tb-2 Die positivistische PhilosophieKampits - Der Wiener Kreis    
 
VIKTOR KRAFT
Der Wiener Kreis
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"Die Zurückführung aller Begriffe auf die innere und äußere Wahrnehmung, auf unmittelbare Eindrücke ist ein altes Postulat. Locke und Hume haben sie behauptet und ihrer Erkenntnislehre zugrunde gelegt. Aber diese Zurückführung ist nie tatsächlich unternommen worden. Carnap hat den kühnen Versuch wirklich gemacht, indem er den definitorischen Aufbau wenigstens der Grundbegriffe lediglich auf der Grundlage der Erlebnisse in seinen Grundzügen zu zeigen bemüht war."

B. Der Empirismus

I. Das Konstitutionssystem
der empirischen Begriffe

[Fortsetzung]

Endlich wird auch der Begriff der empirischen  Wirklichkeit,  zum Unterschied von der metaphysischen, konstituiert. Die metaphysische Wirklichkeit, eine vom Bewußtsein unabhängige Existenz, ist nicht konstituierbar. Die Kennzeichen des empirisch Wirklichen gegenüber dem Unwirklichen (Traum, Dichtung) bestehen darin, daß jeder wirkliche Gegenstand eine Stellung in der Zeitordnung hat, daß er ein intersubjektiver ist oder wenigstens unmittelbar Anlaß zur Konstituierung eines solchen gibt und daß er einem umfassenden gesetzmäßigen System angehört. So sind physische Dinge wirklich, "wenn sie konstituiert sind als Klassen physischer Punkte, die auf zusammenhängenden Weltlinienbündeln liegen und in das vierdimensionale Gesamtsystem der physikalischen Raum-Zeit-Welt eingeordnet sind" (Seite 237). Und psychische Gegenstände sind wirklich, wenn sie dem psychischen System eines Subjekts eingeordnet sind. Damit ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit konstituiert, ganz auf eigenpsychischer Basis, ohne daß Transzendenz dafür vorausgesetzt wird.

Aus der Einsicht in den Aufbau der Begriffe ergeben sich mancherlei philosophische Klarstellungen.

So wird zunächst deutlich, worin der Unterschied zwischen  Individuellem  und Allgemeinem besteht. Da alle Begriffe als Klassen oder Beziehungen von Elementarerlebnissen konstituiert werden, gibt es keine eigentlichen Individualbegriffe, sondern nur Allgemeinbegriffe. Die Individualisierung der Gegenstände kommt vielmehr dadurch zustande, daß sie zeitlich, eventuell auch noch räumlich bestimmt sind, d. h. in eine zeitliche und eventuell in eine räumliche Ordnung eingegliedert sind. Was in anderen Ordnungen steht, ist hingegen ein allgemeiner Gegenstand. Die Verschiedenheit der zeitlichen und räumlichen Ordnung von den übrigen Ordnungen wurzelt darin, daß es zwei verschiedene Arten von Beziehungen zwischen Qualitätsklassen gibt, wie zum Beispiel beim Gesichtssinn die Gleichstelligkeit und die Gleichfarbigkeit. Auf der ersten beruth die Sehfeldordnung und damit indirekt die räumliche Ordnung. Auf der zweiten die qualitative Ordnung der Farben im Farbenkörper. Was die erste Art von Beziehungen vor der anderen voraus hat, ist die formal-logische Eigenschaft, daß verschiedene  gleichstellige  Qualitätsklassen nie zu demselben Elementarerlebnis gehören können, wohl aber  gleichfarbige.  Das ist die letzte Grundlage für die Individualisierung.

Dann läßt sich der Begriff der logischen  Identität  präzise formulieren. Sie ergibt sich aus der Frage, "wann zwei verschiedene Bezeichnungen denselben Gegenstand bezeichnen". Das Kriterium dafür besteht in ihrer Substituierbarkeit: Wenn sowohl die eine wie die andere der beiden Bezeichnungen bei Einsetzung in eine Satzfunktion einen wahren Satz ergibt. In den meisten Identitätsaussagen bezieht sich aber die Bezeichnung als "derselbe" nicht auf den genannten Gegenstand (z. B. diesen Schmetterling) als individuellen, sondern auf seine Art (diese Spezies Schmetterling) also auf einen Gegenstand höherer Stufe. In diesem Sinn verstanden, besteht die Identität im strengen Sinn, wie sie eben definiert worden ist. Wird dagegen die Identität auf den Gegenstand als einzelnen bezogen, dann ist es keine eigentliche Identität, sondern es sind nur Gleichheitsbeziehungen (Übereinstimmung in irgendeiner Eigenschaft, Kontinuität oder intersubjektive Zuordnung). Es ist nur eine uneigentliche Identität.

Durch die Scheidung der logischen von der metaphysischen Seite erhält der Dualismus des  Physischen  und  Psychischen  und das psychophysische Verhältnis eine unproblematische Fassung. Indem die Arten der konstituierten Gegenstände eigentlich nur verschiedene Ordnungsformen für dieselbe einheitliche Art von Quasi-Bestandteilen des Erlebnisstroms darstellen, sind die beiden Gegenstandsarten des Physischen und des Psychischen nicht die einzigen Ordnungsformen, sondern neben ihnen stehen noch andere: die biologischen, die geistigen Gegenstände, die Werte. Innerhalb des Konstitutionssystems besteht daher nicht ein Dualismus, sondern ein Pluralismus der konstituierten Gegenstandsarten.

In Bezug auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Physischem und Psychischem legt CARNAP zwischen Physischem und Psychischem zugrunde: daß jedem psychischen Vorgang ein gleichzeitiger physiologischer Vorgang im Zentralnervensystem in gesetzmäßiger Weise zugeordnet ist. Unter einem konstitutionalem Gesichtspunkt heißt das: zwei Reihen von Quasi-Bestandteilen einer Folge von Erlebnissen (den Beobachtungen, in denen dieses Verhältnis festgestellt wird) gehen einander parallel. Ein solcher Parallelverlauf von Quasi-Bestandteilen kommt aber nicht bloß beim Physischen und Psychischen vor, sondern auch bei verschiedenen anderen Reihen von Bestandteilen; z. B. "wenn ein Körper eine bestimmte Seh-Gestalt hat, so hat er gleichzeitig eine analoge Tast-Gestalt" (Seite 234). Der Parallelverlauf des Physischen und Psychischen unterscheidet sich von diesen anderen nicht grundsätzlich, er ist nicht problematischer als diese. Die Frage, wieso eine solche Parallelität zustandekommt, wie sie zu erklären ist, kann für sie alle in gleicher Weise aufgeworfen werden. Sie fällt aber nicht mehr in den Bereich der Wissenschaft, sondern in den der Metaphysik, wo sie durch Realitätsannahmen beantwortet wird. Die Wissenschaft kann nur den Parallelverlauf von Bestandteilreihen überhaupt feststellen.

Dieses Konstitutionssystem der Begriffe ist nur ein Versuch, ein erster Entwurf - was der Verfasser ausdrücklich hervorhebt und was bei der Größe der Aufgabe nur zu verständlich ist. Aber es ist damit eben die fundamentale Aufgabe, die Grundlage und das Verfahren für die Definition der Begriffe klarzulegen, wirklich in Angriff genommen. Die Zurückführung aller Begriffe auf die innere und äußere Wahrnehmung, auf unmittelbare Eindrücke ist ein altes Postulat. LOCKE und HUME haben sie behauptet und ihrer Erkenntnislehre zugrunde gelegt. Aber diese Zurückführung ist nie tatsächlich unternommen worden. CARNAP hat den kühnen Versuch wirklich gemacht, indem er den definitorischen Aufbau wenigstens der Grundbegriffe lediglich auf der Grundlage der Erlebnisse in seinen Grundzügen zu zeigen bemüht war. Er hat es mit einer Klarheit und Durchdachtheit getan, die hervorragend ist und die seinem Versuch trotz aller Unfertigkeit grundsätzliche Bedeutung gibt. Er verdient gewiß nicht eine so absprechende Beurteilung, wie sie ihm GERHARD LEHMAN in seiner "Deutschen Philosophie der Gegenwart", 1943, Seite 299, zuteil werden ließ: "Die Naivität des Anspruchs, mit solchen (unzulänglichen) Mitteln die Welt zu konstituieren, bleibt jedenfalls unverkennbar."

KAILA hat eine scharfsinnige, grundsätzliche und einschneidende Kritik der Konstitutionstheorie gegeben (1), von der CARNAP selbst sagt (2): "Eine Schrift wie die vorliegende, die den Zusammenhang der Probleme gründlich betrachtet und klar durchschaut hat, gibt uns durch ihre verständnisvolle und scharfe Kritik eine wertvolle Förderung" - im Gegensatz zu anderen Kritiken, von denen KAILA mit Recht sagt (Seite 29): "Es lohnt sich nicht, auf derartige, mit leichter Hand hingeworfene Einwände wie die von KRÖNER (3) vorgebrachten überhaupt einzugehen." KAILA betrachtet als den Grundfehler von CARNAPs Theorie die Konstitution der Begriffe erkenntnistheoretisch zu früh einsetzt, so daß ihr die notwendigen Voraussetzungen dafür noch fehlen. Ihre Grundlage bilden die Querschnitte durch den Erlebnisstrom, die CARNAP als qualitative Totalitäten ohne interne Mannigfaltigkeit und Gliederung auffaßt, um sie nicht wie in der alten Mosaik-Psychologie aus psychischen Elementen zusammengesetzt zu denken. Damit befindet er sich jedoch in Widerspruch zur modernen Gestaltpsychologie, die das Erlebnisgegebene als gestaltet, gegliedert, strukturiert erkannt hat. Wenn alle Bestimmungen des Erlebnisgegebenen erst aufgrund von Begriffskonstitutionen erfolgen können, dann ergibt sich die ganze innere Verschiedenheit desselben erst durch seine begriffliche Verarbeitung. Dann fehlt die interne Mannigfaltigkeit im Erlebten, an der sich überhaupt Ähnlichkeitsbeziehungen feststellen lassen. Es kann dann nur Ähnlichkeiten zwischen den Erlebnistotalitäten im Ganzen geben, aber keine Ähnlichkeiten und keine Verschiedenheiten innerhalb derer, an denen das Inbeziehungsetzen und Vergleichen der Quasi-Analyse ansetzen kann. Eine analysierbare interne Mannigfaltigkeit im Erlebnisgegebenen bildet eine notwendige Voraussetzung dafür und die Begriffskonstitution durch Quasi-Analyse kann erst auf einer höheren Stufe einsetzen.

So kann die Erlebnis-Zeit nicht erst konstituiert werden, sondern muß in ihrer Gliederung von Jetzt und Vergangenheit und Zukunft immer schon vorausgesetzt werden. Auch die  Richtung  einer Relation, d. h. daß ihre Glieder nicht ohne weiteres vertauschbar sind, beruth nach KAILA auf der erlebten Richtung der Zeit. In seiner Erwiderung auf die Kritik KAILAs (4) entkräftet CARNAP diesen Einwand damit, daß es sich dabei nicht wirklich um eine Richtung einer Relatioin handelt, sondern nur um deren Bezeichnung, darum, daß die Verschiedenheit der Zeichen und ihre Stellung zueinander erkennbar sein muß.

Ebenso läßt sich der Wahrnehmungs- (oder Vorstellungs-)Raum nicht quasi-analytisch konstituieren, denn er ist unbegrenzt, weil er keinen Rand hat, sondern weil jeder Punkt in ihm eine lückenlose drei-dimensionale Umgebung hat. Als Grundlage der Konstitutionierung steht aber nur eine begrenzte Anzahl von unterscheidbaren Stellen mit räumlichem Charakter zur Verfügung; daher muß jede konstituierbare Räumlichkeit einen Rand haben, sie muß einen Anfang und ein Ende haben. Wenn ein abgeschlossenes Protokoll von Erlebnissen zugrundelegt wird, dann sind unbegrenzt erweiterungsfähige Systeme, wie Raum und Zeit, aber auch die ganze Realität daraus nicht zu konstituieren. Diesem Einwand gegenüber macht CARNAP geltend, daß man sehr wohl aus endlich vielen Elementen eine unendliche Menge bilden kann, so aus den zehn Ziffern die unendliche Reihe der Zahlzeichen.

Weiters wendet KAILA ein: Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen "reellen" Mannigfaltigkeiten wie Raum und Zeit und "ideellen" Mannigfaltigkeiten wie den Farben, den CARNAP übersehen hat. Eine Farbe als eine Stelle in der Ordnung des Farbenkörpers ist nur eine Klasse; eine Stelle im Sehfeld hingegen, in der raumzeitlichen Ordnung überhaupt, ist nicht eine Klasse, sondern etwas Individuelles. CARNAP konstituiert aber auch eine Stelle im Sehfeld als eine Teilklasse einer Klasse von Elementar-Erlebnissen. Nach seiner Konstitutionstheorie ist alle Mannigfaltigkeit nur begrifflich Abstrahiertes aus dem Erlebnisstrom; es besteht nur in Klassen von Ähnlichkeiten darin und es gibt nur die formalen Unterschiede in der Ordenbarkeit der Klassen, zu Klassen von Klassen, zu Klassen von Relationen, zu Relationen zwischen Klassen usw. Infolgedessen kann aber das Konstitutionssystem nichts anderes als Beziehungen der Ähnlichkeiten innerhalb meines Erlebnisstroms entfalten; es kann sich nie etwas Neues darin ergeben, alles ist nur immer eine kompliziertere Ordnung und Umordnung derselben Grundelemente. Man kann damit nie über den Bereich der eigenen abgelaufenen Erlebnisse hinauskommen.

Daraus ergeben sich "katastrophale Konsequenzen". Aussagen über fremdes Seelenleben sind im gewöhnlichen Sinn darin überhaupt nicht möglich. Denn auch sie können nur Beziehungen zwischen meinen Erlebnissen enthalten; alles andere ist nur wissenschaftlich unaussagbarer Vorstellungsgehalt. Aussagen über Fremdseelisches sind äquivalent mit Aussagen über dessen körperliche Ausdruckssymptome, die auf der Stufe des Physischen aus meinem Erlebnisstrom konstituiert werden. Und so können auch Voraussagen über Zukünftiges nur Aussagen über Vergangenes sein. Denn auch der Begriff der Zukunft ist erst aus den Erlebnissen konstituiert, nicht in den Erlebnissen ursprünglich gegeben. Alle induktiven Verallgemeinerungen aus der Vergangenheit auf die Zukunft werden damit gegenstandslos. "Hiermit ist in der Tat das Ende aller Philosophie erreicht worden" (Seite 53).

Diese einschneidende Kritik paart sich aber mit höchster Anerkennung: "Schon die bis jetzt vorliegende Skizze des Konstitutionssystems stellt eine bewunderungswürdige, durch größten abstrakten Scharfsinn und eine schöne logische Sauberkeit ausgezeichnete Leistung dar" (Seite 29).

In seiner Erwiderung (a. a. O.) läßt CARNAP alle inhaltlich-psychologischen Fragen als offene zu und darum auch, ob die Erlebnisse unzerlegbare Einheiten sind oder eine primäre interne Mannigfaltigkeit aufweisen, und infolgedessen auch,m ob und auf welcher Stufe Quasi-Analyse anzuwenden ist. Er gibt auch zu, daß die Verschiedenheit einer reellen und einer ideellen Ordnung eine offene Frage ist, weil sie ebenfalls von der internen Mannigfaltigkeit der Erlebnisse abhängt.

Ebenso hat WEINBERG (5) CARNAPs "Logischen Aufbau der Welt" einer sehr klar gefaßten grundsätzlichen Kritik unterzogen, die gleichfalls zur Darlegung "katastrophaler Konsequenz" führt. Sie bestehen darin, daß eine physische Welt, die von der eigenen Erfahrung unabhängig wäre, sich nicht begründen läßt, daß Aussagen über fremde Erlebnisse sinnlos sind und daß Mitteilung und damit Intersubjektivität unmöglich ist. Wenn nur Aussagen, die von meinen Erlebnissen handeln, sinnvoll sind, dann können Behauptungen über erschlossene physische Wesenheiten nicht sinnvoll sein und ebensowenig Aussagen über Erlebnisse eines Mitmenschen. Es können stattdessen immer nur Arten des äußerlichen Verhaltens eines andern ausgesagt werden. Diese sind mit jenen logisch äquivalent und können sie deshalb logisch ersetzen. Wenn man dabei an fremde Erlebnisse nach Art der eigenen denkt, so können das nur irrelevante Begleitvorstellungen sein. Deshalb können auch Aussagen eines Mitmenschen nur als äußere Tatsachen seines Verhaltens, aber nicht als Symbole im Gebrauch eines andern aufgefaßt werden (Seite 219). Infolgedessen ist eine Mitteilung von Seiten anderer überhaupt nicht möglich und damit gibt es auch keine Intersubjektivitäten. (Seite 222).

Für die Beurteilung von CARNAPs "Logischem Aufbau ..." darf man nicht außer acht lassen, daß es sich im ganzen Konstitutionssystm nur um Definitionen von Begriffen handelt. CARNAP sagt in der Vorrede ausdrücklich (Seite II, III): "Es handelt sich hier ... um die Frage der Zurückführung der Erkenntnisse aufeinander", und "daß die Antwort auf die Zurückführungsfrage zu einem einheitlichen, stammbaumartigen Zurückführungssystem der in der Wissenschaft behandelten Begriffe führt, das nur wenige Wurzelbegriffe benötigt."

Die Definitionen sollen in letzter Linie nichts anderes enthalten als Beziehungen zwischen den Erlebnissen eines bestimmten ("meines") Erlebnisstromes - das ist ja der Sinn und Zweck des ganzen Konstitutionssystems. Die so konstituierten begrifflichen Gegenstände sind nur Formen der Anordnungen dieser Erlebnisse und ihre Bezeichungen sind nur Abkürzungen dafür. Ob sie außerdem noch etwas ansich Bestehendes bezeichnen, "ist eine Frage der Metaphysik, die innerhalb der Wissenschaft keinen Platz hat" (Seite 220).

CARNAPs Konstitutionssystem hat nun durchaus nicht klargestellt, ob alle Begriffe der Wissenschaft oder welche davon durch eine bloße Umordnung der Erlebnisse konstituiert werden können. Denn er hat die Konstitution nur für die Begriffe des Eigenpsychischen in strenger Weise durchgeführt. Daß  diese  lediglich aufgrund des Erlebten zu bilden sind, steht von vornherein außer Zweifel. Für alle höheren Stufen der Begriffsbildung ist die Konstitution aber nicht vollständig durchgeführt und es ist deshalb kein stichhaltiger Nachweis dafür erbracht, daß sie rein in Erlebnisbeziehungen auzuflösen sind.

CARNAPs Konstitutionssystem soll zwei Anforderungen gerecht werden: Es soll eine rationale Nachkonstruktion der Begriffsbildung geben, die in der Wissenschaft tatsächlich vorliegt, in der die Welt aufgebaut wird, und es soll dazu nur Erlebnisbeziehungen benützen. Um das letztere zu erreichen, bedient er sich der logischen Äquivalenz. Zwei Sätze sind logisch äquivalent, wenn sie beide denselben Wahrheitswert haben, d. h. wenn sie immer zugleich wahr oder zugleich falsch sind. Es kommt nur auf ihren Wahrheitswert an, ihr Sinne kann dabei ein durchaus verschiedener sein. Unter diesem Gesichtspunkte kann man ber Begriffe nur dann Erlebnisbeziehungen definieren, wenn diese Definitionen den anderen Definitionsweisen logisch äquivalent sind. Das erscheint darum möglich, weil man den begrifflichen Gehalt irgendwie mit Erlebnissen verknüpfen können muß, wenn mit ihm entscheidbare Aussagen über die Welt möglich werden sollen. Diese seine Kriterien für das Erleben kann man daher wohl zu seiner definitorischen Festlegung verwenden. Auf diese Weise können aber die Begriffe, das ist klar, nur in  dem  Sinn konstituiert werden, daß sie eine bloße Umordnung von Erlebnissen enthalten. Ein  anderer  Sinn, mit dem diese Definitionen äquivalent sein können, ist auf diese Weise nicht konstituierbar; er wird zur bloßen "Begleitvorstellung", die logisch irrelevant ist, und bleibt logisch außer Betracht. Daß es aber Begriffe mit einem solchen anderen Sinn gibt, die mit die Welt aufbauen, das zeigt sich im Begriff des Fremdseelischen und des Zukünftigen und des Unbewußten. Begriffe von Gegenständen, "die nicht unmittelbar in den Erlebnissen vorkommen" (Seite 180), können nur insofern gebildet werden, als sie bloß Umordnungen von Quasi-Bestandteilen von Erlebnissen enthalten. Jeder andere Sinn geht in CARNAPs Konstitutionssystem notwendigerweise verloren. Dafür ist die solipsistische Basis nicht so wesentlich. Auch wenn man  mehrere  Erlebnisströme zugrundelegt, würde man wohl das Fremdseelische, aber nicht Begriffe von Außerbewußtem definieren können.

Wenn es sich in diesem ganzen Konstitutionssystem nur um Begriffsbildung, also um Definitionen handelt, so haben Existentialaussagen darin keine Stelle. Das hat zur Folge:
    Zuschreibungen von Sinnesqualitäten an nicht-wahrgenommene Weltpunkte gehen klar über den Rahmen einer konstitutionalen Definition durchaus hinaus. Die Behauptung, "daß in einem nichtbeobachteten Raumteil ... ein analoger Dingteil  vorhanden  sei" (Seite 180), ist aber eine Existential-Aussage, also etwas ganz anderes als eine Definition. Es ist eine Extrapolation, nicht eine bloße "Umordnung der unmittelbar vorkommenden Gegenstände" (Seite 176), worin diese Begriffskonstitutionen allein bestehen können. Ob etwas Definiertes auch existiert, muß immer erst eigens erwiesen werden. Aber dieser Nachweis wäre hier gar nicht am Platz. Denn er ist nicht Sache einer Begriffskonstitution. Es handelt sich dabei gar nicht um eine Realität. Ebenso steht es mit der Zuschreibung  unbewußter  Gegenstände, die aufgrund der bewußten "als generelle Erlebnisbestandteile" (Qualitätsklassen, Komponenten von Qualitäten, komplexere Gebilde daraus) konstituiert werden und analog den nicht-gesehenen Farbpunkten spezielle Zeitpunkten (nicht Weltpunkten überhaupt) zugeschrieben werden. Es kann damit auch nicht einmal der  Begriff  von Unbewußtem konstituiert werden, jedenfalls kann aber damit nicht eine  Ergänzung  meines Bewußtseins vorgenommen werden zu dem Zweck, um dadurch auf dem Gesamtgebiet des Eigenpsychischen eine vollständigere, wenn auch nicht durchgängige, Gesetzmäßigkeit herstellen zu können als auf dem Teilgebiet des Bewußten.
Ebenso ist zweifellos, daß das Fremdseelische nichts anderes als ein Begriff durch eine bloße "Umordnung meiner Erlebnisse" sein kann (6) (Seite 193), daß es das aber nur solange bleibt, als seine konstitutionale Definition in Betracht kommt, nicht aber eine Existential-Aussage.

Auch für die intersubjektive Welt gilt dasselbe wie für die einzelnen Konstitutionsstufen: Alle "diese Konstitutionen bestehen nicht in der hypothetischen Erschließung oder fiktiven Ansetzung eines Nichtgegebenen, sondern in einer Umordnung des Gegebenen" (Seite 200). Ergänzungen des Erlebten stehen mit der Bedingung einer bloßen Umordnung in Widerspruch und sind daher unstatthaft.

Ein Konstitutionssystem der Begriffe hat überhaupt keine  Aussagen  über die Welt, weder über fremdes Seelenleben noch über die Zukunft, zu machen, sondern eben nur  Begriffe  zu bilden. Weil aber alle Begriffe in CARNAPs System nur Umordnungen von Quasi-Bestandteilen des eigenen Erlebnisstroms sein können, darum kann man dann auch freilich mit diesen Begriffe und mangels anderer keine  Aussagen  im gewöhnlichen Sinn machen. CARNAPs Konstitutionstheorie hat jedoch das nicht zu unterschätzende Verdienst, daß aus ihm die Konsequenzen und die Begrenztheit eines rein erlebnis-immanenten Aufbaus der Begriffe mit aller Klarheit hervorgehen.

Es war fast ausschließlich oder wenigstens in erster Linie dieses Werk, das in den philosophiegeschichtlichen Berichten über den Wiener Kreis berücksichtigt worden ist. Die zahlreichen Veröffentlichungen, die später aus dem Wiener Kreis hervorgegangen sind, hat man nicht mehr zur Kenntnis genommen. Dieses Werk ist jedoch bereits teilweise überholt. CARNAP hat selbst in der mehrfach wichtigen Abhandlung "Testability and Meaning" (7) eine grundsätzliche Korrektur daran vorgenommen.

Es gibt Begriffe wie sichtbar oder löslich, Begriffe von Dispositions-Eigenschaften, deren Definition in der Art des Konstitutionssystems auf Schwierigkeiten stößt. Eine solche Eigenschaft besteht in einer Disposition zu einer Reaktion unter bestimmten Bedingungen. Eine Dispositions-Eigenschaft läßt sich darum nicht direkt beobachten - man kann die Löslichkeit einem Stoff nicht ansehen -, aber sie läßt sich doch nur durch Beobachtungen feststellen. Ein Stoff ist löslich, wenn er in eine entsprechende Flüssigkeit gebracht, sich auflöst. Durch einen solchen Bedingungssatz, eine Implikation, welche angibt, unter welchen Umständen die betreffende Dispositions-Eigenschaft vorliegt, und eine zweite Implikation, welche angibt, wann sie nicht vorliegt, - beide können auch in einer einzigen Implikation vereinigt sein -, kann der Begriff einer Dispositions-Eigenschaft auf Erlebnisse zurückgeführt werden.

Aber er kann nicht dadurch definiert werden. Durch ein solches Paar von Zurückführungssätzen oder auch durch einen doppelseitigen Zurückführungssatz, ist der Begriff einer Dispositions-Eigenschaft nur für jene Fälle bestimmt, in denen die Feststlellungsbedingung, welche in der Implikation aufgestellt wird, erfüllt ist. In jenen Fällen aber, in denen diese Bedingung überhaupt nicht gesetzt wird, kann die betreffende Dispositions-Eigenschaft weder zugeschrieen noch abgesprochen werden. Wenn ein Gegenstand überhaupt nicht in die entsprechende Flüssigkeit gebracht worden ist, kann man über seine Löslichkeit nicht entscheiden. man muß dann neue Feststellungsbedingungen in einer neuen Implikation suchen, damit auch für solche Fälle der Begriff bestimmt ist und eine Entscheidung ermöglicht wird. Zu diesem Zweck kann man z. B. die Implikation aufstellen, daß, wenn von zwei Gegenständen aus demselben Stoff der eine sich als löslich erwiesen hat, auch der andere, auch wenn er nicht unter die entsprechende Bedingung gebracht wird, ebenfalls als löslich anzusehen ist. Aber man kann auf diese Weise den Bereich der Unbestimmtheit immer nur einengen, nicht vollständig aufheben. Es bleibt grundsätzlich immer noch fraglich, ob diese Implikationen auch für andere Arten von Fällen gelten, als diejenigen, für welche sie gefunden sind. Eine Definition legt hingegen einen Begriff ein für allemal, für alle Fälle fest. Wenn man Zurückführungssätze als Definitionen verwenden wollte, würden sie damit über den Bereich, für den sie ursprünglich aufgestellt worden sind, hinaus als gültig festgesetzt werden. Diese Implikationen sind vielfach empirisch gefundene Naturgesetze und da kann es sich herausstellen, daß sie für eine neue Art von Fällen nicht mehr gelten. Diese Definition müßte dann aufgegeben werden; als bloße Zurückführungssätze nur für ihren empirisch festgestellten Bereich genommen, bleiben sie dagegen gültig und müssen nur durch neue ergänzt werden. Nur wenn die Reaktionsbedingungen für  alle  Fälle bestimmt sind, kann man aus den Zurückführungssätzen, den Implikationen, eine Definition bilden. Im allgemeinen ist es aber wegen der Unvollständigkeit der Feststellungsbedingungen nicht möglich, wenn ein Begriff wie der einer Dispositions-Eigenschaft durch Zurückführungssätze eingeführt ist, ihn durch diese zu ersetzen und damit auszuschalten. Es gibt also Begriffe, die wohl auf Erlebnisbeziehungen zurückführbar, aber nicht dadurch definierbar sind.

Das bringt eine Korrektur der ursprünglichen Auffassung von grundsätzlicher Wichtigkeit. CARNAPs Konstitutionssystem war von der positivistisch-empiristischen Anschauung getragen, daß jeder empirische Begriff der Wissenschaft auf Begriffe von Erlebnis-Beziehungen zurückführbar und demgemäß auch dadurch definierbar sei. Das zu zeigen war ja seine Absicht im Konstitutionssystem. Diese These erfährt nun eine grundsätzliche Einschränkung. Die Zurückführbarkeit bleibt erhalten, aber die uneingeschränkte Definierbarkeit und damit Ersetzbarkeit durch Erlebnisbeziehungen muß aufgegeben werden.

Demgegenüber hat nun KAILA den Versuch unternommen (8), die Definierbarkeit in vollem Umfang wieder herzustellen. Die Implikation, eine Wenn-so-Beziehung, welche die Zurückführung einer Dispositions-Eigenschaft auf Beobachtbares leistet, läßt sich nicht zur Definition dieser Eigenschaft verwenden, weil sie unbrauchbar wird, wenn die Reaktionsbedingung, die sie angibt, überhaupt nicht hergestellt wird. KAILA stellt deshalb die zusätzliche Forderung, daß das Vorderglied dieser Wenn-so-Beziehung nicht leer sein darf, daß immer tatsächliche Beobachtungen vorliegen müssen, um eine solche Eigenschaft aussagen zu können. Das reicht aber doch nicht hin, um die Schwierigkeiten vollständig zu lösen. Denn es bleibt noch der Umstand, daß sich die Zurückführungssätze meist nicht alle vollzählig angeben lassen und dieser damit nicht überwunden.

Die Begriffe von Ding-Eigenschaften und von physikalischen Zustandsgrößen sind von derselben Art wie die Dispositionsbegriffe. Die Aussage: zur Zeit  t  befindet sich am Ort  O  das Ding  D,  kann nicht durch eine Wenn-so-Aussage über Erlebnis-Beziehungen von der Art: wenn jemand zur Zeit  t  am Ort  O  ist, hat er die und die Wahrnehmungen, ersetzt werden. Denn was als diese Wahrnehmungen aufgezählt werden müßte, sind nicht nur die Gesichtswahrnehmungen aller möglichen Ansichten dieses Dinges und alle möglichen Tastwahrnehmungen davon, sondern auch alle Wahrnehmungen aufgrund indirekter Feststellungen, durch Photographie und dgl. Auch wenn die Anzahl dieser möglichen Wahrnehmungen nicht unendlich ist, so können sie doch nicht alle in einer riesigen Konjunktion vollständig angegeben werden, weil sich nicht von vornherein alle Wahrnehmungsmöglichkeiten voraussehen lassen. Ebenso steht es z. B. hinsichtlich der Intensität eines elektrischen Stromes. Sie kann bestimmt werden durch die Ablenkung einer Magnetnadel oder durch die Erwärmung eines Konduktors oder durch die Menge von Wasserstoff, der durch ihn aus dem Wasser abgesondert wird, und noch auf andere Weise. Jede einzelne dieser Messungsmethoden läßt sich durch eine Unzahl möglicher Wahrnehmungen beschreiben und es ist offensichtlich ganz ausgeschlossen, dafür die Implikationen: wenn die und die Umstände, dann die und die Wahrnehmungen, vollständig anzugeben. Dem Begriff einer solchen Eigenschaft ist nur eine unabsehbare Konjunktion von solchen Implikationen äquivalent. Es ist deshalb unmöglich, diese Eigenschaftsbegriffe durch Wahrnehmungen, durch Erlebnis-Beziehungen zu definieren, d. h. sie durch solche zu ersetzen und auszuschalten. Es können somit nicht alle Begriffe auf diese Weise definiert werden und darum ist die Einführung von Begriffen durch Zurückführungssätze unvermeidlich.

Demgemäß sind in einer Sprache dreierlei Zeichen zu unterscheiden:  1.  Primäre, die ohne Hilfe anderer Zeichen eingeführt werden,  2.  indirekt eingeführte Zeichen und zwar  a)  durch Definition,  b)  durch Zurückführungssätze eingeführte. Die Einführung von Begriffen durch Zurückführungssätze ist aber nicht für eine kleine und unbedeutende Gruppe von Begriffen erforderlich, sondern gerade für solche, die für die Wissenschaft grundlegend sind. Es ist damit eine Sachlage von weittragender Bedeutung aufgedeckt, die noch gar nicht hinreichend ausgewertet ist.
LITERATUR: Victor Kraft, Der Wiener Kreis - Der Ursprung des Neopositivismus (Ein Kapitel aus der jüngsten Philosophiegeschichte), Wien 1950
    Anmerkungen
    1) EINO KAILA, Der logistische Neupositivismus, 1930 (Annales Universitatis Aboensis, Ser. B, Tom. XIII)
    2) RUDOLF CARNAP, Erkenntnis, Bd. 2, Seite 77
    3) FRANZ KRÖNER, Die Anarchie der philosophischen Systeme, 1929, Seite 289f
    4) CARNAP, Erkenntnis, Bd. 2, Seite 75 - 77
    5) JULIUS WEINBERG, An Examination of Logical Positivism, 1936, Seite 200 - 226.
    6) "Die ganze Erlebnisreihe eines anderen Menschen besteht dabei in nichts anderem als in einer Umordnung meiner Erlebnisse und ihrer Bestandteile." - RUDOLF CARNAP, Der logische Aufbau der Welt, Seite 186
    7) Philosophy of Science, Vol. 3/4, 1936/37
    8) "Wenn-so", Theoria, Vol. XI, 1945, Seite 88f