ra-2H. HöffdingH. CohnA. DöringJ.-C. Kreibig    
 
HANS SCHMIDKUNZ
Psychologisches und pädagogisches
zur Werttheorie

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"Wir haben fünf Wertklassen vor uns, ohne den Anspruch einer erschöpfenden Vollständigkeit und auch ohne den einer logisch zwingenden Aneinanderreihung. Immerhin wird es zumindestens der bisher vorherrschenden Denkweise entsprechen, wenn wir hier niedrigere und höhere Werte unterscheiden und von den hedonistischen als untersten über die technischen, ästhetischen und logischen bis zu den ethischen aufsteigen."


I. Einleitung über Werttheorie überhaupt

Man mag die Pädagogik auch noch so "eigengesetzlich" fassen, so kommt sie doch nicht ohne Philosophie aus. Es besteht zwischen diesen beiden ein Funktionsverhältnis: die Pädagogik ist, systematisch und historisch, zum Teil eine abhängige Veränderliche, kurz eine Funktion der von ihr zuweilen fast unabhängigen Veränderlichen, der Philosophie. Und zwar steht sie so der gesamten Philosophie gegenüber, nicht bloß der Psychologie als angeblich  der  Hilfswissenschaft oder Grundwissenschaft der Pädagogik. So darf dann auch die letztere nicht hinter den Wandlungen oder Ergänzungen zurückbleiben, durch welche die Philosophie ihre weiteren Fortschritte macht.

Zu diesen Wandlungen oder besser Ergänzungen der Philosophie, teils als eine sogenannte Richtung in ihr und teils richtigerweise als eine neue Teildisziplin von ihr, gehört seit einiger Zeit die Lehre von den  Werten,  die Werttheorie. Es ist hier nicht möglich, eine Geschichte der selben auch nur anzudeuten; die Anlegung einer chronologischen Bibliographie der werttheoretischen Literatur, die sich näher und systematischer mit den Werten beschäftigt, kaum vor den 1890er Jahren. Dann aber tritt sie geradezu üppig auf und leidet sogar unter Übertreibungen sowie unter dem Anschein, als wäre jemand, der diese Übertreibungen nicht parteigemäß mitmacht, der Philosophie nicht würdig. Philosophie ist eben nicht  einzig  Wertlehre, ist aber  größtenteils  eine solche; und für diese Berichtigung und Erweiterung des Umfangs der Philosophie schulden wir jedenfalls denjenigen Autoren Dank, die manches Lächeln Anderer nicht gescheut haben, um die Philosophie auf diesem aussichtsvollen - auch durch HERMANN LOTZE gedeckten - Weg vorwärts zu bringen.

Daß wir aber erst so spät eine fachwissenschaftliche Werttheorie bekommen haben, ist verwunderlich. Denn die Philosophie selbst hat sich längst mit Werten zu tun gemacht, und zwar besonders in der Ethik, je nachdem auch in der Ästhetik und Logik. Am reichlichsten wurden die Wertbegriffe benötigt und behandelt in der Nationalökonomie, und zwar seit langem, mit einem besonderen Aufschwung der sie systematischer behandelnden Literatru seit etwa 1871.

Nicht vergessen dürfen wir aber, daß auch dem Menschen überhaupt die Werte keineswegs fernliegen; und jedenfalls ist das "Werten" eine der geläufigsten, alltäglichsten Tätigkeiten. Gesagt hat es uns mit ganz besonderem Nachdruck FRIEDRICH NIETZSCHE, bei dem ja der Mensch als das "wertende Tier" erscheint. Fehlt nur eben noch die systematische Behandlung von fachwissenschaftlicher, d. h. hier: philosophischer Seite.

Denn die Werte sind in erster Linie keineswegs etwa Sache der Nationalökonomie, auch nicht der Pädagogik usw., sondern der Philosophie. Hier stehen sie primär. Von aus sind sie anzuwenden - nicht etwa nur, was uns später gleichfalls beschäftigen wird: zu realisieren - auf die einzelnen Gebiete wie das wirtschaftliche Leben, das Rechtsleben, das Erziehungswesen usw. Allerdings können sie auf jedem dieser Gebiete auch unabhängig von der Philosophie behandelt werden; nur fehlt dann eben noch die Wurzel.

Ich habe versucht, meine Auffassung des Wertgebietes und die Beiträge, die er für dieses geben zu können glaubt, in einer eigenen Abhandlung darzulegen, welche unter dem Titel  "Werttheoretisches"  anderswo erscheinen soll. Die vorliegende Abhandlung hingegen will zwar zuerst die Grundzüge der ersteren rekapitulieren, will aber sodann Konsequenzen des dort Dargelegten für die Psychologie und für die Pädagogik geben.

Man spricht von  Weltanschauung  in einem mehr subjektiven und individuellen Sinn, von einem  Weltbild  in einem mehr objektiven und allgemeingültigen Sinn. Mit beiden Ausdrücken kann etwas gemeint sein, das alles überhaupt Vorstellbare umfaßt. In einem engeren Sinn können jene Ausdrücke beschränkt werden auf die tatsächliche Welt, insofern deren Tatsachen als gleichberechtigt nebeneinander stehen und nicht als besser oder schlechter unterschieden werden. Außerdem aber kann und muß eine solche Unterscheidung gemacht werden: uns ist eben nicht alles Bestehende und Geforderte gleichgültig, sondern wir unterscheiden Besseres und Schlechteres, Höheres und Niedrigeres usw., und zwar mit einer dabei gemeinten Berechtigung, etwa als  Dignität  bezeichnet. Dieser Seite der Welt im weitesten Sinn gilt nun das Seitenstück zur Weltanschauung und zum Weltbild im engeren Sinn: die  Wertanschauung  und das  Wertbild;  das letztere wieder ebenso mehr im wissenschaftlichen wie die erstere mehr in einem außerwissenschaftlichen Sinn.

Früher pflegte man die hier gemeinten Faktoren als die des Sollens und der Norm aufzufassen. Es ist nun charakteristisch, daß von dieser Auffassung allmählich immer mehr und mehr abgegangen und an ihre Stelle der Begriff des  Geltens  gesetzt wird. Tatsachen  sind,  Werte  gelten.  Und die theoretische Behandlung dieser Seite der Welt ist "timologisch" oder "axiologisch", ergibt eine  Timologie, Axiologie. 

Eine der wichtigsten Verständigungen für das hiermit bezeichnete Teilgebiet der Philosophie ist folgende. Werte sind, wie man jetzt sagt, "Gegenstände ansich" oder "ideale Gegenstände", ebenso wie Zahlen und Größen oder selbst Eigenschaften. Ein Ton oder eine Farbe ist etwas, das für sich selbst ein Wesen besitzt, gleichgültig, ob und wo es vorkommt. Desgleichen ist der Wert eines menschlichen Verhaltens etwas  ansich,  gleichgültig, ob und wo es vorkommt. Ebenso nun, wie eine Zahl und eine Farbe wirklich vorkommen können, aber nicht vorkommen müssen: ebenso können Werte vorkommen, müssen es aber nicht. Kurz: sie können verwirklicht,  realisiert  werden, müssen es aber nicht. und  wenn  sie verwirklicht sind, dann verlieren sie doch ebenso wie z. B. Farben keineswegs ihr Wesen selbst; sie bleiben innerhalb der Verwirklichung da, was sie schon  vor  einer solchen rein an sich selbst sind.

Neben oder in Verbindung mit dem Begriff des Wertes tritt häufig auch der Begriff des  Gutes,  der  Güter  auf. Meistens wird dabei zwischen beiden nicht recht geschieden. Selbst derjenige Autor, der den Begriff des Gutes in der Philosophie und in der Pädagogik ganz besonders nachdrücklich betont, mit dem Hinweis darauf, daß er älteren Perioden der Philosophie und der Pädagogik geläufiger war als neueren: OTTO WILLMANN, legt auf eine Auseinanderhaltung der Werte und der Güter kein besonderes Gewicht.

Eine sehr einfache Unterscheidung hat dabei ein im Folgenen genannter Autor (SCHELER) gegeben. Danach sind Güter die  verwirklichten  Werte. So klar und reinlich und bequem nun auch diese Unterscheidung ist, so wird man doch wenigstens gut tun, sich erst nach längerer Beschäftigung mit beiden Begriffen über die Annahme dieser Auseinanderhaltung zu entscheiden. Das, was namentlich für die Pädagogik Bedeutungsvolles im Terminus "Gut" liegt, reicht doch schon auch in das Gebiet der Werte ansich, noch ehe sie verwirklicht sind, hinein. Die Pädagogik braucht und erstrebt die Realisierung von dem, was in ihrem Sinne ganz wohl als ein "Gut" bezeichnet werden kann. Eher paßt für eine wirtschaftliche Denkweise die Gleichsetzung von "Gut" mit "verwirklichtem Wert".

Für die Pädagogik würde sich sonach jedenfalls eine ausführliche Lehre von den Gütern lohnen, also eine "Agathologie" als Sonderzweig der "Timologie". Dazu müßte nun eine Geschichte des pädagogischen (und weiterin eines sonstigen) Güterbegriffs sowie einer Behandlung der pädagogischen (und anderer) Güter kommen; sie würde dann auch die bereits angedeutete Kritik der Neuzeit in Philosophie und Pädagogik auf eine breitere Grundlage stellen können. All das ist von Belang keineswegs bloß für die pädagogische Theorie, sondern auch für die pädagogische Praxis: es macht einen fundamentalen Gegensatz in Erziehung und Unterricht aus, ob der Erzieher und Lehrer in erster Linie an "Güter" denkt, die über ihm und dem Zögling oder Schüler stehen, oder ob er sein Hauptaugenmerk auf etwas anderes richtet.

So wenig eine Geschichte des pädagogischen Güterbegriffs hier unsere Sache ist, so sehr darf doch das Gesagte an einigen Proben beleuchtet werden.

Als die Pädagogik auf eine theoretische und systematische Höhe gehoben wurde, was wir gewöhnlich auf eine um wenig mehr als ein Jahrhundert zurückliegende Zeit, und zwar hauptsächlich auf HERBART, datieren, war das philosophische und pädagogische Interesse für den Güterbegriff bereits im Schwinden und das für den Wertbegriff noch kaum oder nur in der Volkswirtschaftslehre erwacht. So hat dann HERBART weder als Philosoph noch als Pädagogiker das Motiv des Wertes oder das des Gutes in den Vordergrund gestellt. Wohl aber sind die Beurteilungen, auf die er das Ethische (eingeschlossen in seinem Begriff des Ästhetischen) gründet, so viel wie  Bewertungen;  und die HERBARTsche Bedeutung des Ethischen für das Pädagogische ist bekannt. Eine Frage würde nur noch sein, wie weit damit etwas Objektives festgelegt sein soll.

Später hat AUGUST DÖRING beiden Gebieten den Güterbegriff zugrunde gelegt. Er tat es für die Philosophie, und zwar  in dem  Sinne, daß sie keineswegs eine Universalwissenschaft sein soll, in "Philosophische Güterlehre - Untersuchungen über die Möglichkeit der Glückseligkeit und die wahre Triebfeder des sittlichen Handelns", Berlin 1888; und er tat es für das Anwendungsgebiet in "System der Pädagogik im Umriß" (Berlin 1894) - beides abgesehen von seiner früheren Schrift "Über den Begriff der Philosophie" (Dortmund 1878). Die "Philosophische Güterlehre" greift allerdings auf frühere Güter- und Werttheorien zurück und will an sie anknüpfen. Sie tut es aber keineswegs in der Weise, daß sie etwa eine Naturgeschichte der Werte und der Güter geben will, sondern faßt diese beiden, die überdies gar nicht voneinander unterschieden werden, von vornherein als eine Sache unseres Fühlens von Lust oder Glück. "Ein Gut ist ein Objekt, das Lust erregt, ein Übel ein Objekt, das Unlust erregt" (Seite 2). Die Güterlehre als die Wissenschaft von den Werten baut sich aus den Werturteilen auf und fragt: "Ist Glückseligkeit als unzweifelhaftes und deutlich merkbares Überwiegen der Lust über die Unlust möglic?" und in welchem Maß (Seite 6).

Wir haben uns bei diesem ansich nicht besonders "wertvollen" Beispiel aus der Geschichte der Werttheorie auch deshalb aufgehalten, weil es uns sogleich zeigt, daß und wie die Werte nach einer bestimmten einseitigen, als erschöpfend angenommenen Richtung, und zwar nicht nur von diesem, sondern auch von vielen anderen Autoren, behandelt werden. Besonders dieser Einseitigkeit gelten unsere nächsten Fragen.


II. Nähere Verständigung über die Werte

In der Behandlung der Werttheorie überhaupt und auch einzelner Gebiete aus ihr mußte bisher immer die Frage wiederkehren: Bestehen Werte darin, daß  wir etwas werten  (wertschätzen, werthalten oder dgl.)? Oder bestehen sie in etwas, das darüber hinausliegt? sind sie etwas unabhängig von unserem Werten? Gibt es, auch ganz abgesehen von Idealität und Realität,  Werte  selbst, als  objektive Gegenstände? 

Als die philosophische Werttheorie lebhaft und systematisch behandelt zu werden begann, hatte gerade die Psychologie einen solchen Aufschwung genommen, daß die Beantwortung dieser Frage zugunsten unseres psychischen Tuns allein nahe lag. Damals schien es auch nach manchem Autor, als sei die Ethik lediglich ein Teil der Psychologie, eine Theorie der "Tatsachen des sittlichen Lebens", oder wie es eben hieß. So begann dann die philosophische Wertliteratur damals mit dem Wert als einer  Wertung,  demnach mit einem "Psychologismus"; und ungefähr in diesem Maß einer Abkehr von diesem, speziell im Anschluß an diejenige philosophische Entwicklung, die von BERNARD BOLZANO über EDMUND HUSSERL führt, gelangt sie immer mehr und mehr zum "objektiven Wert". Bei diesem konnte man allerdings schon längst angelangt sein, selbst wenn es vielleicht zweckmäßiger war, nicht von ihm auszugehen (in einer "Philosophie von oben"), sondern zu ihm erst von der psychologischen Seite aus vorzudringen (in einer "Philosophie von unten"). Allein in jener neuen Entwicklungsreihe läßt sich neben manch anderem auch die Werttheorie klarer als sonst unterbauen. Man sieht dies besonders an Darlegungen eines Anhängers von HUSSERL, MAX SCHELERs, dessen Abhandlung "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" als der Beginn weiterer werttheoretischer Studien in dem für jene Entwicklungsreihe einstehenden "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung" (1913, Bd. 1/2) erschienen ist und auf unserem Gebiet manches klärt, über das vorher die Klarheit weniger leicht zu erlangen war. Auch die "Studien zur Wertaxiomatik" von THEODOR LESSING (1908) gehen von HUSSERLschen Lehren aus.

Es wird allerdings nicht leicht sein, in solchen großen Gegensätzen wie denen zwischen einer objektivistischen und einer subjektivistischen Weltanschauung und Wertanschauung beweiskräftig entscheiden zu können; es wird sich immer mehr darum handeln, daß man durch den Ausbau eines einmal eingenommenen Standpunkts für ihn Zeugnis ablegt, ihr erprobt. Ich bekenne nun ohne weiteres, daß er von einem objektivistischen Standpunkt ausgeht und sich also für die Existenz "objektiver" Werte entscheidet. Selbstverständlich fällt dabei das "Subjektive" nicht weg: das Wertvolle wird je nach Gelegenheit von Subjekten gewertet; und diese Wertung, also eine Welt psychischer Tätigkeit, ist gerade auch für die Pädagogik, selbst wenn von sekundärer, so doch von tiefgreifender Bedeutung.

Eine Definition dessen, was "Wert" sein soll, wird man in der einschlägigen Literatur wohl immer nur mit Mühe finden. Leichter wird sie bei psychologistischer, schwerer bei objektivistischer, "gegenstandstheoretischer" Auffassung zu geben sein. Von dieser aus habe ich eine Definition in jener anderen Abhandlung zu geben versucht. Hier hingegen kommen wir wohl auch ohne eine solche aus, wenn wir nur immer daran festhalten, daß es sich beim Wert um eine  Gültigkeit  und zum Teil um  Abstufungen  dieser Gültigkeit, also kurz um das Besser oder Schlechter handelt.

Wichtiger ist nun die Auseinanderhaltung jenes Gegensatzes zwischen objektivem und subjektivem Wert von anderen Gegensätzen innerhalb der Wertwelt. Seit langem spricht man von relativen und absoluten Werten, bekämpft sich auch nicht ungern mit dem Einstehen für die einen und für die anderen, kommt aber nicht leicht von der Anerkennung absoluter Werte  in dem  Sinne ab, daß es Werte geben soll, die unter allen Umständen und mit ausnahmsloser Verbindlichkeit für die handelnden Wesen gelten sollen. Ein näheres Eingehen in diese Streitfragen ist hier nicht möglich; ich gestatte mir nur, meinen derzeitigen Überblick über diese Angelegenhei vorzulegen mit der These, daß die logischen Werte unbedingt als  sachlich  verbindlich gelten, die ethischen dagegen nicht nur so, sondern auch als  persönlich  verbindlich.

Eine andere, wohl ganz besonders schwierige Unterscheidung, bislang nur erst wenig berührt, ist die der theoretischen und der praktischen Werte. Die theoretischen Werte sind die Gültigkeiten und Abstufungen an Tatsachen und überhaupt an jeglichem Sein und Werden; die praktischen sind die an jeglichem Verhalten (einschließlich des Tuns) von Personen. Die theoretischen Werte, bisher neben den praktischen vernachlässigt, finden sich sowohl in der Natur wie in der Kultur, in der Psychologie wie in der Geschichte wie in der Mathematik. Sie schließen auch die Realisierungen der praktischen ein; und selbst abgesehen davon können manche Werte sowohl als theoretische wie als praktische aufgefaßt werden. Nur sind die Werte selbst im eigentlichen Sinn der Wert qualitäten  hier wie dort Gegenstände  "ansich". 

Wenn wir fragen, ob unter den Kräften unserer Seele das Erkennen (der Intellekt) oder etwa das Wollen (überhaupt: das Gemüt) die entscheidendere Kraft ist; oder ob unter den Faktoren des Erkennens der empirische oder der rationale Faktor als der ausschlaggebende, fundamentale, primäre anzusehen ist; oder wenn wir gar unserer Philosophie eine größere Wichtigkeit der seelischen vor den materiellen Vorgängen zugrunde legen: dann treiben wir mit solchen Fragen nach eine Rang oder Vorrang oder speziell nach einem "Primat" eine Theorie der theoretischen Werte. Eine Theorie der praktischen Werte treiben wir, wenn wir z. B. fragen, welche ästhetische Rolle die Wiederholung, welche elementare logische Rolle die Einteilung oder welche methodologische die Hypothese, und welche ethische Rolle das Wohltun spielt - jeder von diesen Faktoren wieder mit seiner Variation in einer oder mehreren Wertreihen genommen.

Wir bleiben für die vorliegende Abhandlung bei den praktischen Werten und fragen vorerst, in welchem Umfang und mit welchen Verschiedenheiten sie sich erstrecken. Bei den Autoren über die Werttheorie findet man auf diese Frage allerdings sehr verschiedenartige Antworten, aber doch regelmäßig mit folgendem Übergewicht.

Alles, was als Wert, als Wertanschauung oder dergleichen bezeichnet wird, erscheint allermeistens entweder auf das Ethische eingeschränkt oder zumindest auf dieses als auf die Hauptsache hin orientiert. Begreiflich ist dies durch die einerseits unbedingte und andererseits überragende Bedeutung des Ethischen im Gegensatz zu anderen Werten, die nicht so unbedingt und nicht so überragend gelten. Andeutungen davon habe ich bereits oben gemacht.

Daß dies besonders auf pädagogischer Seite der Fall ist, zumal seit HERBART und ZILLER, bedarf nur eben einer Erinnerung. Ganz besonders tritt dies zutage durch die Unterscheidung von zentralen und peripheren Schulfächern: mit Vorliebe werden Religion, Deutsch und Geschichte als die Gesinnungsfächer oder als die ethischen Fächer bezeichnet und demgemäß hochgehalten. Dies bestimmt auch den verhältnismäßig scharfen Gegensatz, der zwischen sogenannter Allgemeinbildung und sogenannter Fachbildung in einer doch wohl mindestens unnötig verschärften Weise aufgestellt wird. In dieser Richtung sagt HANS CORNELIUS (Pädagogische Blätter, München 1912, Seite 291): In der Allgemeinbildung gegenüber der Fachbildung habe sich die Klarheit zu beziehen auf die "Logik der Werturteile", die dann zur Beherrschung des Handelns in diesem Sinn führen muß und den sittlichen Charakter als Ziel hat. - Man braucht diese Darlegung nicht für buchstäblich falsch zu halten, muß aber doch sehen, daß auch eine solche Auseinandersetzung bei aller Anspruchslosigkeit wiederum die Meinung begünstigt, als seien Werte nur sittliche Werte.

Diese Meinung zu bekämpfen, also die gesamte Spannweite der Wertewelt so gut wie möglich auszumessen, scheint mir eine dringend notwendige Aufgabe zu sein. Wenn jene drei Schulfächer wirklich im ungefähren Sinn des Obengesagten zu bevorzugen sind, so sind sie es doch nicht wegen des Ethischen allein. Auch andere Werte werden durch sie vertreten. Zutreffender würden sie also die Fächer der Wertanschauung oder in einem weiteren Wortsinn der Weltanschauung heißen. Somit würde eine viel breitere Auffassung des Sinnes jener Fächer nötig sein. Also zugleich eine Einsicht, daß das Ethische zwar der höchste Teil der Wertwelt sein mag, aber doch nicht das Ganze dieser Welt sein kann. Ist es auch absolut, so ist es doch nicht allumfassend.

Weniger einseitig ist die Annahme von  drei  Wertklassen, und zwar aufgrund der landläufigen Gliederung der Philosophie in die drei praktischen Disziplinen: Ethik, Logik und Ästhetik. Diese drei Spezialdisziplinen der Philosophie handeln also vom Sittlichen, vom Logischen und vom Schönen (oder wie man den Gegenstand der Ästhetik eben nennen will), oder mit einer anderen sehr landläufigen Bezeichnung vom Guten, Wahren und Schönen.

Hier ist nun sofort die Frage nötig, ob sich damit auch nur die praktischen Spezialdisziplinen der Philosophie und sodann weiterhin die Klassen von Werten erschöpfen lassen.


III. Fünf Wertklassen

Es bedarf keines besonders tief eindringenden Blickes in die Philosophie selbst und ihre Geschichte, daß man bereits aus der bisherigen Philosophie die Anfänge von zwei weiteren praktischen Sonderdisziplinen erkennen und ihnen entsprechend auch zwei weitere Wertklassen in vielen philosophischen Produktionen eingeschlossen finden kann. Die einen wie die anderen bestehen bereits; sie sind nur nicht als eigene Wertklassen und noch weniger als Gegenstände praktischer Disziplinen der Philosophie anerkannt, sind also noch nicht in die Timologie oder Axiologie einbezogen.

Wir meinen die Wertklasse des  Wohlgefälligen  und die Wertklasse des  Zweckmäßigen damit bezeichnen wir auch gleich zwei praktische Teilfächer der Philosophie. Dort die  hedonistischen  Werte, eventuell: die eudämonisch, behandelt in einer Hedonik oder Eudämonik; hier die  technischen  Werte, behandelt von einer einer philosophischen  Technik  (beides im weitesten Sinne des "Technischen") oder Praktik.

Alles nähere darüber muß anderen Auseinandersetzungen überlassen werden. Wir haben jetzt fünf praktische Disziplinen und fünf Wertklassen vor uns, ohne den Anspruch einer erschöpfenden Vollständigkeit und auch ohne den einer logisch zwingenden Aneinanderreihung. Immerhin wird es zumindestens der bisher vorherrschenden Denkweise entsprechen, wenn wir hier niedrigere und höhere Werte unterscheiden und von den hedonistischen als untersten über die technischen, ästhetischen und logischen bis zu den ethischen aufsteigen. Daß alle fünf Klassen zuvörderst als objektive Werte gedacht sind und selbstverständlich Inhalt eines subjektiven Bewertens werden, bleibt aufrecht, auch wenn die "hedonistischen" Werte am allermeisten einen gegenteiligen Anschein erwecken können und sogar überhaupt an ihrem Charakter als Werte, also an dem der Geltung oder Berechtigung, noch etwas zweifeln lassen mögen.

Jede Wertklasse muß in sich  widerspruchslos  sein. Am nächsten liegt dies in der Logik. Das Gleiche bei den übrigen Wertklassen zu zeigen, dürfte nicht schwer sein. Damit ist eine Verwandtschaft zwischen den Wertklassen gegeben, die besonders deutlich und fruchtbar bei dem hervortritt, was man das "Logische im Ethischen" nennen, und was sich speziell für die Pädagogik als besonders bedeutungsvoll erweisen kann. Eine andere Frage ist die, ob eine Widerspruchslosigkeit auch zwischen den verschiedenen Klassen der Werte verlangt werden kann. Sehen wir recht, so sind diese Klassen zueinander so disparat, daß sie an sich selbst gar nicht in die Gefahr eines Widerspruchs eintreten können. Anders hingegen, wenn es sich um ihre Realisierung handelt; und hier auch nur in dem Fall, daß irgendeine ihnen übergeordnete, zusammenfassende Rücksicht sie vereinigen will. Eine solche kann bereits in einer der Wertklassen selbst liegen, wenn dieser eine unbedingte und zwar auch persönlich unbedingte Gültigkeit zugeschrieben wird. Dies ist für die ethischen Werte so gut wie immer der Fall; es kann also von ihnen aus die Realisierung anderer Werte zu einem Widerspruch führen, die Gültigkeit derselben ansich aber niemals.

Eine besondere Gelegenheit, die verschiedenen Wertklassen zu einer einheitlichen Welt zusammenzufassen, ist durch etwas gegeben, das vielleicht als eine eigene Wertklasse den anderen angereiht und sogar unbedingt übergeordnet werden könnte. Wir meinen das religiöse Gebiet, leiten aber von ihm nicht eine eigene Wertklasse, sondern lediglich eine Auffassung der Welt ab, in der sich jedenfalls alle Werte ansich widerspruchslos vereinigen können und in der Realisierung mit der Vermeidung von Widersprüchen vereinigen sollen.

Die Pädagogik ist nun eine ganz besondere Gelegenheit zu einer solchen Vereinigung. Längst weiß jeder auch nur ungefähre Kenner, welchen pädagogischen Unwert alles Widerspruchsvolle in der Erziehung und im Unterricht besitzt. Einsehen läßt sich dies wohl vom Boden einer jeden der fünf Wertklassen aus. Selbst wenn jemand lediglich auf eine Entwicklung seines Wohlgefallens hin erzogen werden sollte, würde man bald sehen, wie diese Absicht verfehlt wird, wenn sich die einen wie die anderen zu diesem Zweck gemachten Darbietungen widersprechen. Am theoretisch klarsten dürfte, wie gesagt, die Widerspruchslosigkeit auf logischem Gebiet sein. Am praktisch klarsten ist sie jedenfalls auf dem Gebiet der technischen Werte.

Für diese handelt es sich um Zwecke und Mittel (in einem engeren Sinn um den Nutzen). Alles Handeln schließt von Haus aus Zwecke und Mittel - in etwas anderer Fassung: Ziele und Wege - ein. Mittel, welche den Zwecken oder anderen Mitteln widersprchen, Wege, welche dem Ziel oder auch anderen Wegen widersprechen, machen das Erreichen von Absichten so illusorisch, daß es unnützt erscheint, dies erst noch zu betonen. Indessen weiß jeder Vertreter eines im weiteren Sinn "technischen" Gebietes, wieviel gerade darauf ankommt. Auch die Pädagogik ist ein solches Gebiet: es soll in ihr das und das erreicht und dafür der und der Komplex von Mitteln aufgeboten werden, der ja rasch seine besten oder alle Werte einbüßen kann, wenn sich auch nur ein kleiner Widerspruch einschleicht.

Im Pädagogischen sollen Werte realisiert werden; der Boden, auf welchem dies geschehen soll, ist hauptsächlich ein psychischer. Die Bedeutung, welche dadurch die Psychologie für die Pädagogik besitzt, braucht am wenigsten hier auseinandergesetzt zu werden. Aufmerksam aber müssen wir besonders auf Folgendes werden:

Die von uns aufgestellte Reihe der Wertklassen und Wertdisziplinen bewährt sich ungefähr auch in der Reihenfolge der Bedeutung, welche für jedes der fünf Reihenglieder die psychische Tatsächlichkeit und also die Psychologie besitzt. Je weiter abwärts in unserer Reihe, deren unterstes Glied die Hedonik ist, desto näher steht das Wertvolle dem Menschen, wie er tatsächlich ist; desto weniger "Widerstand" leistet der Mensch gegen das Wertvolle; desto mehr hat die Psychologie mitzusprechen. Je weiter hinauf in der - mit dem Ethischen abschließenden - Reihe, desto höher steht der Wert "über" dem Menschen (dem "alten Adam"), desto mehr Kampf erfordert die Realisierung der Werte oder die Durchführung der Ideale, desto weniger hat auch die Psychologie mitzusprechen, und desto schlimmer wird ein Psychologismus.

Nun aber kann ohne Psychisches in der Wissenschaft, also ohne Psychologisches, gar keiner von den praktischen, den Verhaltenswerten verwirklicht oder durchgeführt werden; auch die höchsten ethischen Ideale können es nicht, und gerade für sie wird, wie gesagt, die Durchführung ganz besonders schwer. Dabei handelt es sich immer darum, auszugehen von psychischen "Fähigkeiten", zumal Anlagen, und durch ein System von einzelnen Vorgängen (insbesondere Erwerbungen) fortzuschreiten zu "Fertigkeiten". Das verlangen auch Künstlertum, Wissenschaft und Sittlichkeit, also die ästhetische, die logische und die ethische Wertklasse. Es ist aber doch wohl dasjenige Gebiet, auf dem diese psychologische Reihe die größte Rolle spielt, das in unserem Sinne Technische. "Fertigkeit setzt Zwecke voraus"; also liegt in ihr bereits die Beziehung zu den technischen Werten. Daß Zwecke das Denken voraussetzen, daß also die technischen Werte auch auf logische führen, ist nur eben ein Beispiel aus den, hier nicht weiter zu verfolgenden mannigfaltigen Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Wertklassen. (Die Zitate sind Formulierungen von OTTO WILLMANN im "Allgemeinen Literaturblatt", Nr. 13, 1904, Seite 521)

Nochmals: Pädagogik ist nach dem Gesagten etwas Technisches, nur eben nicht allein Technisches. Sie hat Zwecke zu verfolgen; fragt sich nur jeweils,  was  für Zwecke und womit.

Hier sieht man nun wohl deutlicher, als es schon sonst der Fall sein kann, daß man gut tut, den Begriff des Zwecks eben auf diese eine, auf die technische Wertklasse einzuschränken und ihn  nicht  von vornherein von den andersartigen Werten zu gebrauchen. Alle diese Werte können Zwecke und Mittel werden, speziell auch im Pädagogischen, und zwar vom Hedonistischen angefangen bis hinauf zum Ethischen. Keineswegs aber tut man gut, alle Werte von vornherein als Zwecke zu betrachten und folglich von solchen bereits dann, vielleicht sogar ausschließlich dann zu sprechen, wenn von Ethischem die Rede sein soll. Daß die pädagogische "Teleologie" ihr Gewicht hat, jedoch die Grundlagen der Pädagogik nicht erschöpft, werden wir später noch sehen (VII).
LITERATUR Hans Schmidkunz, Psychologisches und pädagogisches zur Werttheorie, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 33, Leipzig 1915