, so liegt hinter dem Ideologievorwurf Folgendes: Es gibt nachweisbar Gesellschaften, die geordnet sind, in denen aber entweder kein Privateigentum besteht, oder eine Rechtsordnung der Sachverhältnisse, die völlig verschieden ist von dem, was die westlichen Zivilisationen unter Privateigentum verstehen. Selbst wenn aber jemand die geschichtliche Existenz geordneter Gesellschaften ohne Institution des Eigentumsrechts leugnen sollte, so kann man sich doch zweifellos eine solche Gesellschaft als theoretische Zukunftsmöglichkeit denken, z. B. MARX' Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft. Daß die Bolschewisten sie nicht verwirklicht haben, ist kein Argument gegen die Realisierbarkeit des MARXschen Gesellschaftsmodells. Es verhält sich also in Wirklichkeit nicht so, wie der Advokat des Eigentumsrechts sagt. Er irrt oder er lügt. Daß er aber das Eigentumsrecht als unerläßlich bezeichnet, ist erklärbar aus seiner sozialen Lage. Er ist mit Vermögen gesegnet. Seine bevorzugte Stellung wäre verloren, wenn das Eigentumsrecht aufgehoben würde. Die Aussage verzerrt den wirklichen Sachverhalt, weil der Sprecher die Welt durch die Brille seiner Interessen betrachtet und pro domo [fürs Haus - wp] spricht. Als entgegengesetztes Beispiel führe ich den nationalsozialistischen Afterphilosophen ANDREAS PFENNING an, nicht etwa, weil sein Geschwätz wert ist, ernst genommen zu werden, sondern weil es in äußerster Plumpheit und Durchsichtigkeit eine Auffassungsweise vertritt, die in maßvollerer und besser begründeter Form gar nicht selten ist.
Damit ist das Thema einer ernsthaften Erörterung angeschlagen. Im Gedankenbereich der Aufklärung wird der Inhalt von Aussagen oder Urteilen einer außerhalb des individuellen Bewußtseins und unabhängig von ihm gegebenen Wirklichkeit gegenüber gestellt. Die geistige Erfassung, Durchdringung und Erklärung dieser äußeren Wirklichkeit ist Aufgabe des wissenschaftlichen Erkennens. Ein Satz ist wahr, wenn er mit dieser Wirklichkeit nachweisbar übereinstimmt. Die wissenschaftliche Aussage hat sozusagen einfach eine außerhalb des Urteilenden gegebene Wirklichkeit gedanklich abzubilden. Diese Art von Wirklichkeit sei der Kürze wegen im Folgenden die theoretische oder Erkenntniswirklichkeit genannt. An dieser Stelle ist nur vorwegnehmend anzudeuten, was nachher breiter zu erläutern ist: bei den Männern der Aufklärung und bei anderen, die von einer Erkenntniswirklichkeit ausgehen, ist die "Unrichtigkeit" einer Aussage höchst entscheidend. Auch ich halte die Erkenntniswirklichkeit für maßgeblich. Auch ich bezeichne die ideologischen Aussagen als falsch. Aber in einem wesentlich anderen Sinn. Aussagen mögen - das ist schon einige Male im Vorübergehen angedeutet - ihrem Aussage-Inhalt nach unrichtig, sie brauchen aber deshalb allein nicht ideologisch zu sein. Nicht jeder Irrtum oder Fehler in der gedanklichen Abbildung der Erkenntniswirklichkeit ist Ideologie. Die ideologische Aussage ist gewissermaßen "falscher als bloß falsch". Nicht bloß und in erster Linie ihrem Inhalt nach, in dem, was über einen Gegenstand ausgesagt wird, sondern in dem Aussage-Gegenstand, worüber etwas geurteilt wird, vergeht sich die ideologische Aussage an der Wirklichkeit. Daß dann auch der Aussage-Inhalt wirklichkeitsinadäquat ist, folgt aus dem Mißgriff in der Gegenstandswahl. Die Aufklärungsphilosophie, die durch einen, meist sehr naiven, Rationalismus gekennzeichnet ist, nimmt ohne weiteres an, daß es auf alle erdenklichen Fragen eine (und nur eine) wahre Antwort gibt. Es gilt nur diese Antwort zu finden, und das ist grundsätzlich möglich. (Heute ist die Wissenschaft bescheidener geworden.) Der Fortschritt der Wissenschaft beruth dann teils darauf, bisherige Irrtümer zu berichtigen, Halbwahrheit durch Vollwahrheit zu ersetzen und zweitens bisher ungelöste Fragen zu beantworten, einen wachsenden Schatz von Wahrheitserkenntnissen zu sammeln und in die Scheuer zu bringen. Diese Wahrheitserkenntnis und der Fortschritt in ihr ist durch die ideologischen Neigungen des Menschen bedroht. Der Urteilende verfälscht, bewußt oder unbewußt, aber jedenfalls schuldhaft, seine Sachurteile, indem er eben nicht nur die objektive Wirklichkeit feststellt und erklärt, sondern subjektive Antriebe auf seine Aussagen Einfluß gewinnen läßt. Der Geist mag willig sein, aber das Fleisch ist schwach. Der homo sensualis mach dem homo rationalis einen Strich durch die Rechnung. Die Übereinstimmung mit einer objektiv gegebenen Erkenntniswirklichkeit (der Erkenntnis der aufgegebenen Wirklichkeit) ist nun nicht etwa notwendigerweise als Maß richtigen Denkens preiszugeben, wenn angenommen wird, daß eine völlige Übereinstimmung mit der Wirklichkeit niemals erreichbar ist. Die Folge dieser Annahme ist ganz einfach als Pan-Ideologismus bezeichnet: alles Denken und alle Aussagen sind ideologisch. Um das behaupten zu können, muß man immer noch an einer außerhalb des Bewußtseins gegebenen, von ihm nur erfaßten Wirklichkeit festhalten, immer noch als - wenn auch nie realisierbare - theoretische Möglichkeit die Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit im Auge haben. Sonst hätte ja der Begriff der Ideologie in diesem Zusammenhang seinen Sinn verloren. Die völlig richtige, gedankliche Abbildung der Wirklichkeit wäre dann ein "unbesetzter" Mittelpunkt, um den die ideologischen Aussagen oszillieren. So hat z. B. DURKHEIM, so hat auch MAX ADLER und mancher andere eine objektiv gegebene Erkenntniswirklichkeit im Auge, mit deren Maßstab verglichen alles menschliche Denken ideologisch ist. Wie sie das feststellen können, ohne durch ideologiefreies Denken ermittelt zu haben, wie die Wirklichkeit wirklich aussieht, ist eine ganz andere Frage. In gleicher Weise hat auch MANNHEIMs Lehre nur dann einen Sinn, wenn die Erkenntniswirklichkeit als ein außerhalb des Urteilenden gegebener Erkenntnisgegenstand angenommen wird, der sich nur einem jeden in besonderer Aspektstruktur darstellt. Die Grundauffassung vom Verständnis des Erkennens zum Erkenntnisgegenstand ist die gleiche wie in der Aufklärung. Der Unterschied liegt darin, daß die Aufklärung optimistisch an die Möglichkeit ideologiefreier Aussagen glaubt, die Panideologisten aber pessimistisch eine solche Möglichkeit leugnen. Schließen wir diese Erörterung damit ab, daß wir wiederholen: eine Aussage ist ideologisch, wenn sie - in näher zu beschreibender Weise - von der theoretischen oder Erkenntniswirklichkeit abweicht, deren gedankliche Abbildung Aufgabe des Erkennens ist. Ehe wir zum diametral entgegengesetzten Wirklichkeitsbegriff übergehen, sei eine Bemerkung über den napoleonischen Gebrauch des Wortes "Ideologie" eingeschoben. Soviel ist ohne weiteres offenbar, daß NAPOLEON nicht an die Abweichung einer Aussage von einer theoretischen Erkenntniswirklichkeit als Kriterium der Ideologie denkt. Was ihm vorschwebt, ist einfach dies: die Ideologen bewegen sich in der "unwirklichen" Welt der Ideen, sind aber blind für die "rauhe Wirklichkeit". Mit dieser meint er die Welt des Machtkampfes, des politischen Handelns, in der es nicht so zugeht, wie es die Philosophen gerne sähen. Genau besehen bedeutet Ideologie bei NAPOLEON nicht eine Nicht-Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern Weltferne, Wirklichkeits-Fremdheit. Die Philosophen hätten ihm getrost antworten können: "Wir wissen sehr wohl, daß es dort, wo Napoleone walten, leiders anders zugeht - gerade darum zeigen wir, wie es vernünftigerweise zugehen könnte." NAPOLEON tat das gleiche, was die mit sich selbst so zufriedenen "Männer der Praxis" - sei es politische oder geschäftliche - in ihrer stupiden Überheblichkeit immer getan haben und auch heute tun: statt sich und ihre Mitwelt zu tadeln, daß sie vernünftiger Überlegung so unzugänglich sind, verachten sie die Vernunft, weil die Welt sich nicht von ihr leiten läßt. NAPOLEON hat dann auch nicht etwa einen Beitrag zur Ideologienlehre geliefert. Er hat nur das Wort Ideologie in einen Gegensatz zu etwas "Wirklichkeit" Genannten gebracht und es mit einer depravierenden Klangfarbe behaftet, die es im allgemeinen Sprachgebrauch bis heute bewahrt hat, und bis vor wenigen Jahrzehnten auch in der gelehrten Sprache hatte. Der theoretischen oder Erkenntniswirklichkeit stelle ich den pragmatischen Begriff einer Existentialwirklichkeit gegenüber. Er tritt in mehrfachen Formen auf, mit denen ich mich hier nicht im Einzelnen zu befassen brauche. Einige Beispiele werden zeigen, worum es sich im Allgemeinen handelt. Am deutlichsten wird es bei jenen Historikern, die der Geschichtswissenschaft nicht etwa die Aufgabe zuteilen, geschichtliche Ereignisverläufe in ihrer objektiven Tatsächlichkeit darzustellen und, wenn möglich, kausal oder in anderer Weise zu erklären, sondern die geschichtliche Erkenntnis selbst als eine Funktion der Geschichte auffassen. Geschichts-"Wissenschaft" soll die Betrachtung des Jetzt im Spiegel der Vergangenheit sein, oder die Interpretation der Vergangenheit in der Perspektive des Jetzt. Daraus folgt dann, daß die Geschichte vergangener Epochen immer aufs Neue wiedergeschrieben werden muß - ein wahrscheinlich von GOETHE zum ersten Mal ausgesprochener Gedanke. Das Heute bewegt sich durch die Zeit. Damit ändert sich die Perspektive einer jetzt-bezogenen Interpretation des Vergangenen, damit aber auch die zeit-relative "Wahrheit" über die Res Gestae [Bericht über die Taten - wp] der Vorzeit. Zu dieser, besonders in Deutschland beliebten, zeit-subjektivistischen Auffassung der Geschichtswissenschaft bekennt sich ganz neuerdings wieder ALEXANDER RÜSTOW in seiner "Ortsbestimmung der Gegenwart" (1951). KARL MANNHEIM, über ALFRED WEBER und DILTHEY ein Sproß des Historismus, leugnet im gleichen Sinn ein gradliniges Weiterschreiten in der geistesgeschichtlichen Forschung, "denn eine jede Zeit und darin verschiedene mögliche Betrachtungsweisen haben die Eigenart, daß sie weitgehend von Grund auf neu ansetzen und in einer neuen Aspektstruktur dieselbe Gegenständlichkeit erfassen". (2) Daß die Historiker bisher vielfach so verfahren haben, ist offenbar. Die von MANNHEIM unberührte Frage ist aber, ob nicht auch Geschichtsforschung es zu einem gradlinigen Weiterschreiten in der Erkenntnis ihres Gegenstandes bringen könnte, wenn sie sich nur entschließen würde, Wissenschaft zu werden, statt geistvolle Interpretation zu sein. MANNHEIM freilich, der seinem Historismus zum Trotz den Begriff der objektiven Erlebniswirklichkeit als Maßstab eines ideologiefreien Denkens aufrechterhält, bezeichnet folgerichtig solche gegenwartsbezogenen Interpretationen als ("totale") Ideologien. Es gibt aber in der Tat Autoren, die geradezu "das Leben", "die Geschichte" oder eine andere Existenzform für "die Wirklichkeit" ausgeben, allem anderen daher nur einen nachgeordneten Wirklichkeitsrang zugestehen. Für sie wird dann zur Ideologie, was mit dieser Existentialwirklichkeit nicht übeinstimmt (WILHELM DILTHEY, THEODOR LESSING). Einen solchen Fall gröbster Art lernten wir oben in ANDREAS PFENNING kennen. Die Übereinstimmung von Aussagen mit der Lebensnotwendigkeit und dem Interesse der Rasse ist das Kriterium der Richtigkeit. Erfüllt eine Aussage diese Bedingung nicht, so ist sie ideologisch - und wäre sie auch in nachweisbarer Übereinstimmung mit der objektiven Erkenntniswirklichkeit. Es kommt ja eben nicht "auf die besten Theorien" an, sondern auf die rassisch-völkische Existenz. (Wer entscheidet das?) Der Begriff der Existentialwirklichkeit deckt zwar nicht die marxistische Ideologienlehre, dringt aber an gewissen Stellen in sie ein. Es muß da von vornherein gesagt sein, daß MARX' Ideologienlehre ziemlich verworren ist und gelegentlich sich selbst widerspricht, weshalb ihr dann auch sehr verschiedene Versionen mit Erfolg untergeschoben werden konnten. Eine Quelle der Unklarheit liegt darin, daß die Ideologie bei MARX bald "den gesamten geistig-kulturellen und institutionellen Überbau", bald aber "das soziale Bewußtsein", also einen subjektiven Geist. Einmal etwas von der Gesellschaft aus ihr Herausgestelltes, bald etwas in den Gesellschaftsgliedern Vorhergehendes. Die über das eine gemachten Aussagen werden zuweilen unversehens auf das andere übertragen, und umgekehrt. Manche Schwierigkeit beruth auch darauf, daß MARX in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung seine Ideologienlehre in gewissen Punkten geändert hat. Eine dritte Quelle des Mißverständnisses ist die besondere Form des Pragmatismus, der MARX huldigt. Er ist ja nicht bloß wie sonst die Pragmatiker der Auffassung, daß die Wissenschaft dem Leben zu dienen hat, sondern - nunmehr auf Klassenkampf und Revolution bezogen - daß seine wissenschaftliche Erkenntnis unmittelbar selbst eine revolutionäre Tat ist. Dieser einzigartigen Verquickung von Erkenntnis und Tat, Theorie und Praxis ist mit der Begriffssprache theoretischer Wissenschaft kaum gerecht zu werden. Es ist nicht schwer, MARX' Standpunkt von außen her anzugreifen und, wie ich glaube, überzeugend zu widerlegen. Mit dem Begriffswerkzeug der Theorie aber wiederzugeben, wie MARX selbst seine Sätze meint - und darauf käme es im Augenblick an - erfordert große Behutsamkeit. Endlich gebraucht MARX das Wort Ideologie teils kritisch, ja herabsetzen, auf einen Mangel des Denkens abzielend, teils aber in einem wertindifferenten Sinn. Sofern das Wort "Ideologie" einfach den geistigen Überbau (über der Wirtschaftsstruktur) bezeichnet, drückt es in erster Linie nur aus, daß dieser Überbau eine Funktion ("Manifestation" des Unterbaus ist. Das wäre ein Bekenntnis zum Panideologismus - und in diesem Sinn hat MANNHEIM es übernommen, indem er nämlich MARX' Zukunftsbild der Geschichte abweist. MARX selbst aber ist kein Panideologist. Er sah bekanntlich eine Gesellschaft voraus, deren geistiger Überbau (Ideologie) mit der objektiven Wirklichkeit voll übereinstimmen, absolute Wahrheit sein wird, weil der (seiner Meinung nach einzige) verzerrende Faktor, das Produktionsverhältnis, aufgehoben ist. Die Menschen werden richtig denken, die volle Wirklichkeit sehen, wenn ihnen nicht mehr durch ihre Stellung auf der einen oder anderen Seite des Produktionsverhältnisses der Kopf verdreht sein wird. Insofern also ist auch bei MARX die Übereinstimmung mit der Erkenntniswirklichkeit der Maßstab für die - absolute - Richtigkeit des Denkens. Abgesehen von dieser absoluten und eschatologisch [in Bezug auf die "letzten Dinge" - wp] erwarteten Richtigkeit gibt es aber eine geschichtlich-relative. Alles bisherige Denken ist falsch, ist verzerrt, weil es durch die Produktionsverhältnisse bedingt und verbogen ist, in denen die Klassen (und die Menschen als Klassenglieder) stehen. Auch das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft denkt falsch, denn es sieht die Tatsachenwelt durch die Brille des Klassenantagonismus. Da es aber diejenige Klasse ist, die dank MARX und durch seine Augen, schon die klassenlose Gesellschaft voraussieht, denkt das Proletariat verhältnismäßig richtiger als das Bürgertum und irgendeine Klasse vorher. Dem Proletariat gehört die Zukunft. Sein Denken befindet sich in Übereinstimmung mit dem Geschichtsverlauf selbst. Darin liegt die Richtigkeitsgarantie. Aus diesen Sätzen ergeben sich aber Folgerungen für die Ideologien anderer Klassen. Durch alle Geschichte haben Produktionsverhältnisse und ihnen entsprechende Klassenherrschaften einander abgelöst. Immer hat die - nächste - Zukunft einer revolutionär aufstrebenden Klasse gehört. Immer war also jeweils das Denken dieser Klasse "relativ richtig", d. h. im Einklang mit dem Geschichtsverlauf. Sobald aber die revolutionäre Klasse zur herrschenden wurde, d. h. mit dem endgültigen Sieg ihrer Revolution, tritt ihr, wegen der Unvollständigkeit aller vergangenen Revolutionen, eine neue "betrogene" Klasse als revolutionär gegenüber. Nun wird das Denken dieser Klasse relativ richtig. Der Unterschied zwischen dem Denken früherer revolutionärer Klassen und dem Denken des Proletariats liegt also darin, daß jenen nur die nächste, dem Proletariat aber, dank der Vollständigkeit seiner Revolution, die ewige Zukunft gehört. Jene Ideologien sind daher nur vorübergehend relativ richtig, das siegreiche Proletariat aber wird absolut richtig denken. Das Ergebnnis ist: das Denken kann auf zweierlei Art richtig sein, nämlich absolut, am Maßstab der objektiven Erkenntniswirklichkeit gemessen, und relativ, am Maßstab der Geschichtsphase gemessen. Das bürgerliche Denken ist um 1780 herum zwar absolut falsch, weil es an die Kategorien eines Klassenantagonismus gebunden ist, aber relativ richtig, weil es revolutionär die nächste Zukunft, das 19. Jahrhundert, auf seiner Seite hat. Im 19. Jahrhundert aber, nach erfolgreicher bürgerlicher Revolution, wird das bürgerliche Denken sozusagen "falsch im Quadrat". Absolut falsch ist es von vornherein, weil es kein Denken in einem klassenlosen Gesellschaftsraum ist. Und relativ falsch ist es, seitdem die nächste Zukunft nicht mehr dem Bürgertum, sondern seiner proletarischen Anti-Klasse gehört. Das absolut richtige Denken steht als noch zu realisierendes Ziel am Ende des Geschichtsverlaufs. Das relativ richtige Denken aber hat durch alle Geschichte gewechselt: Was gestern relativ richtig, wenn auch absolut falsch war, ist heute wohl relativ als auch absolut falsch, weil die Geschichte darüber hinweggegangen ist. Hier dringt zweifellos schon der Begriff einer Existentialwirklichkeit ein. Die im Vorangehenden berufene relative Richtigkeit ist nämlich nicht auf eine außerhalb des Denksubjekts gegebene Sachwirklichkeit bezogen, sondern auf den, obendrein vorübergehenden, Platz des Denkobjekts (Klasse) im Geschichtsprozeß. Die relative Richtigkeit ist mit anderen Worten einfach eine zeitlich bedingte Standort-Adäquatheit des Denkens. MARX würde dazu sagen, daß diese Standort-Adäquatheit ein objektiver Maßstab ist. Hier kommt sein besonderer Pragmatismus zur Geltung. Daß der revolutionären Klasse die Zukunft gehört, wird durch den folgenden Geschichtsverlauf erwiesen. Die Geschichte selbst verifiziert die Ideologie der revolutionären Klasse. Das Bürgertum hat gesiegt. Dies ist eine objektive Tatsache. Sie beweist, daß das revolutionäre Bürgertum sich in seinem Denken in Übereinstimmung mit seiner Stellung im Geschichtsverlauf befunden hat. Hält aber diese Verifikation stand? Ich deute hier die Einwendungen nur kurz an:
2. Wenn es einer Klasse gelingt, die in ihrem revolutionären Denken vorweggenommene soziale Welt zu verwirklichen, liegt darin keine vom Denksubjekt (Klasse) unabhängige Bestätigung seines Denkens, denn die Klasse selbst führt - zumeist durch eine Gewalttat - diese Verwirklichung herbei. 3. Beim Interpreten des Geschichtsverlaufs besteht eine Neigung, die geschichtliche Standort-Adäquatheit der revolutionären Ideologie in den folgenden Geschichtsverlauf hineinzulesen. Dafür sind die heutigen Marxisten ein Schulbeispiel. Die meisten der von MARX aufgestellten Geschichtsprognosen sind für den kühlen Beobachter durch den seitherigen Geschichtsverlauf Lügen gestraft. Den orthodoxen Marxisten gelingt es aber, durch hundert Auslegungskünste teils die Prognosen von MARX so zu modifizieren, daß sie auf den Geschichtsverlauf passen, teils den seitherigen Geschichtsverlauf so zu deuten, daß MARX "im Grunde" recht zu behalten scheint. Es ist ein ganz ähnliches Verfahren wie das des gläubigen Christen, der jedes beliebige Geschehen zu einem Beweis für die Vorsehung Gottes zu wenden vermag. Darum hat dann LUKACS die ursprünglichen, auf HEGEL zurückgehenden metaphysischen Grundlagen der MARXschen Ideologienlehre (Lehre vom Klassenbewußtsein) wieder hergestellt. In seinem Gedankengebäude tritt die Existentialwirklichkeit als Maßstab richtigen Denkens unverkennbar zutage (3). Das Subjekt des Klassendenkens ist nicht (psychologisch) der Klassenangehörige, sondern die Klasse als solche. Er sagt: das Klassenbewußtsein ist
Wir sind an dem Punkt angelang, wo wir die Entscheidung zwischen theoretischer Erkenntniswirklichkeit und pragmatischer Existentialwirklich treffen können. Die Wirklichkeit, an der Aussagen oder ganze Aussagengebäude auf ihre Richtigkeit oder Ideologiehaftigkeit hin zu messen sind, muß die theoretische Erkenntniswirklichkeit sein, wie immer diese dann bestimmt werden mag. Die Existentialswirklichkeit ist als solche gar nicht erfaßbar. Wenn eine Aussage als daseinsadäquat (den Daseinsumständen des Sprechenden angemessen) bezeichnet wird, kann damit zweierlei gemeint sein. Entweder will man einfach sagen: daß XY so denkt und urteilt, ist eine Folge der gesamten Lebensumstände, in denen er sich befindet. Dann wird sein Denken, so wie es ist, hingenommen und durch Existentialbedingungen zu erklären versucht. Eine Richtigkeitskritik ist da unmöglich. Und wenn - hypotheitisch gesprochen - mehrere in völlig gleicher Existentiallage verschieden denken, kann das nur festgestellt werden. Daß der eine recht, der andere unrecht hat, läßt sich nicht entscheiden. Es ergäbe sich einfach - um mit LUKÁCS zu sprechen -, daß die "Reaktion der Menschen auf gleiche Existentialbedingungen" verschieden ist, wahrscheinlich deshalb, weil die Menschen charakteriologisch verschieden sind, gleiche Umstände also verschieden auf sie wirken. Oder man behauptet, daß jemand "im Widerspruch mit seiner Existentiallage" denkt. Dann setzt das den Regreß auf eine theoretische Erkenntniswirklichkeit voraus. Der proletarisch und der nicht-proletarisch denkende Lohnarbeiter z. B. beurteilen ihre existentiale Lage verschieden. Der eine sieht sein Heil in einer sozialistischen Revolution, der andere in der Ausnutzung der Chancen, die ihm die bürgerliche Gesellschaft bietet, und in einer Reform der bürgerlichen Institutionen. Wer von beiden "recht hat", bleibt ewig unentschieden, sofern man in der Ebene der Existentialwirklichkeit bleibt. Es ist LUKÁCS, der ein Urteil darüber abgibt, wie der Lohnarbeiter reagieren müßte, wenn er seine Existentiallage voll und richtig erfassen würde. LUKÁCS kann ein solches Urteil abgeben, indem er den Geschichtsverlauf und die Existentiallage des Lohnarbeiters in ihr als Erkenntniswirklichkeit analysiert. Nur so kann er entscheiden, daß das Denken des einen der Existentiallage der Klasse pragmatisch angemessen (erfolgversprechend), das den anderen aber illusorisch ist. In ganz entsprechender Weise kann die existentiale Richtigkeit des an der rassisch-völkischen Daseinsform ausgerichteten Denkens nur behauptet werden, wenn man als feststehend voraussetzt, daß die Rasse "die wahre Substanz der Geschichte" ist. Dies aber setzt voraus, daß man den Geschichtsverlauf als ein Phänomen der theoretischen Erkenntniswirklichkeit analyisiert und den Schluß gezogen hat: die Rasse ist seine wahre Substanz. Im Vorübergehen sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß PFENNING gleich dem Marxismus sich auf den geschichtlichen Erfolg als Verifikation der Theorie beruft. "In der nationalsozialistischen Revolution offenbarte sich die Rasse als wahre Substanz der Geschichte." Und was hat sich dann im Zusammenbruch des Nationalsozialismus als neue "wahre Substanz" geoffenbart? Unbeantwortet bleibt übrigens die Frage, nach welchen Maßstäben zu entscheiden ist, welche Urteile oder Aussagen dem rassisch-völkischen Dasein existential angemessen sind. Darüber waren offenbar die Nationalsozialisten selbst ebenso verschiedener Ansicht wie die Marxisten über die "richtige" proletarische Klassenideologie. Ich schließe diese Betrachtungen über den Charakter einer maßstäblichen Wirklichkeit, indem ich feststelle: Die Existentialwirklichkeit ist entweder subjektiv von der pragmatischen Interpretaton der Daseinsform durch in ihr Lebenden abhängig und damit als Maßstab für die Richtigkeit oder Ideologiehaftigkeit des Denkens unbrauchbar. Oder die Existentialwirklichkeit wird zuerst durch den Rückgriff auf eine theoretische Erkenntniswirklichkeit ihrer Struktur nach bestimmt und hieraus der Schluß gezogen, daß eine bestimmte pragmatische Gesellschaftsauffassung dieser sozialen Daseinsstruktur entspricht. Diejenige Wirklichkeit, von der die Rede sein kann, wenn die Ideologie als "nicht mit ihr übereinstimmend" bezeichnet wird, kann also nur die theoretische oder Erkenntniswirklichkeit sein. Die nächste Frage ist dann, wie diese Erkenntniswirklichkeit vom Unwirklichen abzugrenzen ist. Der Leser erwarten nun vielleicht, daß ihm zuerst klipp und klar auseinandergesetzt wird, was Erkenntniswirklichkeit ist, worin sie besteht, und daß man ihm hierauf vorführen wird, wie diese Wirklichkeit richtig zu erkennen ist. Das würde aber bedeuten, daß wir uns mitten in einen ewigen Streit um metaphysische Prinzipien stürzen. Ich vermeide solche nutzlose Diskussionen - nutzlos, weil den Streitenden jene gemeinsame Grundlage fehlt, auf welcher der eine den andern überzeugen könnte. Die Möglichkeit, diesem Streit auszuweichen, liegt in einer, wie man zu sagen pflegt, "operativen" Definition der Wirklichkeit. Das bedeutet, daß ich nicht zu bestimmen versuche, was die Wirklichkeit ist, sondern angebe, was im Folgenden mit "Wirklichkeit" gemeint ist. Zu diesem Zweck beschreite ich den umgekehrten Weg. Ich kennzeichne zuerst eine besondere Art von Aussagen und erzähle dann: all das, worüber Aussagen dieser Art gemacht werden können, soll "Wirklichkeit" genannt werden. Die Aussagen, die ich dabei im Auge habe, sind von solcher Art, daß ihr Inhalt als richtig oder falsch aufgewiesen - verifiziert oder falsifiziert - werden kann. Dieser Fall liegt vor, wenn die Aussage nichts anderes ist als die Verarbeitung von Beobachtungen nach den Regeln der Logik. Man kann sich da auf Sinneswahrnehmungen berufen. Man kann nachprüfen, ob das Wahrnehmungsmaterial vollständig oder lückenhaft ist. Ob die Beobachtungstechnik zuverlässig oder trügerisch ist. Ob die Schlußfolgerungen logisch zu verantworten sind oder nicht. Ob z. B. der Aussage-Inhalt die im Aussage-Material liegenden Schlußmöglichkeiten überanstrengt hat, d. h. ob aus den gesicherten Beobachtungen zu weitgehende Folgerungen gezogen wurden. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit solcher Aussagen kann demonstriert werden. Das klassische Beispiel dafür ist das Experiment. Solche Aussagen nun können nur über Gegenstände gemacht werden, die mit unseren Sinnen - unmittelbar oder mittelbar - wahrgenommen werden können, und über solche Gegenstände nur insoweit, als ihre - unmittelbar oder mittelbar - mit den Sinnenwahrzunehmenden Eigenschaften in Frage stehen. Den Inbegriff dieser Gegenstände nenne ich "Erkenntniswirklichkeit". Sie fällt mit dem in Raum und Zeit Gegebenen zusammen, denn nur dieses ist sinnlich wahrnehmbar. Mein Verfahren hat den Vorteil, daß es uns der Diskussion mit jenen enthebt, die z. B. den Ideen Wirklichkeit zuschreiben, oder mit denen, die von einer subjektiven Erlebniswirklichkeit, von übersinnlicher (transzendenter) Wirklichkeit usw. sprechen. Das heißt gewiß nicht, daß ich mich um eine Schwierigkeit herumdrücke, sondern nur, daß ich sie für den Zweck meiner Untersuchung unschädlich mache. Den Verkündern jener anderen "Wirklichkeiten" kann ich nämlich Folgendes antworten: Daß ihr diese Vorstellungsinhalte (Auch-) Wirklichkeiten nennt, daß ihr die Möglichkeit von Wahrheitsaussagen über sie behauptet, hat mit meiner Frage nichts zu tun. Auch ihr müßt einräumen, daß die angebliche Wirklichkeit von Ideen, Erlebnisinhalten, Übersinnlichkeiten und dgl. anderer Art ist als die Wirklichkeit der sinnlich wahrnehmbaren, raum-zeitlichen Gegenstandswelt. Ihr mögt sogar jenen außer-sinnlichen Gehalten einen höheren Wirklichkeitsrang zusprechen als unserer sinnlichen Wirklichkeitswelt. Darüber werden wir nicht mit euch streiten. Aber ihr seid mit uns darüber einig, daß Gott in einem anderen Sinn "wirklich ist" als die sichtbaren, hörbaren, ertastbaren Erscheinungen. Daß die subjektive Erlebniswirklichkeit etwas anderes ist als die objektive Wirklichkeit äußerer Dinge. Und endlich: daß die über solche Inhalte auszusagenden "Wahrheiten" in einem anderen Sinn "wahr" sind als die Feststellungen von sinnlich Wahrgenommenem und die logisch daraus gezogenen, demonstrierbaren Schlußfolgerungen. Selbst die Theologen haben das heute eingesehen. Ihre rationalisierenden Vorfahren haben in der Tat der Sache des Glaubens einen Bärendienst geleistet, indem sie die "Existenz Gottes" aus der phänomenalen Welt "beweisen" wollten. Die innere Gewißheit des Glaubens ist von der äußeren Gewißheit verstandesmäßigen Erkennens grundsätzlich verschieden. Für meine gegenwärtigen Zwecke ist es ohne grundsätzliche Bedeutung, ob man zwischen der sinnlichen, in Raum und Zeit gegebenen Wirklichkeit und einer "anderen" Wirklichkeit unterscheidet oder - wie ich das allerdings tue - nur eine Wirklichkeit, nämlich die erste, anerkennt. Was in jedem Fall bleibt, ist dies: die Aussagen über das eine und das andere werden in völlig verschiedener Weise gewonnen und sind von entsprechend verschiedener Geltung. Man kann das, worauf es hier ankommt, in folgender Weise ausdrücken. Aussagen über die theoretische Erkenntniswirklichkeit können durch Augenschein und Logik so belegt oder widerlegt werden, daß ein Ausweichen unmöglich ist. Aussagen über andere "Wirklichkeiten" entziehen sich einem solchen Prüfungsverfahren. Man kann das Gegenteil behaupten. Dann steht eben Satz gegen Satz. Die Metaphysiker werden allerdings einwenden, daß auch die Erfahrung im Sinne des von mir vertretenen Positivismus ihre Voraussetzungen hat, die nicht selbst durch Erfahrung zu begründen, d. h. apriorisch sind. Darauf komme ich gleich zurück. Zunächst sind die folgenden beiden Sätze gesichert:
2. Theoretische oder Erkenntniswirklichkeit ist der Inbegriff der raumzeitlich bestimmten und daher unmittelbar oder mittelbar sinnlich wahrzunehmenden Erscheinungen. Der beliebteste Einwand ist der sehr triviale, daß "auch die Wissenschaft irren kann". Wenn man für "die Wissenschaft" den Gelehrten, den Forscher setzt, ist das unzweifelhaft richtig, aber es hat mit dem Wirklichkeitscharakter wissenschaftlicher Aussagen nichts zu tun, insbesondee aber nichts mit dem Ideologieproblem. Wenn man gegen eine Aussage geltend machen kann, daß "es sich in Wirklichkeit nicht so, sondern anders verhält", und wenn man imstande ist, ihre Fehlerhaftigkeit nachzuweisen, so ist damit ansich noch nicht gesagt, daß die Aussage ideologisch ist. Sie ist falsch. Und natürlich sind von Forschern ungezählte falsche Behauptungen aufgestellt worden. Viele sind inzwischen berichtigt - darin besteht der Fortschritt der Erkenntnis -, viele werden später als falsch erkannt und berichtigt werden. Die ideologische Abweichung von der Erkenntniswirklichkeit besteht darin, daß eine Aussage sich gar nicht auf ein Erkenntniswirkliches bezieht oder beschränkt, sondern wirklichkeitsfremde Elemente enthält. Die ideologische Aussage ist kraft ihrer Art und ihres Gegenstandes der empirischen Bewahrheitung oder Widerlegung unzugänglich. Eine unrichtige Aussage kann sehr wohl ideologiefrei sein. "Was gestern für richtig galt, wird heute als falsch erwiesen. Wo bleibt da die objektive Wahrheit?" Das ist ein törichter Satz. Gerade darin, daß bisher für Richtiggehaltenes falsifiziert werden kann, so daß jedermann den bisherigen Irrtum einsieht - gerade darin bewährt sich die Objektivität einer Aussage. Daß sie aber ideologisch ist, dies geht aus einer Analyse hervor, die feststellt: die Aussage betrifft etwas, worüber in alle Ewigkeit, d. h. grundsätzlich, keine empirisch entweder belegbare oder widerlegbare Behauptung aufgestellt werden kann. Dies ist entweder der Fall, weil der Aussagegegenstand selbst außerhalb der Erkenntniswirklichkeit liegt (sie transzendiert), oder weil über einen Wirklichkeitsgegenstand etwas ausgesagt wird, das nicht zu den ihn als ein Wirkliches bestimmenden Eigenschaften gehört. Als Beispiele führe ich hier zwei Sätze an:
Die besondere, als ideologisch bezeichnete Nicht-Übereinstimmung einer Aussage mit der Erkenntniswirklichkeit liegt somit darin, daß der Aussage-Gegenstand keinen Anhaltspunkt für eine verifizierende oder falsifizierende Nachprüfung des Aussage-Inhaltes bietet. Die ideologische Aussage ist somit nicht falsch in dem Sinne, daß ihr Gegenteil oder ein auf gleicher Aussage-Ebene liegender anderer Aussage-Inhalt richtig wäre. Sie ist vielmehr in einem erkenntnistheoretischen Sinn illegitim. Die hiermit abzuschließende Betrachtung läßt - dessen bin ich mir wohl bewußt - gewisse Fragen offen. So man man z. B. einwenden, daß die Beobachtung der als theoretische oder Erkenntniswirklichkeit bezeichneten Gegenstände dem Ideologieverdacht unterworfen ist. Die Sinnesorgane selbst sind trügerisch oder die durch sie vermittelte Wahrnehmung kann durch Wunsch- und Willensrichtung beeinflußt sein. Oder endlich: die Sinnesorgane sind in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit beschränkt, erfaßten also die Erkenntniswirklichkeit nicht vollständig. Das alles wird hier willig zugegeben. In teilweise Vorwegnahme des letzten Einwandes wurde oben von "unmittelbarer oder mittelbarer" Sinneswahrnehmung gesprochen. Zweitens wird man an der Allgemeingeltung der Logik zweifeln. LÉVY-BRUHL hat bekanntlich ein in seinen Grundlagen von unserer Logik abweichendes, prälogisches Denken nachweisen zu können geglaubt. Sicher ist, daß mit gewissen Geistesstörungen sehr genau beschreibbare Abwege der Logik verknüpft sind (z. B. der paranoische Beziehungswahn). Es ist hier nicht zulässig, solche abweichenden Bahnen der logischen Verkettung von Beobachtungen und Vorstellungen einfach als Symptome von Verrücktheit abzutun und sich auf den "normalen Menschen" zu berufen. Es könnte ja sein, daß die Verrückten Genies und die Normalen Dummköpfe sind. Endlich mag man einwerfen, ich hätte oben den logischen Schnitzer als einen nicht-ideologischen Denkfehler bezeichnet. Es bestehe doch aber die Möglichkeit, daß eine interessierte oder andere Befangenheit des Denkenden sein logisches Vermögen abstumpft. Dies gebe ich zu. Was ich behauptet habe, ist nur dies, der Fehler in der logischen Verarbeitung von Beobachtungen ist nicht ansich ideologisch. Inwieweit ein logischer Fehler auf ideologische Quellen zurückzuführen ist, ist im Einzelfall durch eine Analyse festzustellen, ebenso wie ein Beobachtungsfehler ideologisch bedingt sein kann. All das sind lose Enden, die später zurechtzustutzen sind. Vorerst verfolge ich das angeschlagene Hauptthema und untersuche des Näheren, worin die Jllegitimität der ideologischen Aussage besteht. Zu diesem Zweck wählen wir einen klassischen Sonderfall: das Werturteil.
1) Andreas Pfenning, "Zum Ideologie-Problem", Volk im Werden, Bd. IV, 1936, Seite 500-511. 2) Artikel "Wissenssoziologie" in Vierkandts "Handwörterbuch der Soziologie", 1931, Seite 662. 3) Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, daß Lukács später diese Theorie aufgegeben hat. Hier kommt es nicht darauf an, Lukács zu kritisieren, sondern die Beziehung des Ideologiebegriffs auf den der Existentialwirklichkeit darzustellen. Hierfür ist Lukács' früheres Werk über "Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923) ein vortreffliches Beispiel. |