EMIL WILLE Kants Lehre von der ursprünglich- synthetischen Einheit der Apperzeption
"Warum aber heißt die synthetische Einheit der Apperzeption eine ursprüngliche? Weil sie diejenige Einheit ist, welche der Verstand mit seiner Synthesis dem Mannigfaltigen in Beziehung auf die Apperzeption ursprünglich und von selbst erteilt. Weil sie also aus einer ursprünglichen Handlung (der Synthesis) hervorgeht. Eine ursprüngliche oder spontane Handlung ist eine solche, welche eine Reihe von Begebenheiten schlechthin und von selbst anfängt, d. h. welche Ursache ist, ohne selbst eine Ursache zu haben, oder welche Wirkungen hat, ohne selbst Wirkung zu sein. Eine solche Handlung kann keine Gegenstand der Sinnenwelt beigemessen werden, sondern nur einem intelligiblen Gegenstand. Als letzteren aber erkennt der Mensch sich selbst, in Anbetracht gewisser Vermögen, des Verstandes und der Vernunft."
"Wir haben gesehen, daß dieselbe synthetische Einheit des Mannigfaltigen, welche die Bedingung bildet, unter der es zur Erkenntnis wird, auch die Bedingung ausmacht, unter der es in einer Apperzeption vereinigt werden kann. Da nun diese Vereinigung der Hauptzweck der synthetischen Einheit und die Erkenntnis nur ihr bewirktes Ende ist, so hat man ein Recht, den Satz umkehrend, zu behaupten, daß dieselbe synthetische Einheit des Mannigfaltigen, welche die Bedingung ausmacht, unter der es in einer Apperzeption vereinigt werden kann, auch die Bedingung bildet, unter der es zur Erkenntnis wird."
KANT und immer KANT! Mit Verlaub, haben Sie ihn denn schon so gut begriffen? Auch seine Lehre von der Apperzeption und deren synthetischer Einheit? Dann haben Sie mehr begriffen, als irgendeiner von denjenigen, welche bisher darüber geschrieben haben. Denn ich behaupte allen Ernstes: Was in den Geschichten der Philosophie und anderswo über diese Lehre vorgebracht wurde, ist falsch oder verworren oder nichtssagend.
"Wenn wir", sagt Schopenhauer, "Kants Äußerungen zusammenfassen, werden wir finden, daß, was er unter der synthetischen Einheit der Apperzeption versteht, gleichsam das ausdehnungslose Zentrum der Sphäre all unserer Vorstellungen ist, deren Radien zu ihm konvergieren. Es ist, was ich das Subjekt des Erkennens, das Korrelat all unserer Vorstellungen nenne, und ist zugleich das, was ich als den Brennpunkt, in welchem die Strahlen der Gehirntätigkeit konvergieren, ausführlich beschrieben habe."
Hiernach wäre also die synthetische Einheit der Apperzeption das Subjekt, das Ich, welches die Vorstellungen hat. Das ist falsch, grundfalsch!
Den späteren Erklärern allein ist sie einerlei mit der transzendentalen Apperzeption oder dem Selbstbewußtsein, d. h. der Vorstellung Ich oder Ich denke. Wenn TRENDELENBURG (in den logischen Untersuchungen) behauptet, KANT leite alle Einheit in der Anschauung und im Urteil von der synthetischen Einheit der Apperzeption ab, so ersehen wir aus seiner Auseinandersetzung, daß er meint, KANT leite sie von einem "Ich denke" ab; woraus sich erhellt, daß er jene diesem gleichsetzt.
Ebenso KUNO FISCHER(in der zweiten Auflage seines "Kant"):
"Das reine Bewußtsein ist, näher bestimmt, das reine ursprüngliche Selbstbewußtsein, welches Kant transzendentale Apperzeption (synthetische Einheit der Apperzeption, transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins usw.) nennt."
Soll also alles ein und dasselbe sein? Und in der soeben erschienenen (dritten Auflage von Fischers Werk lesen wir, "notwendige Einheit der Apperzeption" nenne KANT das ursprüngliche Selbstbewußtsein. Und wir lesen ferner:
"Daß uns die Welt, die wir vorstellen, stets als dieselbe erscheint, und wir in der gegenwärtigen Sinnenwelt dieselbe wiedererkennen, die wir von jeher vorgestellt haben, davon liegt der tiefste Grund in der Identität und Unwandelbarkeit des reinen Bewußtseins oder, wie Kant sagt, in der transzendentalen Einheit der Apperzeption."
Auch HERMANN COHEN(in seinem Jugendwerk "Kants Theorie der Erfahrung") wirft Apperzeption und synthetische Einheit der Apperzeption in einen Topf.
"Um irgendetwas im Raum zu erkennen, lehrt Kant, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen und also eine bestimmte Verbindung des Mannigfaltigen synthetisch zustande bringen, so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriff einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt, ein bestimmter Raum, erkannt wird."
Hierzu bemerkt nun COHEN:
"Es entsteht also die Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Ziehens der Linie, und sie besteht im Begriff der Größe, unter welche die Linie subsumiert wird. So fällt die transzendentale Apperzeption mit der synthetischen Einheit, welche in der Kategorie enthalten ist, zusammen; und daher kommt es, daß jene in der zweiten Auflage vorzugsweise die synthetische Einheit der Apperzeption genannt wird."
COHEN glaubt nämlich, unter Einheit des Bewußtseins sei hier die transzendentale Apperzeption zu verstehen. Dann freilich würde sich ergeben, daß die Einheit der Synthesis, also die synthetische Einheit, zugleich diese Apperzeption wäre. Wir werden jedoch nachher sehen, daß hier die "Einheit des Bewußtseins" etwas ganz Anderes heißt, und somit diese Stelle keine Stütze für COHENs seltsame Ansicht bildet.
Alle diese Auslegungen, sage ich, sind falsch, grundfalsch! Die "synthetische Einheit der Apperzeption" unterscheidet sich sehr wohl von "Apperzeption".
Wenn die genannten Gelehrten beide für einerlei halten, so meinen sie natürlich unter Letzterer, also unter der "transzendentalen Apperzeption" oder dem "reinen Bewußtsein", das Selbstbewußtsein, d. h. die Vorstellung Ich oder Ich denke; was sie ja wiederholentlich aussprechen. Wie stimmt aber hiermit überein, daß sich bei FISCHER und COHEN und anderen namhaften Kantforschern mehrfache Stellen finden, an denen sie offenbar diese Apperzeption für das Ich nehmen, nicht für die Vorstellung Ich, d. h. diejenige Vorstellung, in welcher das Ich vorgestellt wird, sondern für das Ich selbst nehmen; und an denen sie augenscheinlich unter dem "Ich denke" das denkende Ich verstehen, nicht die Vorstellung "Ich denke", d. h. die Vorstellung, daß ich denke, sondern das denkende Ich, das denkende Subjekt verstehehn.
"Es kommt darauf an", läßt sich Fischer aus, "welches Bewußtsein die Verknüpfung macht, ob das empirische oder das reine; ob Ich, das wahrnehmende, oder Ich, das denkende Subjekt."
Woraus man nur entnehmen kann, daß er das reine Bewußtseins mit dem denkenden Ich identifiziert. Er schreibt dem reinen Bewußtsein Vorstellungen zu. Nun, was Vorstellungen hat, ist das Ich, das Subjekt. Er spricht von jenem "Ich denke", welches KANT die transzendentale Apperzeption genannt hat, und fährt dann fort: "Dieses Ich erkennt in der gegenwärtigen Vorstellung die frühere -." Also jenes "Ich denke". Dieses Ich, nämlich dieses denkende Ich.
Fürwahr, das ist ein seltsames, ganz seltsames Mißverständnis, obwohl bei KANT Stellen sind, die denjenigen, der die ganze übrige "Kritik" nicht kennt, ihrer freien Ausdrucksweise wegen, irre führen könnten. Schreibt der Philosoph (Kritik der reinen Vernunft, hg. von Benno Erdmann, Seite 645): "Nun ist die bloße Apperzeption (Ich) Substanz im Begriff, einfach im Begrif usw.", so bedeutet dies natürlich: Nun ist der Gegenstand der bloßen Apperzeption, der Gegenstand (Ich) Substanz, einfach usw. Denn die Apperzeption ist nicht ein solches Ich, sondern in ihr wird ein solche vorgestellt. Und redet der Philosoph (Seite 644) von dem Satz, der das Selbstbewußtsein ausdrückt: Ich denke, und fährt er dann fort: "Denn dieses Ich ist das erste Subjekt, d. h. Substanz", so will er natürlich sagen: Denn das Ich, welches ich mir in diesem Satz vorstelle, stelle ich mir al das erste Subjekt, d. h. als Substanz vor. Und ganz und gar nicht will er den Satz "Ich denke" als das denkende Ich behandeln. Kurz: die transzendentale Apperzeption oder das reine Bewußtsein ist nicht das Ich, sondern die Vorstellung Ich, d. h. diejenige Vorstellung, in welcher ein identisches Subjekt aller unserer Zustände, das Ich, vorgestellt wird. Die Vorstellung unserer veränderlichen Zustände ist das empirische, die des gleichbleibenden Subjekts derselben das reine Bewußtsein. Empirisches Bewußtsein heißt erstere Vorstellung, insofern sie sinnliche, d. h. auf Affektion beruhende Anschauung, reines letztere, insofern sie freitätiges Denken ist. Das also versteht der kritische Philosoph unter Apperzeption. Ich habe schon versichert, daß er unter synthetischer Einheit der Apperzeption etwas ganz Anderes versteht.
Da er sehr oft das Kunstwort "synthetische Einheit" schlechthin und ohne weiteren Zusatz, gebraucht, so haben wir zunächst zu untersuchen, was für einen Sinn dieses hat. Das führt uns zum Begriff der Synthesis, und der wiederum zu dem des Mannigfaltigen in der Anschauung.
Die Sinne für sich allein, lehrt KANT, liefern uns noch keine Erfahrung, ja nicht einmal eine fertige Anschauung, sondern nur den Stoff zu einer solchen, nämlich eine Folge von mannigfachen Eindrücken oder Erscheinungen ohne irgendeinen Zusammenhang, ohne irgendeine Einheit. Sie liefern uns noch keinerlei Gesamtanschauung, sondern nur ein Nacheinander von Teilanschauungen. Dieses nun ist es, was er "das Mannigfaltige der Erscheinungen", die mannigfaltigen in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen oder auch das Mannigfaltige der Anschauung nennt. Soll dasselbe zur fertigen oder bestimmten Anschauung von Gegenständen werden, so gehört dazu eine Handlung der Seele, es aufzufassen und in Raum und Zeit aneinander zu reihen. Eine solche Handlung heißt "figürliche Synthesis der Einbildungskraft"; figürlich, weil sie Bilder, Figuren von Gegenständen in uns erzeugt.
Doch damit haben wir noch keine Erkenntnis, kein Urteil, zu welchem es noch einer weiteren Zusammenfassung oder Verbindung des Mannigfaltigen bedarf, die einerlei ist mit dem Denken im engeren Sinn des Wortes. Wenn ich z. B. ein Ding mit irgendwelchen Eigenschaften denke, so fasse ich ein Mannigfaltiges unter dem Begriff von Substanz und Akzidenz[Eigenschaft - wp] zusammen. Wenn ich a als Ursache von b denke, so verbinde ich die Vorstellung von a mit der Vorstellung von b zu einer Einheit nach dem Begriff der Kausalität. Diese Verbindung trägt den Namen Synthesis nach oder unter Begriffen des Verstandes, intellektuelle Synthesis. Sie ist nichts Anderes, als diejenige Funktion der Einheit, welche gewöhnlich Kategorie genannt wird.
Das also heißt Synthesis. Und die Einheit, welche ein Mannigfaltiges durch sie erhält, besonders die Einheit des Mannigfaltigen, welche in der intellektuellen Synthesis, folglich in den Kategorien, gedacht wird, heißt Einheit in der Synthesis, Einheit der Synthesis oder synthetische Einheit. Dieselbe bildet das Wesen aller Erkenntnis: "Wir erkennen den Gegenstand, wenn wir im Mannigfaltigen der Anschauung eine synthetische Einheit bewirkt haben."
Eben diese synthetische Einheit nun ist es, welche KANT als synthetische Einheit der Apperzeption , synthetische Einheit des Selbstbewußtseins, auch als synthetische Einheit des Bewußtseins, bezeichnet. Jede synthetische Einheit ist eine synthetische Einheit der Apperzeption; der eine nur der kürzere, der andere der längere Ausdruck für dieselbe Sache. Ich denke "synthetische Einheit der Apperzeption", wenn ich Substanz oder Ursache denke und einem Mannigfaltigen durch diese Begriffe Einheit erteile.
Das spricht ja der Philosoph klar und deutlich aus (Kritik Seite 127): "Die synthetische Einheit der Apperzeption, diese transzendentale Einheit, welche in den Kategorien gedacht wird." Wie gesagt, Kategorie ist nur ein anderer Name für intellektuelle Synthesis. Die in den Kategorien gedachte Einheit demnach dieselbe, welche in der intellektuellen Synthesis gedacht wird, folglich synthetische Einheit. Ist nun Kategorien-Einheit die synthetische Einheit der Apperzeption, so hat auch die synthetische Einheit auf diesen längeren Titel Anspruch.
Seite 117 spricht der Philosoph davon, daß er sich bewußt ist, wie seine mannigfachen Vorstellungen eine ausmachen und fährt dann fort:
"Das ist aber soviel, als daß ich mir einer notwendigen Synthesis derselben a priori bewußt bin, welche die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption heißt."
Also die Synthesis soll synthetische Einheit der Apperzeption heißen. Genauer, die in der Synthesis gedachte, also synthetische, Einheit. Genauer hätte KANT gesagt:
"Das ist aber soviel, als daß ich mir einer notwendigen Einheit der Synthesis bewußt bin, welche synthetische Einheit der Apperzeption heißt."
Kurz: synthetische Einheit der Apperzeption ist nichts weiter, als synthetische Einheit schlechthin. Warum aber führt dieselbe einen solchen genetivischen Zusatz? Deshalb, weil sie überhaupt der transzendentalen Apperzeption wegen da ist; was uns KANT § 16 der "Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (Seite 115) auseinandersetzt.
Nämlich, die mannigfaltigen Vorstelungen, die mir in einer gewissen Anschauung gegeben werden, brauchen zwar nicht jederzeit von Selbstbewußtsein begleitet zu werden, aber
"als meine Vorstellungen (obgleich ich mir ihrer nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden."
Sie müssen notwendig der Bedingung gemäß sein, unter der allein ich mir bewußt werden kann, daß sie insgesamt meine Vorstellungen sind; daß ein und dasselbe Ich sie alle hat. Diese Bedingung ist ihre synthetische Einheit; sie müssen notwendig eine synthetische Einheit haben. Denn nur dadurch, daß ich mir der synthetischen Einheit all dieser Vorstellungen bewußt werde, begreife ich sie alle in einem Bewußtsein. Und nur dadurch, daß ich sie alle in einem Bewußtsein begreife, kann ich sie alle ein und demselben Ich als ihrem gemeinsamen Subjekt zuschreiben, folglich mir der Identität meiner selbst in diesen mannigfaltigen Vorstellungen bewußt werden.
Wenn mir z. B. die Vorstellung von a und die von b gegeben wird, so könnte ich mir allerdings auch ohne Synthesis und deren Einheit bewußt werden, daß ich a vorstelle, und weiterhin, daß ich b vorstelle. Doch niemals würden, ohne synthetische Einheit, beide Vorstellungen in einem gemeinsamen Bewußtsein zusammenstehen können. Erst wenn ich ihnen dergleichen Einheit gebem, etwa nach dem Begriff der Kausalität, indem ich denke, daß a Ursache von b ist, kann ich beide Vorstellungen synthetisch und analytisch in einem Selbstbewußtsein vereinigen. Synthetisch, indem ich mir bewußt werde, daß ich denke, daß a Ursache von b ist. Analytisch (d. h. die synthetische Einheit gewissermaßen wieder auflösend), indem ich mir bewußt werde, daß ich, der ich a vorstelle, derselbe bin, wie ich, der ich b vorstelle; indem ich mir also der Identität meiner selbst in beiden Vorstellungen bewußt werden. So beruth dieses Bewußtsein auf der synthetischen Einheit.
"Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst."
Unter Identität der Apperzeption versteht nämlich KANT die soeben besprochene Identität unser selbst, welche wir in der Apperzeption denken; und nicht versteht er darunter eine sich gleich bleibende und unwandelbare Apperzeption. Mit einem Wort: die synthetische Einheit ist nur ein Mittel zum Zweck der Apperzeption und deren Identität, und deshalb heißt sie synthetische Einheit der Apperzeption.
Man kann sich die Sache auch so verdeutlichen. Einheit der Apperzeption (auch ohne das Beiwort synthetisch) ist diejenige Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung, vermöge deren dasselbe in einer gemeinsamen Apperzeption verbunden werden kann. Diese Einheit heißt insofern synthetische Einheit der Apperzeption. Hiernach darf das Beiwort synthetisch fehlen und fehlt in der Tat häufig, wo nicht ausdrücklich darauf hingewiesen werden soll, daß eine solche Einheit gerade durch Synthesis erzeugt wird. Eben diese selbe Einheit wird transzendental genannt, insofern sie Erkenntnisse a priori möglich macht.
Warum aber heißt die synthetische Einheit der Apperzeption eine ursprüngliche? Weil sie diejenige Einheit ist, welche der Verstand mit seiner Synthesis dem Mannigfaltigen "in Beziehung auf die Apperzeption ursprünglich und von selbst erteilt. (Kritik, Seite 215) Weil sie also aus einer ursprünglichen Handlung (der Synthesis) hervorgeht. Eine ursprüngliche oder spontane Handlung ist eine solche, welche eine Reihe von Begebenheiten "schlechthin und von selbst anfängt", d. h. welche Ursache ist, ohne selbst eine Ursache zu haben, oder welche Wirkungen hat, ohne selbst Wirkung zu sein. Eine solche Handlung kann keine Gegenstand der Sinnenwelt beigemessen werden, sondern nur einem intelligiblen Gegenstand. Als letzteren aber erkennt der Mensch sich selbst, in Anbetracht gewisser Vermögen, des Verstandes und der Vernunft.
"Der Mensch, welcher die ganze Natur sonst lediglich nur durch die Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindruck der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, andernteils aber, nämlich in Anbetracht gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft."
So setzt KANT den Verstand in das Gebiet des Intelligiblen und schreibt ihm eine ursprüngliche Handlung der Synthesis zu. Und darum bezeichnet er auch die Einheit dieser Handlung als eine ursprüngliche.
Wir haben gesehen, daß dieselbe synthetische Einheit des Mannigfaltigen, welche die Bedingung bildet, unter der es zur Erkenntnis wird, auch die Bedingung ausmacht, unter der es in einer Apperzeption vereinigt werden kann. Da nun diese Vereinigung der Hauptzweck der synthetischen Einheit und die Erkenntnis nur ihr epignomenon telos[bewirktes Ende - wp] ist, so hat man ein Recht, den Satz umkehrend, zu behaupten, daß dieselbe synthetische Einheit des Mannigfaltigen, welche die Bedingung ausmacht, unter der es in einer Apperzeption vereinigt werden kann, auch die Bedingung bildet, unter der es zur Erkenntnis wird. Und dies eben behauptet KANT, wenn er die synthetische Einheit der Apperzeption für die Bedingung aller Erkenntnis oder wenn er den Grundsatz besagter Einheit für das oberste Prinzip allen Verstandesgebrauchs erklärt. Dieser Grundsatz lautet,
"daß alle meine Vorstellungen in irgendeiner gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu einem identischen Selbst rechnen und also, als in einer Apperzeption synthetisch verbunden, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann."
Und daß die genannte Bedingung die synthetische Einheit der Vorstellungen ist, und dieselben erst dadurch, daß sie dergleichen Einheit erhalten, folglich erst durch die synthetische Einheit der Apperzeption, zu Erkenntnissen werden.
"So ist die bloße Form der äußeren sinnlichen Anschauung, der Raum, noch gar keine Erkenntnis; er gibt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu einer möglichen Erkenntnis. Um aber irgendetwas im Raum zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zustande bringen, so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriff einer Line) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird."
Das heißt: ich muß eine Synthesis des gegebenen Mannigfaltigen vornehmen, so, daß die Einheit, welche ich demselben durch diese Handlung bereite, also seine synthetische Einheit, zugleich diejenige Einheit ist, vermöge deren es in einem gemeinsamen Selbstbewußtsein zusammenstehen kann, folglich synthetische Einheit des Selbstbewußtseins ist, und durch sie allererst die Erkenntnis, der Begriff einer Linie gewonnen wird. Das bedeuten in Wahrheit die angeführten kantischen Worte, und nicht, wie COHEN in seinem Jugendwerk will, daß die synthetische Einheit zugleich transzendentale Apperzeption ist; was schon ansich ein Ungedanke ist, den sein Urheber heute wohl selbst nicht mehr billigen würde.
Nach all dem bezeichnet das in Rede stehende Kunstwort ganz und gar nicht soviel wie transzendentale Apperzeption oder Selbstbewußtsein. Es soll ja die Einheit bezeichnen, welche in den Kategorien gedacht wird. Nun, die Einheit des Mannigfaltigen, welche ich denke, wenn ich z. B. Substanz oder Ursache denke, ist doch nicht das Selbstbewußtsein. Es soll ja die notwendige Synthesis unserer Vorstellungen (genauer: deren Einheit) bezeichnen. Nun, die Synthesis und ihre Einheit ist doch nicht das Selbstbewußtsein, welches vielmehr in dem Bewußtsein des die Synthesis vollziehenden, also denkende Ichs besteht.
Wäre die Einheit der Apperzeption einerlei mit Apperzeption, so würde ja KANT sich widersprechen, wenn er letztere als etwas nicht Notwendiges hinstellt (nämlich das "Ich denke" soll nur alle meine Vorstellungen begleiten können) und dennoch von der notwendigen Einheit der Apperzeption spricht. Nach meiner Auslegung hingegen ist kein Widerspruch vorhanden; denn es widerspricht sich nicht, daß die Apperzeption nicht notwendig meine Vorstellungen zu begleiten braucht, dieselben aber notwendig diejenige Einheit haben müssen, vermöge deren sie in einer Apperzeption zusammenbestehen können.
Wenn der Philosoph zeigen will, daß alle Erkenntnis erst durch die synthetische Einheit des Selbstbewußtseins zustande kommt, so macht er auch nicht den geringsten Versuch zu zeigen, wie sie durch den Akt des Selbstbewußtseins entsteht, sondern hält uns wieder und wieder vor, daß ohne Synthesis (z. B. das Ziehen der Linie) und die durch die Synthesis geschaffene Einheit des Mannigfaltigen eine Erkenntnis unmöglich ist. Folglich kann er unter jenem Ausdruck nicht das Selbstbewußtsein meinen, sondern nur die Synthese oder vielmehr deren Einheit. Daß er letztere bei dieser Gelegenheit der Einheit des Bewußtseins gleichsetzt, stimmt ganz mit meiner Deutung überein, nach welcher jede synthetische Einheit auch (synthetische) Einheit des Selbstbewußtseins ist.
Es ist kein Wunder, daß TRENDELENBURG und FISCHER und alle die Anderen, da sie den Sinn des kantischen Terminus nicht erfaßt haben, auch die bezügliche Lehre gänzlich mißverstanden haben. Nach TRENDELENBURG lehrte KANT Folgendes: Im Urteil "der Körper ist schwer" sind zwei Vorstellungen, die des Körpers und die der Schwere, zu einer Einheit verbunden. Woher diese Einheit? Sie stammt von der synthetischen Einheit der Apperzeption, nämlich der Vorstellung "Ich denke". "Ohne dieses Ich denke, das alle Vorstellungen begleitet, hätten wir keine Einheit in der Anschauung und im Urteil." So versteht TRENDELENBURG den kritischen Philosophen und streitet demgemäß gegen ihn:
"Ich denke und der Körper ist schwer wird hier in Betreff der Einheit als Grund und Folge verknüpft. Allerdings denke ich die Erscheinung. Allein was hat die innere Verbindung der Sache (der Körper ist schwer) mit dem sich gleichbleibenden Selbstbewußtsein zu schaffen? Weil ich denke, darum ist der Körper nicht schwer."
TRENDELENBURG will sagen: Weil ich mir bewußt bin, daß ich denke, darum urteile ich doch nicht, daß der Körper schwer ist; darum gebe ich doch nicht beiden Vorstellungen diese Einheit. Indessen sein Tadel trifft den kritischen Philosophen gar nicht, da die getadelte Ansicht demselben gar nicht zugehört. Wenn TRENDELENBURGsagt,KANT leitet die Einheit beider Vorstellungen (der Vorstellung des Körpers und der der Schwere) in jenem Urteil von der synthetischen Einheit der Apperzeption ab, so ist darauf zu entgegnen: Die Einheit beider im Urteil ist vielmehr nach kantischer Terminologie ihre synthetische Einheit der Apperzeption, weil sie diejenige Einheit ist, vermöge deren beide in einer Apperzeption vereinigt werden können. Und wenn TRENDELENBURG eigentlich meint, der Philosoph leite die Einheit der Vorstellungen im Urteil von dem wirklichen Bewußtsein "Ich denke", folglich vom Akt der Apperzeption her, so ist dies ebenfalls unrichtig. Eines solchen Aktes bedarf es nach KANT zur Einheit der Vorstellungen durchaus nicht; auf die Wirklichkeit dieses Bewußtseins kommt es nach ihm durchaus nicht an. Richtig ist nur das, daß er Synthesis und synthetische Einheit (der Apperzeption) und damit alle Erkenntnis auf der Apperzeption als einem Vermögen beruhen läßt, also auf dem bloßen Vermögen der Seele zu dem Bewußtsein "Ich denke". So erklärt er schon in der ersten Abfassung der Kritik, Seite 605:
"Diese Vorstellung (nämlich das Bewußtsein Ich denke) mag nun klar oder dunkel sein, daran liegt hier nichts, ja nicht einmal an der Wirklichkeit derselben, sondern die Möglichkeit der logischen Form aller Erkenntnis beruth notwendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem Vermögen."
Interessant ist es, zu sehen, was KUNO FISCHER, welcher die synthetische Einheit des Bewußtseins mit dem unwandelbaren Bewußtsein und dieses wieer mit dem unwandelbaren Ich vermengt, aus dem Grundsatz der genannten Einheit macht:
"Ich gleich Ich, ist ein analytischer Grundsatz. Ich gleich der Einheit aller Vorstellungen, ist ein synthetischer: es ist die notwendige Einheit der Apperzeption, die der Philosoph als den obersten Grundsatz aller menschlichen Erkenntnis bezeichnet. Hier ist der höchste Punkt, bis zu welchem Kant in seiner Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vordringt."
Nun, ich hoffe meinen Lesern die Überzeugung beigebracht zu haben, daß KANT daselbst zu einem ganz anderen Punkt vordringt. Und füge jetzt nur noch hinzu, daß der von FISCHER gewiesene höchste Punkt für KANT gar nicht existiert, indem der Satz "Ich gleich der Einheit aller Vorstellungen" der Psychololgie des Letzteren völlig widerspricht. Nach Letzterem sind die Vorstellungen Tätigkeits- und Leidenszustände, und das in diesen Zuständen Befindliche, also das Tätige oder Leidende, ist das Ich. Es ist demnach das Subjekt der Vorstellungen, die seine Prädikate sind; es heißt auch (Kritik, Seite 299) Grund des Denkens, Grund der Vorstellungen. Als Subjekt oder Grund der Vorstellungen aber kann es nicht gleich der Einheit oder der Summe der Vorstellungen sein.
Kurz: alle bisherigen Auffassungen der in Rede stehenden Lehre sind falsch, grundfalsch. Ich habe meinen Lesern eine neue, nach meinem Ermessen die einzig richtige, geboten.
LITERATUR - Emil Wille,
Kants Lehre von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, Philosophische Monatshefte, Bd. 18, Heidelberg 1882