ra-3R. HamerlingDubois-ReymondE. LaskerM. VerwornH. Spencer    
 
RICHARD WAHLE
Das Ganze der Philosophie
und ihr Ende

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"Prinzipiell hätte jedes Objekt und jedes Ereignis, die Sonne, die Erde, die Rose, ein Krieg, ein Genie, ein volkswirtschaftlicher Aufschwung etc. seine Wissenschaft, die aber eigentlich alle Wissenschaften - vom menschlichen Erkennen und von den Dingen - in sich einschließen würde. Die Fragen aber, die die einzelnen Objekte uns aufdrängen, werden tatsächlich nur dann erfolgreich in Angriff genommen, wenn man die Gegenstände derselben nach ihrer Verwandtschaft zusammenstellt und alles Ähnliche im Zusammenhang der Untersuchung unterzieht; z. B. alle Kristalle, alle Gase etc. Die Ähnlichkeit der Objekte ist also das Prinzip der praktisch-technischen Scheidung der Forschungswege und die Auswahl der ähnlichen Elemente für eine Zusammenfassung bleibt immer willkürlich. Vielleicht könnte es nämlich einmal ersprießlich werden, alle Objekte nach ihrer Ähnlichkeit in puncto Farbe zusammenzustellen."


Erstes Buch. Methodik
Über Unfehlbarkeit

Erster Abschnitt. Das Territorium der Philosophie

Erstes Kapitel. Orientierungsversuche

1. Das Definieren einer Wissenschaft bildet zwar ein trauriges, wenn auch nicht seltenes Übel einer Einleitung, aber wir können es uns doch nicht ersparen, denn es gilt schon hierbei, wo man sich mit Vorliebe den Anschein gibt, klar und besonnen die Gebiete des Denkens abzustecken, fundamentale Irrtümer und schlechte Denkmanieren zu kennzeichnen und zu verbessern.

Die Schriftsteller, da wo wie einteilen und definieren, ziehen das und jenes in ihre Disziplin hinein - man weiß nicht mit welchem Recht. Dort wo diesbezügliche Schwierigkeiten aufgeworfen und behoben werden, fehlt oft ein Prinzip für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung. Persönliche Sympathien und Antipathien werden maßgebend für die Auswahl dessen, was in eine beliebig umgrenzte Wissenschaft hineingenommen werden soll. Die Mode und zufällige Eindrücke sind dabei von Einfluß. Der eine nennt z. B. jedes tiefe Nachdenken schon Philosophie, der andere nur die Spekulation über Lebensmaximen. Bald hört man wieder, die Naturwissenschaft in ihren  allgemeinen  Lehrsätzen, den chemischen Hypothesen, den höchsten physikalischen Gesetzen, sei die Philosophie. Manchmal beliebt man statt einer Definition die Aufzählung der verschiedenen Probleme zu geben, welche im Laufe der historischen Entwicklung unter dem gleichen Namen  Philosophie  vereinigt wurden. Oder es kann die momentan durch die Lehrstühle repräsentierte Einteilung der Wissenschaften maßgebende werden.

Wir aber suchen lieber Einteilungen von absoluter Gültigkeit, wie sie auch am Ende der Tage noch bestehen könnten, wie sie den Dingen selbst adäquat sind. Man kann jeder einzelnen Wissenschaft nur ihren gebührenden Platz anweisen, wenn man ein Grundsystem für alle Einteilungen und ein dominierendes Grundprinzip gefunden hat. Wir wollen versuchen, durch eine gewisse genetische Methode diese Betrachtungen über eine Abgrenzung der Wissenschaften erträglich zu machen.

2. Das "Definieren einer Wissenschaft" kann aber zweierlei bedeuten. Eine Definition kann eine Forschungsrichtung, welche nach Gegenstand, Ziel und MIttel von Haus aus ganz klar bestimmt ist, durch einige allgemeine, zusammenfassende Ausdrücke kurz nach ihrem Wesen skizzieren. So könnte man z. B. leicht eine Definition der astronomischen Forschung geben. Die Definition hat hier eine schlichte, für die wissenschaftliche Arbeit irrelevante,  nachträgliche  Funktion.

Oder eine Definition kann auch einer Forschung erst Objekte und Ziele finden und zuweisen, aus einem größeren Gebiet Teile in eine Hand zusammenlegen und umkämpfte Anschauungen in sich markieren. So müssen z. B. Botanik und Zoologie, insofern eine dieser Wissenschaften die Mikro-Organismen oder niedere Organismen für sich in Anspruch nehmen wollte, eigene Definitionen für sich erfinden, die dieser Tendenz Rechnung tragen müßten. Oder wenn beide Wissenschaften durch ein Grenzgebiet zusammenhängen wollten, so würde das seinen Reflex zuletzt in irgendeiner Definition finden. In solchen Definitioinen und entsprechenden Namen für Wissenschaften können sich umstrittene Bekenntnisse und Fortschritte fixieren. Man denke z. B. an die Unterschiede in den Definitionen, wie sie einerseits dem Namen "organische Chemie" oder andererseits dem Namen "Chemie der Kohlenstoff-Verbindungen" entsprechen. Sie sind nicht nur Zusammenfassungen, sondern auch Denkmale einer vielleicht problematischen Ambition, sie sind gewissermaßen Devisen. Der Philosophie ist nun eine Definitioni von der ersten Art nicht beschieden. Denn da ihr Treiben eben fragwürdig und verdächtig ist, wetterwendisch und in verschiedenen Perioden von verschiedener Facon, so würde eine abgekürzte Deskription desselben in einer Definition leicht den Charakter des Zufälligen haben.

3. Diese vorangehende Unterscheidung innerhalb Definitionien kann leicht den Gedanken nahelegen, es müßte interessanter sein - statt die logischen Merkmale einer Definition überhaupt aufzuzählen - lieber zu verfolgen, wie sich im Laufe der Ausbreitung der Forschung einzelne Wissenschaftsfächer von anderen herausgehoben und dabei ihre eigenen Definitionen mit sich geführt haben, und mithin zu eruieren, welches die Prinzipien der Gliederung gewesen sind? Die scharf erkannten Differenzen der Objekte, die Unterschiede der Forschungsmethode, zunehmende Abstraktheit des Denkes und noch vieles, was im Detail eben die Geschichte zu bestimmen hätte, haben zu einer Sonderung in Wissenschaften geführt. Die Leichtigkeit aber, bei einem Menschen, bei vorhandenen Arbeitsmitteln und ausgeprägten Zielen allerhand zu vereinigen, wird zum Zusammenwachsen mehrerer Zweige des Wissens geführt haben. Solche Zusammenfassungen aus persönlichen Utilitätsgründen dürfte man bei der Schätzung einer sachlichen Artikulation der Wissenschaften nicht respektieren. Und wir werden immer darauf achthaben, daß wir fragen, was die Philosophie und nicht, was der Vortragende der Philosophie seinen sonstigen Kenntnissen nach ist.

4. Indem wir nun die Aufgaben der Philosophie suchen und doch nicht gleich ungeprüft ihre jetzigen Taten oder gar das spezielle Tun ihrer Vertreter in einer Definition registrieren sollen, scheint uns nichts übrig zu bleiben, als von einem Wissensbedürfnis überhaupt auszugehen und zu sehen, welche Seiten desselben so verwandt sind, daß sie sich eventuell zu  einer  Wissenschaft, die man Philosophie heißen würde, zusammenfinden könnten. Denn daß man etwa auf Objekte stieße, welche durch ihre Verschiedenheit von anderen eine besondere philosophische Wissenschaft postulieren würden, das kann man nicht sagen. Außer es wäre auch Gott ein solches Objekt! Aber die Objekte  Materie, Kraft, Geist  etc., die man vielleicht Lust hätte, der Philosophie zuzuweisen, finden sich auch in der Chemie, Physik und Geschichte, ja vielleicht auch in Gott. Wenn man aber von einem Wissensbedürfnis überhaupt seinen Ausgang nimmt, wird man - wie das Folgende anzudeuten versucht - vielerlei Ziele und Orte für Bestrebungen schaffen und so auch einen Ort finden, auf dem sich etwas bewegt, das man  Philosophie  nennen kann. Wir glaubten aber jetzt, vorsichtig erst  "Bestrebungen"  sagen zu müssen, weil wir Wissenschaft nur das nennen sollten, was ein Wissensbedürfnis auch durch Aufschlüsse  befriedigt. 

5. Bevor wir anhand des "Bedürfnisses" zu dauernden Einteilungen gelangen, denken wir nur flüchtig an mißlungene Einteilungen. Irrtümlich ist die Ansicht z. B., daß der oberste Teilungsgrund durch die Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens gegeben ist, durch die verschiedenen Funktionen desselben, als da sind: Gedächtnis, Phantasie, Vernunft. In jeder Wissenschaft vielmehr sind alle diese Funktionen zusammen tätig.

Die Idee einer Scheidung der Wissenschaften in konkrete und abstrakte - zu den ersteren gehört z. B. die Geologie, zu den letzteren die Physik im allgemeinen - ist noch läuterungsbedürftig und wird aus dem richtigen Einteilungsprinzip nur in wesentlicher Veränderung emporschimmern.

Die Objekte des Geisteslebens und die materielle Natur sind wohl markant genug geschieden, aber doch wäre es, wie sich ergeben wird, nicht geraten, aus dieser Unterscheidung ein Prinzip ihrer Trennung zu machen.

Jeder Schritt in der Aufsuchung von Ursachen zu den Erscheinungen kann wohl eine neue Wissenschaft begründen, aber nur in dem Sinne, daß dadurch eine neue Art des wissenschaftlichen Betriebes geschaffen wurde; dabei wird jedoch die Idee der Wissenschaft dieser Erscheinungen unverändert dieselbe geblieben sein. Es hat z. B. ein großer Geist die Idee gefaßt, daß sich die Arten von Lebewesen auseinander entwickelten, und zum Zweck der Bewahrheitung dieser Idee mußten die Arten verglichen werden und es entstand die sogenannte Wissenschaft der vergleichenden Biologie. Das Prinzip der Kreierung dieser Wissenschaft ist aber ein rein technisches Arbeitsprinzip, und in einem gewissen Sinne ist keine neue Wissenschaft geschaffen worden, insofern von altersher immer dieselbe Wissenschaft bestand, nämlich die Wissenschaft von der Entstehung der Naturwesen.

Man hat die Logik als eine Hilfe für die Wissenschaftler bezeichnet. Wir werden sehen, daß sie soviel wie nichts leistet.

6. Man wußte nicht, was man beim Einteilen mit der Mathematik machen soll. Man müßte aber sagen, sie ist einerseits die Wissenschaft von den Quantitätsverhältnissen im allgemeinen, andererseits aber ist sie mehr als eine Wissenschaft, sie ist das Denken überhaupt. Mittels ihrer Resultate werden alle Forschungen, die diesen Namen verdienen, betrieben. Sie ist das eigentliche Organon, das Werkzeug des Denkens. Jedes andere menschliche Räsonnement verdient kaum in gleichem Sinne den Namen "denken".

Um diese Ansicht zu billigen, erinnere man sich nur diverser Geistestätigkeiten. Es werde z. B. ein Kunstwerk beurteilt. Nun, dem Kenner wird das leicht eine intuitive mühelose Tätigkeit. Wenn er sich aber bemüht, die Gründe seines Geschmacksurteils dem Unverständigen darzulegen, so gleicht diese Tätigkeit eher der Zurechtweisung und Erziehung, die man einem Kind zuteil werden läßt, als einer produktiven Spekulation. Das Geschäft des Juristen ist zwar oft ein mühsames; das Vergleichen konkreter Verhältnisse mit gewissen abstrakten gesetzlichen Formulierunge, die Versuche, jene unter diese einzuordnen, sind schwierige Funktionen; aber sie sind eigentlich mehr durch eine relative Schwäche des Geistes veranlaßt, als durch eine objektive Lücke in der Erkenntnis der Tatsachen, welche Lücke doch eigentlich der Ort für denkende Forschung ist.

Die Politik, die Versuche, das Staatswesen zu ordnen, sind ihrem Wesen nach doch eher ein Utilitäts-Arrangement, eine Geschicklichkeit, möglichst viele Wünsche verschiedener Faktoren zu befriedigen, als eine Spekulation.

Menschliches Räsonnement verdient eigentlich erst dann den Namen einer Spekulation, wenn es darauf ausgeht, eine Tatsache als die Funktion exakt bestimmbarer Faktoren in ihrer exakt bestimmbaren Wechselwirkung aufzufassen. Diese Spekulation erfolgt nur mittels mathematischen Denkens. Wo ein solches keine Anwendung finden kann, dort handelt es sich nur um ein Heranziehen mehr oder weniger zutreffender Analogien, Ähnlichkeiten, Erinnerung an Früheres und Nachahmung desselben, um praktische Griffe und Kniffe.

Von der Mathematik abgesehen, welche die eigentlichen Fähigkeiten zur Befriediung unseres Wissensstreben gibt soll also das Wissensbedürfnis in Folgendem als das Vehikel der Wissenschaftsgliederung aufgezeigt werden. Und nur wenn wir den darauf basierenden Plan der Wissenschaftsverteilung überhaupt kennen, werden wir auch den Standort der Philosophie ausfindig machen.


Zweites Kapitel. Spiel eines Motivs für
die Abgrenzung von Wissenschaften.

1. Lassen wir nun unser Wissensbedürfnis sich an irgendein Objekt, vorläufig an ein materielles, ranken. Es ist anzunehmen, daß die frühesten Menschen und die kultivierten und die gelehrten, mit gleichem Interesse, z. B. vor einer Pflanze standen und stehen. Man wird wohl zuerst ihre Teile deutlich sehen wollen, doch alsbald die Funktion der Teile verstehen wollen und nach der Verschiedenartigkeit des Gewebes, der Stoffe, ihrer Wirksamkeit und Fähigkeiten, nach den Ursachen von allem, wie eines aus dem andern wird, fragen; vielleicht auch wissen wollen, wieso wir etwas wahrnehmen, z. B. riechen können. Man wird vom Hundertsten ins Tausendste kommen und bald sehen, daß man die Pflanze nur mittels des Universums begreifen kann. Oder denken wir an eine Wunde am menschlichen Körper und ihre Heilung, oder an irgendeine Erscheinung: es ist gewiss, daß zur Beantwortung der diesbezüglichen Fragen eines Knaben fast alle Fakultäten zusammentreten müßten, und es scheint nebenbei, daß sie seine Fragen von Grund auf gar nicht beantworten könnten.

Es ist ist klar, daß beim Verständnis eines zusammengesetzten komplexen Phänomens  alle  sogenannten Wissenschaften engagiert wären. Besondere Wissenschaften sind sie geworden, trotzdem es nur  ein  Wissensziel gab, weil es für die Untersuchung opportun war, sich an  gleichartige Teile  der verwickelten, zusammengesetzten Gegenstände zu machen. Und in gewissem Sinne hat diese Teilung zu einem gekünstelten Betrieb der Forschung geführt, indem sie sich, wie z. B. in der Chemie, an gewisse Kombinationen macht, die für die eigentlich interessante Natur ohne direkte Beziehung sind - obwohl übrigens gerade aus ihnen vielleicht die größten Aufklärungen gewonnen werden können. Und eigentlich weiß die Forschung, z. B. die Physiologie, Pathologie, meistens Dinge, die man gar nicht wissen wollte, während die Antworten auf die simplen, naturgemäßen, nächstliegenden Fragen ausstehen.

2. Verweilen wir einen Moment, bevor wir auf die angedeutete Zerfällung in Spezialbestrebungen achten, bei der Natur dieses Wissensbedürfnisses, um zu überlegen, was für ein Wissen eigentlich begehrt wird.

Falsch wäre die Meinung, daß nur Kenntnis der Art, also z. B. der Rosenart, Menschenart, des Wasserstoffes im allgemeinen etc. verlangt würde. Auch Unica wollen erforscht sein, z. B. dieser Erdball, unsere Sonne, diese und jene Sprachentwicklung, eine bestimmte Reformation, ein einziger Held etc.

Das Bedürfnis richtet sich nun zunächst, wenn der Gegenstand nicht in allen Teilen klar ist, auf sein deutliches Erfassen. Die Funktion, welche diesem Bedürfnis dient, ist im allgemeinen die Beschreibung. Diese kann sehr große Schwierigkeiten bereiten; muß auch nicht direkt geführt werden, sondern kann sich zu ihrer Absicht irgendwelcher weit hergeholter Schlüsse bedienen. So ist die Feststellung der Gestalt der Erde eine Tat der Beschreibung, desgleichen alles Mikroskopieren, desgleichen die Mathematik, welche Verhältnisse, wie sie bei Größen oder Formen bestehen, darlegt. Ebenso ist es eine Art psychischer mikroskopischer Deskription, wenn man die einzelnen Tatsachen aufführt, auf welche ein umfassender Ausdruck der Sprache, z. B. der Ausdruck Urteil etc., hinweist.

Sehr viele Begriffe mittels derer man, besonders in der Forschung über das Lebende, beschreibt, enthalten schon die Angabe einer Funktion in sich. Man sagt z. B. nicht, dieses Tier hat dort einen so gestalteten Lappen, sondern sagt, die Nieren sind so und so gebaut. So steckt eben - oft zum Nachteil der primären Beschreibung - in dieser schon das zweite, innigst mir ihr verwandte Ziel unserer Wissensbestrebungen: nämlich die Beschreibung der Sukzessionen. Das Forschen wendet sich auch dem Ding zu in Bezug auf das Geschehen, sein Werden, Fluktuieren, Entwickeln und die an ihm spielenden Vorgänge. Die Darstellung des Verlaufs einer Krankheit, die Berechnung des Laufs der Gestirne z. B. gibt eine solche Beschreibung von Bewegungen.

Würde man aber die Regel solcher Verbindungen von vorausgehenden, gleichzeitigen und nachfolgenden Erscheinungen noch so genau kennen - wüßte man z. B. Perioden, in welchen das Wetter für einen Ort sich genau wiederholen würde - so wäre unser Wissensbedürfnis doch noch nicht befriedigt, wenn ihm nicht eine Erklärung der Erscheinungen geboten würde, d. h. die Aufzeigung der bei den Sukzessionen  wirksamen  Elemente und der Art ihres Wirkens.

3. Nun ist es freilich Sache des Kulturzustandes, bei welchen Elementen als den wirkenden man sich beruhigt. Man kann sich damit zufrieden geben, daß uns Fleisch nährt, oder man kann den im Fleisch wirksamen Faktor suchen und sich nicht bei der Vorstellung des "nähren" beruhigen, sondern die diesem entsprechenden Funktionen und Prozesse ergründen. Wir beruhigen uns prinzipiell erst, bis wir die Bedingungen kennen, durch welche eine Umlagerung im Molekül stattfindet; sind aber praktisch mit etwas weniger eingehenden Vorstellungen von Prozessen zufrieden. Unser Ideal der Erklärung wäre, für alle Vorgänge, z. B. ein Gewitter oder eine Säfte-Assimilierung, ein Bild der sich trennenden und zusammenlagernen Atome zu besitzen. Freilich, wenn man einem glücklichen Knaben späterer Jahrhunderte dieses Bild an die Wand projizieren wird, wird der Junge noch sagen, man möge ihm diesen Vorgang erklären, und sollte man sich auf die  Natur  der Elementar-Atome oder Uratom-Kombinationen berufen, so wird er das für eine Ausrede halten.

Wir haben nicht nötig, diese Sache zu verfolgen, sondern haben vorläufig wohl genug Orientierung, wenn wir festhalten: Das Wissensbedürfnis strebt nach möglichst in die feinsten Teile gehender Beschreibung der Dinge und Prozesse mit Hervorhebung jener, welchen man inmitten der mit ihnen verbundenen die eminent hervorragendste Wirksamkeit zuschreibt.

4. Dieser Wissensdurst ist nun von Bestrebungen und Errungenschaften gefolgt. Es kann einem natürlich nieman verwehren, alle auf die Befriedigung des Wissenstriebes abzielenden Veranstaltungen und Bemühungen, oder was man sonst noch dazuziehen mag, als Wissenschaft zu bezeichnen. Die Tatsachen werden aber einige Unterscheidungen innerhalb dieser Operationen angezeigt erscheinen lassen und vielleicht werden nicht alle mit gleichem Recht zur "Wissenschaft" zu zählen sein. Die Irrtümer wird man doch nicht Wissenschaft nennen wollen, wenn sie auch Vorläufer des Richtigen waren; aber auch der Irrtümer Widerlegung gehört nicht zur Wissenschaft, außer sie besteht selbst in einer positiven, richtigen Erkenntnis. Desgleichen besteht die Wissenschaft auch nicht aus Kämpfen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Weges, wenn sie auch von Männern der Wissenschaft notwendigerweise geführt werden. Auch nicht aus derzeitigen oder definitiven Abweisungen von Fragen, z. B. der Entstehung des Organischen aus dem Unorganischen.

Es wird sich doch wohl einzig und allein empfehlen, Wissenschaft einen Schatz von errungenen, positiven Wahrheiten zu nennen. Wir setzten voraus, daß die Teilelemente und Teilvorgänge, sowie die Faktoren der Wirksamkeit der unmittelbaren Wahrnehmung entrückt waren. Befriedigungen des Wissenstriebes werden nicht alle Arbeiten welche auch immer sein, die er veranlaßt, außer wenn man  Wissenstrieb  als Trieb zur Geistesarbeit schlechthin auffaßt; denn oft wird man, wie schon gesagt, dasjenige, was man wissen wollte, nicht erfahren, dafür aber anderes, woran man nicht dachte, in Besitz gebracht haben. Errungen müssen die Wahrheiten sein, denn besäße man alle Kenntnis des Verwickelten unmittelbar, so würde man nicht Wissenschaft, sondern Wissen besitzen, wie es Gott besäße. "Errungen" soll aber nicht besagen "mühsam erworben"; denn die tiefste, fruchtbarste Erkentnis könnte uns ein Genie relativ ohne Anstrengung verschaffen. Der Ausdruck "errungen" soll nur das Wissen ausschließen, welches durch das unmittelbare Wahrnehmen geboten wird.

Bei manchen Wissenschaften könnte es scheinen, als bestündigen sie teilweise aus unmittelbar Wahrgenommenen, z. B. bei der beschreibenden Botanik; aber es ist auch hier meist eine wirklich wissenschaftliche Funktion vorhanden, indem die Schilderung eine gar nicht selbstverständliche Einreihung gewisser Vorkommnisse in szientifische Kategorien und die Andeutung funktioneller Beziehungen enthält.

Es bleibt etwas Willkür dabei, welche Überwindung wie großer und wie gearteter Schwierigkeiten man als genügend zur Konstitution einer Wissenschaft ansehen will. Die Anatomie, obgleich sie eine einfache Beschreibung ist, hat doch die größte sachliche Schwierigkeit bei der Zergliederung, der Bloßlegung des Zusammengehörigen zu überwinden, das dann freilich einfach beschrieben wird.

Als Konstituente einer Wissenschaft wird jedenfalls nur eine Schwierigkeit anzusehen sein, die in der Sache selbst liegt. Eine einfache Registrierung ist keine Wissenschaft. Die Statistik z. B., als Zusammenstellung von Daten und Zahlen, welche ja auch von einem Schreiber besorgt werden könnten, ist keine Wissenschaft. Ihre Schwierigkeit liegt darin, aus gewissen Umständen auf andere schließen zu können, z. B. aus gewissen ökonomischen Verhältnissen einen Schluß auf den Goldbestand in einem Land machen zu können; oder ihre Schwierigkeit liegt darin, die Ursachen und Zusammenhänge der ziffernmäßig gegebenen Verhältnisse aufzuspüren.

Wollte man aber nicht so skrupulös sein bei der Zulassung von geistigen Beschäftigungen zum Rang von wissenschaftlichen Funktionen, so müßte man immerhin doch die niedrigenere Funktionen des Registrierens und Analysierens von höheren Funktionen unterscheiden.

ANTHISTENES hat uns ja einen Spruch gegeben, den wir uns zu Herzen genommen haben: "Es läßt sich eigentlich nicht widersprechen." Wir sind im Grunde, wenn wir nur über die Bedeutung unserer verschiedenen Meinungen ganz klar sind,  einer  Meinung.

5. Wir wollen jedenfalls die Auffassung von unmittelbaren Erlebnissen, wenn die reine Wiedergabe  nur  durch eigentümliche  Sprachverhältnisse,  wenn auch furchtbar erschwert sein sollte, nicht zur Wissenschaft rechnen. Die Tätigkeit hinwiederum, welche in komplizierten Resultaten die genetischen, oft rudimentären, schwer erfaßbaren Elemente hervorsucht, wird Anspruch auf den Ehrentitel einer wissenschaftlichen Beschreibung haben.

So dürfen wir vielleicht in den Bestrebungen, welche aus dem Wissensbedürfnis erwachsen und welche jedenfalls, wie auch immer sie geartet sein mögen, eine Bereicherung des Geisteslebens enthalten, wenn sie auch nicht alle schon Wissenschaft ausmachen, die folgenden Stufen unterscheiden: Die Vorprüfung über die Zulassung einer Frage zur Behandlung; die eingehende Beschreibung eines Dings oder Prozesses; die möglichst deutliche Angabe der Wirksamkeit der als Ursachen angesehenen Elemente.

Das "Ja" oder "Nein", das sich aus der Zulassungsprüfung ergibt, ist eine dürftige, wenn auch wichtige Belehrung, die gewiß den Namen einer Wissenschaft  nicht  verdient, wenn sie sich auch aus Fragen und Suchen, d. h. Forschen und Versuchen nach vielleicht jahrtausendelangem Herumtappen ergeben kann.

Die Beschreibung aber ist eine Vorbereitung für das letzte, hervorgehobene Arbeitsstadium, das der Erklärung. Ob man diese beiden Stadien - insofern sich in ihnen positive Errungenschaften ergeben - gleichmäßig Wissenschaft nennen und etwa eine beschreibende und eine erklärende unterscheiden will, oder ob man bloß für die Erklärung den Namen  Wissenschaft  reservieren will, ist gleichgültig - zumal bei unserer weitgehenden Unwissenheit im allgemeinen und bei dem Umstand, daß eigentliche jede Erklärung auch nur eine spezielle Beschreibung ist.

6. Erinnern wir uns nun, daß wir, um uns einige Vorstellungen über die Arten des Wissensdrangs zu bilden, den Aufklärungsdurstigen verlassen haben, wie er für ein Ding oder Ereignis der Kette aller Ursachen habhaft werden wollte. Sein Wunsch ging auf die volle Erklärung des ganzen Dings. Diese schöne Aufklärung findet sich nun für ein Ding selten  an  diesem Ding. Sondern man mußte die Elemente des Dings mit den ihnen verwandten Elementen anderer Dinge zusammenbringen, um Erkenntnis zu gewinnen. So entstanden die Spezialwissenschaften. Aus Gleichartigem erwächst für Gleichartiges Erkenntnis. Nicht die Pflanze belehrt über ihre Säfte, sondern andere Stoffe, wie sie die Chemie eben im Zusammenhang betrachtet. Derjenige, der für die Pflanze Belehrung will, müßte diese eine Zeitlang stehen lassen und inzwischen die Chemie und andere Wissenschaften und Künste begründen und ausbilden. Das Menschengeschlecht, gewissermaßen als ein einziger fragender Geist, hat sich in eine eigenartige Arbeitsteilung fügen müssen. Diese scheint also zu erfolgen nach dem Prinzip, daß dasjenige, was in vielen komplexen, zusammengefaßten Objekten der einzelnen Wissenschaften allgemein impliziert vorkommt, herausgehoben wird und mit anderem Gleichartigen, anderswo Implizierten an eine besondere Wissenschaft zu einer separaten Untersuchung zugeteilt wird. Das Prinzip ist also: die isolierte Behandlung des überall inhärenten Gleichartigen.

Bei dieser Arbeitsteilung werden nun gewisse Wissenschaften das Armierungsdepot für die Erklärungswünsche anderer. Aber die Wissenschaften haben leider nicht immer das Material schon herausgearbeitet, welches die anderen als Erklärung auf den Gebieten, in welchen irgendetwas Materielles, ein Stoff, beteiligt ist, sind natürlich prinzipiell Chemie und Physik, aber in ihrem idealen - nicht im heutigen Zustand. Die Chemie selbst fände, irgendeine Natur ihrer Grundsubstanzen immerhin vorausgesetzt, auch für sich noch Erklärungen in einer Lehre über Bewegungen im allgemeinen.

Der Fachmann, der sich in seinem Fach plagt und manchmal ratlos dasteht, kann freilich leicht vergessen, daß er ein Teil der Menschheit ist, die doch nur über die Pflanze Aufklärung wollte und über das tatsächlich, natürlich Bestehende und Geschehende, über das Zusammengesetzte in möglichster Vollständigkeit der Erkenntnis des Zusammenhang aller Elemente.

Tatsächlich wird die Tendenz, für irgendeine Sache die möglichst vollständige Reihe der wirksamen Elemente zu kennen, manchmal abgeschwächt. Man versteht unter Erklärung dann nur die Angabe der der Erscheinung unmittelbar vorangehenden Ursachen. Die Sprachforschung z. B. gibt als Ursache für eine spezielle historische Lautveränderung eine in größerer Allgemeinheit konstatierte Lautveränderung, ein Lautgesetz an; die Forderung liegt aber nahe, daß sie doch auch über die Eigentümlichkeit der Wirksamkeit der Sprechorgane, des Mundes, Kehlkopfes etc. bei den bezüglichen Völkern Auskunft geben möge; dazu müßte man natürlich über die Innervations[Nervenimpulse - wp]art der Gehirne dieser Völker etwas wissen usw. Doch man wird bescheiden.

7. Es existiert also, wie gesagt, der Brauch, daß eine Wissenschaft zu einem Punkt kommt, wo sie eine Anweisung auf weitere Erklärung - auszufolgen in unbestimmter Zeit - bei einer anderen Wissenschaft ausstellt.

Diejenigen Wissenschaften, bei denen sich diese Zuschiebungen schließlich zusammenfinden, sind Chemie und Physik. Man kann sie deshalb in einem eminenten Sinn erklärende Wissenschaften nennen; doch darf man nicht vergessen, daß alle Wissenschaften ihre eigenen Objekte nur mittels jener erklären wollen, und daß die chemische und physikalische Auffassung ihrer Themata nur ihr eigenes Leben bildet.

Die Chemie und Physik kommen aber vorläufig diesen Wünschen noch nicht sehr gut nach, und sie selbst, obwohl beide anderen Helfer sind, sind im eigenen Betrieb, innerhalb ihrer Stoffe nur ebenso beschreibend in dem früher erwähnten Sinn, wie die hilfsbedürftigen Wissenschaften in ihren Territorien. So gibt es z. B. keine Wissenschaft, welche weniger Ursachen ihrer spezifischen Erscheinungen wüßte und weniger allgemeine Regeln handhaben könnte, wie die Chemie - nämlich bezüglich der Affinität und Abstoßung der Substanzen.

8. Und nun waren wir einer etwaigen Funktion der Philosophie vermutlich schon ganz nahe. Für alle Wissenschaften - die Mathematik ausgenommen - finden sich nämlich Dinge in allen Erscheinungen so allgemein vorkommend, daß sie zur speziellen Behandlung mit gleichartigen, ebenso allgemeinen dingen aus der Behandlung komplexer Erscheinungen ausgeschieden werden sollten. Solche Dinge wären: Stoff überhaupt, Bewegung überhaupt, Teilbarkeit überhaupt etc. Diese Dinge könnten nun vielleicht Objekte für eine besondere Wissensbestrebung werden.

9. Ginge man andererseits von Bestrebungen um das Verständnis konkreter, individualisierter,  geistiger  Zustände aus, so würde man auch bei ihnen etwas überall und allgemein Vorkommendes finden, und dieses Wirkliche, aber Generelle wieder einer mehr abstrakt gehaltenen Forschung zuweisen. Vom Studium der Geschichte der Völker, der Eigentümlichkeit der Rassen, Religionen, der sozialen Triebe, der menschlichen Charaktere, vielleicht auch der geistigen Leistungen der Tiere oder eines literarischen Kunstwerkes her, bliebe einer besonderen Forschung reserviert, was der Geist überhaupt und welches seine Gesetze seien.

10. Hätten wir nun diese zwei sehr allgemeinen Forschungen, die doch schließlich die Erklärung für alles Besondere, auch für die besonderen Stoffe und Bewegungen der Chemie und Physik zu geben berufen wären, so hätten wir doch noch nicht die höchste Stufe der Allgemeinheit für Probleme erreicht.

Stoff und Bewegung kommt nicht beim Geistigen als solchem vor und dieses - soviel wir zumindest ohne eine jetzt noch nicht berechtigte Hypothese wissen - nicht bei jenem. Aber Sein, Veränderung, Vergehen, Verursachung, Erleiden, Bestimmtheit einer Form, das sind Dinge, die auch beiden eben noch auseinandergehaltenen Gebieten  gemeinsam  sind.

Die Wissenschaft dieser Dinge enthielte dann die eigentliche letzte Erklärung jener Faktoren und jenes Wirkens, das nach seinem Wesen von den speziellen Wissenschaften unerledigt geblieben wäre, da es diesen nur nötig war, zu eruieren, welches die Ursachen ihrer Ereignisse waren, nicht aber, wie eine Ursache überhaupt wirkt.

11. In dieser Weise käme man, ohne sich an irgendeine herkömmliche Wissensabgrenzung oder Definition einer Wissenschaft zu binden, durch Festhalten dessen, was in allem individuelleren Komplexen inhärent enthalten ist, zu drei allgemeinen Problemgruppen, die von der Flut der materiellen und geistigen Fragen ausgesondert aufs Trockene geworfen wurden und für deren Behandlung man nun irgendwelche Namen wählen könnte. Nämlich:  das Körperliche als solches, das Geistige als solches und der Prozeß als solcher.  Wüßte man darüber Aufschlüsse zu geben, so würde jede speziellere Wissenschaft davon Gebrauch machen. Die generellsten Wissenschaften enthielten die letzten Belehrungen, die auch jede spezielle verlangt hat und die nur aus Utilitätsgründen von solchen Forschungen gesucht würden, welche sich auf das Gleichartige, das in allem steckt, geworfen hätten.

12. Ob diese drei Bestrebungen unter einen Hut gebracht werden sollten, ließe sich gar nicht entscheiden. Dagegen spräache jedenfalls der Umstand, daß sie von verschiedenen Graden der Allgemeinheit sein. Sowohl die Forderung, daß diejenige Bestrebung, die auf die Materien, die Substanze im Speziellen geht, dazu noch die Untersuchung der Materie überhaupt auf sich nehme, als auch die Forderung, daß diese Untersuchung derjenigen Forschung angeschlossen würde, welche sich überhaupt auf den Geist richtet - beide erscheinen gleich billig und unbillig. Als im Altertum die Physik noch nicht viel wußte, befaßten sich die Männer, die sie betrieben, auch mit den überphysikalischen Fragen betreffend die Materie überhaupt. Als aber die Physik mächtiger wurde, blieben die Frgen letzter und vorletzter Allgemeinheit jenen Männern überlassen, welche die Seele erforschen wollten. Es könnte da manchem vorkommen, als ob man eben alles, worüber man nichts weiß, am besten in einen Korb werfen soll. Doch ob sich diese und jene oder keine Wissenschaft jener Allgemeinheiten, Universalitäten annimmt - Gegenstände menschlicher Bedürfnisse sind es doch und mit ihnen bestehen die  Fragen,  welche wir philosophische oder metaphysische und transzendentale nennen könnten.

13. Aber die auf sie gerichteten Bestrebungen wollen wir gewiß nicht Wissenschaften nennen. Denn welche von ihnen hätte zu errungenen, positiven Aufklärungen geführt?

Zwar braucht man den Ausdruck  Wissenschaft  - wie schon angeführt - nicht als etwas so Geheiligtes anzusehen. Er bedeutet ja meist schlechthin soviel wie sachliche, schwierige Bemühungen um eine Erkenntnis, welche Kenntnisse voraussetzt. Man wüßte sonst nicht, warum man die Philologie der Textherstellungen - ihren Leistungen sie die größte Bewunderung gezollt - zugleich mit der Physiologie beispielsweise eine Wissenschaft nennen sollte. Da jene doch, in ihrer Funktion der Lektüre eines unleserlich geschriebenen Briefes nicht unähnlich, uns nur mitteilt, was ja der ursprüngliche Schreiber vollkommen genau wußte, während diese z. B. etwas entdeckt und aufdeckt, was niemand, außer etwa Gott, wußte.

Wenn wir aber das Wort genau nehmen - gibt es solche philosophische Bestrebungen, welche seiner würdig wäre? Können denn diese drei herausgehobenen allgemeinsten Bestrebungen schließlich gute, hilfreiche Erklärungen für die zusammengesetzten Ereignisse bieten? Nein, wird man rufen, und fragen, wo ist die Erklärung der Bewegung, des Wirkens etc.? Können sie auch nur richtige, aufklärende  Beschreibungen  ihrer Objekte geben? Darauf wird man schon nicht so unbedingt mit "Nein" antworten dürfen. Und sicher ist jedenfalls, daß jenen Bestrebungen die Stellung auf der niedersten Stufe der geistigen Arbeit nicht verweigert werden darf, daß sie nämlich fragen dürfen: ist etwas und was ist mit jenen allgemeinen Themen, den ersten, letzten und größten Bedürfnissen des Wissensdranges anzufangen?

14. Wir gingen von einem Bedürfnis der Aufklärung eines Objekts oder eines Ereignisses aus. Prinzipiell hätte also jedes Objekt und jedes Ereignis, die Sonne, die Erde, die Rose, ein Krieg, ein Genie, ein volkswirtschaftlicher Aufschwung etc. seine Wissenschaft, die aber eigentlich alle Wissenschaften - vom menschlichen Erkennen und von den Dingen - in sich einschließen würde. Die Fragen aber, die die einzelnen Objekte uns aufdrängen, werden tatsächlich nur dann erfolgreich in Angriff genommen, wenn man die Gegenstände derselben nach ihrer Verwandtschaft zusammenstellt und alles Ähnliche im Zusammenhang der Untersuchung unterzieht; z. B. alle Kristalle, alle Gase etc. Die Ähnlichkeit der Objekte ist also das Prinzip der praktisch-technischen Scheidung der Forschungswege und die Auswahl der ähnlichen Elemente für eine Zusammenfassung bleibt immer willkürlich. Vielleicht könnte es nämlich einmal ersprießlich werden, alle Objekte nach ihrer Ähnlichkeit in puncto Farbe zusammenzustellen.

Dasjenige, worin sich Verschiedenartiges gleicht, wird das Objekt einer besonderen Wissenschaft. Schließlich gleichen sich auch die verschiedenartigsten Dinge in einem Minimum, z. B. darin, daß sie überhaupt da sind, darin, daß sie sich verändern etc., und diese allgemeinsten Ähnlichkeiten sollten dann das Objekt der allgemeinsten Forschung werden. Die eigentliche Wissenschaft aber, die Wissenschaft des Konkreten, der Pflanze z. B., müßte aus den allgemeineren Wissenschaften die allgemeinen Prinzipien für das Verständnis ihres Themas wählen und damit die Erklärung ihres besonderen Gegenstandes zuwege bringen. So müßte z. B. am Ende jede Wissenschaft das Verständnis der  Veränderungen  ihrer Objekte aus der Philosophie beziehen, die ja die Veränderung überhaupt zu erklären hätte. Aber die Philosophie hat diese Forderung nicht erfüllen können. Sie kann keine Aufklärung bieten; sie verdient auch streng genommen nicht den Namen der Wissenschaft. Sie kann höchstens über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Aufklärung orientieren. Und da sie kein Licht verbreitet, so liegt auch durch ihre Schuld über das Wesen der Vorgänge in allen Objekten konkreter Wissenschaften ein vollständiges Dunkel.

15. Wir hätten bis jetzt im besten Fall die Orientierung über das Körperliche als solches, das Geistige als solches und den Prozeß als solchen als notwendige Funktionen eines auf die Aufhellung der Objekte gerichteten Bedürfnisses erkannt und eventuell  Philosophie  oder  Metaphysik  benannt. Nun rechnet man aber gewöhnlich zur Philosophie auch noch Logik, Psychologie und Moralphilosophie oder Ethik und Geschichte der Philosophie. Sind diese letzteren nun mit den ersterwähnten drei Versuchen so verwandt, daß sie zu einer einzigen Wissenschaft zusammengefaßt werden könnten? Vom bisherigen Standpunkt aus gewiß nicht alle in ihrem ganzen Umfang! Zum Beispiel die Psychologie müßte doch die Aufklärung über vielerlei Spezielles geben, über das Geistesleben der normalen Menschen jeder Altersstufe und auch der abnormalen Menschen; aber warum sollte dann diese Spezialität den erwähnten Untersuchungen höchster Allgemeinen angeschlossen werden? Die Ethik gar bekümmert sich nur um eine Spezialität, um die Sittlichkeit oder um das Wohlergehen des Menschen. Die Geschichte der Philosophie scheint wieder nur ein Teil der Kulturgeschichte und somit nicht von besonderer Universalität. Die Logik könnte man mit mehr Recht der Metaphysik nähern; wie diese nämlich das allgemein Gemeinschaftliche beleuchten will, so würde die Logik den universellen, allgemein gemeinschaftlichen Typus des Richtigen darstellen wollen. Nur bliebe immerhin dabei die erste dem allgemeinen Sein, die zweite besonderer menschlicher Erkenntnis zugewendet.

Wir müssen sonach mit einem gewissen Mißtrauen gegen unsere Idee der Abgliederung erfüllt werden. Denn es ließe sich, vom Standpunkt des Bedürfnisses nach Aufklärung besonderer Objekte und dabei angewendeter stufenweiser, praktisch-technischer Verallgemeinerung der Wissensthemen aus, die Metaphysik mit demjenigen, was doch gewöhnlich zur Philosophie gerechnet wird, kaum vereinigen.


Drittes Kapitel. Die Einheit der Philosophie

1. Die Ethik scheint doch mit der Psychologie und mit der Metaphysik verbunden zu sein und es scheint eine Verwandtschaft zu bestehen zwischen dem moralisch Weisen, dem Menschenkenner und dem Weltweisen. Das Gefühl der meisten Menschen, auch wenn sie sich vom Einfluß der bisherigen Tradition bezüglich der Vereinigung jener Geistesbestrebungen freimachen, wird doch für eine solche Zusammengehörigkeit sprechen, und wir respektieren dasselbe in so hohem Maße, daß wir neuerlich nach einem Prinzip suchen, das uns vielleicht doch all die sogenannten philosophischen Disziplinen in eine Hand bringt. Aber nie wollen wir von der Ansicht lassen, daß auch dieses Prinzip ein Bedürfnis sein muß. Aber es muß nicht das Bedürfnis nach Untersuchung eines Objektes nach seiner ihm eigenen Sachlichkeit sein. Es kann vielmehr ein spezifisch menschlich-egoistisches Bedürfnis sein, und ein solches scheint uns auch das Band für die philosophischen Disziplinen zu bilden. Der Mensch will über sich ins Reine kommen; er möchte seine allgemeine Gattungsnatur kennen, er möchte sich über den Ort orientieren, wo er hingestellt ist, über die Tatsache, daß er von wirkenden Kräften umgeben ist, er möchte über seine Herkunft, sein Glück und seine Zukunft Aufschluß haben.

2. Nicht das beschränkte, rein sachliche Bedürfnis über dieses und jenes Objekt, eine Pflanze, einen Stern Auskunft zu erhalten, muß maßgebend sein. Es gibt ein umfassendes, einheitliches Bedürfnis, das der Mensch auch mit einem Schlag empfindet, mächtig und ungeteilt. In die Welt, als ein einen unendlichen Schaupltz, fühlt er sich gestellt, und wenn er einmal das Haupt erhebt, fragt er zugleich, was ist das Ganze, in dem ich bin, wie wirkt es auf mich, was bin ich, was soll ich? Nicht auf Pflanzen oder Tiere, nicht auf Wasser oder Land, nicht auf die Erde wird er achten, er wird sie, zum Himmel blickend, vergessen und nur wissen wollen, welches sind in der Vielgestaltigkeit, im Wechsel und im Weltwirbel die Bauelemente und was ist das Bestehen und Sichverwandeln und Kräftigsein überhaupt?

Nicht was diese oder jene Art der Materie und des Geistes ist, interessiert ihn dann, sondern, als wenn es überhaupt nur eine Materie gäbe, fragt er nach der Bdeutung dieses Weltgehäuses für ein denkendes und fühlendes Wesen überhaupt.

3. Doch das ist das Bedürfnis! Wie aber wird das Bedürfnis befriedigt? Insofern der Mensch nur für die Welt als für die ihn umgebende Materie Interesse hatte, entstand z. B. leicht der phantastische Gedanke von einem Urstoff. Aber die Wissenschaft zeigte später, daß man, um etwas über die Konstitution des Stoffes im allgemeinen zu wissen, gerade die speziellen Stoffe untersuchen muß. Hiermit wurde dann eine voreilige Tat, zu welcher dieses umfassende Bedürfnis sich hatte hinreißen lassen, gut gemacht. Doch eigentlich ist das mühsam erworbene Resultat der Wissenschaft bezüglich der Konstitution der Materie diesem umfassenden Bedürfnis vielleicht auch gleichgültig.

NEWTONs Gesetz der Beharrlichkeit der Bewegung ist gewiß ein dankenswertes Resultat der Naturwissenschaft, aber vielleicht ist auch dieses noch jenem allgemeinen Trieb einerlei; es wird vielleicht der Entwurf seines Weltbildes nicht gefördert, wenn er weiß, ob sich die einzelne Bewegung erhält oder verschwindet.

Wir müssen so unterscheiden zwischen dem Wunsch und der Erfüllung, dem Ziel und den Wegen. Der Punkt, wo sich das Bedürfnis beruhigen wird, ist kein fixer, sondern schwankt mit den Kulturfortschritten. Die Philosophie kann nicht definiert werden mittels ihrer Resultate, sondern nur mittels ihrer Wünsche. Hier brauchen wir nur die Entstehung des Bedürfnisses aufzuzeigen, und diese liegt in dem hochaufliegenden Wunsch, die allgemeine Situation, in die der Mensch gebracht ist, zu erfassen.

4. Er will wissen: Lenkt sich das Ganze selbst oder wird es gelenkt durch ein Etwas, das, wie er selbst, mit dem Wunsch einzudringen und zu herrschen, der Natur gegenübersteht? Und zur selben Stunde will er wissen, welches wären die Mittel, das All in seiner allgemeinen Struktur ergründen zu können, welches ist des Menschen eigene Natur und sein Ziel? Man könnte sagen, die Menschheit kennt nur ein Problem:  das Problem ihres Schicksals.  Sie sucht oft Teile des Ganzen zu ergründen, aber ihre erste und letzte Liebe bildet das Ganze als Ganzes, in dem sie, sich selber ein Geheimnis, wandelt. So also verschwistert sich Metaphysik mit den anderen sogenannten philosophischen Interessenkreisen und man kann sagen, es gibt eine Interesseneinheit für die Philosophie: die Stellung des Menschen im All: Philosophie ist die Gruppe von Fragen nach dem Wesen des Universellen und dem Universell-Subjektiven.

Aber sie ist nicht in gleichem Umfang eine Wissenschaft; denn sie gibt nur beschränkte Aufklärungen. Und dieses Buch will zeigen, was sie leisten kann - ein für allemal; es ist wenig und doch Bedeutsames. Eine Wissenschaft wird gebildet durch einen Schatz errungener Beschreibungen und Zusammenhangserklärungen. Erklärungen vermag die Philosophie gar nicht zu bieten. Sie liefert aber, in Bezug auf jenen allgemeinen Wissensdrang, für die allgemeinsten Erscheinungen, wie Ursächlichkeit, Materie, Empfindung exakte Beschreibungen, durch die vulgäre Irrtümer beseitigt werden und anderen Ideen über unser Sein Raum geschaffen wird, Beschreibungen, von denen Wissenschaften Nutzen ziehen können. Am meisten aber hat sie sich in der Vorhalle der Wissenschaft aufzuhalten, wo über die Zulässigkeit und Beantwortbarkeit von Fragen diskutiert wird. Und was sie hier entscheidet ist nicht Wissenschaft, aber für die ganze Kultur und das Weiterschreiten der Menschheit so wichtig, wie irgendeine Wissenschaft.

5. Durch eine vollkommen exakte Auffassung der Erscheinung der allgemeinsten Elemente jedes Vorkommnisses kann die metaphysische Lehre gewonnen werden, daß wir - nicht etwa dabei mit Rätseln zu tun haben, sondern - daß die Elemente, so wie sie erscheinen, vollkommen  untauglich  sind, einen Prozeß leisten zu können, und daß es demnach ganz sicher wird, daß das wahrhafte Wirken und die wahrhafte Werkstätte  anders  geartet sein müssen, als sich unsere Welt und ihr Wirken zeigt. Die Wahrheiten dieser Gruppe müssen sich als einleuchtend und für alle Zeiten unerschütterlich darstellen und über die Möglichkeit der Religion unwandelbare Bestimmungen enthalten. Wissenschaften sind unendlich; die Philosophie muß bald beendigt sein. Ein Blick auf die Geschichte der philosophischen Bestrebungen kann das geniale Auftreten der absoluten Gesamtheit aller möglichen Probleme und die Schritte der Philosophie bis zur definitiven Kenntnis ihrer beschränkten Leistungsfähigkeit zeigen.

Die allgemeine psychologische Betrachtung des geistigen Lebens gibt eine durch die unwissenschaftlichen Hindernisse der Sprache und die wissenschaftlichen Hindernisse einer komplizierten Entwicklung des Seelenlebens eine erschwerte Beschreibung des Mosaiks psychischer Elemente, welche in ihren Grundzügen ebenfalls definitiv der Physiologie das Material für Erklärungen abgeben muß.

Schließlich muß das völlige Aufgaben der Hoffnung, ethische einflußmächtige Prinzipien zu finden, dringendst das Gebot nahe legen, auf bessere Mitte für die Erziehung der Menschen zu sinnen und abzuwägen, was Religion, was der Staat und was der Einzelne hierbei leisten könnte.

Wenn so die Philosophie auch keine erklärende, zum Teil nur beschreibende, hauptsächlich vorprüfende Belehrung gibt, so ist sie doch von hervorragendster praktischer Wichtigkeit. Sie ist nichts Geringeres, als die Basis für die Meinung, für das Gefühl von unserem innersten Wesen, die Basis für die Kirchenpolitik des Staates, die Basis für die Physiologie und für die Staatspädagogik und Privatpädagogik des Einzelnen.

6. Wir haben nicht versucht der Philosophie Achtung zu erringen durch einen Hinweis darauf, daß große Geister sich ihr gewidmet haben, oder daß sie mächtig in die Kulturbewegung eingegriffen hat. Denn all das sind schöngeistige Betrachtungen, denen man andere von entgegengesetzter Gesinnung und gleichem Schwung gegenüberstellen könnte. Man könnte da allerhand pro und contra geltend machen. ARISTOTELES - eine Verkörperung philosophischen Einflusses - war wohl ein Riesengeist, aber daß er Jahrhunderten ein Lehrer war, ist mehr eine Herabsetzung der Jahrhunderte, als ein Lob für ihn. Es waren ja Jahrhunderte, deren Bürger, obgleich außerordentlich talentiert, Elementarschülern zu vergleichen sind. Andere Jahrhunderte, die es weiter brachten, hatten andere Lehrer. Die umfassendste schulmäßige Darstellung ist natürlich die wirksamste und es ist kein Zweifel, daß irgenein übersichtliches, stoffreiches Lehrbuch heutzutage bei irgendwelchen der Kultur erst entgegenschreitenden Völkern mehr Einfluß gewinnen würde, als eine originelle, tiefsinnige Abhandlung.

In der Mythenausbildung und Priesterlehre lebte gewiß auch schon eine Art Philosophie. Die "Ideen" PLATONs, die Urkraft, welche die Stoiker, die aus der Gottheit heraustretende Vernunft, welche PHILON lehrte - also im tiefsten Grund Anregungen HERAKLITs und PARMENIDES' haben dem Christentum geholfen. Englische Philosophie hat der französischen Revolution genützt.

Doch welchen Eindruck würden solche erhabene kulturhistorische Lobreden auf diejenigen machen, welche das Christentum, oder auf diejenigen, die die Revolution für wertlos halten?

Und am Ende hat man recht, wenn man die großen Ereignisse aus großen, im Volk wurzelnden Bedürfnissen und Taten erklärt und Literatur mehr von Wirksamkeit auf die nebenherlaufenden Literaten sein läßt.

Wir glauben, daß nur das den Triumph der Philosophie bilden soll, daß sie eine dauernde Wahrheit geworden sein wird, und daß auch ein Empiriker der heutigen Tage, wenn er niemals etwas von Gott und allen Kategorien des alten Denkes gehört hätte, zur Begründung einer Philosophie gedrängt würde,  ohne  daß er seine empirischen Kenntnisse hierbei heranziehen könnte und ohne daß er dabei etwas Brauchbares leisten könnte, wenn er nicht das Genie all der früheren Philosophen in sich zu vereinigen vermag. Und wir wünschen der Philosophie den weiteren Triumph, daß sie, ohne ihre Kontinuität zu verlieren, ohne in Rückfälle zu geraten, einen stabilen, sich gleichbleibenden Einfluß auf ruhig, unentweg fortschreitende Wissenschaften und eine Kultur des Herzens gewinnen möge.
LITERATUR: Richard Wahle, Das Ganze der Philosophie und ihr Ende - ihre Vermächtnisse an die Theologie, Physiologie, Ästhetik und Staatspädagogik, Wien und Leipzig 1894