ra-2cr-2Über die EvidenzWert der Wissenschaft    
 
LUJO BRENTANO
(1844-1931)
Die Meinungsverschiedenheiten unter
den Volkswirtschaftslehren


"Fast auf jeder deutschen Universität wird die Volkswirtschaftslehre in einer von der Behandlung der anderen verschiedenen Weise vorgetragen, und wo mehrere Professuren bestehen - zur Verzweiflung der Schüler - oft an derselben Universität. Einer der berühmtesten deutschen Nationalökonomen, Lorenz von Stein, hat den Professor definiert als Jemand, der anderer Meinung ist. Wäre diese Definition zutreffend, so wären die Professoren der Volkswirtschaftslehre offenbar das Ideal der Professoren."

"Statt sich zu beschränken auf die Darlegung dessen, was ist, und des Kausalzusammenhangs, der die Tatsachen verbindet, lehren Viele das, was sein soll. Statt einer Erkenntnislehre vom wirklichen Wirtschaftsleben der Völker geben sie eine Lehre von einer Volkswirtschaft nicht wie sie besteht, sondern wie sie sie herbeizuführen wünschen."

Eine der eigentümlichsten Erscheinungen auf wissenschaftlichem Gebiet ist das weite Auseinandergehen der Lehrmeinungen auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft.

Es ist diese Meinungsverschiedenheit umso auffallender, wenn wir erwägen, wie lange das Wirtschaftsleben schon der Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung ist.

Ich lege dabei kein Gewicht auf die wirtschaftlichen Erörterungen, die wir schon bei den Schriftstellern des Altertums oder Mittelalters finden. Aber schon aus dem 16. Jahrhundert haben wir einige volkswirtschaftliche Schriften moderner Art. Schon 1689 erschienen, um von anderen zu schweigen, die Schriften Sir WILLIAM PETTYs, welche der Kenner heute noch mit Genuß und Bewunderung liest. Schon sind mehr als hundert Jahre verflossen, seit das Werk ADAM SMITHs nach einer lange herrschenden Meinung ewige Wahrheit über das Wirtschaftsleben der Völker geoffenbart hat. Vergleichen wir das Alter anderer wissenschaftlicher Disziplinen, wie z. B. einzelner Zweige der Naturwissenschaft, mit dem der Volksvwirtschaftslehre, so finden wir, daß gerade diejenigen, welche die größten Fortschritte aufweisen, nicht älter, teilweise sogar jünger sind, und doch herrscht in ihnen eine weitgehende Übereinstimmung der Lehrmeinungen.

Wenn wir dagegen heute die Schriften derjenigen mustern, welche sich mit volkswirtschaftlichen Problemen befassen, so stoßen wir auf ein weites Auseinandergehen von Lehren, welches von einer Anerkennung ewiger Wahrheiten sehr weit entfernt ist.

Da finden wir z. B. einerseits die sogenannte Manchester-Schule. In Deutschland und Österreich war sie bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts in der Presse allmächtig; heute allerdings ist die Zahl ihrer Anhänger klein; selbst in ihrem Mutterland, in England, ist sie im Schwinden; nur in Frankreich, wo sie die Akademie beherrscht und deren Einfluß in ihren Dienst gestellt hat, ist sie noch groß. Ihr gegenüber stehen die Sozialisten: RODBERTUS, MARX.

Aber sehen wir von diesen extremen Gegensätzen ab: auch unter den dazwischen Stehenden herrschen große Meinungsverschiedenheiten. Fast auf jeder deutschen Universität wird die Volkswirtschaftslehre in einer von der Behandlung der anderen verschiedenen Weise vorgetragen, und wo mehrere Professuren bestehen - zur Verzweiflung der Schüler - oft an derselben Universität. Einer der berühmtesten deutschen Nationalökonomen, LORENZ von STEIN, hat den Professor definiert als "Jemand, der anderer Meinung ist." Wäre diese Definition zutreffend, so wären die Professoren der Volkswirtschaftslehre offenbar das Ideal der Professoren; indessen erscheint sie lediglich als eine Abstraktion aus dem wissenschaftlichen Zustand des eigenen Fachs.

Woher kommt diese Dissonanz? Wenn die Lehrer auf anderen Gebieten des wissenschaftlichen Erkennens auch einmal über die Lösung einer einzelnen Aufgabe verschiedener Meinung sind, so leben sie doch in der Gewißheit, daß ihre Erörterungen und Untersuchungen sie zur Übereinstimmung führen werden. Daher verfolgen sie ihre Arbeiten voll von großherzigem Eifer, aufrechterhalten vom Glauben und der Hoffnung, die richtige Lösung ihrer Aufgaben zu finden. Mit Leidenschaft suchen sie die Wahrheit und sie wissen, daß, wenn sie dieselbe gefunden haben, ihre Lösung früher oder später von allen angenommen wird. Woher kommt unter denen, die sich mit volkswirtschaftlichen Problemen befassen, ein so weites Auseinandergehen der Lehren? Warum hält ein jeder an seiner Meinung fest, mit der vollen Überzeugung, daß sie niemals mit der der übrigen zusammenkommen wird? Warum besitzen viele, die sich mit volkswirtschaftlichen Fragen beschäftigen, weder jene Hoffnung noch jenen Glauben?

Ein geistreicher Franzose, LÉON DONNAT, hat diese Frage in einem Buch (La Politique expérimentale) von Jahren schon aufgeworfen. Er findet die Antwort auf dieselbe in der Unvollkommenheit der in den politischen Disziplinen bisher zur Anwendung gebrachten Methoden. Es sei nötig, die politischen und volkswirtschaftlichen Wahrheiten ebenso streng zu beweisen, wie die Wahrheiten auf anderen Wissensgebieten bewiesen werden. An einer ähnlich zwingenden Methode habe es auf volkswirtschaftlichen Gebiet bisher gefehlt.

In dieser Antwort liegt viel Richtiges. Es ist kein Zweifel, daß der Nationalökonom bei seinem Forschen weit größere methodische Schwierigkeiten zu überwinden hat als ein Forscher auf irgendeinem anderen Gebiet der Wissenschaft, und daß darin eine wichtige Ursache des Mangels an Übereinstimmung liegt.

Es liegen diese Schwierigkeiten einmal in der größeren Kompliziertheit der Erscheinungen. Sind doch die wirtschaftlichen Tatsachen das Ergebnis des Zusammenwirkens aller natürlichen technischen, sittlichen, rechtlichen und staatlichen Bedingungen, welche das menschliche Leben beeinflussen. Wo so viele Ursachen, die selbst in stetem Wechsel begriffen sind, verändernd eingreifen, stellt die Feststellung des Kausalzusammenhangs und die Abstraktion allgemeiner Sätze aus den Einzelbeobachtungen naturgemäß die allergrößten Anforderungen an die geistigen Eigenschaften des Forschers.

Dazu kommt, daß der Forscher auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet immer selbst ein Teil des Problems bleibt, das er untersuchen und erkennen will. Die Folge ist, daß er Fehlermöglichkeiten zu überwinden hat, wie sie keinem anderen Forscher im Weg stehen. Denn die nationalen Verhältnisse, die Klassenangehörigkeit, die Familienverhältnisse, in denen er aufgewachsen ist, die besonderen individuellen Interessen und Traditionen rufen bei jedem Problem Ideenassoziationen im Forscher hervor, welche sein Hauptaugenmerk vom einen Argument ab- und auf ein anderes in ungebührlichem Maße hinlenken. Da diese Ideenassiziationen bei den verschiedenen Forschern entsprechend ihren Verhältnissen verschieden sind, legt der eine auf das eine, der andere auf ein anderes Argument ein größeres Gewicht, und daher ein großer Teil der Verschiedenheit in den allgemeinen Sätzen, die abstrahiert werden.

Diese Schwierigkeiten werden aber noch weiter dadurch verstärkt, daß der Forscher auf volkswirtschaftlichem Gebiet die meisten der Tatsachen, die er zu verarbeiten hat, nicht wie die Forscher in anderen Wissenschaften selbst beobachten kann, sondern aufgrund der Beobachtung durch andere kennenlernt. In den meisten Fällen sieht sich der ökonomische Forscher bei seinen Untersuchungen auf das Zeugnis anderer unmittelbarer Beobachter beschränkt; er sieht also nur mittelbar und durch die Augen anderer die Mehrzahl der Dinge, die er behandelt, und seine Aufgabe geht dahin, dieses Zeugnis anderer zu sichten, kritisch zu prüfen und daraus Schlüsse zu ziehen. Dadurch kommen zu den Fehlern, denen jede wissenschaftliche Beobachtung ausgesetzt ist und die in der Natur des beobachtenden Forschers ihren Grund haben, noch weitere Fehler, welche der Natur des dem Forscher unterliegenden Zeugnisses anderer entspringen. Und welch' tausendfache Ursachen gibt es nicht, welche in ökonomischen Dingen bewußt und unbewußt ein falsches Zeugnis veranlassen!

Verursachen diese Besonderheiten der volkswirtschaftlichen Forschung außerordentliche methodische Schwierigkeiten, so kommt als weiteres die Überfülle des zu bewältigenden Stoffs hinzu. Wie verhältnismäßig leicht es es manchen Disziplinen dadurch gemacht, daß die Menge der zu bewältigenden Tatsachen und Erscheinungen eine ein für allemal gegebene ist. Im Wirtschaftsleben zeitigt die unaufhaltsam fortschreitende Entwicklung täglich neue Tatsachen, die nach wissenschaftlicher Bewältigung schreien, noch bevor die unendliche Fülle der längst vorhandenen Erscheinungen ihre befriedigende Erklärung gefunden hat.

Allein so groß diese Schwierigkeiten auch sind, so sind sie doch nur ausreichend, um ein langsameres Fortschreiten der volkswirtschaftlichen Erkenntnis, nicht aber um jenen hoffnungslosen Verzicht auf Übereinstimmung zu erklären. Es wird dadurch begreiflich gemacht, daß man zunächst nur einen Teil des Wirtschaftslebens wissenschaftlich abbaut, und dann einen anderen, und daß auf diese Weise nur sehr allmählich die Erkenntnis der Kausalzusammenhänge, welche das Wirtschaftsleben beherrschen, anwächst. Allein unter Anwendung aller die gedachten Fehlermöglichkeiten ausschließenden methodischen Sorgfalt, wäre es bei der Gewissenhaftigkeit und dem Fleiß, welcher die heutige wissenschaftliche Forschung auszeichnet, noch nicht nötig, zu dem Verzicht, "daß jeder Untersuchende zu demselben Ergebnis kommen muß," zu gelangen. Die soeben betonten methodischen Schwierigkeiten des volkswirtschaftlichen Forschers reichen daher nicht aus, um die oben aufgeworfene Frage nach der Ursache der Meinungsverschiedenheit auf volkswirtschaftlichem Gebiet zu beantworten. Der Grund jener Verschiedenheit zwischen der Volkswirtschaftslehre und den übrigen politischen Disziplinen einerseits und den anderen Gebieten der Wissenschaft liegt tiefer.

Der Grund liegt darin, daß Viele die Aufgabe der Volkswirtschaftslehre auf Gebiete ausdehnen, bezüglich deren eine zwingende Methode gar nicht anwendbar ist. Er liegt also in einer verschiedenen Auffassung der Aufgabe ihrer Disziplin.

Was tun die Gelehrten auf anderen Gebieten der Wissenschaft?

Auf allen übrigen Gebieten des Wissens beschränken sie sich auf die Auslegung dessen, was ist. Sie konstatieren die in ihr Wissensgebiet fallenden Tatsachen; sie legen dar, wie diese Tatsachen geworden sind und warum sie so geworden sind. Also: sie sehen ihre Aufgabe lediglich in der Feststellung des Tatsächlichen und in der Darlegung des ursächlichen Zusammenhangs, der die Tatsachen verbindet. Keinem aber fällt ein, lehren zu wollen, wie die Dinge sein sollen. Eben deshalb aber ist ihre Disziplin nicht mehr Wissenschaft, sondern  techne  oder Kunst. Denn alle Wissenschaft beschäftigt sich nur mit dem Erkennen, nicht mit dem Handeln.

Anders in der heutigen Volkswirtschaftslehre, einschließlich der Finanzwissenschaft.

Statt sich zu beschränken auf die Darlegung dessen, was ist, und des Kausalzusammenhangs, der die Tatsachen verbindet, lehren Viele das, was sein soll. Statt einer Erkenntnislehre vom wirklichen Wirtschaftsleben der Völker geben sie eine Lehre von einer Volkswirtschaft nicht wie sie besteht, sondern wie sie sie herbeizuführen wünschen. So verschiedenartig die Interessen, die Vorurteile, die Ideale sind, so verschiedenartig gestalten sich begreiflicherweise diese volkswirtschaftlichen Lehrgebäude und dem entsprechend auch jener oben berührte Verzicht der verschiedenen Volkswirtschaftler, daß Einer den Anderen überzeuge. Denn wo gäbe es eine zwingende Beweismethode, die gegenüber Wünschen, die sich auf das Seinsollende beziehen, zur Anwendung kommen könnte!

Es ist sehr bedauerlich, konstatieren zu müssen, daß dieses Hereinziehen des Seinsollenden in das Gebiet der Volkswirtschaftslehre und damit der hoffnungslose Verzicht auf Übereinstimmung in den beiden letzten Jahrzehnten eher zu- als abgenommen hat.

Die Ursache liegt darin, daß die verschiedenen Volkswirtschaftslehrer vielfach nicht genug Widerstandskraft gegenüber der Sophistik wirtschaftlicher Agitatoren haben aufweisen können. Dies gilt sowohl für die früheren Theoretiker der Manchester-Schule als auch für die des Sozialismus, für diejenigen, welche sich einmal den Postulaten der Freihändler und dann denen der Schutzzollagitatoren ergaben, für diejenigen, welche dem Andrang der Agrarier erlegen sind, wie für diejenigen, welche heute vor dem Anprall des Zünftlertums schwanken.

So ist es beispielsweise begreiflich, wenn ein zielbewußter Sozialist wie RODBERTUS die Erkenntnis des wirtschaftlichen Lebens, wie es wirklich ist, gegenüber der Lehre, wie das wirtschaftliche Leben sein soll, ausdrücklich als etwas vergleichsweise Verächtliches hinstellt. Allein durfte man darüber, daß RODBERTUS als wissenschaftlich gebildeter Mann von Geist nicht geringe Kenntnisse und Talente auf den Unterbau seines Ideals verwendete, übersehen, daß es sich ihm nicht um die Wirklichkeit handelte, sondern um ein Ideal, nicht um ein Erkennen, sondern ein Wollen, nicht um Wissenschaft, sondern um Handeln? Durfte man nun von einem "wissenschaftlichen Sozialismus" im Gegensatz um "wissenschaftlichen Ökonomismus" reden, von einer sozialistischen im Gegensatz zu einer individualistischen "Wissenschaft", die beide dasselbe Beobachtungsobjekt haben? Kein Zweifel, man wollte damit nicht anderes sagen, als daß weder der Sozialismus noch der Ökonomismus oder Individualismus die ganze Wahrheit, wohl aber ein jeder einen vom andern vernachlässigten Teil derselben enthält. Dann sind beide, soweit sie Falsches oder Unzureicendes bieten, nicht "wissenschaftlich", sondern das Gegenteil. Indem man aber beide Anschauungsweise mit dem Beiwort "wissenschaftlich" verband, entstand bei manchen die Vorstellung, als habe man es hier mit Anschauungsweisen zu tun, deren einer oder anderen man je nach dem Standpunkt, auf den man sich stellt, huldigen kann, während man doch bloß sagen wollte, die Forschung habe unter Anerkennung des Wahren, was sowohl der Sozialismus als auch der Individualismus enthält, nach der ganzen Wahrheit zu streben.

Die Gefahr, daß Viele einem solchen Mißverständnis erlägen, ist dann dadurch gesteigert worden, daß andere es geradezu als "die Pflicht und Ehre" der Wissenschaft bezeichnet haben, die großen politischen Fragen der Zeit zwar "über den kleinen Zänkereien und Streitigkeiten der Tagespresse stehend aber "nicht partei- und farblos" zu behandeln; - daß man gesagt hat: "Wie der Chor in der Tragödie der Alten solle sie nicht selbst handeln, sondern getrennt von der Bühne der Handelnden deren Tun mit ihren Betrachtungen begleiten, es messen am Maßstab der höchsten Ideale der Zeit." Dies klingt allerdings zunächst äußerst bestechend, und fast scheint nunmehr der Weg, der zur Übereinstimmung führt, gefunden. Allein in Wirklichkeit wurde damit die Übereinstimmung auf volkswirtschaftlichem Gebiet, statt sie zu fördern, erst recht unmöglich gemacht. denn ist mit den höchsten Idealen der Zeit wirklich ein fester Maßstab gewonnen? Dies wäre doch nur dann der Fall, wenn die Ideale der zeit etwas wären, bezüglich dessen auch nur eine annähernde Übereinstimmung stattfände. Daß dies nicht der Fall ist, wird nun nicht einmal bestritten. Ist man sich dieses Auseinandergehens aber bewußt, so heißt diese Forderung nichts anderes als ein bewußtes Abweichen vom streng wissenschaftlichen Forschen verlangen, indem vom Forscher Ideenassoziationen verlangt werden, welche den Hauptnachdruck auf eine gewisse Reihe von Argumentenn zu Ungunsten einer anderen Reihe entgegenstehender legen. Verträt sich dies wirklich mit wahrer Wissenschaft? In allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen sieht man in der Einwirkung von Ideenassoziationen, welche das Augenmerk auf nur eine Seite der Frage lenken, eine Hauptursache, welche der Erkenntnis der Wahrheit störend im Weg steht; man beklagt sie als eine leider häufige Folge der menschlichen Schwäche des Forschers und macht das Ankämpfen dagegen zu dessen oberster Pflicht; jene Anforderung, die großen Fragen der Zeit am Maßstab der höchsten Ideale der Zeit zu messen, macht aber solche Schwächen geradezu zu einem Erfordernis des volkswirtschaftlichen Forschers.

Bei dem weiten Auseinandergehen jener Ideale - von NIETZSCHE bis BEBEL - ist dann die notwendige Folge die Bekämpfung nicht der Argumente, sondern der Gesinnung des wissenschaftlichen Gegners. Von der Bekämpfung der Gesinnung aber ist dann nur ein kleiner Schritt zur Verdächtigung. Und damit erklärt es sich dann, daß, wenn einer sagt: der größere Bruchteil der deutschen Bevölkerung lebt heute nicht mehr von der Landwirtschaft, sondern von Industrie und Handel, der Hauptreichtum Deutschlands wird heute aus diesen Erwerbszweigen gewonnen und die Haupteinnahmen des Reiches und der Staaten fließen aus den in ihnen gewonnenen Einkommen, folglich liegt der Schwerpunkt der deutschen Volkswirtschaft heute nicht mehr in der Landwirtschaft - daß er dann nicht durch die Widerlegung seiner Begründung, sondern durch die Anklage bekämpft wird, daß er ein Feind der Landwirtschaft sei. damit erklärt es sich, daß demjenigen, der bestreitet, daß das Anerbenrecht [ein einziger Erbe zur Erhaltung des Hofs - wp] unter den heutigen Verhältnissen zur Erhaltung des Bauerstands führt, nicht das Irrige seiner Argumente dargetan, sondern von ihm gesagt wird, er wolle den Untergang des Bauernstands. Und haben wir nicht schon die letzten Konsequenzen jener Lehre darin erlebt, daß man das private Leben der Vertreter entgegenstehender Lehrmeinungen heranzieht, um deren Verwerflichkeit darzutun, ja daß man an ihren Portraits die Verbrecherphysiognomie der Originale und damit das Irrige ihrer Lehre nachzuweisen versucht hat!

Am deutlichsten aber zeigt uns die ganze Entwürdigung der Wissenschaft, wenn sie sich jene Auffassung aneignen würde, gerade das Heranziehen des Chors der antiken Tragödie als eines Vorbilds. Denn vergegenwärtigen wir uns die Rolle, die der Chor spielt, an einer der berühmtesten Tragödien. Da ist KREON, der soeben die Berechtigung seines Einschreitens gegen ANTIGONE in einer längeren Rede auseinandergesetz hat, und alsbald fällt der Chor ein:
    "Uns scheint, sofern das Alter nicht den Sinn betrügt,
    Daß Du mit Einsicht sprachest, was mir angehört,"
aber nachdem HÄMON dem KREON geantwortet hat, fährt der Chor fort:
    "O Herrscher! billig mußt Du, sagt er Treffendes,
    Ihn hören, Du den Vater: beide spracht ihr gut."
Oder - wenn ANTIGONE, um lebendig begraben zu werden wehklagend abgeführt wird, ruft der Chor ihr nach:
    "An der Herrschermacht
    Zu freveln, stehet nimmer frei;
    Gestürzt hat dich der eigene Starrsinn."
Nachdem aber eben diese Versündigung der Herrschermacht KREONs an ANTIGONE zu der entsetzlichsten Katastrophe geführt hat, lautet die Weisheit des Chors:
    "Am Göttlichen darf Nie freveln der Mensch!
    Großsprecherich Wort
    Der Vornehmen fühlt den gewaltigen Schlag
    Der bestrafenden Hand
    Und lehret im Alter die Weisheit."
Da frägt es sich dann doch: ist dieses zittrige Schwanken und mattherzige Nachhinken wirklich die Rolle, welche die Volkswirtschaftswissenschaft sich zum Muster nehmen soll? SOPHOKLES ist es jedenfalls nicht, dem die Wissenschaft bei diesem Chor vorgeschwebt hat. Der Chor vertritt ihm die öffentliche Meinung, deren Urteil unter dem Eindruck des zuletzt Geschehenen steht. Die Rolle der Wissenschaft dagegen vertritt der Seher TIRESIAS, der das Tun der Handelnden an der Lehre mißt, die aus dem Überblick über den Gang der ganzen Entwicklung hervorgeht. Und wenn die Beobachtungen, aus denen er die Zukunft deutet, auch andere sind als diejenigen, welche auch der modernen Wissenschaft nicht selten ein Vorherwissen gestatten, so ist doch sein Rat gleich dem, den sie geben soll, kein solcher, der sich auf irgendwelche Ideale, d. h. auf das Wünschen der Menschen, sondern auf den Willen der Götter, d. h. auf die der Natur der Dinge abgelauschten Gesetze, zu gründen bemüht ist.

Aber freilich verfällt TIRESIAS dem Schicksal, das nur zu oft die Wissenschaft, die unbekümmert um Gunst oder Ungunst ihre Meinung spricht, trifft: KREONs Antwort auf die unwillkommene Botschaft ist die Verdächtigung. Denn KREON will, daß die öffentliche Meinung sein Vorgehen billigt; er will die Auffassung der öffentlichen Meinung bestimmen und haßt und schmäht alles, was sie davon ablenken könnte. Bei dieser Rolle KREONs hat man aber heute keineswegs nur an leitende Staatsmänner zu denken. Es ist nur mehr selten, daß wirkliche Staatsmänner sich noch dieser Rolle des KREON vergessen. Weit mehr sind es heute die verschiedenen Interessen, die um die Herrschaft ringen, denen heute diese Rolle KREONs zufällt. Und wer, wie ich, die letzten 25 Jahre als Professor der Volkswirtschaftslehre auf einem exponierten Posten durchlebt hat, an den ist KREON während derselben in der mannigfachsten Gestalt und mit den entgegengesetztesten Forderungen häufig herangetreten. Denn wie wechselnd sind nicht die Strömungen gewesen, welche während dieser Zeit die öffentliche Meinung beherrscht haben, und wie unendlich mannigfaltig die Ideale, die innerhalb derselben nach der Herrschaft gerungen haben!

Als ich vor 25 Jahren zuerst das Katheder betrat, waren die den "Chor" in Deutschland beherrschenden Ideale, die des sogenannten Manchestertums. Mit diesen Idealen standen in der zu Recht bestehenden Wirtschaftsordnung den Arbeitern zuerkannte Ansprüche im Widerspruch; und, da ich für dieses Recht der Arbeiter eintrat, welche Intrigen gegen meine Lehrtätigkeit, welche Denunziationen und Verdächtigungen hatte ich nicht zu erfahren! Auf der anderen Seite aber suchten die Sozialdemokraten die öffentliche Meinung zu erobern; da ich den Nachweis führte, daß auch auf der Grundlage der heutigen Wirtschaftsordnung ein Aufsteigen der Arbeiterklasse möglich ist, trat ich mit ihren nach einer radikalen Umgestaltung der bestehenden Ordnung verlangenden Idealen in Gegensatz, und mein Lohn waren von da an bis in die neueste Zeit Schmähungen jeglicher Art. Auf die Herrschaft des Manchestertums folgte gegen Ende der siebziger Jahre die Aera des Hochschutzzolls und des Sozialistengesetzes, um zu Beginn der neunziger Jahre wiederum der Politik der Handelsverträge und der kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890 Platz zu machen. Wie achtunggebietend wäre es nicht für die Wissenschaft gewesen, hätte sie als Chor jeden dieser Wechsel in den herrschenden Idealen mit ihrer Zustimmung begleitet! Seitdem ist die Durchführung der in den kaiserlichen Erlassen in Aussicht gestellten Politik bekanntlich wieder verschoben worden. Und abermals wurde von Vielen gefordert, daß die Wissenschaft einschwenke. Noch in aller Erinnerung ist das Vorgehen es Freiherrn von STUMM-HALBERG aus Anlaß der Umsturzdebatte gegen die Professoren, welche diesem neuen sozialpolitischen Umschwung nicht huldigten. Aber nicht nur den Idealen dieses großindustriellen KREON soll der Volkswirtschaftslehrer genügen. In der  Deutschen Handwerkerzeitung  wurde um dieselbe Zeit der Vorwurf erhoben, die Professoren der Nationalökonomie befänden sich bereits zu sehr im Bann des Großkapitals. Die Redaktion hat diesen Vorwurf allerdings zurückgewiesen, allein in der Nummer vom 30. März 1895 hat sie selbst einen Aufruf "an die Deutschen Handwerker und ihre Freunde" erlassen, in dem es heißt:
    "Jede Bewegung bedarf eines wissenschaftlichen Leitsterns. Die Sozialdemokraten haben ihren KARL MARX; die Manchesterleute ihren ADAM SMITH; die Schutzzöllner ihren FRIEDRICH LIST und HENRY CAREY; die Bodenreformer ihren HENRY GEORGE und MICHAEL FLÜRSCHEIM; die Bimetallisten ihren Dr. AHRENDT und die Goldmänner ihren SOETBEER. Die Handwerkerbewegung ist in dieser Art noch ohne wissenschaftlichen Leitstern."
An anderer Stelle verweist die Redaktion die deutschen Handwerker auf das Beispiel des Bundes der Landwirte. Dieser habe es verstanden, sich planvoll mit einem Stab von Gelehrten der Volkswirtschaft zu umgeben, wohl wissend warum. So soll auch der Handwerker in persönliche Beziehungen zu den Professoren der Volkswirtschaft treten, damit eine "wissenschaftlich geschlossene Volkswirtschaftslehre für die Wiedergeburt des Handwerks auf Grundlage eines Befähigungsnachweises und der obligatorischen Innung" ersteht. Niemals habe ich eine größere Demütigung meiner Wissenschaft empfunden, als da mir diese Blätter seitens der Redaktion der "Handwerkerzeitung" zur Kenntnisnahme zugesandt wurde, und nur eines tröstete mich: fast gleichzeitig wurde mir von anderer Seite die Mitteilung gemacht, daß der Bund der Landwirte eine systematische Aktion gegen die Professoren der Volkswirtschaftslehre beschlossen habe, um sie zur Vertretun seiner Ansprüche zu nötigen, und die Nummern der Korrespondenz des Bundes der Landwirte wurden mir zugesandt, in denen dementsprechen gegen mich und andere vorgegangen wurde. Da sah ich dann also, daß meine Wissenschaft noch nicht so tief gesunken war, wie es nach den Ausführungen der "Deutschen Handwerkerzeitung" den Anschein hatte. Aber andererseits zeigte sich in dieser Korrespondenz des agrarischen Bundes abermals ein Ideal, dem die Volkswirtschaftswissenschaft als "Chor" sekundieren sollte, und hätte ich davon nicht Kenntnis genommen, so hätte das Toben der Agrarier im bayrischen Landtag mir das, was von mir verlangt wird, noch näher gebracht.

Also den Idealen der Freihändler und denen der Sozialdemokraten, denen der Schutzzöllner und denen der Vertreter des Sozialistengesetzes, denen der Handelsvertragspolitiker, denen der kaiserlichen Erlasse und denen jeder, welche für die Nichtausführung derselben eintreten, denen der Innungsleute genügen. Das ist die konsequente Verwirklichung der Auffassung, wonach die Wissenschaft nicht partei- und farblos sein, sondern wie der Chor in der Tragödie das Tun der Handelnden mit seinen Betrachtungen begleiten und es messen soll am Maßstab der höchsten Ideale der Zeit. Da aber selbst die virtuoseste Versatilität [Wandelbarkeit - wp] einer Person außerstand sein dürfte, allen diesen Anforderungen zu genügen, so bleibt nichts übrig, als an jeder Universität eine besondere Professur zur Vertretung einer jeden dieser Auffassungen zu errichten: eine manchesterliche Professur der Nationalökonomie und eine sozialdemokratische, eine schutzzöllnerische, eine antisozialistische, eine staatssozialistische, ein, die den Standpunkt der Fabrikneutralität vertritt, eine für einen Vertreter der Innungsleute und deine für einen agrarischen Nationalökonomen. Und diese Professoren sollen alle denselben Gegenstand erforschen, um alle Entgegengesetztes über denselben zu lehren!

Der Grund dieser Verirrung ist aber lediglich der, daß man, statt sich auf die ohnehin schon so schwierige Erkenntnis des Seienden zu beschränken, die Lehre, wie die Volkswirtschaft sein sollte, in das Gebiet der Disziplin gezogen und damit von dem Boden, auf allein zwingende Beweise möglich sind, sich entfernt hat. Dies ist die Ursache des bisherigen relativ geringen Fortschritts der Wirtschaftswissenschaft. Dies ist die Ursache des Mangels an Übereinstimmung unter ihren Lehrern und jenes hoffnungslosen Verzichts, eine Übereinstimmung herbeizuführen, von dem ich bei meiner Betrachtung ausgegangen bin. Es ist daher mit Freuden zu begrüßen, daß auch diejenigen, von denen der hier bekämpfte Satz aufgestellt wurde, die Wissenschaft solle gar nicht partei- und farblos die großen politischen Fragen der Zeit behandeln, sondern wie der Chor in der antiken Tragödie das Tun der Handelnden messen an den höchsten Idealen der Zeit, heute einlenken und dafür einzutreten scheinen, daß die Untersuchung darauf verzichte, Ideale aufzustellen, ein Sollen zu lehren; sie soll nur  feststellen  und  erklären. 

Nun höre ich aber den Einwand, den viele erheben werden: Die Volkswirtschaftslehre, wird man sagen, ist eine Lehre, die gerade das praktische Handeln zum Gegenstand hat. Entzieht sie sich der Aufgabe, zu sagen, wie das Wirtschaftsleben sein soll, so verfehlt sie ihre Hauptaufgabe. Sie unterläßt gerade das, weswegen sie da ist.

Allein nichts wäre unzutreffender als eine solche Argumentation. Denn dadurch, daß die Volkswirtschaftslehre sich auf die Erkenntnis des Seienden beschränkt, fehlt den Sätzen, zu denen sie gelangt, keineswegs die praktische Bedeutung - ebensowenig wie die Sätze der Chemie, seitdem sie aufgehört hat, den Stein der Weisen zu suchen, der praktischen Anwendbarkeit entbehren.

Allein die praktische Verwertung der gewonnenen Lehrsätze ist nicht Sache des Theoretikers. Auch der Mathematiker oder Chemiker hüten sich, aus ihren theoretischen Lehrsätzen praktische Lehren zu ziehen, die allgemein Anwendung finden sollen. Denn die praktische Verwertung ihrer Lehren wird bedingt durch die jeweiligen konkreten Verhältnisse, die von tausendfältiger Mannigfaltigkeit sein. So ist auch die praktische Verwertung der Lehren der Wirtschaftswissenschaft entsprechend den besonderen konkreten Verhältnissen die Sache des praktischen Staatsmannes.

Aber eben wie die Lehren der einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinenn erst eine praktische Verwertbarkeit erlangten, seitdem sie sich auf die Untersuchung des Seienden und seiner Existenzbedingungen beschränkten, so werden auch die Lehren der Wirtschaftswissenschaft nur anwendbar, wo sie dem ansich Wünschenswerten nicht nachjagt.

Was ist es, was der Staatsmann alsdann von ihr lernen kann?

Sie lehrt ihn einmal, was war und warum es so war, wie es war. Indem sie das tut, zeigt sie ihm erstens, wie und warum die heutigen wirtschaftlichen Zustände so geworden sind, wie sie sind. Dies ist das erste Erfordernis, um die Gegenwart verstehen und dementsprechend erfolgreich handeln zu können. Sie zeigt ihm ferner damit die Erfahrungen, die man mit dieser oder jener Politik, dieser oder jener Maßregel, unter den einen oder anderen Verhältnissen gemacht hat, und stellt ihm damit, wo es praktisch zu handeln gilt, den Erfahrungsschatz der Vergangenheit zur Verfügung.

Sie lehrt ihn zweitens, was ist. Sie zeigt ihm die Dinge, wie sie wirklich sind - unvoreingenommen von einer Parteifärbung, Interessen und Wünschen. Sie zeigt sie in ihrer Bedingtheit durch Territorium, Bevölkerung, Technik, Sitte, Recht, Verfassung, Verwaltung, völkerrechtliche Beziehungen und Absatzverhältnisse. Sie zeigt ihm dabei, welche Konsequenzen sich aus diesen Grundbegingungen, namentlich aus der bestehenden Rechtsordnung ergeben, wenn diese aufrechterhalten und dabei bestimmte Ziele, die man ausdrücklich als erstrebenswert bezeichnet hat, erreicht werden sollen.

Sie lehrt ihn aber drittens noch mehr: sie gibt ihm Fingerzeige für die Zukunft. Denn der wissenschaftlich Gebildete sieht nicht bloß die Wogen, welche der Wind der Gegenwart schlägt; er übersieht den Strom der ganzen Entwicklung von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Dadurch lernt er nicht nur diese als etwas erkennen, was, ebenso wie es früher anders war, in Zukunft anders sein wird, als ein bloßes Stadium in einem Entwicklungsprozeß, sondern diese Kenntnis des Werdegangs und der Bedingungen, die ihn bestimmten, setzt ihn auch instand, begründete Vermutungen über diese Zukunft aufzustellen, also eine Zukunft zu lehren, nicht wie sie entsprechend irgendwelchen Wünschen oder Idealen sein soll, sondern wie sie aus der Richtung der Entwicklung und den Bedingungen, unter denen diese stattfindet, hervorgeht. Schon vor mehr als 200 Jahren hat Sir WILLIAM PETTY, der eigentliche Vater einer Volkswirtschaftswissenschaft, geschrieben:
    "Wie die weiseren Ärzte nicht allzu störend in den Organismus des Patienten eingreifen, sondern, statt den Regungen ihrer Natur mit allzu kräftigen eigenen Mitteln entgegenzutreten, dieselben vielmehr beobachten und ihnen zu genügen bestrebt sind, so muß dasselbe auch in der Politik und Ökonomie gelten."
Nicht  der  Staatsmann wird erfolgreich sein, welcher einer durch die Verhältnisse bedingten Entwicklung entgegenarbeitet; es kann sich nur darum handeln, den Strom so zu leiten, daß er, indem er seinem Ziel zuschießt, die wertvollsten Errungenschaften der Nation und der Kultur nicht mit sich fortreißt. Wie aber schon BACON gesagt hat, kann nur der die hierzu nötige Macht über die Entwicklung erlangen, welcher ihr zu gehorchen versteht. Wer sich ihr entgegenstemmt, wird von ihr fortgerissen. Bedürfte es noch eines Belegs für die Richtigkeit dieser Auffassung, so gäbe sie uns die neueste Geschichte der Einigung des deutschen Reiches.

Allein, so höre ich fragen, fällt die Volkswirtschaftslehre, indem sie in dieser Weise der praktischen Politik Fingerzeige gibt, nicht in den Fehler zurück, der als die Hauptursache der Meinungsverschiedenheit ihrer Lehrer hier bekämpft worden ist? Verfällt sie, indem sie Ratschläge erteilt, nicht abermals in ein Wünschen? Der Einwand übersieht, daß ein großer Unterschied zwischen Ratschlägen und Ratschlägen besteht. Er wäre nur dann berechtigt, wenn die Volkswirtschaftslehre sich bei ihren Ratschlägen statt den Tatsachen der Wirklichkeit von irgendwelchen Idealen und beim Bild von der Zukunft, der die Entwicklung entgegentreibe, statt von der Vorstellung, wie die Zukunft sein werde, von der, wie sie sein solle, statt vom Ergebnis einer voraussetzungslosen Forschung von einem Glauben, einer individuellen Weltanschauung leiten ließe. In diesem Fall allerdings würden ihre Lehren auf einer vorgefaßten Meinung beruhen, und der Forscher wäre an die Untersuchung gegangen, um deren Bestätigung zu finden; damit hätte er gegen die ersten Regeln aller wissenschaftlichen Forschung verstoßen. Ganz anders, wo sich ihm seine Lehren erst aus einer durch keinerlei Wollen und Wünschen befangenen Untersuchung ergeben. So sehr auch die Traditionen, in denen der Einzelne aufgewachsen ist, seine Interessen, seine Parteiangehörigkeit und nicht im mindesten seine Lieblingsideen dem Forscher erschweren mögen, eine solche unbefangene Untersuchung geführt wird, da ergeben sich daraus auch mit Notwendigkeit praktische Lehren. Für diese aber trifft dann also jener Einwand nicht zu. Denn von solchen Lehren läßt sich nicht sagen, sie beruhten auf einem Glauben oder einer individuellen Weltanschauung; vielmehr beruth umgekehrt die Anschauung, die sich daraus ergibt, erst auf ihnen. Ich möchte dies an einem Beispiel deutlicher machen.

Seit 25 Jahren habe ich immer und immer wieder gelehrt, daß die heutige Wirtschaftsordnung das Bestehen von Arbeiterorganisationen zu einer selbständigen Wahrung der Arbeiterinteressen erfordert. Wie bin ich zu dieser Lehre gekommen? Zuerst habe ich untersucht, wie es früher gewesen ist. Da fand ich, daß bereits seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine besondere Arbeiterklasse entstand. Sie entstand allenthalben, wo die von den Zünften eingeführten Erschwerungen es einer großen Anzahl von Gesellen unmöglich machten, jemals Meister zu werden. Damit entstanden besondere Geselleninteressen, den Interessen der Meister vielfach entgegengesetzt waren, und allenthalben, wo dies der Fall war, bestanden teils anerkannt, teils geduldet, teils entgegen ausdrücklichen Verboten besondere Organisationen zur Wahrnehmung dieser Geselleninteressen, die Gesellenbrüderschaften oder Gesellenladen. Darauf folgte die Bestätigung der alten gewerblichen Ordnung. Sie war getragen von einer Idee und von materiellen Interessen. Die Idee war die, daß die alte ordnung "das erste, das heiligste, das unverjährbarste" Recht des Menschen, sich durch Arbeit sein Brot zu erwerben, zugunsten relativ weniger Privilegierter beeinträchtige. Das Interesse war das der Großindustrie, welche aus den durch den Druck der veränderten Absatzverhältnisse hervorgerufenen Veränderungen in der Technik erwachsen war. Das Interesse dieser Großindustrie verlangte die Freiheit, und von ihm getragen gelangte jene Idee zum Sieg: Es kam die Gewerbefreiheit und mit ihr der sogenannte freie Arbeitsvertrag. Allein während damit einerseits das Recht des Arbeiters, sein Interesse nach Gelegenheit gleich jedem anderen zur Geltung zu bringen, anerkannt wurde, wurde ihm andererseits die dazu nötige Organisation aufs Neue verboten. Statt zum Aufsteigen der Arbeiterklasse führte sie zu einer Verschlechterung ihrer Lage, und zwar umso mehr, als gleichzeitig ihren Gegenkontrahenten beim Abschluß des Arbeitsvertrages die Organisation tatsächlich gestattet blieb. Dieser Widerspruch zwischen den vom geltenden Recht prinzipiell anerkannten Ansprüchen der Arbeiter und der Möglichkeit, dieselben geltend zu machen, führte allenthalben zu Bewegungen, die auf einen Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtet waren. Umgekehrt aber erstarben unter den Arbeitern alle revolutionären Gelüste, wo immer Berufsorganisationen ihnen die Möglichkeit boten, auf der Grundlage des Bestehenden ihre lage zu bessern. Damit zeigte sich eine große Gefahr als beseitigt, welche unser gegenwärtiges Entwicklungsstadium, in dem wir uns befinden? Die Beobachtung zeigt, daß wie seit dem Ausgang des Mittelalters die steigende Bedeutung des beweglichen Besitzes ein allmähliches Aufsteigen des Bürgertums mit sich brachte, so die technischen und wirtschaftlichen Veränderungen heute, indem sie die bloße Lohnarbeit zum einzigen Einkommenszweig eines immer größeren Bruchteils der Nation machen, der Arbeiterklasse eine steigende Wichtigkeit beilegen. Jenes Aufsteigen des Bürgertums hat damals dazu geführt, daß die Regierenden fortan durchtränkt von bürgerlichen Gesichtspunkten regierten. Damit haben sie sich am Ruder erhalten. So gilt es auch heute, um die mit dem Aufsteigen der Arbeiterklasse verbundenen Gefahren zu vermeiden, deren Interessen in steigendem Maße zu berücksichtigen. Die Erfahrung aller Zeiten aber zeigt als die größte Klugheit die Gerechtigkeit und als die beste Grundlage für die Erhaltung der bestehenden Ordnung eine Gesetzgebung, welche den Gesellschaftsklassen Sonne und Wind gleichmäßig zuteilt.

Zu dieser Lehre bin ich aber nicht etwa ausgehend von einem Glauben, einer individuellen Weltanschauung gekommen. Sie entspricht weder den Traditionen und persönlichen Verhältnissen, aus denen ich hervorgegangen bin, noch auch der wissenschaftlichen Anschauung, in der ich herangebildet wurde. Mit diesen hat sie nichts gemein als die mir allerdings von Jugend auf eingeprägte Pflicht, rückhaltlos nach der Erkenntnis der Wahrheit zu streben. Ich möchte es bezweifeln, ob man von dieser Lehre überhaupt als von einer Weltanschauung reden kann. Will man dies aber tun, so ist diese nicht der Ausgangspunkt, sondern das Ergebnis meiner wissenschaftlichen Forschung. Kommt aber jemand, der dies bestreitet, so beruth auch seine Behauptung entweder auf einem Erkennen oder einem Wollen. Entweder er sieht Fehler, die bei meiner Forschung mit unterlaufen sind. Dann ist er imstand, diese Fehler, die das Ergebnis meiner Forschung über den Haufen werfen, aufzudecken. Dann kann ich die Mitteilung derselben verlangen, und, sobald der Nachweis geführt ist, werde ich der erste sein, meine Lehre zurückzunehmen. Oder aber er kann solche Fehler in der Begründung meiner Lehre nicht nachweisen. Dann bleibt nur die Annahme, daß zwar nicht mein Ergebnis, wohl aber der Widerspruch meines Kritikers auf einem Glauben, einer individuellen Weltanschauung beruhe, und daß er jenem nur deshalb nicht zustimmt, weil es mit seinen Idealen, seinen Wünschen nicht übereinstimmt. Dann also beruth sein Widerspruch lediglich auf einem Wollen. Er steht dann wissenschaftlich auf keiner anderen Linie, wie wenn kurzsichtige Vertreter des einseitigen Arbeitgeberinteresses oder Revolutionäre, welche von keiner Reform innerhalb des Bestehenden etwas wissen wollen, meiner Lehre die Anerkennung versagen. Und damit wären wir wieder bei meiner These, daß das Wollen und Wünschen bezüglich des Seinsollenden, wie dasselbe durch Interessen, Vorurteile und Ideale veranlaßt wird, als das Haupthindernis der Übereinstimmung der Volkswirtschaftslehrer sich darstellt.

Ich komme zum Schluß. Wir haben gesehen, daß es außerordentliche Schwierigkeiten sind, welche der wissenschaftlichen Forschung auf volkswirtschaftlichem Gebiet im Weg stehen. Diese stellt die strengsten Anforderungenn nicht nur an den Verstand des Forschenden, sondern auch an seinen Charakter. Denn nicht nur, daß die Natur der zu beobachtenden Erscheinungen die größten Schwierigkeiten dem Forscher entgegenstellen; außerdem macht sich eine Reihe von Gefühlen als Hemmnis der wissenschaftlichen Erkenntnis geltend. Manche dieser Gefühle, wie z. B. die, welche aus egoistischen Sonderinteressen hervorgehen, sind ansich bedenklicher Natur; aber noch weit größere Schwierigkeiten machen die Gefühle, die so vortrefflich, ja so unentbehrlich für das praktische Leben sind, daß wir es auf das Äußerste beklagen würden, wenn sie nicht dasselbe beherrschten. daß der Einfluß der ersteren zurückzuweisen sei, gibt nämlich jedermann zu; und doch sind die zweiten, so hochachtbar und so wünschenswert für das praktische Leben sie auch sein mögen, nicht minder verwerflich, wo sie sich als Hemmnis in die wissenschaftliche Forschung eindrängen. Die wissenschaftliche Forschung kennt nur ein Ziel: die Erkenntnis der Wirklichkeit. Diesem einen Ziel muß sie mit unerbittlicher Strenge alles und jedes unterordnen: das eigene Ich des Forschers mit all seinem egoistischen Fühlen und Streben, seinen Meinungen, seinen Lieblingsideen, seinen Interessen. Kein Heiligtum darf ihr heiliger sein als die Wahrheit. In alles muß sie eindringen; vor keiner Prüfung oder Zergliederung darf sie zurückschrecken, mag das zu Prüfende dem Forscher durch Ehrfurcht, Liebe, Patriotismus, Loyalitätsgefühl, Religion oder Parteistellung noch so sehr ans Herz gewachsen sein. Und rückhaltlos hat sie auszusprechen, was die Prüfung ergeben hat, ohne Rücksicht auf Vorteil oder Nachteil, ohne Gier nach Lob und ohne Furcht vor Tadel.

Folgt die Volkswirtschaftslehre aber dieser ersten Forderung aller wissenschaftlichen Forschung entsagt sie der Lockung, Idealen nachzujagen und von deren Standpunkt aus parteiisch zu urteilen, kurz verzichtet sie auf alles, was nicht Aufgabe der Wissenschaft ist und deren Aufgabe niemals sein kann, sondern stellt sie sich allen Erscheinungen, denen der Natur wie des menschlichen Lebens, die des eigenen Lebens des Forschers mit inbegriffen, gegenüber, als hätten sie gar keinen Zweck, als beobachtet und in ihrem ursächlichen Zusammenhang dargelegt zu werden, dann ist nicht einzusehen, warum es nicht dem menschlichen Geist gelingen sollte, auch der außerordentlichen Schwierigkeiten Herr zu werden, welche der wissenschaftlichen Erkenntnis des Wirtschaftslebens und der Übereinstimmung der Wirtschaftslehrer im Weg stehen.
LITERATUR Lujo Brentano, Die Meinungsverschiedenheiten unter den Volkswirtschaftslehren, Cosmopolis - Revue international, Paris 1896