Schillervon EhrenfelsF. Krueger | |||
[mit NS-Vergangenheit] Der Begriff des absolut Wertvollen [ 2 / 2 ]
Erstes Kapitel Kants Ablehnung einer psychologischen Begründung der Ethik Wer zur Lösung des Moralproblems einen Beitrag zu liefern unternimmt, muß vor allem zu der prinzipiellen Frage Stellung nehmen: mit welchen Mitteln die Moral wissenschaftlich zu bearbeiten ist, welche Methode insbesondere die ethische Prinzipienlehre zu befolgen habe. Diese methodologische Vorfrage ist seit KANT ein Hauptstreitpunkt der wissenschaftlichen Ethik. Bis heute gehen die Ansichten darüber weit auseinander. Unter den philosophischen Moralisten unseres Jahrhunderts lassen sich in dieser Beziehung im Wesentlichen zwei entgegengesetzte Anschauungen unterscheiden, die man kurz als die kantische und die psychologische bezeichnen kann. KANT hat, wie man weiß, seine eigene Methode als eine ganz neue und eigenartige von allen vor ihm in der Moralphilosophie befolgten unterschieden; er hat namentlich die empirische Psychologie als unfähig zur Begründung der Ethik mit Entschiedenheit abgewiesen. Die Anhänger seiner Lehre pflegen gerade hierauf seit jeher viel Gewicht zu legen. (1) Psychologie sei zwar für die angewandte Ethik nützlich, ja unentbehrlich, aber die reine Ethik, die prinzipielle Moraltheorie bedürfe einer anderen, als der psychologischen Methode. Empirische Psychologie könne nicht das Geringste zur wissenschaftlichen Begründung der Moral beitragen, denn in der Moralphilosopie handle es sich um die Gültigkeit und zwar um die absolute Gültigkeit gewisser Urteile, nicht um deren "psychologischen Mechanismus". Die Psychologie könne immer nur das Sein als ein gesetzmäßiges begreifen; Moralphilosophie und Erkenntnistheorie (zuweilen wird hier auch noch die Ästhetik genannt) hätten die Aufgabe ein Sollen zu begründen. Der Gegensatz kann in dieser Form nur dadurch aufrecht erhalten werden, daß man den Begriff der Psychologie oder den des Empirismus künstlich verengt. (2) Es wird an diesem Punkt viel um bloße Worte gestritten. Man kann ja nichts dagegen einwenden, wenn jemand den prinzipiellen und, wie mir scheint, wichtigsten Teil der Psychologie des Erkennens mit einem anderen Namen, etwa dem der Transzendentalphilosophie belegt. (3) Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die wissenschaftlichen Resultate dieser Transzendentalphilosophie lediglich durch eine psychologische Analyse von Bewußtseinstatbeständen gewonnen werden können. Die synthetischen Funktionen des Geistes, auf denen alle Gültigkeit von Urteilen beruth, sind auf keinem anderen Weg aufzufinden, als die sogenannten psychischen Elemente und deren Relationen. KANT hat ziemlich Verschiedenartiges unter dem Namen "Transzendentalphilosophie" zusammengefaßt; nämlich eine Theorie der räumlichen Relationen, eine Analyse des Zeitbewußtseins und seine Lehre von den subjektiven Bedingungen der Gültigkeit von Erfahrungsurteilen im engeren Sinne. Die Methode seiner transzendentalen Analytik muß geradezu als ein Muster psychologischer Analyse angesehen werden. Aber der einfache Satz, daß rot von blau verschieden ist, oder der, daß die Tonqualitäten (im Sinne der Ton höhe) eine eindimensionale Mannigfaltigkeit bilden, daß in dieser Reihe das c dem e näher liegt als dem h, und viele ähnliche, die in KANTs Transzendentalphilosophie keine Stelle finden, sind genauso gut "synthetische Urteile a priori", wie die der transzendentalen Analytik. Sie sind synthetisch, weil sie nicht durch eine Definition von Begriffen gewonnen werden können - es handelt sich darin um undefinierbare und nur unmittelbar zu erlebende Bewußtseinstatsachen -; und sie gelten unbedingt für alle Erfahrung. Trotzdem wird niemand bestreiten, daß diese Urteile lediglich durch Erfahrung gewonnen werden können. (4) Alles Apriorische ist für KANT gleichbedeutend mit einem nicht weiter Analysierbaren. Und mit Recht bemerkt dazu ein Vertreter der modernen Psychologie: "Auch diese Negation der Analysierbarkeit ist eine psychologische Behauptung; und sie ist so wenig selbstverständlich, daß sie von den meisten Vertretern der Psychologie und Physiologie im Hinblick auf den Raum für irrig gehalten wird." (5) Von den Positionen der Kantischen Ethik kann nicht in dem gleichen Umfang, wie von denen der transzendentalen Analytik behauptet werden, daß KANT tatsächlich auf psychologischem Weg dazu gelangt sei. Aber es läßt sich der Nachweis führen, daß alle Mängel dieses Moralsystems auf Unzulänglichkeiten der psychologischen Analyse beruhen, (6) und daß sein wissenschaftlich wertvoller Kern aus psychologischen Einsichten besteht. KANTs Abneigung gegen eine empirisch-psychologische Begründung der Moral erklärt sich vor allem aus seiner oft ausgesprochenen Ansicht, Erfahrung könne nicht zu notwendigen und allgemeingültigen Regeln führen. (7) Diese Anschauung beruth nun lediglich auf einer zu engen Fassung des Begriffs Erfahrung. Unter Erfahrungsurteilen versteht KANT nämlich in einem solchen Zusammenhang lediglich die Urteile, die auf Grund einer bisher beobachteten Regelmäßigkeit im Zusammen der Erscheinungen die gleiche Regelmäßigkeit auch für die Zukunft behaupten, die Urteile also, die aufgrund eines begrifflich fixierten Zusammenhangs von unmittelbaren Wahrnehmungen die Erwartung aussagen, daß unter bestimmten Bedingungen bestimmte Wahrnehmungen wider werden gegeben sein. Da diese Erwartung enttäuscht werden kann, da diese "empirische" Begriffsbildung immer wieder durch neue (unerwartete) Erlebnisse möglicherweise korrigiert wird, so sind die in Frage stehenden Urteile (zu denen alle rein natürwissenschaftlichen Theoreme gehören) (8) in der Tat von bloß relativer Gültigkeit. Unbedingte Gültigkeit haben neben den analytischen Urteilen, die in der bloßen Zergliederung oder Definition eines Begriffs bestehen, nur die synthetischen Urteile a priori, d. h. diejenigen Urteile, die sich auf die subjektiven Bedingungen aller Urteile überhaupt beziehen. (9) Aber auch diese synthetischen Urteile von absoluter Gültigkeit entstammen lediglich der Erfahrung. Sie gelten absolut, d. h. für alle Erfahrung, weil durch die subjektive Gesetzmäßigkeit, die sie aussagen, Erfahrung (einer bestimmten Art) allein möglich ist. Aber sie selbst sind erst möglich dadurch, daß jene Erfahrungen wirklich gegeben waren. Der Blinde kann niemals zu den synthetischen Urteilen a priori, die dem Sehenden über Farben möglich sind, gelangen. So haben die "reinen Verstandesbegriffe" der transzendentalen Analytik notwendige und allgemeine Gültigkeit für alle Erfahrung, weil ihre tatsächliche Gültigkeit eine bestimmte Art von Erfahrung erst möglich macht, Erfahrung nämlich im Sinne von objektiver Erkenntnis, "welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist." (10) Aber wer das Denken nicht aus eigener Erfahrung kennt, für den gibt es auch keine Denkgesetze und Denkformen. Nur die psychologische Erfahrung kann uns über psychische Gesetzmäßigkeiten Aufschluß geben. So wenig eine leere Zeit gedacht werden kann, und so wenig es räumliche Relationen gibt ohne "Fundamente" (MEINONG), d. h. ohne Empfindungsinhalte, die in räumlicher Beziehung stehen, so wenig gibt es Denkformen ohne ein Gedachtes. Die "Formen" der Anschauung und des Denkens können nur an der geformten "Materie" abgelesen, nur von empirisch gegebenen Fällen ihrer Anwendung abstrahiert werden. KANT ist sich hierüber keineswegs völlig klar gewesen. Nachdem er einmal die "reinen Formen" aus dem psychologisch Gegebenen herausanalysiert hatte, dachte er sie zuweilen als selbständig und ohne allen Inhalt im Bewußtsein existierend. So z. B. gleich im Eingang der transzendentalen Ästhetik: "Wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit usw., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw., absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüt stattfindet." (11) Diese Ansicht entwickelt Kant gelegentlich auch in Bezug auf die übrigen "reinen Formen", besonders häufig in der Ethik, wo es sich um die "Form des reinen Willens" handelt. Diese psychologisch unberechtigte Verselbständigung der bloßen Formen, die doch niemals anders als an und mit den geformten Inhalten gegeben sind, macht z. B. in der transzendentalen Analytik allein das dunkle Kapitel vom "Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" für KANT notwendig. Wäre er sich bewußt geblieben, daß er die Denkformen (in der transzendentalen Deduktion) lediglich von den gegebenen psychischen Tatbeständen psychologisch abstrahiert hatte, so hätte er gar nicht mehr zu fragen brauchen, ob und wie diese Formen auf Erfahrung anwendbar seien. Die analoge Frage, die in seiner Ethik immer wiederkehrt, wäre auch hier überflüssig gewesen, wenn er bei der Ableitung der moralischen Formgesetze den allein gangbaren Weg der psychologischen Analyse von vornherein eingeschlagen und konsequent innegehalten hätte. In der Ethik hatte KANTs Ablehnung der empirisch-psychologischen Methode noch besondere Gründe. Der tiefe Ernst, mit dem er den ethischen Problemen gegenüberstand, legte es ihm von Anfang an nahe, das Sittliche aus aller empirischen Bedingtheit herauszuheben und jenseits derselben den realen Ursprung der Moralität zu suchen, wie auch die Sanktion des Sittengesetzes aus dem im transzendenten Sinne des Wortes "Unbedingten" herzuleiten. Hierfür war besonders eine Voraussetzung entscheidend: daß nämlich die moralische Verantwortlichkeit nur unter der Annahme der transzendentalen Freiheit aufrecht erhalten werden könne; und diese Annahme bedeutete eine Überschreitung aller Erfahrungsgrenzen. Es ist jedoch vor und nach KANT schon oft in überzeugender Weise dargetan worden, wie wenig durch die Berufung auf eine transempirische Kausalität der menschlichen Handlungen für die Frage der moralischen Zurechnung gewonnen wird, wie dadurch im Gegenteil diese Frage erst recht kompliziert, ja geradezu unlösbar wird. (12) Das Problem der Verantwortlichkeit, das in KANTs moraltheoretische Untersuchungen überall hineinspielt, gehört meines Erachtens überhaupt nicht in die ethische Prinzipienlehre. Die Grundfrage der Moral kann unabhängig davon behandelt und beantwortet werden. (13) Der Rekurs auf die intelligible Welt zur theoretischen Begründung der Moral, dieser Schritt ins Unerfahrbare erklärt sich außerdem durch eine gewisse Unklarheit, die schon die Fragestellung der Kantischen Ethik beherrscht. KANT unterscheidet nirgends scharf genug zwischen Moralität oder sittlichem Handeln auf der einen und moralischer Beurteilung auf der anderen Seite; so schwankt bei ihm der Begriff des Sittengesetzes und der der Willensbestimmung durch das Sittengesetz zwischen zwei sehr verschiedenen Bedeutungen. Zuweilen ist ihm das Sittengesetz ein Prinzip der moralischen Beurteilung und "Bestimmung" des Willens durch das Sittengesetz heißt dann nichts anderes als: unbedingt gültige, d. h. moralische Beurteilung. (14) Sehr häufig aber versteht KANT unter dem obersten Prinzip der Sittlichkeit vielmehr ein Prinzip des Handelns, eine objektiv gültige Maxime des Tuns und daraus fließt die Forderung einer Willensbestimmung durch das Sittengesetz in dem Sinne, daß "reine Vernunft für sich allein praktisch werde" (15), daß die bloße vorgestellte Form der Gesetzmäßigkeit jede einzelne Handlung aus sich erzeugen solle. (16) Diese Verschiebung des Problems genügt bereits, um die empirisch-psychologische Methode aus der reinen Ethik überzeugung auszuschließen. Denn tatsächlich ist ein Wollen, das nicht aus irgendeiner Lusterwartung oder Wertung entspränge, ein Wollen, dessen einziges Motiv die Vorstellung eines Gesetzes wäre, in keiner Erfahrung gegeben; im Gegenteil - und dessen war KANT sich wohl bewußt - : alle psychologische Erfahrung widerstreitet der Möglichkeit eines in diesem Sinne "reinen" Willens. So wird es begreiflich, daß KANT in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", nachdem er bereits seinen kategorischen Imperativ proklamiert hat, immer noch die zweifelnde Frage erhebt, ob es überhaupt eigentliche Moral gebe, ob Pflicht nicht ein völlig leerer Begriff sei und ob sein Moralprinzip auf die Erfahrung Anwendung finde. Von allen "subjektiven Ursachen", von allen empirischen Bestimmungsgründen des Willens, von jeder "psychologischen Natureinrichtung" glaubte er für die Begründung der Ethik absehen zu müssen. Daher das ehrliche Bekenntnis (17): "Hier sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf einen mißlichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird"; daher die geradezu skeptische Wendung am Schluß dieses tiefgründigen Werkes: "Und so begreifen wir zwar nicht die praktisch unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit." Bei der Berufung auf die intelligible Welt, die in seinem System prinzipiell die psychologische Analyse ersetzen soll, hat KANT eben selbst sich nicht völlig beruhigen können. Er fühlte zuweilen deutlich, daß damit dem wissenschaftlichen Erklärungsbedürfnis nicht gedient sei. Das ganze Kapitel "Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft" in seinem ethischen Hauptwerk (18) klingt wie ein unfreiwilliges Zugeständnis an die empirische Psychologie. Er bekennt auch hier: "Wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem." Deshalb führt er, ziemlich unvermittelt, den Begriff der "Achtung fürs moralische Gesetz" ein. (19) Dieses "moralische Gefühl" wird zwischen das moralische Gesetz und die sittlichen Handlungen nachträglich eingeschoben. Aber KANT will keineswegs zugeben, daß er damit tatsächlich eine psychologische Hilfshypothese macht. Das (nicht näher analysierte) Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz, diese "einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder", soll durch reine Vernunft "unmittelbar praktisch gewirkt" und von allen empirischen Triebfedern des Willens toto genere [alles in allem - wp] verschieden sein. Hier unterscheidet sich die Kantische Ethik, trotzdem sie prinzipiell in Gegensatz dazu tritt, sehr wenig von den alten moral-sense-Theorien, die die Aufgabe der Moralphilosophie für gelöst hielten, wenn sie einen isolierten Trieb in der menschlichen Seele ansetzten, von dem sie nicht viel mehr zu sagen wußten, als daß er von allen anderen ("natürlichen") Triebfedern des Willens durchaus verschieden sei und eben den moralischen Sinn oder das moralische Gefühl ausmache. Diese Schwankungen und Unklarheiten beruhen zum größten Teil auf der angedeuteten Ungenauigkeit in der Fragestellung. Die mangelhafte Unterscheidung zwischen moralischer Theorie und Praxis tritt besonders deutlich hervor in der bei KANT öfter wiederkehrenden Bemerkung, empirische Zutaten "zum Prinzip der Sittlichkeit" seien "nicht allein dazu ganz untauglich, sondern der Lauterkeit der Sitten selbst höchst nachteilig". (20) Eine Ethik, die die "reinen" Prinzipien nicht scharf von allen empirischen unterscheide, verdiene "den Namen einer Philosophie nicht", "viel weniger einer Moralphilosophie, weil sie eben durch diese Vermengung sogar der Reinigkeit der Sitten selbst Abbruch tut und ihrem eigenen Zweck zuwider verfährt." (21) Oft scheint es geradezu, als ob KANT einen fundamentalen Gegensatz zwischen Moraltheorie und jeder anderen Art wissenschaftlicher Theorienbildung statuieren wollte. Die "praktischen Begriffe a priori" sollen sich von allen anderen dadurch wesentlich unterscheiden, daß sie "die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen (die Willensgesinnung), selbst hervorbringen,' welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist". (22) Hier liegt eine offenbare Verwechslung vor zwischen Moral theorie und praktischer Sittlichkeit oder Moralität. Dem entspricht der schwankende Sinne, den KANT mit dem Ausdruck "praktischer Vernunftgebrauch" (im Gegensatz zum spekulativen) verbindet. Zuweilen bezeichnet er damit die theoretische Bemühung um ein Prinzip der moralischen Beurteilung (im Gegensatz zur Untersuchung anderer Urteile auf ihre Prinzipien hin), - manchmal auch die moralische Beurteilung selbst. Häufig aber ist "praktischer Vernunftgebrauch" für ihn vielmehr ein Ausdruck für das mit dem Moralprinzip übereinstimmende oder durch die Vorstellung des Sittengesetzes verursachte Handeln. (23) Bestände in der Tat die Aufgabe der Moralphilosophie darin, unbedingt gültige Prinzipien des Handelns ausfindig zu machen, so wäre sicherlich die empirische Psychologie unvermögend zur Lösung des Moralproblems. Aber dieses Problem ist überhaupt unlösbar. Denn die Gesamtheit der empirischen Bedingungen einer Handlung ist uns niemals gegeben; über sie läßt sich a priori nicht das Geringste ausmachen. Auf dieser richtigen Erkenntnis beruhen die meisten Einwände, die der ethische Skeptizismus seit Jahrhunderten gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Moralphilosophie erhoben hat. Was KREIBIG, in seiner jüngst erschienen Geschichte und Kritik dieser Geistesrichtung, Stichhaltiges gegeen die ethische Skepsis vorzubringen weiß, das läuft alles auf eine Kritik dieser Verschiebung des Moralproblems. (24) In Bezug auf einzelne Handlungen kann es synthetische Urteile a priori (im Sinne KANTs) nicht geben. Wird die Frage der Moral dennoch so gestellt, so ist der Schritt ins Metaphysische unvermeidlich, so muß, in mehr oder weniger bestimmter Weise, eine absolute Intelligenz, eine untrügliche Instanz, wie KANT sie in der intelligiblen Welt vermutete, irgendwo angenommen werden. Und damit sind natürlich die Grenzen der Erfahrung überschritten. Ganz anders verhält es sich mit der Frage nach einem unbedingt gültigen Prinzip der moralischen Beurteilung von Persönlichkeiten (ihrer Gesinnung nach). Diese Frage ist das wirkliche Grundproblem der Moralphilosophie; und sie läßt sich meines Erachtens durch empirisch-psychologische Analyse eindeutig beantworten, in ganz analoger Weise, wie das Problem der transzendentalen Analytik. Erst nachdem das oberste Prinzip der moralischen Beurteilung, d. h. das absolut gültige Werturteil wissenschaftlich festgestellt ist, können über den moralischen Wert einzelner Handlungen Urteile von bedingter Gültigkeit - durch Anwendung des Prinzips - gefällt werden. Durch die vorstehenden Ausführungen dürfte der Nachweis erbracht sein, daß KANTs Ablehnung der empirischen Psychologie zur wissenschaftlichen Begründung der Moral im Wesentlichen auf zwei Unklarheiten beruth, einmal in Bezug auf den erkenntnistheoretischen Begriff der Erfahrung, ferner hinsichtlich der moralphilosophischen Fragestellung. Daß tatsächlich eine rein empirisch-psychologische Theorie der Moral möglich sei, dieser Nachweis wird nicht anders zu führen sein, als durch den Entwurf einer solchen psychologischen Moraltheorie, wie er im Folgenden versucht werden soll. (25) Vorher jedoch muß noch auf einen letzten Grund für KANTs Mißtrauen gegen eine psychologische Behandlung der ethischen Prinzipienfragen hingewiesen werden: KANT verwarf prinzipiell und mit Entschiedenheit jeden Versuch einer eudämonistischen Begründung der Moral. Andererseits aber identifizierte er eudämonistische und psychologische Ethik.' Gerade deshalb meinte er, mit dem ethischen Eudämonismus auch die psychologische Methode abweisen zu müssen. Der Gegensatz der Kantischen Moralphilosophie gegen den ethischen Eudämonismus "KANT hat in der Ethik das große Verdienst, sie von allem Eudämonismus gereinigt zu haben." Mit diesen Worten beginnt SCHOPENHAUER seine Kritik der Kantischen Moraltheorie, (26) - eine Kritik, die zahlreiche feine Bemerkungen und auch eine Anzahl treffender Einwände gegen KANTs Positionen enthält, trotzdem sie sicherlich den wahren Kern seines Moralsystems völlig verkennt. (27) Jener einleitende Satz ist gewiß unanfechtbar. Das große negative Verdienst der Kantischen Philosophie, das er betont, ist auch von anderen Ethikerns, die sonst in wichtigen Punkten von KANT abweichen, vielfach hervorgehoben worden. (28) Aber es gewinnt mehr und mehr den Anschein, als ob KANTs Polemik gegen den ethischen Eudämonismus in neuerer Zeit nicht mehr die ihr zukommende Beachtung fände. Der im vorigen Jahrhundert vielfach vertretene egoistische Hedonismus ist freilich im Allgemeinen aufgegeben worden; aber er hat nur einer altruistischen oder universalistischen Glückseligkeitsethik Platz gemacht: die, vorzugsweise in England heimische, Theorie des Sozialutilitarismus beherrscht fast das gesamte moralphilosophische Denken unserer Zeit. Es kann an dieser Stelle nicht eine erschöpfende Kritik dieser Theorie geliefert werden. (29) Wo das Prinzip der sozialen Glückssteigerung rein zum Ausdruck kommt, wie bei JOHN STUART MILL und von GIZYCKI, neuerdings besonders bei KREIBIG, (30) da unterliegt es denselben Einwänden, die gegen das individualistische Glückseligkeitsprinzip seit den Tagen KANTs unzählige Male erhoben worden sind. Ja, der soziale Eudämonismus führt notwendig auf seine ungleich konsequente Stammform, den egoistischen Hedonismus zurück. Die Vertreter des Sozialutilitarismus stellen fast sämtlich die Förderung fremden Glücks als ein notwendiges Mittel zur Erhaltung und Steigerung der eigenen Glückseligkeit dar. Diese dürftige Argumentation kann aber den Sozialutilitaristen selbst nicht genügen. Sie gelangen vom Prinzip des egoistischen zur Forderung eines sozialen Eudämonismus vor allem dadurch, daß sie, stillschweigend oder ausdrücklich, einen unbedingten moralischen Mehrwert des sogenannten altruistischen Verhaltens gegenüber dem "egoistischen" annehmen. Diese Voraussetzung, der kritiklose Glaube an den absoluten Wert der gemeinhin als "altruistisch" bezeichneten Gesinnung liegt fast allen sozialutilitarischen, ja der Mehrzahl der modernen wissenschaftlichen Moraltheorien überhaupt, zugrunde. (31) So allein kann man über die völlige Unfruchtbarkeit eudämonistischer Moralprinzipien sich hinwegtäuschen. (32) Das wird ferner durch verschiedene begriffliche Unklarheiten und Inkonsequenzen ermöglicht, z. B. durch die Einführung des vieldeutigen und nicht genau definierten Ausdrucks "Wohl" statt Glück oder Lust; besonders aber durch die unvermittelte und mit dem eudämonistischen Prinzip als solchem nicht verträgliche Unterscheidung von Qualitäten der Lust, die neben deren Dauer und Intensität für die moralische Beurteilung entscheidend ins Gewicht fallen sollen. Zu dieser Inkonsequenz sieht sich schon MILL, der Begründer des modernen Sozialutilitarismus, gezwungen (33). Die meisten Vertreter des Utilitarismus verlieren im Verlauf ihrer Untersuchungen den einzelnen, empirisch gegebenen Menschen und seine Gesinnung, um deren moralische Beurteilung es sich allein handelt, mehr und mehr aus den Augen und reden schließlich nur noch vom äußeren Erfolg menschlicher Handlungen und von den heilsamen oder unheilvollen Folgen gesellschaftlicher Institutionen. Die HÖFFDINGsche Ethik (34) zeigt besonders deutlich diese Konsequenz eines im Grunde eudämonistischen Prinzips. Hier gilt es nun, sich ganz energisch wieder auf KANT zu besinnen. Als erster in der gesamten Geschichte der Moralphilosophie - denn noch der indische lebensverneinende Quietismus (wie später SCHOPENHAUERs Pessimismus) und selbst die Stoa sind nicht frei von eudämonistischen Tendenzen - scheidet er grundsätzlich und mit peinlicher Genauigkeit alle Fragen der Glückseligkeit vom Grundproblem der Moral. "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden könnte, als allein ein guter Wille," so beginnt das erste seiner größeren ethischen Werke, die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (35). Das Sittliche ist ihm das an und für sich selbst, d. h. unbedingt Gute; dasjenige, dessen Wert nicht von irgendeinem darüber hinausliegenden Zwecke abhängig ist, als welcher dadurch bewirkt würde; es ist das unbedingt Wertvolle. Das ist der Sinn seiner theoretischen Forderung eines autonomen Moralprinzips, seiner imponierenden Proklamation einer selbstherrlichen Vernunftmoral, die auch die religiöse Sanktion als Heteronomie abweist; das ist die empirische Bedeutung seines vielfach (36) mißverstandenen Begriffs des absoluten Sollens oder der Pflicht um der Pflicht willen. Mag er in der Begründung und weiteren Ausführung dieses Grundgedankens noch so oft fehlgegriffen haben, den Gedanken selbst, den Grundbegriff der Autonomie darf die Moralphilosophie nimmermehr aufgeben. Aller ethische Eudämonismus aber - das hat KANT zu wiederholten Malen nachgewiesen - ist Heteronomie; denn er macht den Wert des Sittlichen, direkt oder indirekt, abhängig von etwas nicht Sittlichem, nämlich von seiner durchschnittlichen Wirkung, näher: von seinem Glückserfolg (für den Handelnden selbst, für andere, oder für alle); er verschließt sich von vornherein gegen den Gedanken des unbedingten Wertes. Wie weit die eudämonistische Ethik von diesem Gedanken der Autonomie und sich damit vom Kern des Moralproblems sich entfernt, das beweist die jüngste Phase in der Entwicklung des Sozialutilitarismus, die Theorie des Freiherrn von EHRENFELS. (37) Er erkennt deutlich einen großen Fehler der landläufigen Utilitätsmoral darin, daß sie die moralische Beurteilung auf einzelne äußere Handlungen zu beziehen pflegt, statt auf die zugrunde liegende Gesinnung, die "Gefühlsdispositionen (Charaktereigenschaften), auf deren Vorhandensein oder Fehlen die äußere Handlung schließen läßt". Er betont ferner, daß es "eine große Fülle von Gefühlsdispositionen" gibt, die "für die Allgemeinheit von höchstem Nutzen sind und darum doch nicht hochgeschätzt werden, so z. B. die Gefühlsdispositionen, welche uns zum Hunger, zum Durst, zur geschlechtlichen Begehrlichkeit befähigen und dgl. mehr". Daraus zieht er nun die Konsequenz, daß man die nationalökonomische Theorie des "Grenznutzens" in gewisser Weise auf das ethische Gebiet übertragen müsse. Nur diejenigen Charaktereigenschaften seien ethisch wertvoll, von denen man überzeugt sei, daß sie "in dem vom Standpunkt der Gesamtheit aus zu erwünschenden Maß unter den Menschen sich durchschnittlich nicht vorfinden". Durch diese Modifikation wird zunächst der sozialutilitarische Gedanke reiner als in allen verwandten Theorien herausgestellt: der faktische soziale Nutzen einer jeden Charaktereigenschaft wird zum Maßstab ihres moralischen Wertes gemacht. Aber die neue Theorie läßt eben deshalb auch das völlig Heteronomische und damit die Unhaltbarkeit des Nützlichkeitsprinzips deutlicher als irgendeine andere erkennen. (38) Gesetzt, der Charakter eines Menschen, seine dispositionelle Persönlichkeit, bliebe sich eine Zeitlang völlig gleich, so könnte nach dieser Anschauung sein moralischer Wert in derselben Zeit innerhalb der weitesten Grenzen schwanken, eventuell auch auf Null herabsinken, je nachdem die Eigenschaften, die bis dahin noch den geforderten Seltenheitswert hatten, inzwischen in anderen entstehen oder sich steigern, denn in demselben Maße verlören sie an tatsächlicher sozialer Nützlichkeit und könnten unter Umständen auch jeden sozialen Grenznutzen einbüßen. Was hier zum Maßstab der moralischen Beurteilung gemacht wird, ist notwendigerweise gänzlich unabhängig von der zu beurteilenden Persönlichkeit. Auch EHRENFELS setzt, Kantisch gesprochen, den Wert eines "Zustandes" anstelle des Wertes der "Person". Das durchschnittliche Vorhandensein oder die relative Seltenheit einer Charaktereigenschaft kann der einzelne in keiner Weise mi Sicherheit beurteilen oder beeinflussen. Die durchgängige Bedingtheit der ökonomischen Werte (in ihrer Wertqualität) wird hier auf das sittlich Wertvolle übertragen. (39) Es ist nur konsequent, wenn von EHRENFELS, wie die große Mehrzahl der modernen Ethiker, jeden Begriff eines absolut Wertvollen aus der Ethik ausgeschlossen wissen will. (40) Übrigens genügt ihm das utilitarische Prinzip, auch in dieser veränderten Form, nicht zur Erklärung aller ethischen Erscheinungen. Er unterscheidet scharf zwischen sozial-ethischen und individual-ethischen Phänomenen und stellt für die Beurteilung der letzteren ein anderes Prinzip auf, das leider nicht sehr genau empirisch bestimmt und mit dem sozial-ethischen Prinzip in keine feste Beziehung gebracht wird. (41) Die ganze Unterscheidung zwischen Individual- und Sozialethik gehört aber nicht in die ethische Prinzipienlehre. Wo sie von vornherein eingeführt wird, beruth das auf jenem Grundfehler der Nützlichkeitsmoral, den von EHRENFELS selbst rügt, ohne doch die Konsequenz dieser Einsicht zu ziehen (die in der Preisgabe des heteronomen zugunsten eines tiefer begründeten, autonomen Prinzips bestände), - ich meine den Fehler, daß von den einzelnen äußeren Handlungen und ihrem Erfolg, statt von der Gesinnung, d. h. von den dispositionellen Charaktereigenschaften und ihrem Verhältnis zueinander, ausgegangen wird. Hält man streng den Gedanken fest, daß die Gesinnung den Gegenstand der moralischen Beurteilung bildet und daß die einzelnen äußeren Handlungen dafür nur in Betracht kommen, weil und insoweit sie den Charakter des Handelnden offenbaren, so kann man konsequenterweise nicht etwas vom Charakter des Handelnden so Unabhängiges, wie den faktischen sozialen Glückserfolg seines Tuns oder die Seltenheit seiner sozialnützlichen Charaktereigenschaften zur entscheidenden Bedingung seines moralischen Wertes machen. Das sittlich Gute ist dadurch und nur dadurch von allen anderen Werten eindeutig zu unterscheiden, daß es "ohne Einschränkung", d. h. unbedingt für gut gehalten werden muß, daß es seinen Wert in aller möglichen Erfahrung behält. Sittlichkeit, moralischer Wert, ist entweder ein Vorurteil, ein Wort ohne sinnvollen Inhalt, - oder es gibt etwas von unbedingtem Wert. Und dieses unbedingt Wertvolle kann nicht irgendwo außerhalb der menschlichen Persönlichkeit angenommen werden, derart, daß der Mensch nur als Mittel dazu sittlichen Wert hätte; denn dann wäre das sittlich Gute ein bloß bedingt Wertvolles. Das Kriterium des sittlichen Wertes kann nur in der Persönlichkeit selbst gefunden werden; das sittlich oder unbedingt Wertvolle, wenn es überhaupt ein solches gibt, kann nur etwas an der wollenden Persönlichkeit selbst sein, eine spezifische Eigenschaft oder Gesetzmäßigkeit des menschlichen Willens. Das alles hat KANT, deutlicher als irgendein früherer Philosoph, gesehen und gesagt. Und darin besteht, wie mir scheint, sein größtes Verdienst um die Ethik. Wenn er das so gestellte Problem mit den Mitteln der empirischen Psychologie nicht für lösbar hielt, so ist das gar nicht sehr zu verwundern in anbetracht des unentwickelten Zustandes der damaligen psychologischen Wissenschaft, in anbetracht ferner der Tatsache, daß noch heute die große Mehrzahl der Psychologen es für völlig aussichtslos hält, die Frage des absolut Wertvollen empirisch-psychologisch in Angriff zu nehmen. Noch sind gerade diejenigen, die selbst eine psychologische Begründung der Moral fordern, fast sämtlich überzeugt, jede psychologische Ethik müsse notwendig eine eudämonistische sein. Eben das war auch KANTs Meinung. Und da er jede eudämonistische Moralanschauung innerlich überwunden hatte und grundsätzlich verwarf, so verwarf er folgerichtig auch die empirisch-psychologische Methode, als welche in der Ethik notwendig zum Eudämonismus führe. (42) Hier liegt sicherlich der tiefste Grund für KANTs Ablehnung der Psychologie zur wissenschaftlichen Begründung der Moral. Hätte KANT und hätten die Vertreter des modernen Sozialutilitarismus darin recht, daß die psychologische Methode kein autonomes Moralprinzip ergeben könnte, so wäre auch KANTs prinzipieller Verzicht auf eine psychologische Grundlegung der Ethik voll berechtigt; denn ein heteronomes Prinzip kann das Bedürfnis nach Gewißheit sittlicher Erkenntnis nicht befriedigen. Freilich, auch die Überschreitung der Erfahrungsgrenzen, wie sie KANT tatsächlich vollzieht, kann diesem Bedürfnis in wissenschaftlichem Sinne nicht genügen: hat doch niemand besser als er bewiesen, daß jenseits der Grenzen möglicher Erfahrung jede wissenschaftliche Beweisbarkeit und Sicherheit unseres Denkens aufhört und das Gebiet des Glaubens und der unkontrollierbaren Vermutungen beginnt. Soll die prinzipielle Ethik nicht in metaphysischem Spekulieren stecken bleiben, soll sie, wie jede andere Wissenschaft, schließlich zu beweisbaren Sätzen und objektiv gültigen Erkenntnissen gelangen, so darf sie lediglich darauf ausgehen: von Tatsachen der Erfahrung eine (möglichst einfache und möglichst umfassende) empirische Theorie zu liefern. Andere als psychologische Tatsachen stehen dem Ethiker nicht zur Verfügung. Wer also die Anwendbarkeit der psychologischen Methode auf das Moralproblem a priori bestreitet, der bestreitet damit von vornherein die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ethik. Ehe jedoch dem ethischen Skeptizismus Raum zu geben ist, muß in der psychologischen Analyse des empirisch Gegebenen soweit als möglich vorgedrungen werden; es muß versucht werden, auf diesem allein gangbaren Weg ein brauchbares, d. h. ein autonomes (also nicht eudämonistisches) Moralprinzip zu gewinnen.
1) Unter den Neueren z. B. KARL VORLÄNDER, Der Formalismus in der kantischen Ethik in seine Notwendigkeit und Fruchtbarkeit, Marburg 1893, Seite 18f. - Vgl. COHEN, Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877, Seite 135f. Dort sind auch die wichtigsten Belegstellen aus KANT angeführt. - Zahlreiche weitere Belege für KANTs Stellung zur Psychologie, aus den verschiedensten seiner Schriften, finden sich in dem mit psychologischer Genauigkeit geschriebenen Buch ALFRED HEGLERs, Die Psychologie in Kants Ethik, Freiburg i. Br. 1891. 2) Einige Bemerkungen hierzu enthält meine kleine methodologische Streitschrift "Ist Philosophie ohne Psychologie möglich?", München 1986. 3) KANT hat hierfür auch den Namen "Metaphysik". 4) Vgl. die Ausführungen von HANS CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897, Seite 342 und 440, Anm. 128 5) CARL STUMPF, Psychologie und Erkenntnistheorie, Akademie der baierischen Wissenschaften, München 1891, Seite 29 6) Von KANTs Ethik scheint mir die Bemerkung STUMPFs (a. a. O. Seite 29) ganz besonders zu gelten: "Die Vernachlässigung der Psychologie ist nicht, wie man sie vielfach hinstellt, eine nebenhergehende und irrelevante Eigenheit, sondern sie ist ein Grundschaden des Kantischen Philosophierens. 7) In der Vorrede zur "Grundlegung" [Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785] wird es besonders klar, daß KANT gerade aus diesem Grund eine "reine Moralphilosophie" forderte, "die von allem, was nur empirisch sein mag, ... völlig gesäubert wäre." 8) Die naturwissenschaftliche Methode ist nur ein Spezialfall der empirischen Methode überhaupt. Die unberechtigte Gleichsetzung dieser beiden Begriffe, auf die ich schon auf Seite 9 der zitierten Schrift hinzuweisen Gelegenheit hatte, richtet viel Verwirrung an; auf diese Unklarheit geht z. B. auch die Polemik LUDWIG WOLTMANNs [Kritische und genetische Begründung der Ethik, Freiburg i. Br. 1896] gegen die "psychologisierenden Moralphilosophen" zurück. 9) Vgl. mit dem Gesagten das vierte Kapitel des oben zitierten Werkes von CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897, insbesondere Seite 348 - 350 und die Anmerkung Nr. 130 auf Seite 440; ferner Seiten 87 - 99. 10) KANT, Kritik der reinen Vernunft, 1781, Ausgabe KEHRBACH, Seite 114 11) KANT, Kritik der reinen Vernunft, 1781, Ausgabe KEHRBACH, Seite 49 12) In neuerer Zeit z. B. von HERBART, Bemerkungen über die Ursache, welche das Einverständnis über die ersten Gründe der Philosophie erschweren, Gesammelte Werke IX, Ausgabe HARTENSTEIN, Seite 26f. - Besonders klar sind in dieser Beziehung die Ausführungen GEORG von GYZICKIs in seiner "Moralphilosophie", Leipzig 1888, Seite 250 - 277. Man lese übrigens bei KANT selbst [Kritik der reinen Vernunft, 1781, Ausgabe KEHRBACH], Seite 440, Anm.: "Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden." 13) Diese Anschauung haben schon die Stoiker, meines Wissens zum ersten Mal, vertreten und begründet. Siehe die Belegstellen bei WILHELM WINDELBAND, Geschichte der Philosophie, Freiburg i. Br. 1892, Seite 152. 14) Zum Beispiel KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, Seite 20: "zum Richtmaß ihrer Beurteilung." 15) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Ausgabe KEHRBACH, Seite 37 16) KANT, Grundlegung, Seite 15: "Es kann also nichts anderes als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, ... sofern sie ... der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen." - Oder Kritik der praktischen Vernunft, Seite 36, 37: "Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht." - Ähnlich Grundlegung Seite 50, Anm. und viele andere Stellen. Die Anmerkung zu Seite 38 der Grundlegung ist zweideutig. 17) KANT, Grundlegung, Seite 60 18) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seite 87f. 19) Ähnlich schon in der Grundlegung, Seite 14 20) KANT, Grundlegung, Seite 61. Siehe auch die Vorrede. 21) Diese Unklarheit geht bei einigen von KANT stark beeinflußten Ethikerns so weit, daß sie zuweilen zum schlechtesten aller Argumente greifen und (wie das in der Moralphilosophie leider vielfach vorkommt) dem Gegner seine abweichende Überzeugung ins Gewissen schieben. So betont WOLTMANN a. a. O., Seite 17, mit Berufung auf den großen Moralprediger FICHTE, das Sittengesetz sei "nicht so sehr ein Wissen, als in erster Linie ein Gewissen." Wer das formale Prinzip nicht anerkenne, dem müsse man eben "die subjektive Befähigung zum moralphilosophischen Verständnis absprechen". Ein theoretischer Moralskeptiker könne nicht überzeugt werden, sondern bedürfe vielmehr einer "Kultur". - Ähnlich äußert sich zuweilen VORLÄNDER. Gelegentlich: Der Formalismus in der kantischen Ethik in seine Notwendigkeit und Fruchtbarkeit, Marburg 1893, Seite 33, Anm., macht er - und das ist höchst charakteristisch - dem ARISTOTELES Vorwürfe, weil er der Urheber des häßlichen Gegensatzes von "Theorie und Praxis" sei. - Mag man es noch so häßlich finden, wenn jemand in seinem praktischen Verhaltens sich hinter diesen Gegensatz verstecken will. In der Moralwissenschaft muß der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen wissenschaftlicher Erklärung und dem zu Erklärenden aufs strengste festgehalten werden. 22) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seite 80 23) Eine Anmerkung in der Grundlegung, Seite 80, unterscheidet zwischen "Teleologie" (im Sinne einer teleologischen Naturbetrachtung) und "Moral" (im Sinne von Moralphilosophie) folgendermaßen: "Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee zur Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist ... zustande zu bringen." - Auch COHEN, Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877, Seite 148f, statuiert einen prinzipiellen Gegensatz zwischen moralphilosophischer Erkenntnis. Es wird freilich durch seine Ausführungen nicht völlig klar, wie er diesen Gegensatz, wie er das Verhältnis zwischen moraltheoretischer und empirisch-wissenschaftlicher Einsicht sich näher vorstellt; denn den obersten Sätzen der Moralphilosophie soll doch ein höherer Grad von Gültigkeit zukommen, als den sogenannten Postulaten, die KANT selbst als "Glaubenssachen" bezeichnet. 24) JOSEF CLEMENS KREIBIG, Geschichte und Kritik des ethischen Skeptizismus, Wien 1896. Leider tritt das bei KREIBIG, infolge seiner eigenen unzureichenden psychologischen Analyse des Tatbestandes, nicht deutlich genug hervor. Wie denn überhaupt das historisch höchst interessante Werk durch seine sachlichen philosophischen Ausführungen keinen konsequenten Moralskeptiker überzeugen dürfte. Das wird vom Standpunkt des Sozialutilitarismus aus niemals gelingen. 25) KANT, Grundlegung, Kap. III und IV. 26) Preisschrift über die Grundlage der Moral [Die beiden Grundprobleme der Moral, Ausgabe Grisebach, Bd. III], Seite 497 27) Vgl. die Monographie von OTTO LEHMANN [Über Kants Prinzipien der Ethik und Schopenhauers Beurteilung derselben, Berlin 1880]. 28) So namentlich von HERBART in der ersten und dritten seiner Reden zum Gedächtnis KANTs und in seiner Schrift "Über die Ursachen, welche das Einverständnis über die ersten Gründe der praktischen Philosophie erschweren", Reden gehalten am Geburtstag Kants 1810 und 1833, Gesammelte Werke XII, Ausgabe HARTENSTEIN, Seite 151, 163 und Bemerkungen über die Ursache, welche das Einverständnis über die ersten Gründe der Philosophie erschweren, Gesammelte Werke IX, Ausgabe HARTENSTEIN, Seite 19. Neuerdings hat SIMMEL in einem populär gehaltenen Aufsatz diese Seite der Kantischen Moralphilosophie anschaulich gemacht [Was ist uns Kant? Beilage der Vossischen Zeitung vom 6. 8. 1896]. 29) Einige Beiträge dazu finden sich in der Dissertation von EMIL KALER, Die Ethik des Utilitarismus, Hamburg und Leipzig 1885, der vielfach zur Unterstützung seiner Polemik auf KANT Bezug nimmt. - Vgl. besonders SIMMEL, Einleitung in die Moralwissenschaft IBerlin 1891, Seite 293 - 467. 30) JOSEF CLEMENS KREIBIG, Geschichte und Kritik des ethischen Skeptizismus, Wien 1896 31) Das gilt z. B. von der Ethik SCHOPENHAUERs, soweit sie nicht mystisch-metaphysisch begründet ist [Grundprobleme der Ethik usw.]. - Auch MEINONG, ein prinzipieller Gegner des ethischen Eudämonismus, geht im ethischen Teil seiner werttheoretischen Untersuchungen [Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, Graz 1894] überall vom positiven moralischen Wert des Altruistischen gegenüber dem Egoistischen aus. 32) Ich habe daher in einer Vorstudie zu dieser Arbeit das Dogmatische der altruistischen Forderung und ihre Unbrauchbarkeit zum Prinzip der moralischen Beurteilung darzutun versucht. [Krüger, Moral und Altruismus, "Die Kritik", 1897, Nr. 134] 33) In seiner Schrift "Utilitarismus" [JOHN STUART MILL, London 1864]. Gewisse Lustarten seien um ihrer selbst willen, wegen ihrer "intrinsic nature" begehrenswerter als andere (Seite 12), ohne Rücksicht auf die Dauer und Intensität der Lust und die Sicherheit ihrer Erreichung und Erhaltung. Die Entscheidung wird hier nicht mehr dem in seiner Unbestimmtheit theoretisch so gefügigen "Glückseligkeitstrieb", sondern einem ebenso unbestimmten "sense of dignity" zugemutet, den alle Menschen, der eine mehr, der andere weniger, besäßen. Das ist im Grunde der alte moral sense der Engländer, auf dessen psychologische Analyse eben alles ankäme. Schließlich gibt MILL sogar zu, es gebe noch andere "wünschenswerte" Eigenschaften des Menschen neben der Tugend im Sinne des Sozialutilitarismus. Und unter diesen, einer utilitaristischen Begründung spottenden Qualitäten, führt er Tugenden an, die niemand geneigt sein dürfte, aus dem Kreis der moralischen Wertungen auszuscheiden. 34) HARALD HÖFFDING, Ethik, 1887 35) KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, Seite 1 36) z. B. von SCHOPENHAUER; vgl. im Folgenden Seite 56 37) Niedergelegt in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", CHRISTIAN von EHRENFELS, Werttheorie und Ethik, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1893/94. Siehe dazu den Vortrag, den von EHRENFELS auf dem letzten Psychologenkongreß gehalten hat und die darauf gefolgte Diskussion. [Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Psychologie, München 1897], Seite 231 - 234. 38) Siehe die von DR. RIESS und von mir auf dem Kongreß erhobenen Einwände, Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Psychologie, München 1897, Seite 233 39) Nur daß man die Bedingungen des wirtschaftlichen Wertes durch die Vergleichung bestimmter Güterquantitäten mit einzelnen konkreten Bedürfnissen ziemlich genau bestimmen kann, während die Erwünschtheit einer Charaktereigenschaft vom Standpunkt der Allgemeinheit und ihr durchschnittliches Vorhandensein etwas völlig Unbestimmtes und Unbestimmbares sind. 40) Vgl. hierzu und zum Folgenden: Kap. IV dieser Abhandlung. 41) Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Psychologie, München 1897, Seite 232, besonders CHRISTIAN von EHRENFELS, Werttheorie und Ethik, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1893/94. 42) Siehe z. B. die ersten drei Paragraphen der Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Ausgabe KEHRBACH, Seite 22 - 31 |