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THEODOR GEIGER
Ideologie und Wahrheit
- eine soziologische Kritik des Denkens -
[2/4]

"Sofern der Mythos bei den Untertanen die beabsichtigte Wirkung tut, d. h. sie tatsächlich verblendet, ist ihre Erkenntnis der Wirklichkeit durch die mythischen Vorstellungen getrübt und gesteuert. Der Mythos spielt die Rolle eines vorurteilsvollen Auffassungs- und Erklärungsschemas. Er ist ein durch Suggestion und Gewöhnung eingewurzelter Komplex von Vorstellungen, die den Gläubigen vom direkten und unbefangenen Zugang zur Wirklichkeit absperren, sich in seine sachliche Erkenntnis der Wirklichkeit einmengen. Man hat hier einen klassischen Fall der idola theatri des Bacon: nicht die Natur des Gegenstandes, sondern die Autorität einer Irrlehre bestimmt das Urteil des Denkenden über den Gegenstand. - Der Mythos ist also zu einer Ideologie der Betrogenen geworden, nicht aber ist er eine Ideologie der Betrüger."


Kapitel II
Ideologie und Lüge

Die eine der beiden Aufklärungstheorien über die Ideologie ist diejenige vom sogenannten Priester- und Herrentrug. Ihr Inhalt ist in Kürze, daß die Herrschenden den Beherrschten ein X für ein U vormachen und daß sie dadurch sicherer als durch bloß äußere Machtmittel in Unterwürfigkeit halten. Heute würde man das einen politisch-sozialen Mythos nennen. Sofern die Untertanen an solche Fabeln glauben, sind sie wirtschaftlich leichter auszubeuten, sind sie ein fügsames Material für den konstruktiven Ehrgeiz der Geschichtemacher. Der Herrschende ist an der Unwissenheit der Massen interessiert.

Die politische Philossophie der Aufklärrung war demokratisch, jedenfalls insofern, als sie der absoluten Fürstenherrschaft und den ständischen Privilegien den Kampf ansagte. Die Volksherrschaft konnte nicht verwirklicht werden, solange der Untertan im Bann des von Priesterschaft und Herrenschicht verbreiteten Mythos stand. Das Volk aus dieser geistigen Umnachtung zu befreien, es im allgemeinen - ganz besonders aber politisch - aufzuklären, war eine Grundvoraussetzung demokratischer Zukunft. Nur eine aufgeklärte Bevölkerung ist fähig, eine Kontrolle über ihre Regierungsorgane auszuüben. Daß die Kritik der Aufklärungsphilosophie sich insbesondere gegen den religiösen Mythos, den "Priestertrug" richtetef, ist nicht nur aus der rationalistischen Religionsfeindlichkeit der Aufklärung zu begreifen, sondern war, unter den damaligen Zeitumständen, politisch wohl begründet. Die Herrschaftsansprüche der Dynastien -, "von Gottes Gnaden" - wie auch die bevorrechtete Stellung des Adels fanden in der Lehre der Kirche und im Glauben an ihre Dogmen die denkbar stärkste Stütze. Auch später noch war die politische Macht sich ihres Rückhalts in der Gottergebenheit der Untertanen wohl bewußt und scheute vor dem zynischen Eingeständnis nicht zurück: "Dem Volk muß die Religion erhalten bleiben" - Aufgeklärtheit ist nur für die oberen Zehntausend.

Bezeichnet man den Priester- und Herrentrug als Ideologie, so ergibt sich folgendes Bild des Zusammenhangs. Der Mythos ist eine Erfindung der Priester und ihrer Brotgeber, der Herrenkaste, welcher der Köhlerglaube des Volkes an den Mythos nützlich ist. Das Volk ist verblendet, ist in Blindheit gehalten. Die Urheber der "Ideologie" aber kennen die Wahrheit, sie sind sehend und aufgeklärt. - Man muß damit die Interessentheorie vergleichen, die auf einen gerade umgekehrten Sachverhalt abzielt. Das praktische Interesse des Denkenden, seine Wunsch- und Willensrichtung verblendet ihn selbst. Der Urheber der ideologischen Aussage ist nicht imstande, den Tatsachen ins Auge zu sehen, sondern deutet sie seinen Interessen gemäß um. Er ist der Getäuschte, nicht der Täuschende.

Sofern der Ideologiebegriff einen Tadel enthält, bedeutet er in der Interessentheorie einen intellektuellen Vorwurf -: "Du läßt deine Gefühle mit dem Verstand durchgehen!" - in der Priestertrugtheorie aber liegt ein moralischer Vorwurf -: "Du hältst andere in Unwissenheit, um sie für deine Zwecke auszunutzen."

Nachmals sind dann aber beide Vorstellungen ineinandergeflossen -, wenn sie jemals ganz klar geschieden waren. Sogar in MANNHEIMs Ideologienlehre ist das Lügenmotiv noch enthalten und auf die Interessenideologie übertragen. Er kennzeichnet geradezu seine Ideologienlehre - im Gegensatz zur Wissenssoziologie -, indem er ihr die Aufgabe stellt, "die mehr oder weniger bewußten Lügen und Verhüllungen der menschlichen Parteiungen ... zu entlarven" (1). Daß hier nicht nur ein zufälliges Abgleiten der Ausdrucksweise vorliegt, geht aus der mehrfachen Wiederholung des Wortes "Lüge" im gleichen Zusammenhang hervor, auch in dem früheren Werk des Verfassers über "Ideologie und Utopie" (1929).

Ein Ideologiebegriff, der sowohl den Tatbestand der Selbsttäuschung als auch den der vorsätzlichen Lüge umfaßt, wäre offenbar wenig brauchbar, ja widersinnig. MANNHEIM wird von diesem Vorwurf nicht getroffen. Das Lügenmotiv geht nur in seinen Begriff der partikulären Ideologie ein, wogegen die von ihr vermeintlich grundverschiedene totale Ideologie mit Lüge nichts zu tun hat.

Ich behaupte dagegen, daß eine Lüge niemals als solche eine Ideologie sein kann, ja, daß der Begriff der Lüge überhaupt nichts in einer wissenschaftlichen Lehre von den Ideologien zu suchen hat. Das geht im Grunde schon aus dem früher mehrfach hervorgehobenen Satz hervor, wir könnten uns in der Ideologienlehre nur mit Aussagen anderer befassen, nicht aber mit ihrem "Denken", d. h. der Gehirntätigkeit, deren Ergebnis in der Aussage seinen Ausdruck findet. Der Begriff der Lüge bedeutet ja nicht einfach eine objektive Unwahrheit des Aussage-Inhaltes. Wer sich irrt, der lügt nicht. Der Begriff der Lüge enthält den Vorwurf: XY sagt da etwas objektiv Unwahres, obwohl er den wahren Sachverhalt kennt. Man spricht dem Urheber einer Aussage die Gutgläubigkeit ab. Damit sind die Menschen im täglichen Verkehr schnell bei der Hand.

Nun weiß ich allerdings, daß es den Sachverhalt der Lüge wirklich gibt. Ich habe nämlich selbst gelegentlich gelogen und kann kaum annehmen, ein einzig dastehender Fall zu sein. In gewissen konkreten Fällen spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß der andere gelogen hat. Er gesteht z. B. später selbst ein, wider besseres Wissen die Unwahrheit gesagt zu haben (z. B. vor Gericht, angesichts eines erdrückenden Beweismaterials). Oder er hat mir einen Sachverhalt in einer Version dargestellt, ich erfahren aber nachträglich, daß er beinahe gleichzeitig einem Dritten das Gegenteil gesagt hat. Oder die Handlungsweise des XY widerspricht dem, was er sagt. - Kurz und gut: zuweilen liegen Symptome vor, die mich zu dem Schluß berechtigen, jemand habe sehr wohl gewußt, daß seine Aussage objektiv unrichtig war.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß wir nur von einem - obendrein verhältnismäßig kleinen - Teil der objektiv unwahren Aussagen anderer mit Sicherheit behaupten können: sie lügen. Diese Sicherheit ist aber besonders gering, wo es sich um Aussagen handelt, an deren Gegenstand der Sprechende vital interessiert ist. Insofern scheint mir MANNHEIMs Begriff der partikulären Ideologie geradezu einen Rückschritt zu bedeuten. Es hat seinerzeit zwar zur Verschärfung der politischen Spannungen, aber auch zur Läuterung der Streitatmosphäre beigetragen, als MARX - wenn auch mit gelegentlichen Rückfällen in den Heuchelei- Vorwurf - feststellte: der Kapitalist kann gar nicht anders denken, an seinem guten Glauben ist nicht zu zweifeln. Er ist an seine Klassenlage gebunden und in ihre Interessen verstrickt.

Es fragt sich nunmehr, ob der Priester- und Herrentrug überhaupt etwas mit Ideologie zu tun hat. Sofern die Priester und Herren bewußt lügen - gesetzt, man kann ihnen das bündig nachweisen -, ist der Mythos sicherlich nicht ihre Ideologie. Sie denken ja richtig. Betrachten wir aber die andere Seite. Sofern der Mythos bei den Untertanen die beabsichtigte Wirkung tut, d. h. sie tatsächlich verblendet, ist ihre Erkenntnis der Wirklichkeit durch die mythischen Vorstellungen getrübt und gesteuert. Der Mythos spielt die Rolle eines vorurteilsvollen Auffassungs- und Erklärungsschemas. Er ist ein durch Suggestion und Gewöhnung eingewurzelter Komplex von Vorstellungen, die den Gläubigen vom direkten und unbefangenen Zugang zur Wirklichkeit absperren, sich in seine sachliche Erkenntnis der Wirklichkeit einmengen. Man hat hier einen klassischen Fall der idola theatri des BACON: nicht die Natur des Gegenstandes, sondern die Autorität einer Irrlehre bestimmt das Urteil des Denkenden über den Gegenstand. - Der Mythos ist also zu einer Ideologie der Betrogenen geworden, nicht aber ist er eine Ideologie der Betrüger.

Auch dazu kann er aber werden - ich möchte sagen: auch das ist er regelmäßig. Das heißt jedoch, daß er eben nicht - oder nicht mehr - Lüge ist. Wenn etwa eine Erobererkaste durch den Mund ihrer Priesterschaft den Glauben verbreitet, sie stamme von den Göttern ab und sei daher zur Herrschaft über die gemeinen Sterblichen berufen, so ist das zwar Blödsinn, aber vermutlich keine glatte Lüge. Die Betrüger glauben selbst an den Mythos, oder sie glauben an eine esoterische Lehre, die ihm verkündeten Mythos nur ihren exoterischen Ausdruck findet. Sie sind selbst verblendet. Der Mythos mag als eine Art von Interessenideologie der Herrenkaste entstanden sein, als ein Lehrgebäude, in dem die Herrenschicht eine scheinrationale Rechtfertigung für ihre Herrschaft findet. Man kann sogar aus historischer Beobachtung schließen, daß der Mythos aufhört, als solcher beiden Beherrschten wirksam zu sein, wenn die auf ihn sich berufende Herrenschicht selbst an ihm zu zweifeln beginnt. Unsicher im Glauben geworden, wird sie auch zaghaft und wankend in der Herrschaftsausübung. Politische Mythen verlieren ihre integrierende Kraft nicht nur durch das Sehendwerden der "Betrogenen" und ihren Widerstand, sondern nicht minder durch die in den Reihen der "Betrüger" sich verbreitende Skepsis.

Hier also berühren Priester- oder Herrentrug und Rationalisierung von Interessenstandpunkten einander. Beide sind, oder enthalten Elemente einer objektiven Unwahrheit. Beide sind Ideologien, solange und sofern die in ihnen verkapselten Wunsch-, Gefühls- und Willensmomente den Urheber der Aussage selbst trügen, ihm den Zugang zu ungeschminkter Wirklichkeitserkenntnis verbauen. Das heißt aber: solange und sofern er eben nicht lügt, sondern in erster Linie sich selbst, in zweiter Linie vielleicht auch andere betrügt.
LITERATUR: Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, Stuttgart/Wien 1953
    Anmerkungen
    1) Artikel "Wissenssoziologie" in Vierkandts "Handwörterbuch der Soziologie", 1931, Seite 660.