ra-4Die Neukantianer
 
Kant für Anfänger
FRITZ K. RINGER

KANTs Kritik, kurz und etwas grob formuliert, richtet sich gegen die einfache Auffassung der Erfahrung des "gesunden Menschenverstandes". Nach dieser Auffassung beruth unsere Erkenntnis auf verläßlichen Wahrnehmungen der Außenwelt: Wir sehen die Gegenstände um uns herum und beobachten deren Bewegungen. Die "Dinge", die wir in dieser Weise entdecken, brauchen wir nur zusammenzufügen, um zu einer immer vollständigeren Kenntnis der Wirklichkeit zu gelangen. Nach einer subtileren Version dieser Theorie sind Empfindungen voll und ganz durch physikalische und physiologische Ursachen bestimmt, während unsere Vorstellungen ihrerseits nur Folgen unserer Empfindung sind. Auf jeden Fall ist unsere Erkenntnis selbst in gewisser Hinsicht ein Teil der natürlichen Ordnung von Objekten und Bewegungen, welche sie widerspiegelt und erfaßt. Aus diesem Grund ist nichts an ihr besonders problematisch.

Die kantische Philosophie widerspricht allen Varianten dieser Auffassung des "gesunden Menschenverstandes". Ihre Kritik verfolgt eine mehr logische weniger psychologische Absicht. Ihre Grundfrage ist, wie ungeformte und unverbundene Empfindungen umgewandelt werden in kohärente Erfahrungen von Objekten in der Außenwelt. Was ist für den offenbaren Zusammenhalt und die Objektivität unserer Erfahrung verantwortlich? Wie entsteht unser Sinn für Zeit und Raum, ohne die wir unsere Wahrnehmungen nicht organisieren könnten? Natürlich haben wir überhaupt keine direkte Erfahrung von der Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Auf jeden Fall können wir nicht zunächst Kausalbeziehungen zwischen Objekten und Empfindungen, zwischen Empfindungen und Vorstellungen annehmen und dann so tun, als hätten wir den Kausalzusammenhang allein durch unsere Empfindungen "entdeckt". In groben Zügen ist dies das Problem, das ERNST CASSIRER als Terminismus bezeichnet hat.

Jeder Kantianer würde besonders betonen, daß es ein logisches Problem und keine gewöhnliche Tatsachenfrage ist. Nichts verbietet uns, so würde er sagen, uns weiterhin mit empirischen Untersuchungen zu beschäftigen, solange wir zwei Regeln beachten. Erstens müssen wir einräumen, daß bestimmte Elemente a priori, bestimmte logische Kategorien, in unserer Erfahrung notwendigerweise vorhanden sein müssen, um ihr eine strukturierte objektive Qualität zu verleihen. Zweitens müssen wir der Versuchung widerstehen, unsere Vorstellungen mit Beziehungen zwischen Objekten gleichzusetzen. Wir müssen die Erkenntnis als ein menschliches Konstrukt auffassen, nicht als einen Abdruck des "Dings ansich". Wer auch nur von Fern mit diesen erkenntnistheoretischen Problemen vertraut ist, wird gegenüber den einfältigeren philosophischen Auswertungen der empiristischen Tradition permanent auf der Hut sein.

Ein philosophisch unerfahrener Empirist und ein naiver Realist neigen unbewußt dazu, sich auf gewisse metaphysische Voraussetzungen über die Existenz der Außenwelt und der Verhältnis zwischen den Objekten und Vorstellungen zu stützen. Beide werden vom neukantianischen Gesichtspunkt aus zu Materialisten, sobald sie zu glauben beginnen, daß alle Gegenstände, Ereignisse und Vorstellungen Teile eines einzigen ununterbrochenen Systems sich bewegender Partikel sind. Der Irrtum des Psychologismus lag nach Auffassung der Neukantianer in der Tendenz, die apriorischen Elemente in unserem Denken als empirische Eigenschaften des Geistes oder der Erkenntnisfunktionen anzusehen. Im Widerstand gegen diesen Fehlschluß wiederholten die Schüler KANTs, daß keine noch so genaue empirische Untersuchung von Wahrnehmung und Denken die rein logische Diskontinuität zwischen der Erfahrung und dem "Ding ansich" beseitigen könne.

Nach dem Schema des gesunden Menschenverstandes kann die menschliche Erkenntnis als Produkt eines in erster Linie quantitativen Wachstumsprozesses dargestellt werden. Kleine Stückchen von Erfahrung werden ihr zufolge nach und nach angesammelt und zusammengefügt. Diese Stückchen werden als Tatsachen bezeichnet, wobei es im allgemeinen Sprachgebrauch unklar bleibt, ob sich das Wort "Tatsache" auf eine bestimmte Art von Sätzen, auf Vorstellungen oder auf etwas bezieht, was in der Welt um uns herum "entdeckt" wird. Im System des gesunden Menschenverstandes ist diese Zweideutigkeit durchaus angebracht, da sie die enge und notwendige Beziehung zwischen der Erfahrung und dem Ding ansich widerspiegelt. Nach dieser Auffassung sind die Menschen jedenfalls damit beschäftigt, Tatsachen zu akkumulieren, um die "Grenzen der Erkenntnis" weiter vorzutreiben. Theorien sind, um dieses Schema abzurunden, einfach Summierungen von Tatsachen. Auch sie werden "entdeckt", und es besteht keinerlei Notwendigkeit für philosophische Spekulationen irgendwelcher Art. Der neukantianischen Kritik zufolge ist dies die Auffassung des Positivismus.


LITERATUR, Fritz K. Ringer - Die Gelehrten, München 1987