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FRIEDRICH ÜBERWEG
Über die sogenannte
Logik der Tatsachen
(1)

"Die Logik der Tatsachen will bei der Konstatierung eines allgemeinen Resultates nur - die Tatsachen selbst reden lassen. Nicht wir sollen von dem Unsrigen hinzutun, sondern nur der Offenbarung horchen, welche die Tatsachen selbst uns verkünden."

"Die Tatsachen reden lassen, darf nicht heißen: nur Tatsachen zusammenstellen, ohne irgendwie über die beobachteten Einzelheiten hinauszugehen; denn ein Allgemeines, eine Regel soll allerdings gewonnen werden. Und zwar aus den Tatsachen selbst. Aber wie, wenn nicht durch streng logisches Schließen? - Offenbar durch das treue Anschauen der Tatsachen selbst, das Hineinleben, das sich hingebende Versenken in dieselben, mit einem Wort, durch vorwiegende Passivität gegenüber der Macht des Eindruckes, den die Objekte auf uns ausüben. Die reine formale Logik verlangt die bewußteste Aktivität des Denkens; die Logik der Tatsachen eine möglichst selbstlose Passivität."

"Was war es anderes, als eine derartige vermeintliche Logik der Tatsachen, daß selbst ein so bedeutender Geist, wie Francis Bacon, das kopernikanische System aufgrund des Augenscheins verwarf?"

"Man gibt sich dem Eindruck der beobachteten Tatsachen hin, verallgemeinert in möglichst sachgemäßer Weise, doch immer mehr oder weniger auf gut Glück und trifft nicht selten das Ziel, verfehlt es aber auch gar oft. Das ist die psychologische Realität, die man mehr geahnt als erkannt hat, da man sie mit dem stolzen Namen Logik der Tatsachen schmückte."

"... keine Logik der Tatsachen, sondern eine rohere Abschätzung, die mitunter zu praktischen Zwecken ausreichen mag, in schwierigeren und komplizierteren Fällen aber ebensowenig genügt und ebenso irre führen kann, wie das Augenmaß bei der Bestimmung der Größe und der Entfernungen der Himmelskörper."

In der ersten der in den Anmerkungen erwähnten Abhandlungen hat der Mathematiker RADICKE nachzuweisen gesucht, in welcher Art die durch physiologisch-medizinische Beobachtung konstatierten Tatsachen zu verwerten sind, wenn daraus auf wissenschaftliche Weise allgemeingültige Resultate mit der höchsten erreichbaren Wahrscheinlichkeit gefolgert werden sollen. Er legt dabei die strengen Gesetze der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung zugrunde. Diesen gemäß findet er die Gewinnung eines brauchbaren Resultates an folgende Bedingungen geknüpft. Wenn zwei Beobachtungsreihen vorliegen, wovon die eine auf den normalen Zustand, die andere auf den durch den Einfluß eines bestimmten Umstandes veränderten Zustand geht, so läßt sich aus denselben über den Einfluß jenes Umstandes auf eine wissenschaftlich gültige Weise ein bestimmtes Resultat in der Regel nur unter der Voraussetzung ziehen, daß die Zah der Beobachtungen in jeder Reihe zu einem gewissen Ausgleich zufälliger Störungen und unvermeidlicher Beobachtungsfehler groß genug ist, und daß dann die Differenz der (arithmetischen) Mittelwerte beider Reihen (gleich oder) größer ist, als die Summe der mittleren Schwankungen. Unter der mittleren Schwankung ist das (quadratische) Mittel aus den Abweichungen der durch Beobachtung gefundenen Zahlen in jeder Reih vom (arithmetischen) Mittelwert derselben Reihe zu verstehen. Im entgegengesetzten Fall, wenn also die Differenz der Mittelwerte beider Reihen den Summen der mittleren Schwankungen an Größe nachsteht, bleibt es in der Regel (abgesehen von bestimmten, besonders günstigen Verhältnissen, die RADICKE angiebt) völlig ungewiß, ob diese Differenzen der Mittelwerte durch den zu prüfenden Einfluß jenes einen Umstandes oder durch mancherlei anderweitige unberechenbare Nebeneinflüsse verursacht sind, so daß sich, wenn die Reihen früher abgebrochen oder verlängert oder die Beobachtungen unter anderen unbekannten Nebeneinflüssen angestellt worden wären, vielleicht ganz andere und doch eben so scheinbare Resultat ergeben haben möchten. Ohne Zweifel ist diese Vorsicht in RADICKEs Verfahren in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus zu billigen, und das Ziel nicht unerreicht geblieben, das er sich gesetzt hatte, durch seine Arbeit der Menge der scheinbar exakten Resultate entgegenzuwirken, mit denen (nach dem Ausdruck seines Freundes Dr. BRÖKER, der ihn zu seiner Abhandlung veranlaßt hatte) "die medizinische Wissenschaft sich täglich zu bereichern droht."

Im gleichfalls erwähnten Nachwort zu RADICKEs Abhandlung spricht sich Professor VIERORDT im Allgemeinen billigend und bestimmend über dieselbe aus, meint jedoch:
    "daß es außer der rein formalen, mit einer gewissen mathematischen Schärfe beweisenden Logik des Wahrscheinlichkeitskalkuls in vielen Fällen noch eine Logik der Tatsachen selbst gibt, die, in rechter Weise angewandt, einen kleineren oder selber sehr großen Grad von Beweiskraft für den Mann vom Fach besitzt."
Dieser Äußerung VIERORDTs tritt F. W. BENECKE in seinen beiden in den Anmerkungen an dritter Stelle zitierten Aufsätzen umso entschiedener bei, da er zugleich seine eigene frühere Schrift "Über die Wirkung des Nordseebades", Göttingen 1855, gegen RADICKEs Verwerfungsurteilt auf diese Weise rechtfertigen zu können glaubt.

Ich beabsichtige nun nicht, in diese Abhandlungen spezieller einzugehen, wozu ich mich umso weniger berufen fühle, da ich weder Mediziner, noch Mathematiker vom Fach bin. Was aber den allgemeinen Gedanken eines Gegensatzes zwischen einer sogenannten "Logik der Tatsachen" und der gewöhnlichen "formalen Logik" anbelangt, so folge ich gern der freundlichen Aufforderung meines werten Kollegen und Freundes Dr. BÖCKER, mich hierüber als Logiker und Dozent der Philosophie näher zu erklären. Die Entgegensetzung in dem Sinne, als ob dann, wenn bereits die strengen Gesetze der mathematisch-logischen Forschung und insbesondere der Wahrscheinlichkeitsrechnung feststehen und Anwendung gefunden haben, daneben noch eine andere Forschungsweise, die sogenannte "Logik der Tatsachen", in vielen Fällen für den Mann vom Fach zu Recht bestehen bleibt und zu anderen, erwünschteren Resultaten führen könnte, muß ich entschieden verwerfen; als bloße Vorstufe dagegen, sofern die strengeren Regeln noch unbekannt sind, kann ich in gewissem Sinn das, was durch "Logik der Tatsachen" hat bezeichnet werden sollen, gelten lassen; - etwa so, wie die Abschätzung nach dem Augenmaß, solange noch die mathematisch strenge Messung unmöglich ist, ihr relatives Recht hat, nachdem aber die letztere bereits vollzogen worden ist, derselben nur beim begründeten Verdacht eines nachweisbaren Rechenfehlers mit einem gewissen Recht, sonst aber nur aus Unkenntnis mit absolutem Unrecht als zu anderen und doch immer noch für irgendeinen Fachmann irgendwie wahrscheinlichen Resultaten führend, entgegengesetzt werden könnte. Ich will meine Ansicht mit wissenschaftlicher Entschiedenheit, jedoch in persönlich unparteiischer Weise meinem Grundsatz getreu: "Sine ire et studio" [ohne Zorn und ohne Eifer - wp], zu begründen versuchen.


"Logik der Tatsachen" ist ein vieldeutiger Ausdruck, gerade darum aber so bestechend und verführerisch für viele, weil er in bunten Farben schillert, so daß leicht irgendein subjektiver Lieblingsgedanke hineingelegt, eine Lieblingsmaxime durch den guten Klang dieses Namens scheinbar legitimiert werden kann. Um einen klar bestimmten Begriff und an diesem eine Grundlage der ferneren Untersuchung zu gewinnen, prüfen wir der Reihe nach die verschiedenen Bedeutungen, in denen der Ausdruck gebraucht werden kann.

Man braucht zunächst, worauf auch die grammatische Konstruktion zuerst einmal führt, dieses damit sagen wollen, daß die Tatsachen selbst als solche gewissermaßen eine Logik in sich tragen und üben, d. h. daß sie nach einer strengen Naturgesetzmäßigkeit erfolgen und sich nicht subjektiven Wünschen oder Hypothesen akkomodieren [anpassen - wp]; daß die Resultate den eingeleiteten Prozessen, die Erfolge den Handlungen mit einer Art von logischer Konsequenz entsprechen, welche die süßen Träume einer gedankenlosen Phantastik oder einer schwachherzigen Sentimentalität mit unerbittlicher Notwendigkeit zu schanden werden läßt. Wohl darf man bildlich in diesem Sinn von einer "Logik der Tatsachen" reden, nur muß man sich der bildlichen Redeweise dabei bewußt bleiben. Die Logik in einem bildlosen, wissenschaftlichen Sinn ist ausschließlich Sache des denkenden Subjekts. Sie ist als Theorie der Inbegriff der Normen und als Kunst die richtige Anwwendung der Normen, denen die subjektive Tätigkeit sich unterwerfen muß, um ihr Ziel zu erreichen, welches in der Erhebung des Seins zum Bewußtsein, in der Übereinstimmung unserer subjektiven Gedanken mit der objektiven Realität liegt. Die Tatsachen selbst erfolgen nach einer realen Gesetzmäßigkeit. Das Subjekt sucht diese zu erkennen. Was ansich ist, soll auch für uns da sein, von uns begriffen werden. Der Weg, der dahin führt, oder das richtige Verfahren in der Erforschung der Wirklichkeit ist eben die Logik des Subjekts. Wenn wir nun gewisse Naturgesetze noch nicht kennen, sondern erst ermitteln wollen, und zu diesem Zweck neben der "rein formalen Logik" eine sogenannte "Logik der Tatsachen" empfohlen wird: so kann hier offenbar, sofern klar gedacht wird, nicht eine Logik gemeint sein, welche die Tatsachen an und für sich üben, auch ohne daß das Subjekt davon weiß, sondern nur eine gewisse Art und Weise, wie das Subjekt zur Erkenntnis der objektiven Realität gelangen kann. Wir suchen ja erst die reale Ordnung zu ermitteln. Gewisse Behauptungen über dieselbe sind von der einen Seite aufgestellt, von der anderen bestritten worden. Würden wir die immanente "Logik" der Natur schon kennen, so hätte der Streit ein Ende. Auf dasjenige aber, was noch strittig ist, darf sich keine der Parteien wie auf eine Anerkanntes berufen. Und dieser Fehler, das vitium petitionis principi [Fehler, daß von dem ausgegangen wird, was erst zu beweisen ist - wp], würde ja doch begangen werden, wenn die eigene, von der Gegenseite bestrittene Ansicht, sei es mit beanspruchter Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit, als die erkannte Logik der Natur proklamiert werden sollte. Da wir nun diesen Denkfehler nicht voraussetzen dürfen, so kann unter der "Logik der Tatsachen" in jenem Zusammenhang nicht die objektive Logik zu verstehen sein, welche den Tatsachen selbst angehört, sondern eine gewisse Logik des forschenden Subjekts, welche aber auf die Tatsachen geht, sich auch an die Tatsachen hält und sich durch den Eindruck der Tatsachen bestimmen läßt.

Bestechend genug ist wohl in diesem Sinn jener Ausdruck, aber klar und bestimmt noch keineswegs. Wir fragen jetzt: In welcher Weise soll denn diese "Logik der Tatsachen" auf die Tatsachen gehen? Etwa so, daß damit nur der richtige Weg gemeint wäre, zur Erkenntnis der Tatsachen selbst zu gelangen? Also die Methode der Wahrnehmung, Beobachtung, des Zeugenverhörs etc.? Aber das wäre ja keine besondere Art des logischen Verfahrens, sondern nur ein Abschnitt aus der gewöhnlnichen Logik, und es wäre doch fehlerhaft, den Teil dem Ganzen zu koordinieren. Auch will man ja gar nicht bloß die beobachteten Tatsachen selbst haben, sondern aufgrund derselben allgemeine Regeln aufstellen und danach auch in der Praxis verfahren. Zu diesem Ziel soll die "Logik der Tatsachen" führen. Sie geht über die einzelnen Tatsachen hinaus auf etwas Allgemeines hin.

Also wäre etwa die Meinung diese, daß man bei der Ermittlung des Allgemeinen aus den Tatsachen logisch verfahren und dabei die Tatsache selbst gebührend respektieren soll? Da wäre wiederum die "Logik der Tatsachen" nur ein Abschnitt aus der gewöhnlichen, freilich öfter genannten, als gründlich gekannten Logik. Diese zeigt ja den Weg der Abstraktion, Induktion, Analogie, der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Prüfung von Hypothesen an der Erfahrung etc. Sie führt über die bloßen Tatsachen hinaus; aber es wäre eine ganz falsche Insinuation [ans Herz legen - wp], wenn man ihr etwa Schuld geben wollte, daß sie dabei die gebührende Achtung vor den Tatsachen aus den Augen verliert und luftige Spekulationen begünstigt. Sehen wir genauer zu, so möchte sich herausstellen, daß gerade sie sogenannte "Logik der Tatsachen" nur in geringerem Maß sich den Tatsachen unterwirft, daß sie es gerade bei den behaupteten allgemeinen Regeln mit der Pflicht einer genauen und scharfen Prüfung an den Tatsachen leichter nimmt. Wird nicht neben dem streng logischen Verfahren ein anderes gesucht, ein gefälligeres und ergiebigeres, das sich nicht so engherzig an das strenge Recht allein hält, sondern ein wenig milder und humaner unseren subjektiven Bedürfnissen entgegenkommt? Doch nein! Wir irren. Die "Logik der Tatsachen", die sich fromm und ergeben den Gesetzen der Realität beugt, will nicht mit buhlerischer Gefälligkeit subjektiven Gelüsten dienen. Die "Logik der Tatsachen" will vielmehr bei der Konstatierung eines allgemeinen Resultates nur - die Tatsachen selbst reden lassen. Nicht wir sollen von dem Unsrigen hinzutun, sondern nur der Offenbarung horchen, welche die Tatsachen selbst uns verkünden.

Jedoch um Klarheit zu gewinnen, was denn hiermit im Gegensatz gegen die vulgäre Logik gemeint sein könnte, müssen wir von einer poetischen Ausdrucksweise, hinter der sich leicht eine gewisse Unbestimmtheit des Gedanken verbirgt, auf die gemeine Prosa zurückgehen. Die Tatsachen reden lassen, dürfte nach dem Früheren nicht heißen: nur Tatsachen zusammenstellen, ohne irgendwie über die beobachteten Einzelheiten hinauszugehen; denn ein Allgemeines, eine Regel soll allerdings gewonnen werden. Und zwar aus den Tatsachen selbst. Aber wie, wenn nicht durch streng logisches Schließen und die mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung? Offenbar durch das treue Anschauen der Tatsachen selbst, das Hineinleben, das sich hingebende Versenken in dieselben, mit einem Wort, durch vorwiegende Passivität gegenüber der Macht des Eindruckes, den die Objekte auf uns ausüben. Die "reine formale Logik" verlangt die bewußteste Aktivität des Denkens; die "Logik der Tatsachen" eine möglichst selbstlose Passivität.

Es soll dieser Forderung nicht zum Nachteil gereichen, daß sie, indem sie das Vertrauen auf passive Hingabe begünstigt, in einer bedenklichen Verwandtschaft mit dem mißlichen Spruch steht: "Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf!" Immerhin! Wenn der Schlaf oder Halbschlaf so große Dinge tut, so soll er uns willkommen sein. Allein es ist dies von vornherein nicht sehr wahrscheinlich. Die Objektivität mit den ihr innewohnenden Gesetzen spiegelt sich nicht so im menschlichen Geist ab, wie eine helle Umgebung auf der reinen Tafel der Camera obscura. Die Produkte des psychologischen Mechanismus beruhen zwar einerseits auf den Einwirkungen der Außenwelt, andernteils aber auf den rein psychologischen Gesetzen der Vorstellungsbildung und -Assoziation, und stimmen daher nicht von selbst bei vorwiegend passivem Verhalten des Subjekts mit der Natur der Außendinge überein. Wir müssen gelernt haben, unser theoretisches Verhalten den logischen Normen zu unterwerfen, wenn eine solche Übereinstimmungen mit Sicherheit erzielt werden soll. Und dieses auf die Natur der Sache gegründete, aus dem Verhältnis des subjektiven Erkenntnisfaktors zum objektiven hergeleitete Bedenken wird nur allzusehr durch die Geschichte der Wissenschaften bestätigt. Erfahrungstatsachen, die ja doch vor allem von der "Logik der Tatsachen" respektiert werden müssen, zeugen nur allzu entschieden dafür, daß man bei vorwiegend passiver Hingabe an die Macht des unmittelbaren Eindrucks der beobachteten Einzelheiten am allermeisten in den Fehler der falschen Verallgemeinerung aufgrund einer sehr unvollständigen Induktion verfallen ist, ja, daß so in der Regel nicht einmal die Tatsachen selbst mit einer strengen Kritik ermittelt und von dem so leicht, unwillkürlich und unbewußt mit einfließenden subjektiven Urteil über die Tatsachen gesondert worden sind. Was war es anderes, als eine derartige vermeintliche "Logik der Tatsachen", daß selbst ein so bedeutender Geist, wie FRANCIS BACON, das kopernikanische System aufgrund des Augenscheins verwarf? und noch heute der Visionär fest an die von ihm selbst gesehenen Gespenster glaubt? Was anders, wenn der Aberglaube an die unheildrohende Bedeutung der Kometen sich auf die gleichzeitigen unheilvollen Ereignisse der Weltgeschichte berief und auf diese "Tatsachen" pochte? Gewiß, es gibt eine das Subjekt leicht überwältigende Macht der Tatsachen oder dessen, was dafür gehalten wird; aber das Kriterium, wie weit diese Macht ein Recht hat und in wie weit nicht, der Entscheidungsgrund, ob ein gewisser Anschluß an die Tatsachen eine "Logik", oder eine "Anti-Logik der Tatsachen" ist, liegt nirgendwo anders, als eben in den Normen der "formalen Logik" selbst.

Wir wollen nicht ungerecht sein. Höchst bedenklich bleibt zwar in jedem Fall die mehr unbewußte und passive Hingabe; aber sie führt nicht notwendig zu Irrtümern, sondern oft auch zu brauchbaren Resultaten. Sie läßt mitunter sogar wissenschaftliche Wahrheiten vorauserkennen, während noch die bewußte logische Verarbeitung der empirischen Data, gleichsam langsamer nachhinkend, bei der bloßen Aussage des Nichtwissens vorsichtig stehen bleibt. Offenbar sind es Fälle dieser Art, welche den Verteidigern des Rechts und des relativen Vorzugs einer sogenannten "Logik der Tatsachen" vorgeschwebt haben.

Aber hier stoßen wir auf eine große Unklarheit über die Natur der Denkprozesse, die zu jenen glücklichen Resultaten führen können. Was man mit "Logik der Tatsachen" meint, sofern man Denkprozesse solcher Art darunter versteht, wird durch diesen Ausdruck in einer unangemessenen und zur Überschätzung verleitenden Weise bezeichnet. Der wissenschaftliche Terminus, dessen sich dafür die Psychologie zu bedienen pflegt, ist ein anderer, den schon vorlängst namhafte Vertreter dieser Wissenschaft im Anschluß an den allgemeinen Sprachgebrauch in diesem Sinne verwandt haben. Es ist der Ausdruck "Takt" oder "Blick", die agchinoia [Geistesgegenwart - wp] des ARISTOTELES. FRIEDRICH EDUARD BENEKE, der Psychologe, erklärt in seinem "Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft", zweite Auflage, Berlin 1845, § 158, den "Takt" ganz richtig mit folgenden Worten:
    "Bei schnellerer Erregtheit können sich mehrere nebeneinander ablaufende und voneinander verschiedene Gruppen und Reihen so entwickeln, daß nur das letzte Glied derselben ein klares Bewußtsein erhält und in das Urteilsverhältnis tritt, die übrigen sich infolge ihres Gegensatzes und der schnelleren Entwicklung, nur zu einem halben oder auch zu gar keinem Bewußtsein ausbilden. Geben aber nur diese Gruppen und Reihen die Empfindungen und Wahrnehmungen, von welchen sie stammen, unverfälscht und in objektiv wahrer Verknüpfung wieder, so können die im Bewußtsein und in der Urteilsform hervortretenden Endglieder ebenso angemessen bestimmt sein, als bei klar bewußter Entwicklung."
Beispiele liefert der gesellschaftliche Takt in der Beurteilung von Personen und Verhältnissen und im angemessenen Benehmen; der ärztliche Blick in momentaner Bildung einer richtigen Anschauung von der Natur einer bestimmten Krankheit, die fast instinktive Sicherheit des Virtuosen in der Übung seiner Kunst, aber auch schon das "Augenmaß" etc. Von dieser Art ist auch die mitunter recht wohl gelingende Antizipation allgemeiner Regeln aufgrund einiger weniger, nach streng logischen Gesetzen keineswegs ausreichenden Beobachtungen. Man gibt sich dem Eindruck der beobachteten Tatsachen hin, verallgemeinert in möglichst sachgemäßer Weise, doch immer mehr oder weniger auf gut Glück und trifft nicht selten das Ziel, verfehlt es aber auch gar oft. Das ist die psychologische Realität, die man mehr geahnt als erkannt hat, da man sie mit dem stolzen Namen "Logik der Tatsachen" schmückte.

Inwiefern diesem Verfahren der Ehrenname eines "logischen" zukommt, wird sich aus dem Folgenden erhellen. Falls alle Glieder objektiv richtig gebildet und verknüpft sind, so betrifft der Unterschied von der vollbewußten Verarbeitung der Tatsachen nur den psychologischen, nicht den eigentlich logischen Charakter des Verfahrens (vgl. dazu mein "System der Logik", Bonn 1857, Seite 281f). In diesem Fall ist demnach das Verfahren allerdings ein logisch richtiges; aber es fällt auch dann, sobald die einzelnen Glieder durch Analyse zur vollen Bewußtseinsstärke oder Klarheit erhoben werden, ganz mit dem bewußt logischen zusammen, weshalb dann die Entgegensetzung falsch ist, als ob jenes zu anderen und ausgiebigeren Resultaten führen könnte. Wenn es aber andererseits auf solche Resultate führt, die von den Ergebnissen der streng logischen Erörterung abweichen, so war es selbst kein richtiges, logisches Verfahren, nicht eine "Logik der Tatsachen", sondern eine rohere Abschätzung, die mitunter zu praktischen Zwecken ausreichen mag, in schwierigeren und komplizierteren Fällen aber ebensowenig genügt und ebenso irre führen kann, wie das Augenmaß bei der Bestimmung der Größe und der Entfernungen der Himmelskörper, weshalb hier jene relative Bevorzugung noch viel weniger gerechtfertigt ist. Nachdem einmal die genaue, mathematisch-logische Methode, und insbesondere auch bei pharmakodynamischen Forschungen die richtige Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung gezeigt worden ist, fruchtet jenes Sträuben gegen die strengeren methodischen Anforderungen nicht mehr, welches bequemere Verfahrensweisen nicht aufgeben will, die doch nur die jugendliche Vorstufe charakterisieren.

Zur Anstellung brauchbarer Beobachtungen und einer Konstatierung zuverlässiger Einzelwerte bedarf es allerdings durchaus der physiologisch-medizinischen Sachkunde und des durch mannigfache Übung erlangten richtigen Taktes und sicheren Blicks, und der Fachmann ist in dieser Beziehung wohlberechtigt, ein gewisses Vertrauen in seine Ermittlungen je nach dem Maß seiner Sachkunde und Übung sowohl selbst zu setzen, als auch seitens anderer zu beanspruchen. Aber anders ist es bei der Verwendung der durch Beobachtung gewonnenen Zahlen zur Begründung allgemeingültiger Resultate. Hier ist nicht mehr der Physiologe als solcher, sondern der Mathematiker der Sachverständige. Was aus den Zahlen folgt und was nicht, kann nur derjenige wissen, der mit den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung vertraut ist. Der Physiologe muß in solchen Dingen beim Mathematiker ebensowohl in die Schule gehen, wie in physiologischen Problemen dieser bei jenem sich Rat holen und sich insbesondere die zu verwertenden Zahlen von jenem geben lassen muß. Ein Operieren mit den Zahlen, die durch eine sachkundige Beobachtung gewonnen worden sind, ohne Kenntnis oder Beachtung der mathematisch-logischen Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung wäre nur ein dilettantischer Naturalismus. Wenn man bisher häufig unvollkommenere Methoden angewandt hat, so war dies bei der Neuheit jener Forschungsweise nicht anders zu erwarten. Nachdem aber ein genaueres Verfahren gelehrt worden ist, wäre eine Ablehnung desselben und ein Verharren bei jener mehr naturalistischen Weise nicht mehr zu rechtfertigen. "Da ich ein Mann ward," heißt es, "tat ich ab, was dem Kinde geziemt."

Die wahrhaftere, vollere und reinere Unterwerfung der subjektiven Erkenntnistätigkeit unter das Recht der objektiven Realität liegt demgemäß nicht in der sogenannten "Logik der Tatsachen", sondern in der klar bewußten und strengen Befolgung der mathematisch-logischen Normen.
LITERATUR: Moritz Brasch (Hg), Die Welt- und Lebensanschauung Friedrich Überwegs in seinen gesammelten philosophisch-kritischen Abhandlungen, Leipzig 1889
    Anmerkungen
    1) Mit Beziehung auf:
      1. RADICKE, Über die Bedeutung und den Wert arithmetischer Mittel (insbesondere über die Vergleichbarkeit der Mittelwerte aus Beobachtungsreihen, die zur Feststellung pharmakodynamischer Sätze dienen sollen), in Wunderlichs "Archiv für physiologische Heilkunde, Neue Folge, Bd. II, 1858, Seite 145 bis 219.
      2. K. VIERORDT, Bemerkungen über medizinische Statistik (als Nachwort zu Radickes Abhandlung, a. a. O., Seite 220f.
      3. F. W. BENECKE, Bericht über Radickes Aufsatz und Entgegnung a) im Correspondenzblatt des Vereins für gemeinschaftliche Arbeiten, 1858, Nr. 34; b) im "Archiv für physiologische Heilkunde", Neue Folge, Bd. II, Seite 550f.