cr-2tb-1VolkeltBergmannMFKEnochBergmannMFK    
 
JOHANNES VOLKELT
Beiträge zur
Analyse des Bewußtseins

[ 3 / 3 ]

"Es entsteht hier die Frage, welche Rolle in dieser Erinnerungsgewißheit der Wortvorstellung und welche der Sachvorstellung zukommt. Ich begnüge mich, zu bemerken, daß die der Vorstellungsmöglichkeit niemals ausschließlich die Gewißheit bedeuten kann, sich lediglich den Wortschall, unter Wegbleiben der Sachvorstellung, vorstellen zu können. Dann würden mich die Dinge vielmehr gespenstisch und sinnlos anglotzen. Sondern jene Gewißheit muß so verstanden werden, daß sie nicht nur Gewißheit der Wortvorstellungsmöglichkeit, sondern auch, eine so wichtige Vermittlungs- und Stellvertretungsrolle man auch der Wortvorstellung zugestehen mag, eine Gewißheit der Sachvorstellungsmöglichkeit ist."

"Die Bewußtseinseinheit müßte, wenn sie sich aus Erinnerungsakten zusammensetzen würde, durchweg den Charakter des Vereinzelten, Zerstückelten, Abgerissenen tragen. In Wahrheit gibt sich uns die Bewußtseinseinheit als Kontinuitätsgefühl zu erkennen. Mein Bewußtsein spürt sich in jedem Zeitpunkt unmittelbar als den vorangehenden Zeitpunkt fortsetzend und eben in diesem Fortsetzen doch als ein und dasselbe. Das jeweilig gegenwärtige Bewußtsein fühlt sich ununterbrochen eins mit den soeben der Vergangenheit verfallenden Bewußtseinsstrecken."


II. Die Erinnerungsgewißheit
[Fortsetzung]

12. Ich fasse jetzt das Verhältnis der Erinnerungsgewißheit zur reproduzierten Vorstellung genauer ins Auge. Man könnte meinen, daß schon die Eigenschaft des Reproduziertseins als solche das Erinnern in sich schließt. Diese Meinung verkennt folgendes:

Das Reproduziertsein einer Vorstellung besagt, daß sich diese Vorstellung in einer bestimmten Abhängigkeit von einem früheren Erlebnis desselben Bewußtseins befindet. Wie sich uns nun überhaupt kausale Verhältnisse der Bewußtseinsvorgänge nicht als solche im Bewußtsein offenbaren, so auch nicht jenes bestimmte Abhängigkeitsverhältnis. Der Umstand, daß eine Vorstellung nach Auftreten und Inhalt von einer vergangenen Wahrnehmung abhängt, kommt in der Vorstellung, wenn diese im Bewußtsein erscheint, keineswegs schon mit zur Erscheinung. Das wäre freilich eine gewaltige Erleichterung für die Psychologie, wenn die Vorstellungen in ihrem Auftreten auch schon ihre Herkunft, ihre kausalen Beziehungen mit zur Schau tragen und gleichsam zum Bewußtsein sprechen würden: wir stammen von da oder dort ab. So ist es leider nicht eingerichtet. Die Abhängigkeit einer Vorstellung vom vergangenen Vorstellungsleben ist ein unter der Schwelle des Bewußtseins liegendes Verhältnis.

Auch ist zu bedenken, daß der Erinnerungsvorgang ein ganz anderes Gepräge trägt, als er haben müßte, wenn er nichts anderes als das Zutagetreten jenes Abhängigkeitsverhältnisses wäre. Es wäre höchst unzutreffen, die Erinnerung so zu beschreiben: eine mir gegenwärtige Vorstellung weist sich meinem Bewußtsein als in Abhängigkeit stehend von einer früheren, in bestimmten Merkmalen gleichen Wahrnehmung auf. Der Erinnerungsvorgang hat ein ganz anderes Gesicht: er besteht in einem unmittelbaren Vorstellen des Vergangenen, nicht aber in einem kausalen Beziehen der gegenwärtigen Vorstellung auf ein Vergangenes.

So ist also die Erinnerungsgewißheit auch der Reproduktion gegenüber ein Anderes, Neues, Eigenartiges. Reproduktion bedeutet ein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vorstellungsinhalten, das als solches nicht zu Bewußtsein kommt. Es kann daher auch eine Reproduktion vorliegen, ohne daß sich eine Erinnerung daran knüpft.

Es lassen sich hinsichtlich der Verbindung der Erinnerungsgewißheit mit der Reproduktion als solcher mehrere Stufen unterscheiden. Die reproduzierte Vorstellung muß keineswegs immer mit einer Erinnerungsgewißheit verknüpft sein. Erstens gibt es zuweilen reproduzierte Vorstellungen, die für mein Bewußtsein so auftreten, als ob ihr Inhalt mir nie vorgekommen wäre angesehen, während sie doch Nachklänge sind. So kann es vorkommen, daß uns eine Vorstellungsverknüpfung als eigener Einfall erscheint, während sie uns doch vor längerer Zeit durch ein gelesenes Buch eingegeben wurde. Besonders häufig geschieht es im Traum, daß uns Vorgänge erscheinen, die aus unseren Erlebnissen geschöpft sind, und die doch unser Traumbewußtsein als zu erstenmal erlebt ansieht. Man macht etwa eine Prüfung im Traum und weiß nicht, daß man diese Prüfung längst hinter sich hat; oder man sieht im Traum eine Person sterben und weiß nicht, daß man beim Tod dieser Person zugegen gewesen ist. Hier fehlt der reproduzierten Vorstellung die Erinnerungsgewißheit derart gänzlich, daß nicht einmal eine gefühlsmäßige Hindeutung auf das entsprechende Vergangene stattfindet. Bei weitem häufiger ist der Fall, daß reproduzierte Vorstellungen zwar eine solche gefühlsmäßige Hindeutung auf ein Vergangnes - ich meine das Gefühl des Bekanntseins - mit sich führen, aber nicht selbst für unser Bewußtsein als Vorstellungen vom Vergangenen auftreten. So ist es, wenn ich mich Einbildungen hingebe, aber auch, wenn ich im Anschluß an das Gelesene oder Gehörte oder unter Leitung meines eigenen Denkens meine Vorstellungen im Dienst der Erkenntnis verwende. In allen diesen Fällen, handle es sich nun um Reproduktionen zum Spiel der Phantasie oder zum Zweck der Erkenntnis, ist zwar das Gefühl vorhanden, daß die Vorstellungen sich in bekannten Arten, Gattungen, Eigenschaften, Elementen bewegen, aber es fehlt die Erinnerungsgewißheit im hervorgehobenen strengen Sinn. Was übrigens das Gefühl der Bekanntheit betrifft, so soll das Verhältnis dieses Gefühls zur Erinnerungsgewißheit später ins Auge gefaßt werden. In Fällen dritter Art ist eine Erinnerungsgewißheit insofern vorhanden, als wir nach ihr streben; doch dieses Streben gelingt nicht; wir bleiben ohne Erinnerungsgewißheit. Das Mißlingen des Strebens nach Erinnerungsgewißheit ist nun entweder vollständiger Art: es fällt uns das, woran wir uns erinnern wollen, schlechtweg nicht ein; oder das Streben mißlingt nur in gewissem Grad. Dieses Mißlingen in gewissem Grad bedeutet nun wieder entweder, daß uns ein Teil der gesuchten Vorstellung einfällt, ein anderer nicht, oder daß der Gewißheit mehr oder weniger Zweifel zugesellt sind, also die Erinnerung unsicher ist. Und hieran reiht sich dann der vierte und ausgezeichnete Fall, daß die Erinnerungsgewißheit nicht nur in der Form des Strebens nach ihr, sondern als verwirklicht besteht. Fälle dieser Art habe ich bei der Aufsuchung des Eigentümlichen der Erinnerung vor Augen gehabt (siehe Punkt 3).

So sehen wir also, wie weit die reproduzierte Vorstellung davon entfernt ist, als solche schon Erinnerungsgewißheit mit zu besitzen. Neben den reproduzierten Vorstellungen, denen diese Gewißheit zugesellt ist, gibt es andere, die lediglich mit dem Streben und Suchen nach dieser Gewißheit verknüpft sind, und wieder andere, denen auch dieses fehlt, und die nur von dem schon oft erwähnten Bekanntheitsgefühl begleitet sind, und noch andere, bei denen sich auch dieses Gefühl nicht bemerkbar macht, sondern die uns als völlig neu erscheinen.

13. Wir wenden uns jetzt für eine kurze Weile den Vorstellungsreproduktionen überhaupt unsere Aufmerksamkeit zu. Ohne Zweifel beruhen sämtliche reproduzierten Vorstellungen auf einer besonderen Fähigkeit des Bewußtseins. Es könnten keine reproduzierten Vorstellungen entstehen, wenn dem Bewußtsein nicht die Fähigkeit innewohnen würde, auch auf Reize nicht-ursprünglicher Art mit Bewußtseinsinhalten zu antworten. Während die Empfindung die Fähigkeit des Bewußtseins voraussetzt, durch Reize von ursprünglicher Art zu eigentümlichen Bewußtseinsinhalten bestimmt zu werden, sind reproduzierte Vorstellungen nur unter der Voraussetzung möglich, daß auch Reize, die als unbewußte Nachwirkungen vorausgegangener Bewußtseinsvorgänge zu betrachten sind, und die daher als nicht-ursprünglich oder sekundäre Reize bezeichnet werden können, das Bewußtsein zum Gegenwärtigwerden von eigentümlichen Inhalten anzuregen vermögen. Es kommt hier nicht darauf an, wie man sich diese sekundären Reize vorstellt. Die meisten Psychologen halten es für ausgemacht, daß die Vermittlung zwischen den ursprünglichen und reproduzierten Bewußtseinsvorgängen lediglich in Gehirnzuständen besteht; mit überlegenem Lächeln sehen sie auf die ältere Vorstellungsweise herab, wonach es im Unbewußt-Seelischen irgendeinen fortlaufenden Zusammenhang zwischen den beiden Vorgängen geben muß. Ich gestehe, daß ich herzhaft dieser altmodischen Auffassung zustimme. Auch gegenüber einer so gewandten Vertretung der Auffassung von der ausschließlich physiologischen Natur des Unbewußten, wie sie sich beispielsweise in JODLs Psychologie findet, werde ich in meiner Überzeugung nicht erschüttert (9). Und zwar ist es besonders die Tatsache der Erinnerungsgewißheit, die mir die Annahme unvermeidlich zu machen scheint, daß es im unbewußt Seelischen eine ununterbrochene Vermittlung zwischen dem ursprünglichen und dem reproduzierten Bewußtseinsinhalt gibt (10). Zugleich freilich "führen gewisse Überlegungen aufgrund anderer Tatsachen zu der ergänzenden Annahme, daß den unter der Schwelle des Bewußtseins liegenden seelischen "Dispositionen" analoge "Dispositionen" des Gehirns entsprechen. Ich halte es für unerläßlich, ein in diesem Sinne doppelseitige Brücke zwischen den beiden Bewußtseinsvorgängen anzunehmen. Doch auf die Verschwiegenheit der Ansichten in dieser Richtung kommt es, wie gesagt, hier nicht an. Hier habe ich vielmehr nur das Interesse, hervorzuheben, daß in aller Reproduktion die Fähigkeit des Bewußtseins, auf sekundäre Reize hin - seien diese nun bloß physiologisch oder nun unbewußt-seelisch oder beides zugleich - mit besonders gearteten Bewußtseinsinhalten zu antworten, vorausgesetzt wird. Es handelt sich hier um eine Bewußtseinsleistung, die sich nicht, wie die Erinnerungsgewißheit, als unmittelbare Bewußtseinstatsache kundgibt, sondern zu deren Annahme man erst auf der Grundlage eines schließenden Verfahrens kommt. Denn die sekundären Reize - seien sie nun in einem physiologischen oder unbewußt-seelischen Sinn genommen - kommen nicht als Bewußtseinstatsache vor, sondern müssen erst erschlossen werden. Also ist auch die Fähigkeit des Bewußtseins, durch solche Reize zu gewissen Vorgängen angeregt zu werden, keine bloße Bewußtseinstatsache, sondern teilweise erschlossener Natur.

Jetzt läßt sich das über die Erinnerung Gesagte ergänzen. Zwei elementare, ursprüngliche Äußerungen des Bewußtseins treten in der Erinnerung hervor. Insofern die Erinnerung zu der weit umfangreicheren Gruppe der Reproduktionen gehört, äußert sich in ihr die Fähigkeit des Bewußtseins, durch Reize nicht-ursprünglicher Art zu eigentümlichen Vorstellungen veranlaßt zu werden. Dies ist der Erinnerung auch mit jenen Reproduktionen gemeinsam, die sich dem Bewußtsein als völlig fremd und neu darbieten. Sodann aber hat die Erinnerung das Eigenartige, daß sich in ihr eine besondere Art von Gewißheit und ebendamit eine elementare Bewußtseinsqualität äußert.

Wenn ich von der Fähigkeit des Bewußtseins, auf sekundäre Reize mit eigentümlichen Bewußtseinsinhalten zu antworten, spreche, so ist mit dem Wort "eigentümlich" jener abgeschwächte Wirklichkeitscharakter - Verblaßtheit, Unvollständigkeit - gemeint, von dem in Punkt 4 die Rede war. Die Antworten des Bewußtseins auf die primären Reize - ich meinde die Empfindungen - kennzeichnen sich durch jene Aufdringlichkeit, von der im ersten Artikel (Punkt 4) gehandelt wurde. Empfindungen und reproduzierte Vorstellungen heben sich durch diesen von jedermann deutlich gespürten, jedoch nur schwer beschreibbaren, ihre ganze Wirklichkeit betreffenden Unterschied voneinander ab.

14. Ich komme noch einmal auf das Unmittelbare der Erinnerungsgewißheit zurück. Ihre Unmittelbarkeit verdient noch nach einer besonderen Seite ins rechte Licht gerückt zu werden.

Es wäre keine völlig zutreffende Beschreibung des Tatbestandes im Bewußtsein, wenn ich mit REHMKE sagen würde, daß in der Erinnerung "das Bewußtsein der Identität des Vorgestellten mit dem früher Gehabten" enthalten ist (11), oder auch wenn ich die Erinnerungsvorstellung als bewußtes Abbild des vergangenen Erlebnisses bezeichnen wollte. So kann es sich wohl verhalten; aber keineswegs ist das Bewußtsein der Identität oder Abbildlichkeit notwendig im Erinnerungsvorgang gegeben. Das Bewußtsein der Identität oder Abbildlichkeit ist dort vorhanden, wo die Erinnerungsvorstellung ausdrücklich als eine gegenwärtige bewußt ist und nun von ihr zu dem ihr in gewissen Merkmalen gleichen vergangenen Erlebnis fortgeschritten wird, wo also eine gewisse bewußte Scheidung und Verdoppelung der Erinnerungsvorstellung nach Gegenwart und Vergangenheit eintritt. Ich will sagen: es gibt Fälle, wo das Erinnern diese bewußt beziehende Form annimmt. Aber es muß nicht so sein; in anderen Fällen hat das Erinnern jene einfachere Gestalt, die ich bisher immer allein im Auge gehabt habe. (12)

In dieser einfacheren Gestalt ist das Erinnerung unmittelbar und ohne weiteres ein Vorstellen des Vergangenen; der Gegensatz zwischen dem Gegenwärtigsein der Vorstellung und dem Vergangensein dessen, was sie besagt, wird nicht als solcher betrachtet. Es findet kein Besinnen darauf statt, daß eine der Gegenwart angehörige Vorstellung stellvertretend ist für ein der Vergangenheit Angehöriges; sondern einfach und ungeteilt ist das Vorstellen dessen gewiß, das Vergangene zu treffen. Von einem zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem hin- und hergehenden bewußten Beziehen, von einem Achthaben auf das Identische oder Abbildliche an der gegenwärtigen Vorstellung, von einem Scheiden und Verdoppeln der Vorstellung nach Gegenwart und Vergangenheit ist hier nichts zu finden. Wenn wir z. B. des Morgens erwachen und uns erinnern, gestern eine Arbeit beendet zu haben, gestern im Theater gewesen zu sein, so besteht der Bewußtseinsvorgang wohl zumeist darin, daß wir mit einem Schlag die Gewißheit haben, das Vergangene vorzustellen. Anders dagegen, wenn jemand an der Sicherheit unseres Erinnerns Zweifel äußert. Hierdurch werden wir auf unseren Erinnerungsvorgang aufmerksam; das Ausüben des Erinnerns wird bewußter. Wir fragen uns, ob die uns gegenwärtige Vorstellung wirklich das Vergangene bezeichnet, oder ob nicht eine Täuschung vorliegt. In diesem Fall findet jene eigentümliche Verdoppelung der Erinnerungsvorstellung statt. Indem wir uns fragen: trifft die uns gegenwärtige Vorstellung wirdklich das Vergangene? setzen wir die Erinnerungsvorstellung zweimal; die eine betonen wir als gegenwärtig, die andere als vergangen und gehen im Bewußtsein zwischen beiden hin und her. In Wahrheit ist es die eine, inhaltlich gleiche Erinnerungsvorstellung, nur unter einem doppelten Gesichtspunkt gesetzt. Das Hin- und Hergehen zwischen der gespaltenen Erinnerungsvorstellung hat allein den Sinn, daß die Aufmerksamkeit mit zweifelnder Spannung der Frage zugekehrt ist, ob die Erinnerung richtig ist. - Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß es völlig widersinnig wäre, daran zu denken, daß wir in dieser bewußteren Ausgestaltung der Erinnerung das Erinnerungsbild auf die wirkliche vergangene Vorstellung beziehen. Denn diese ist doch eben unwiederbringlich dahin. Vom Widersinn, der darin liegt, wenn man das Erinnern als ein Vergleichen mit dem Vergangenen auffaßt, habe ich in Punkt 7 und 8 gesprochen.

Von welcher Wichtigkeit es ist, in der Untersuchung der Erinnerung über das Verhältnis des Gegenwärtigen und Vergangenen an der Erinnerungsvorstellung Klarheit zu besitzen, geht interessanterweise aus der scharfsinnigen und überscharfsinnigen Zergliederung hervor, die UPHUES am Erinnerungsvorgang vorzunehmen versucht hat (13). UPHUES lenkt mit Recht seine Aufmerksamkeit auf die Beziehung, in der die Erinnerungsvorstellung zu Gegenwart und Vergangenheit steht. Allein, da er das unmittelbare Vorstellen des Vergangenen für in sich widersprechend und daher unmöglich erklärt, so quält er sich, unter dem Gesichtspunkt des Gegenwärtigen und Vergangenen, mit einer Fülle schiefer Zerspaltungen des Erinnerungsvorganges ab. Er will um jeden Preis der unmittelbaren intuitiven Vorstellung des vergangenen Gegenstandes entrinnen und schaltet so immer neue Zwischenfunktionen ein, um die unmittelbare Gewißheit zu einer vermittelten Erkenntnis zu machen. Hierdurch tritt aber nicht nur eine Verdunkelung des Bewußtseinssachverhaltes ein, sondern es schieben sich dem Verfasser geradezu psychologischen Erdichtungen unter. (14)

Dagegen spricht NATORP die richtige Einsicht aus, daß in der Erinnerung "ein jetzt gegenwärtiger Inhalt einen früher gegenwärtig gewesenen bedeutet oder repräsentiert". Er redet mit Recht von der "Repräsentation des Nicht-Jetzt im Jetzt", von der "Identifikation des Nichtidentischen". Dies sei zwar wunderbar, aber "jedenfalls ist dieses Wunder Tatsache". (15)

15. Eine interessante Verwicklung des Erinnerungsvorgangs liegt im Wiedererkennen vor. WUNDT weist mit Recht den Erscheinungen des Erkennens und Wiedererkennens eine bedeutsame Stellung für die Aufklärung des Erinnerungsvorganges zu. Wenn ich zunächst das Wiedererkennen ins Auge fasse, so geschieht dies, weil in ihm die Erinnerungsgewißheit deutlicher und ausdrücklicher als in einem bloßen Erkennen der Gegenstände enthalten ist.

Das Wiedererkennen kennzeichnet sich dadurch, daß eine sinnliche Wahrnehmung nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit in uns die Vorstellung auftauchen läßt, daß der Gegenstand, auf den sich die gegenwärtige Wahrnehmung bezieht, derselbe Gegenstand ist, den wir bereits aus ein- oder mehrmaliger früherer Erfahrung kennen. Zunächst besteht die Sinneswahrnehmung eine gewisse Zeit, ohne daß die Gleichsetzung ihres Gegenstandes mit dem Gegenstand einer oder mehrerer früherer Erfahrungen dazukäme. Erst in einem bestimmten Zeitpunkt, zuweilen blitzartig, oft aber auch nach einem kürzeren oder längeren Besinnen, tritt diese Gleichsetzung ein. Gewöhnlich bezieht sich das Wiedererkennen auf einen bestimmten individuellen Gegenstand. Eine Person, in Wirklichkeit oder im Bild angeschaut, wird nach einiger Zeit einer bestimmten, unserem Erfahrungsschatz angehörigen Person gleichgesetzt. Eine Straße, ein Zimmer erkennen wir nach einiger Zeit als dieselben Räume wieder, wo wir schon einmal gewesen sind. Ebenso kann es vorkommen, daß eine Melodie erst in ihrem späteren Verlauf, sei es daß ihre ersten Takte uns dunkel bekannt oder ganz fremd erscheinen, als diese bestimmte Melodie, die einer bestimmten Oper und dergleichen angehört und von bestimmten Worten begleitet ist, erkannt wird. Es kann aber auch geschehen, daß sich das Wiedererkennen auf den Gattungsgegenstand bezieht. Beim Essen einer mir unbekannten süßen Speise z. B. kann mir eine dabei hervortretende Geschmacksempfindung zunächst fremd erscheinen, dann aber sich mir als von einer bestimmten, ein einziges Mal genossenen Frucht herrührend zu erkennen geben. Oder es kann ein Geruch, der mir in einem Garten entgegenweht, mir zunächst unbekannt vorkommen, dann aber als von einer seltenen, nur wenige Male von mir gerochenen Blüte herstammend von mir erkannt werden. Hier liegt ein gattungsmäßiges Wiedererkennen vor.

In allen diesen Fällen wird das Erkennen des Gegenstandes eine Zeit lang gehemmt. Den psychologischen Ursachen dieser Hemmung nachzugehen, liegt außerhalb meiner Aufgabe. Worauf es hier ankommt, ist lediglich der Umstand, daß infolge dieser Hemmung im Vorgang des Erkennens das Erinnern, zumindest in zahlreichen Fällen, deutlich abgebildet vorkommt, und daß daher dieser Vorgang sich in einem engen Anschluß an die Untersuchung des Erinnerns behandeln läßt.

Besonders ausdrücklich kommt es zu einer Erinnerung im Wiedererkennen, das auf einer einmaligen Wahrnehmung eines individuellen Gegenstandes beruth. In einem solchen Fall steht mir im Augenblick des Wiedererkennens etwa die Eisenbahnfahrt, wobei der Herr mir gegenübersatz, oder das Erlebnis, das mich vor Jahren in diese entlegene Straße geführt hat, vor dem inneren Auge. Aber auch wenn dem Wiedererkennen eine oftmalige Erfahrung vorangegangen ist, kann das Wiedererkennen von deutlichen Erinnerungsbildern begleitet sein. Es können mir etwa in rascher Aufeinanderfolge zwei oder drei Szenen, an denen der jetzt wiedererkannte Herr in der vorjährigen Sommerfrische beteiligt war, in der Erinnerung auftauchen.

Ich frage nun, worin in diesen Fällen das Wiedererkennen besteht. Es setzt sich ohne Zweifel aus einem Erinnerung- und einem Gleichsetzungsvorgang zusammen. Auf Anlaß der sinnlichen Wahrnehmung entsteht, nachdem sie einige Zeit bestanden hat, eine Erinnerungsvorstellung, und diese Vorstellung tritt mit der Wahrnehmung in eine eigentümlich enge Beziehung. Und diese Beziehung besteht eben darin, daß der Gegensteand der Wahrnehmung als identisch mit dem der Vorstellung erkannt wird. Es wäre falsch, das Wiedererkennen bloß als eine Art Erinnerung aufzufassen. Vielmehr ist es so, daß sich in ihm die Erinnerung mit einer eigentümlichen Weise des Verknüpfens paart. Das im Anschluß an die Wahrnehmung auftretende Erinnerungsbild besagt lediglich: irgendeine Gestalt, ein Vorgang aus meinem früheren Erleben ist mir gegenwärtig. Weiter reicht sozusagen die Macht der Erinnerung nicht. Denn Erinnerung ist ein unmittelbares Vorstellen vergangener Erlebnisse. Wenn außerdem noch der durch die Erinnerung vorgestellte vergangene Gegenstand als ein und derselbe wie der jetzt wahrgenommene Gegenstand erkannt wird, so ist dies eine zur Erinnerung hinzutretende, von ihr völlig verschiedene Tätigkeit. Sie mag der Gleichsetzungsvorgang heißen.

Betrachten wir diesen Vorgang genauer. Dem Bewußtseins liegen zwei Inhalte vor: die von der Erinnerungsgewißheit begleitete Vorstellung und die gegenwärtige Wahrnehmung. Diese beiden Inhalte werden vom Bewußtsein aufeinander bezogen. Dieses Beziehen ist nun in manchen Fällen ein ausdrückliches, bewußtes Vergleichen. Ich sehe z. B. einen jungen Mann im Theater, von dem mir vorkommt, es sei ein ehemaliger Zuhörer von mir. Es liegt sonach ein Wiedererkennen vor, aber ein Wiedererkenne, dem die volle Gewißheit fehlt. Die Erinnerungsgewißheit kann dabei den höchsten Grad besitzen: ich erinnere mich ganz genau, einen Zuhörer von bestimmten Eigenschaften gehabt zu haben. Ungewiß ist mir nur, ob ich den damaligen Zuhörer mit dem Gegensteand meiner jetzigen Wahrnehmung als identisch setzen darf. In einer derartigen Bewußtseinslage findet stets ein Vergleichen des der Erinnerung gegenwärtigen Bildes mit dem anwesenden Gegenstand statt. Es kann nun sein, daß dieses Vergleichen mir die Gewißheit gibt: ich habe mich geirrt; beide Gegenstände fallen nicht zusammen. In anderen Fällen entspringt aus dem Vergleichen die Gewißheit der Dieselbigkeit. Und diese Gewißheit spricht sich schließlich in dem Urteil aus: der erinnerte Gegenstand und der wahrgenommene Gegenstand sind identisch. Hier besteht also der Gleichsetzungsvorgang aus dem bewußten Vergleichen zwischen Erinnerungsbild und Wahrnehmung, der aufgrund des Vergleichens entspringenden Gewißheit von der Identität beider Gegenstände und dem diese Identität aussagenden Urteil.

In anderen Fällen setzt sich der Gleichsetzungsvorgang dagegen mehr gefühlsmäßig zusammen. Wo das Wiedererkennen blitzschnell und mit voller Gewißheit eintritt, dort kommt es zu keinem wirklichen Vergleichen. Sondern angesichts der beiden Bewußtseinsinhalte entsteht sofort das Gefühl der Gleichheit, die gefühlsmäßige Gewißheit der Dieselbigkeit. Vergleichen und Gewißheit der Identität ziehen sich in ein einziges Gefühl zusammen. Ich nenne es Gleichheitsgefühl. Hier gibt es also nicht jene Reihenfolge: Vergleichen, Gewißheit der Gleichheit, Urteil. Die beiden ersten Glieder sind hier vielmehr in der Form eines unmittelbaren Gefühls vorhanden. Auch braucht es zu einer ausdrücklichen Ausgestaltung des Gleichsetzungsurteils neben dem Gleichheitsgefühl nicht zu kommen; sondern es kann so sein, daß zugleich mit dem Gleichheitsgefühl die Vorstellung von der Bedeutung des Gegenstandes entsteht. In diesem Fall ist also statt des Gleichsetzungsurteils einfach die Vorstellung von der Bedeutung des Gegenstandes vorhanden.

Es liegt also folgendes Ergebnis vor. Das Wiedererkennen in seiner entwickelteren Form besteht aus einem Erinnerungsvorgang und einer eigentümlichen Betätigung des Beziehens oder Verknüpfens. Diese Betätigung erfolgt entweder mehr vorstellungsmäßig und bewußt; dann spielt sie sich in der Reihenfolge von Vergleichen, Identitätsgewißheit und Urteilen ab. Dies ist die entwickeltste Form des Wiedererkennens. Oder jene Betätigung geschieht mehr gefühlsmäßig, unausdrücklich, abgekürzt, zusammengezogen. Dann nimmt der Gleichsetzungsvorgang die Gestalt eines Gleichhheitsgefühls und einer sich daran knüpfenden Vorstellung an. Dieses Gleichheitsgefühl ist also nicht etwa nur ein Anhängsel der durch die Wahrnehmung veranlaßten Erinnerungsvorstellung; sondern in ihm steckt eine verknüpfende und einssetzende Tätigkeit, nur in gefühlsmäßiger Form.

16. Oft kommt es zu einer noch stärkeren Zusammenziehung des Wiedererkennungsvorgangs: die Erinnerungsvorstellungen werden unbestimmter und treten nicht ausdrücklich als solche hervor. In dieser Weise gestaltet sich der Verlauf besonders wohl dann, wenn sich die Wiedererkennung nicht auf ein bestimmtes Individuum, sondern auf eine Gattung bezieht. Wenn dem ungelehrigen Schüler erst nach einigem Hinsehen aufgeht: hier liegt ein Barockstil vor, so brauchen keineswegs Erinnerungen an bestimmte Fälle, wo ihm dieser Stil entgegengetreten ist, aufzutauchen. Vielmehr kann es so sein, daß sich ihm die Bauform nach einiger Zeit unmittelbar mit der allgemeinen Vorstellung "Barock" verknüpft. Ich will diese weitergehende Abkürzung des Wiedererkennnungsvorgangs nicht genauer betrachten, sondern sofort das ungehemmte, augenblickliche Erkennen der Gegenstände ins Auge fassen. Denn hier tritt jene Verdunkelung und Umformung des Erinnerungsvorgangs entschiedener und augenfälliger auf als in jenen unentwickelten Fällen der Wiedererkennung.

So wenden wir jetzt also unsere Aufmerksamkeit dem schon zu Beginn dieser Darlegungen berührten Bekannterscheinen der uns umgebenden Dinge zu. Schon dort wurde gesagt: der Bekanntheitsdruck kommt nur durch die Reproduktions früherer Erfahrungen zustande, allein diese Reproduktion spitzt sich nicht zu einer wirklichen Erinnerung zu. Jetzt gilt, dieses Bekanntheitsgefühl genauer zu zergliedern.

17. Zuerst ist nochmal hervorzuheben, daß, wenn wir, auf der Straße gehend, Häuser, Fenster, Türen, Dächer, Pflaster, Wagen, Menschen usw. in dieser ihrer Bedeutung erkennen, von einer Erinnerung an die vorangegangenen Fälle, in denen uns diese Dinge vorgekommen sind und unsere Erfahrung bereichert haben, nichts zu entdecken ist. Oft geschieht es, daß wir, durch die Straßen schreitend, unseren Gedanken nachhängen oder eifrig mit jemandem sprechen. Wie sollte es bei dieser Zuschärfung unseres Bewußtseins auf bestimmte Begriffe und Worte außerdem noch möglich sein, daß die umgebenden Dinge sich uns durch ausdrückliche Erinnerungsbilder gleichsam vorstellen? Sieht man genauer hin, so ist im Bekanntheitsgefühl meistenteils nicht einmal die Vorstellung von der Bedeutung der verschiedenen Dinge ausdrücklich mitenthalten. Es wäre eine völlige Verzerrung des Bewußtseinstatbestandes, wenn ich sagen wollte, daß ich, auf der Straße gehend, die verschiedenen Dinge beständig mit der Vorstellung: dies ist eine Mauer, ein Bürgersteig, eine Laterne und dgl. begleitete. Nicht einmal die entsprechenden Wortvorstellungen, geschweige denn die Sachvorstellungen brauchen mir gegenwärtig zu sein. Der Bekanntheitsdruck enthält in den allermeisten Fällen keine derartigen bestimmten Vorstellungsgebilde.

Was ist also nun dieser Bekanntheitsdruck? - Enthält er auch die Vorstellung von der Bedeutung des Gegenstandes nicht in ausdrücklicher Form, so ist diese Vorstellung in ihm doch auch nicht zu Null herabgesunken. Denn sonst würden uns die Gegenstände doch eben nicht bekannt erscheinen. Das Bekanntheitsgefühl enthält jene Vorstellung offenbar in der Form eines gewissen Ersatzes. Und dieser Ersatz bestehht in nichts anderem als in der Gewißheit der Möglichkeit, sich die Bedeutung des Gegenstandes jederzeit vorstellen zu können. Diese Gewißheit - ich will sie kurz als Gewißheit der Vorstellungsmöglichkeit bezeichnen - ist ein wesentlicher Bestandteil des Bekanntheitsgefühls. Die Bedeutung des Gegenstandes wird also nicht wirklich vorgestellt, sonmonodern es besteht nur die gefühlsmäßige Gewißheit von der Möglichkeit, sie vorzustellen. Diese Vorstellung selbst bleibt dunkel.

Nebenbei bemerkt: es entsteht hier die Frage, welche Rolle in dieser Gewißheit der Wortvorstellung und welche der Sachvorstellung zukommt. Ich begnüge mich, zu bemerken, daß die "Gewißheit der Vorstellungsmöglichkeit" niemals ausschließlich die Gewißheit bedeuten kann, sich lediglich den Wortschall, unter Wegbleiben der Sachvorstellung, vorstellen zu können. Dann würden mich die Dinge vielmehr gespenstisch und sinnlos anglotzen. Sondern jene Gewißheit muß so verstanden werden, daß sie nicht nur Gewißheit der Wortvorstellungsmöglichkeit, sondern auch, eine so wichtigeVermittlungs- und Stellvertretungsrolle man auch der Wortvorstellung zugestehen mag, eine Gewißheit der Sachvorstellungsmöglichkeit ist.

Mit dieser Gewißheit von der Vorstellungsmöglichkeit aber ist das Eigentümliche des Bekanntheitseindrucks keineswegs erschöpft. In diesem Eindruck liegt ohne Zweifel zugleich eine Beziehung auf meine vergangenen Wahrnehmungen und Vorstellungen. Der Bekanntheitseindruck besteht nicht etwa nur in der Gewißheit, sich die Bedeutung eines Dings vorstellen zu können, sondern zugleich auch in der Gewißheit, daß ich dieses Ding unbestimmt viele Male in unbestimmt mannigfaltigen Fällen wahrgenommen und dieselbe Bedeutungsvorstellung damit verknüpft habe. Wir stoßen also auch auf eine eigentümliche Erinnerungsgewißheit. Von der richtigen Auffassung dieser hängt die richtige Zergliederung des Bekanntheitsgefühls ganz besonders ab.

Die hier in Frage kommende Erinnerungsgewißheit hat einen höchst unbestimmten Inhalt. Sie läßt es durchaus dahingestellt, zu welchen Zeiten, an welchen Orten, unter welchen Umständen, unter welchen individuellen Ausgestaltungen wir ähnliche Wahrnehmungen und die ihnen entsprechenden Bedeutungsvorstellungen früher schon gehabt haben. Im Bekanntheitsfall liegt nur die Gewißheit, daß wir überhaupt in früherer Zeit - unbestimmt wann, wie oft, wo und wie - Ähnliches wahrgenommen und mit entsprechenden Sachvorstellungen verknüpft haben. (16)

Aber doch darf man andererseits die Unbestimmtheit dieser Erinnerungsgewißheit nicht übertreiben. Denn mag es auch gänzlich dahingestellt bleiben, wann, wie oft, wo und wie wir Ähnliches wahrgenommen und vorgestellt haben, jedenfalls sind es eben doch ähnliche Wahrnehmungen und mindestens nach Gattung und Art gleiche Bedeutungsvorstellungen, worauf sich die im Bekanntheitsgefühl liegende Gewißheit bezieht. (17) Innerhalb der vielseitigen Unbestimmtheit ist es also doch ein Bestimmtes, worauf sich hier die Erinnerungsgewißheit erstreckt. Und ebensowenig darf vergessen werden, daß bei aller Unbestimmtheit des Inhalts die Erinnerungsgewißheit selbst keineswegs unbestimmt, d. h. mit Zweifel und Dunkelheit vermischt zu sein braucht. Vielmmehr ist es bei den gewöhnlichen Dingen der Umgebung so, daß die im Bekanntheitsdruck liegende Erinnerungsgewißheit von unbedingt sicherer Art ist.

Doch ist die hiermit in Frage stehende Erinnerungsgewißheit noch immer nicht vollkommen zutreffend beschrieben. Die soeben nach Inhalt und Form auseinandergelegte Erinnerungsgewißheit kommt im Bekanntheitseindruck keineswegs als zu einer Erinnerungsvorstellung ausgebildet vor. Damit wäre in das Bekannterscheinen eine Entwicklung und Besonderung hineingetragen, von der in ihm keine Spur zu entdecken ist. Wir müssen uns vielmehr vorstellen, daß jene Erinnerungsgewißheit in Form eines dunklen, unentwickelten, keimartigen Gefühls vorhanden ist. Genauer wird man sagen dürfen: es liegt keine eigentliche, strenge Erinnerungsgewißheit sondern eine Gewißheit der Erinnerungsmöglichkeit vor. Indem mir die Dinge meiner Wohnung bekannt erscheinen, habe ich in dunkel gefühlsmäßiger Weise die Gewißheit, daß ich die Fähigkeit besitze, Erinnerungsvorstellungen von der Form: "ich habe das Gleiche schon in unbestimmt vielen Fällen wahrgenommen und vorgestellt" zu vollziehen. So haben wir es hier nicht mit der Gewißheit einer verwirklichten, sondern nur eine möglichen Erinnerung zu tun.

Dies also ist der zweite Bestandteil des Bekanntheitseindrucks: außer der Gewißheit der Vorstellungsmöglichkeit ist in ihm die Gewißheit einer Erinnerungsmöglichkeit enthalten. Wir haben uns also den Vorgang beim augenblicklichen Erkennen der Gegenstände so zu denken: eine Anzahl von Reproduktionen früherer Wahrnehmungen und Vorstellungen macht sich für das Bewußtsein geltend; aber sie regen sich gleichsam nur in seinem dunklen Untergrund; sie kündigen dem Bewußtsein gleichsam nur die Möglichkeit ihres Erscheinens an. So entsteht aufgrund der wie von fern anklingenden Reproduktionen nur jene gefühlsmäßige Gewißheit von der Erinnerungsmöglichkeit. Somit ist im Bekanntheitsgefühl allerdings Erinnerungsgewißheit enthalten, aber nur in keimartiger Form, nur in der Gestalt einer gefühlsmäßigen Möglichkeit.

Welches ist nun aber das Verhältnis, in dem die beiden Gewißheiten, die wir im Bekanntheitseindruck gefunden haben, zueinander stehen? Es liegt in der Natur der Sache, daß die Gewißheit der Vorstellungsmöglichkeit an der anderen ihre Voraussetzung hat. Soll ich das Vertrauen haben, daß mir die Vorstellung von der Bedeutung eines Dings gegenwärtig zur Verfügung steht, so muß in meinem Bewußtsein jene dargelegte Beziehung zu den entsprechenden vergangenen Wahrnehmungen und Vorstellungen bestehen.

Doch noch etwas Drittes ist in einem Bekanntheitsgefühl enthalten: ein Gleichheitsgefühl. Was würde denn das Vertrauen sich an entsprechende Wahrnehmungen und Vorstellungen erinnern zu können, nützen, wenn sich nicht zugleich das Gefühl von der Dieselbigkeit des gegenwärtigen Dings mit dem durch die Erinnerungsmöglichkeit gemeinten Ding dazu einfände? Die Gewißheit der Vorstellungsmöglichkeit kann sich nur dann an die Gewißheit der Erinnerungsmöglichkeit knüpfen, wenn zwischen dem der Möglichkeit nach erinnerten Gegenstand und der vorliegenden Wahrnehmung eine gefühlsmäßige Gleichsetzung, eine Gleichheitsgewißheit stattfindet. Auch bietet sich uns das Bekanntheitsgefühl unmittelbar so dar, daß das darin steckende Gleichheitsgefühl nicht zu verkennen ist. Ja, es tritt an ihm nichts anderes so stark hervor als dieses Gleichheitsgefühl.

18. Man sieht also, wie weit entfernt von Einfachheit das Bekanntheitsgefühl ist. Es drängen sich in ihm verschiedene Bestandteile zu einer dichten Einheit zusammen. Genauer wird man so sagen müssen: das Bekanntheitsgefühl hat für die innere Wahrnehmung den Schein der Einfachheit; dagegen erweist es sich, sobald man sich auf das besinnt, was es bedeutet und in ihm geleistet wird, als ein zusammegesetztes Gefühl. Ich befinde mich hier bis zu einem gewissen Grad in Übereinstimmung mit HÖFFDING. Auch HÖFFDING erklärt das Bekanntheitsgefühl oder, wie er sagt, die Bekanntheitsqualität, für etwas scheinbar Einfaches, im Grunde aber Zusammengesetztes. Der Selbstbeobachtung stellt sie sich als eine durchaus einfache Erscheinung dar, theoretisch aber soll sie als zusammengesetzt zu betrachten sein. Der Unterschied zwischen HÖFFDING und meiner Betrachtungsweise besteht darin, daß er bei der Zusammengesetztheit nur an das Mitwirken der Reproduktion denkt, und daß er diesen Vorgang als unter der Schwelle des Bewußtseins geschehend auffaßt (18). Wenn ich dagegen von der Zusammensetzung des Bekanntheitsgefühls spreche, so sehe ich das Mitwirken der Reproduktion nur als den Anlaß dafür an, verstehe aber unter der Zusammensetzung eine dem Bekanntheitsgefühl als solchem zukommende Beschaffenheit. Nicht, daß ich etwa sagen wollte: die Elemente des Bekanntheitsgefühls sind für dieses Gefühl selbst deutlich oder auch nur dunkel erkennbar. Ich meine nicht, daß sich uns, indem wir dieses Gefühls unbefangen inne werden, seine Zusammensetzung etwa so zeigt, wie wir z. B. im Gefühl des Mitleids einerseits das Schmerzliche des fremden Leides, andererseits das Wohltuende des Teilnehmens, oder im Gefühl der Andacht unsere Endlichkeit einerseits im Abstand vom Unendlichen, andererseits in inniger Vereinigung mit ihm oder im Gefühl des Tragischen einerseits das Furchtbare des Untergangs, andererseits die in ihm liegende Erhebung spüren. Eine solche Zusammengesetztheit des Bekanntheitsgefühls für das Innesein dieses Gefühls selber zu behaupten, wäre verkehrt. Die Zusammengesetztheit soll vielmehr nur bedeuten, daß sich das Bekanntheitsgefühl unserer Selbstbesinnung als eine in der ausgeführten Weise zusammengesetzte Erscheinung darstellt. Sobald wir uns auf das besinnen, was wir am Bekanntheitsgefühl haben, was wir in ihm spüren und ergreifen, stellt es sich uns in der auseinandergesetzten Zusammensetzung dar. Wir sagen uns: die in ihm liegende Gewißheit würde jeden Sinn verlieren, wäre sie nicht das, was sie ist, wenn nicht die bezeichneten Elemente in ihm stecken. Diese Elemente sind also Bestandteile des Gefühls selber, aber sie sind nicht unmittelbar für dieses Gefühl vorhanden, sondern sie unterscheiden sich erst für das sich selber Rechenschaftgeben über dieses Gefühl, für die Selbstbestimmung darüber. Das Gefühl selbst hat jene Elemente in einer dichten, unterschiedslosen Verschmelzung in sich; für die Selbstbestimmung treten sie auseinander.

Es wäre unrichtig, einzuwenden, daß diese Zergliederung des Bekanntheitsgefühls wohl logisch richtig sein mag, aber darum nicht auch schon eine psychologische Bedeutung hat; daß hier vielmehr ein logisches Hineindeuten vorliegt. Das Bekanntheitsgefühl ist eine Art von Gewißheit. Jene Zergliederung gab lediglich an, was diese Gewißheit unmittelbar meint. Es liegt also keine logische Deutung vor, sondern ein einfaches Aussprechen dessen, wodurch allein das Bekanntheitsgefühl den Sinn erhält, den es tatsächlich hat. Eine logische Deutung wäre jene Zergliederung nur dann, wenn sie so gemeint wäre, daß die Bestandteile in der begrifflichen Form, in der sie herausgehoben wurden, die Zusammensetzung des Bekanntheitsgefühls bilden würden. Die begriffliche Form kommt allein auf Rechnung der wissenschaftlichen Zergliederung. Die begriffliche Form, in der die Elemente in unserer Zergliederung auftreten, muß daher natürlich in Abzug gebracht werden. Man muß sich vorstellen, daß die in wissenschaftlicher Form ausgesprochenen Elemente ein völlig unvorstellungsmäßiges, dunkel gefühlsartiges Bestehen haben, und daß sie außerdem in diesem ihrem gefühlsmäßigen Dasein bis zu einer ununterscheidbaren Einheit verschmolzen sind. Jene Zergliederung war ja auch von Anfang bis Ende in diesem Sinn gehalten.

Überblicken wir nochmals die drei Elemente, aus denen das Bekanntheitsgefühl besteht, so zeigt sich, daß nnur eines eine ursprüngliche und einfache Bewußtseinsfunktion ist. Es ist dies die Gewißheit der Erinnerungsmöglichkeit. Denn diese ist nichts anderes als die Erinnerungsgewißßheitttt selbst in unentwickelter Form. Was dagegen die Gewißheit von der Vorstellungsmöglichkeit betrifft, so liegt hier nichts Einfaches und Ursprüngliches vor. Vielmehr handelt es sich hier um eine Äußerung, die dem großen Gebiet des in der Anknüpfung an Reproduktionen umformend vorgehenden Vorstellens angehört. Und vom dritten Element, dem Gleichheitsgefühl, werden wir auch nicht sagen, daß es eine einfache und ursprüngliche Bewußtseinsfunktion ist. Vielmehr haben wir es hier mit einer Bewußtseinsäußerung zu tun, die in das weite Gebiet der beziehenden Bewußtseinsfunktion fällt.

19. Mit der Erinnerungsgewißheit steht die Einheit des Bewußtseins in der zeitlichen Aufeinanderfolge seine Vorgänge - ich sage kurz: die zeitliche Einheit des Bewußtseins - in einem engen Zusammenhang. Diesem Zusammenhang soll schließlich unsere Betrachtung zugewandt werden.

Vielfach besteht die Ansicht, daß die zeitliche Einheit des Bewußtseins nichts als ein Ergebnis der einzelnen Erinnerungsvorgänge ist. Mir erscheint diese Ansicht als unhaltbar. Ich habe dies schon in einem früheren Aufsatz in dieser Zeitschrift auseinandergesetzt (19). Die Bewußtseinseinheit müßte, wenn sie sich aus Erinnerungsakten zusammensetzen würde, durchweg den Charakter des Vereinzelten, Zerstückelten, Abgerissenen tragen. In Wahrheit gibt sich uns die Bewußtseinseinheit als Kontinuitätsgefühl zu erkennen. "Mein Bewußtsein" - so sagte ich dort - "spürt sich in jedem Zeitpunkt unmittelbar als den vorangehenden Zeitpunkt fortsetzend und eben in diesem Fortsetzen doch als ein und dasselbe." Das jeweilig gegenwärtige Bewußtsein fühlt sich ununterbrochen eins mit den soeben der Vergangenheit verfallenden Bewußtseinsstrecken.

Wenn nun aber auch die zeitliche Einheit des Bewußtseins nicht als aus einzelnen Erinnerungen zusammensetzbar erscheint, so hängt sie mit dem Vorgang des Erinnerns doch insofern zusammen, als sie unter dem Gesichtspunkt des unmittelbaren Bekannterscheinens fällt. Die Bewußtseinseinheit, so sagte ich dort, gibt sich mir als Kontinuitätsgefühl kund. Mit anderen Worten: in jedem folgenden Zeitpunkt erkennt sich mein Bewußtsein gefühlsmäßig und unwillkürlich als dasselbe, das es im vorangegangenen Zeitpunkt war. Es liegt ein unaufhörliches Sichselbstbekannterscheinen des Bewußtseins als solchem vor. Die zeitliche Bewußtseinseinheit besteht nicht darin, daß diese oder jene Bewußtseinsinhalte den Einndruck des Bekannten machen, sondern darin, daß die allen Bewußtseinsinhalten gegenwärtige Bewußtseinsform als solche sich selber beständig als bekannt erscheint. Nur wenn man sich dies gegenwärtig hält, kann Klarheit in die Zergliederung der zeitlichen Bewußtseinseinheit kommen.

Ist man soweit, zu erkennen, daß die zeitliche Einheit des Bewußtseins sich der inneren Erfahrung als beständiges Sichbekannterscheinen des Bewußtseins darstellt, so sind damit auch schon, gemäß der Zergliederung, der vorhin der Bekanntheitseindruck unterzogen wurde, die Bestandteile gegeben, in die sich das Sicheinsfühlen des Bewußtseins zerfällt. Erstens liegt im Bekanntheitseindruck, den das Bewußtsein sich selber macht, die Gewißheit der Erinnerungsmöglichkeit. Indem mir mein Bewußtsein in jedem Augenblick als bekannt erscheint, habe ich die gefühlsmäßige Gewißheit, mich meiner als jetzt eben vergangenen Bewußtseins erinnern zu können. Diese Gewißheit wird zuweilen zur wirklichen Erinnerung. Dies geschieht z. B., wenn ich mich frage: wie war mir denn soeben? welches Gefühl durchschauerte mich? Zweitens enthält das Bekanntheitsgefühl des Bewußtseins jene andere Gewißheit in sich, die ich die Gewißheit der Vorstellungsmöglichkeit genannt habe. Allerdings geschieht es überaus häufig, daß das Bewußtsein sich selbst zum Gegenstand seines ausdrücklichen Vorstellens macht. So ist es wenn wir in uns blicken, über uns grübeln, uns mit unserem Innenmenschen beschäftigen, uns in unseren Gefühlen wiegen und dgl. In solchen Fällen ist ein volles, entwickeltes Selbstbewußtsein vorhanden. Doch ist diese Zuspitzung des Bewußtseins nicht nötig für das Zustandekommen der Bewußtseinseinheit. Diese erhält sich auch dort, wo nur jenes Bekanntheitsgefühl das Bewußtsein begleitet, ohne daß dieses Mehr vorhanden ist. Zu diesem Bekanntheitsgefühl gehört aber nur, daß wir die Gewißheit haben, unser gegenwärtiges Bewußtsein jederzeit zum Gegenstand der Aufmerksamkeit machen zu können. Drittens aber müssen wir, wenn jene vorangegangene Zergliederung recht hatte, uns im Sichselberbekannterscheinen des Bewußtseins auch noch ein Gleichheitsgefühl enthalten denken. Unwillkürlich und gefühlsmäßig setzt sich uns das der Möglichkeit nach vorgestellten gegenwärtigen Bewußtsein gleich. Und natürlich haben wir uns, wie in allen anderen Fällen von Bekanntheitsgefühl, so auch hier diese drei Elemente als zu einer dunklen, ununterschiedenen Gefühlseinheit - eben dem Bekanntheitseindruck des Bewußtseins als solchem - verschmolzen vorzustellen.

In dem schon erwähnten Aufsatz führte ich die zeitliche Einheit des Bewußtseins auf ein Kontinuitätsgefühl zurück und verband damit die Meinung, daß hierin eine ursprüngliche und einfache Eigenschaft des Bewußtseins liegt. Die voranstehenden Auseinandersetzungen ergänzen und berichtigen diese dort geäußerte Ansicht. Allerdings darf man das Sichselberbekannterscheinen des Bewußtseins, insofern sich in ihm das gegenwärtige Bewußtsein unterbrechungslos mit dem soeben vergehenden verbindet, als Kontinuitäts- oder Stetigkeitsgefühl bezeichnen. Dagegen ist in ihm keineswegs eine ursprüngliche und einfache Bewußtseinseigenschaft aufgedeckt, wie ich dort annahm. Vielmehr sind in ihm mehrere Elemente zur Einheit verbunden.

20. Man sieht also: die Erinnerungsgewißheit nimmt eine überaus wichtige Stelle im seelischen Leben ein. Sie ist eine Funktion, von der aufschlußreiche Fäden nach verschiedenen Seiten laufen. Auch die zeitliche Einheit des Bewußtseins hellt sich mit ihrer Hilfe auf. Darum könnte noch das Zeitgefühl und die Zeitvorstellung herangezogen werden.

Eine hierauf gerichtete Betrachtung würde ergeben, daß das Zeitgefühl Hand in Hand mit der das Bewußtseins als solches beständig begleitenden Gewißheit der Erinnerungsmöglichkeit entsteht. Vermöge dieser Gewißheit spürt sich das Bewußtsein als in der Zeit verlaufend. In diesem stetigen Sichselberbekannterscheinen des Bewußtseins liegt der Ausgangspunkt für das Entstehen des Zeitgefühls. Nur die unmittelbare Selbsterfahrung des sich in einem stetigen Verlauf spürenden Bewußtseins läßt das Zeitgefühl hervorgehen.

Und weiter würde sich die Einsicht ergeben, daß die Zeitvorstellung sich nur auf der Grundlage dieses unmittelbaren Zeitgefühls entwickeln kann. So gewiß die Erinnerung an ein Ereignis die Einheit des Bewußtseins zur Voraussetzung hat und demnach die das Bewußtsein als solches begleitende Gewißheit von der Erinnerungsmöglichkeit, so gewiß hat die Vorstellung von einem in der Zeit verlaufenden Vorgang ihre Voraussetzung am unmittelbaren Zeitgefühl des Bewußtseins. Das dem "inneren Sinn" sich unmittelbar kundgebende Zeitgefühl ist die Grundlage für alle gegenständliche Zeitvorstellung.

Am Ende würde eine hierauf sich richtende Besinnung lehren, daß, indem Zeitgefühl und Zeitvorstellung auf das Stetigkeitsgefühl des Bewußtseins zurückgeführt sind, hiermit die Zeit keineswegs zu einem bloßen Schein oder Traum verflüchtigt ist. Vielmehr gibt sich uns in diesem Stetigkeitsgefühl unmittelbar als gewiß zu erkennen, daß das Bewußtseins als das, was es in der inneren Erfahrung ist, wirklich und wahrhaft in der Zeit verläuft. Mit anderen Worten: das Stetigkeitsgefühl bringt nicht etwa die Zeit hervor, sondern wird nur des tatsächlich dem Bewußtsein zukommenden Zeitverfließens inne. Der Zeitverlauf des Bewußtseins könnte zwar auch für sich allein nicht das Zeitgefühl hervorbringen, sondern es muß das Stetigkeitsgefühl hinzutreten. Aber ebensowenig könnte das Stetigkeitsgefühl für sich allein den Zeitverlauf ergeben. Vielmehr ist der wahre Zusammenhang der, daß das Stetigkeitsgefühl einerseits den tatsächlichen Zeitverlauf des Bewußtseins zur Voraussetung, andererseits das Zeitgefühl zum Ergebnis hat.

So würde sich also ergeben: der Zeitverlauf ist eine ursprüngliche und einfache Eigenschaft des Bewußtseins und nicht etwa ein Erzeugnis, das lediglich aus der Erinnerungsgewißheit und den anderen sich mit ihr zu einem Stetigkeitsgefühl verbindenden Elementen entspringt. Es ist zwischen einem Zeitverlauf des Bewußtseins und dem Zeitgefühl zu unterscheiden. In der Mitte zwischen beiden liegt das Stetigkeitsgefühl.
LITERATUR: Johannes Volkelt, Beiträge zur Analyse des Bewußtseins, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 112, Leipzig 1898
    Anmerkungen
    9) FRIEDRICH JODL, Lehrbuch der Psychologie, Seite 77f, 118f, 464f.
    10) Die Erinnerungsgewißheit würde mir wie ein reines Wunder erscheinen, wenn nicht zwischen den beiden Bewußtseinsstücken eine ununterbrochene Fortsetzung durch die Innerlichkeit hindurch stattfände. Die Erinnerung macht uns unmittelbar eines unwiderruflich dem Nichtsein verfallenen, schlechthin vergangenen Bewußtseinsvorgangs gewiß. Wie sollte dies möglich sein, wenn nicht beide Bewußtseinsstücke gleichsam durch eine innerliche Brücke aneinandergeknüpft wären? Die fortbestehenden Gehirndispositionen können wegen ihrer völligen Unvergleichbarkeit mit allem Seelischen überhaupt nicht als Verknüpfung der beiden Bewußseinsstücke als solcher gelten. Dazu kommt dann die weitere Erwägung, daß der Begriff des unbewußt Seelischen keineswegs von so abschreckender Schwierigkeit und Unfaßbarkeit ist, wie uns die modernen Psychologen glauben machen wollen. Es gibt viele Begriffe, die wir nicht vollziehen können, und die wir doch in Form einer logischen Forderung aufstellen müssen, weil uns die denkende Behandlung gewisser Tatsachen dazu nötig. Am Ende aber haften dem Hinweis auf Dispositionen des Gehirns, funktionelle Dispositionen, oder man sonst noch sagen mag, in der Art von Verwendung Dunkelheiten und Unbestimmtheiten so hohen Grades an, daß der Vorteil, den man hierdurch vor dem verschrieenen Begriff des unbewußt Seelischen vorauszuhaben glaubt, zweifelhaft wird. Die funktionellen Dispositionen in der Hirnrinde treten hier als ein Glied auf, durch das Bewußtseinsvorgänge, die, seelisch betrachtet, unverknüpft sind, in einen verständlichen Zusammenhang gebracht werden sollen. Materielle Zustände werden herangezogen, um zwischen Bewußtseinsvorgängen, also zwischen Vorgängen des gegenüberstehenden, völlig anderen Seinsgebietes, einen kausalen Zusammenhang hervorzubringen. Man ist daher in diesem Fall zu fragen berechtigt: was ist denn das für eine Art Sein, wo durch Vorgänge, die einem unvergleichbar anderen Seinsgebiet angehören, kausal verknüpft werden sollen? Solange der Naturforscher nur von materiellen Vorgängen und Beziehungen handelt, darf er alle Fragen, die auf das Wesen dieser Vorgänge und Beziehungen gehen, beiseite lassen. Sobald dagegen materielle Vorgänge oder Zustände verwendet werden, um durch sie Stücke eines gänzlich anderen Seinsgebietes kausal zu verknüpfen, so muß doch darüber Klarheit bestehen, was das für eine Art "Sein" ist, durch das man der andersartigen Welt des Bewußtseins, der von ihr selber aus nicht geholfen werden kann, Hilfe bringen will. Es gilt also zu sagen: was liegt und geht ansich vor in dem, was man Gehirndispositionen und dgl. nennt? Damit ist man aber auf das Gebiet metaphysischer Hypothesen über die ansich seiende Beschaffenheit des Materiellen verwiesen. Es wäre sogar geradezu absurd, wenn man in diesem Fall beim Gehirn als bloßer Erscheinung, d. h. bei den wirklichen und möglichen Wahrnehmungen vom Gehirn, oder auch beim Gehirn als bloßem Hilfsbegriff stehen bleiben wollte. Damit wäre ja behauptet, daß die im Bewußtsein fehlende Verbindung zwischen ursprünglicher und reproduzierter Vorstellung durch Wahrnehmungsbilder von Gehirndispositionen oder durch ein subjektives Hinzuvorstellen des Hilfsbegriffs "Gehirndisposition" hergestellt wird. Es ist überflüssig, den hierin liegenden vielfältigen Widersinn aufzuweisen. Also bleibt es dabei: der Psychologe hat die logische Pflicht, zu sagen, was für eine Art Sein im Gegensatz zur Bewußtseinswirklichkeit mit den herangezogenen materiellen Dispositionen behauptet wird. Das heißt: er befindet sich auf dem Gebiet dunkler und strittiger metaphysischer Hypothesen.
    11) JOHANNES REHMKE, Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, Hamburg und Leipzig 1894, Seite 512f.
    12) Auf diesen Punkt einzugehen, ist mir schon darum wichtig, weil ich selbst in einem früheren, in Bd. 92 dieser Zeitschrift veröffentlichten Aufsatz (Psychologische Streitfragen II) in die sonst richtige Beschreibung der Erinnerungsgewißheit dadurch eine gewisse Schieflage gebracht habe, daß ich sie als "Gewißheit der Abbildlichkeit" bezeichnete (Seite 84f).
    13) GOSWIN K. UPHUES, Über die Erinnerung. Untersuchungen zur empirischen Psychologie. Leipzig 1889, Seite 44f, 51f, 71f, 98f.
    14) Eine merkwürdige Verkehrung des Bewußtseinstatbestandes, der in der Erinnerung vorliegt, findet sich auch bei SCHUBERT-SOLDERN. Um die Beziehung der Reproduktion zur Vergangenheit, die ja doch ein Nichtseiendes ist, wegzuschaffen, setzt er das Wesen der Reproduktion darein, daß "ihr Inhalt als in der Zukunft wahrnehmbar gedacht ist" (Reproduktion, Gefühl und Wille, Leipzig 1887, Seite 7).
    15) PAUL NATORP, Einleitung in die Psychologie, Freiburg i. Br. 1888, Seite 41.
    16) Nach derselben Richtung zielt es, wenn REHMKE sagt, daß im Bekanntsein einer wiederholten Wahrnehmung die Vorstellung des "Früher" oder "Schon" eingeschlossen liegt (Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, Seite 510f).
    17) Mit vollem Bewußtsein nenne ich neben den ähnlichen Wahrnehmungen die Bedeutungsvorstellung. Der Bekanntheitseindruck besagt nicht nur, daß ich Ähnliches früher schon wahrgenommen habe, sondern auch, daß ich mit den Wahrnehmungen ein Wissen davon, was das Wahrgenommene ist, verbunden habe. Diese Sachvorstellung, deren ich beim Bekannterscheinen der Gegenstände gewiß bin, hat in vielen Fällen einen individuellen Charakter, so z. B., wenn mir mein Schreibtisch oder mein Sohn als bekannt erscheint. Doch ist dies nicht nötig. Der Bekanntheitseindruck, den mir die Häuser, Droschken, Menschen einer fremden Stadt machen, schließt natürlich Sachvorstellungen von nur allgemeinem Charakter ein. Deswegen spreche ich oben von "mindestens nach Gattung und Art gleichen Bedeutungsvorstellungen". Die dabei vermittelnd und stellvertretend mitwirkenden Wortvorstellungen überspringe ich, da in ihnen als solchen das Vorstellen niemals mündet, sondern, wenn auch nur in abgekürzest gefühlsmäßiger Form, bis zur Sachvorstellung vordringt.
    18) HARALD HÖFFDING, Über Wiedererkennen, Assoziation und psychische Aktivität. Erster Artikel. In der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 13, 1889, Seite 432, 436f, 458. Das Unmittelbare der "Bekanntheitsqualität" wird von HÖFFDING in schlagender Weise dargelegt.
    19) Im zweiten Artikel der "Psychologischen Streitfragen" (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 92, Seite 87f).