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GOTTLOB FRIEDRICH LIPPS
Einleitung in die allgemeine Theorie
der Mannigfaltigkeiten von Bewußtseinsinhalten

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"Der Vollzug von Bestimmungen gewährt ebensowohl bezüglich des Denkens wie bezüglich des gegenständlich Bestehenden eine Erkenntnis. Und da es weder ein Denken ansich noch ein Ding ansich gibt, vielmehr alles Denken und alles Gegenständliche sich in tatsächlich vollziehbaren Bestimmungen offenbart, so kann das Denken und das Bestehende in seinem ganzen Umfang erforscht werden: es gibt weder unerkennbares Denken noch unerkennbare Gegenstände."


I. Die Denktätigkeit
und der Denkgegenstand

"Das Wenige verschwindet leicht dem Blick,
Der vorwärts sieht, wie viel noch übrig bleibt."

bliindfish - Iphigenie -


1.

Da ein Denkakt nicht anfangslos besteht, sondern ausgeführt werden muß, und auch nicht ergebnislos vergeht, sondern in seinem Vollzug Bestand hat, so ist an ihm die ausführende Tätigkeit, das Denken, und der bleibende Erfolg der Tätigkeit, das Gedachte, zu unterscheiden. Im Gedachten stellt sich, da es vorliegt und besteht, der Gegenstand des Denkens dar. Der Gegenstand liegt aber nicht von vornherein bereit, um nachträglich durch das Denken aufgefunden und bearbeitet zu werden. Ebensowenig steht das Denken für sich allein, einen Gegenstand erzeugend oder eines, ihm in den Weg tretenden Gegenstandes harrend, um sich desselben zu bemächtigen und sich an ihm als tätig zu erweisen. Vielmehr sind das Denken und das Gedachte, die Tätigkeit und der Gegenstand des Denkens nur im Denkakt vorhanden und untrennbar aneinander gebunden: die Denktätigkeit und der Denkgegenstand bedingen sich wechselweise.

Es kann aber nicht ein unbestimmtes Denken angenommen werden, dem ein unbestimmter Gegenstand entspräche. Denn die Denktätigkeit vollzieht sich notwendig in bestimmter Weise, so daß ein unbestimmtes Denken nichts anderes als ein unausgeführtes Denken wäre. Andererseits wäre ein unbestimmter Gegenstand nichts anderes als ein nicht gedachter Gegenstand, da jedem Gedachten notwendig eine durch das Denken erzeugte Bestimmung anhaftet. Zu jedem Denkakt gehört daher eine bestimmte Tätigkeit und ein bestimmter Gegenstand des Denkens, die untrennbar aneinander gebunden sind, so daß der Erfolg des Denkens in der Bestimmung seines Gegenstandes und die Bedeutung des Gegenstandes in der durch das Denken erzeugten Bestimmtheit besteht: die Denktätigkeit und der Denkgegenstand bestimmen sich wechselweise.

Liegen nun mehrere Denkakte vor, so bietet jeder einzelne eine bestimmte Denktätigkeit und einen bestimmten Denkgegenstand dar. Man muß daher zunächst ebenso viele verschiedene Tätigkeiten und Gegenstände des Denkens anerkennen, als Denkakte unterschieden werden. Denn gleiche Tätigkeiten würden gleich bestimmte Gegenstände und gleiche Gegenstände würden die nämliche bestimmende Tätigkeit voraussetzen, so daß die Denkakte selbst nicht unterscheidbar wären. Die verschiedenen Denkakte bestehen indessen zusammen. Dabei bleiben zwar die in ihnen vorliegenden Tätigkeiten und Gegenstände des Denkens in ihrer Bestimmtheit erhalten. Denn die Denkakte werden vollzogen, ohne daß sie einander beeinflussen und etwa zu einem neuen Denkakt verschmelzen. Die Tätigkeit des einen Denkaktes wird demgemäß ohne Rücksicht auf die Tätigkeit eines anderen Aktes ausgeführt, so daß auch die verschiedenen Bestimmungen, welche die Denkakte darbieten, sich nebeneinander behaupten. Es zeigt sich aber, daß die in den Denkakten gegenständlich vorliegenden Bestimmungen entweder zusammen gehören oder zusammenhanglos bestehen und im letzteren Fall entweder miteinander verträglich sind oder einander widerstreiten.

Dies kann nich im Zusammenbestehen der Denkakte begründet sein. Denn es müßten alsdann je zwei zusammenbestehende Denkakte auch stets in gleicher Weise zusammengehörige oder miteinander verträgliche Bestimmungen enthalten. Sie könnten hingegen nicht - wie es in Wirklichkeit der Fall ist - ebensowohl zusammenhängende oder vereinbare wie auch zusammenhangslose oder unvereinbare Bestimmungen darbieten. Die Zusammengehörigkeit und Vereinbarkeit von Bestimmungen ist darum neben dem Vollzug derselben in zusammenbestehenden Denkakten als eine besondere Tatsache anzuerkennen.

2.

Diese Tatsache kann, weben weil die Betätigungen und die Erfolge des Denkens sich in jedem Fall in unveränderter Selbständigkeit behaupten, nur darin ihren Ausdruck finden, daß die in den verschiedenen Denkakten vorliegenden Gegenstände ihre Selbständigkeit aufgeben. Dies geschieht, wenn diese Gegenstände zu ein und demselben, mehrfach bestimmten Gegenstand verschmelzen. Es erhält dann der in einem Denkakt bestimmte Gegenstand durch andere Denkakte weitere Bestimmungen: er wird zum Träger eines Vereins zusammengehöriger oder zusammenfaßbarer Bestimmungen.

Gibt es demgemäß Bestimmungen, die in ein und demselben Gegenstand ihren gemeinsamen Träger finden, so kann auch ein und dieselbe Denktätigkeit zur Bestimmung verschiedener Gegenstände beitragen. Denn verschiedene Gegenstände werden nunmehr durch verschiedene Vereine von Denktätigkeiten bestimmt, und die Verschiedenheit der Vereine wird durch gemeinsame Glieder nicht aufgehoben, falls nur nicht alle Glieder gemeinsam sind, so daß die Vereine Glied für Glied übereinstimmen. Es kann demnach in der Tat eine Denktätigkeit, die für sich allein nur ein und denselben Gegenstand bedingen und bestimmen würde, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Vereinen eine übereinstimmende Bestimmung verschiedener Gegenstände liefern.

Wird aber der nämliche Gegenstand durch verschiedene Denktätigkeiten bestimmt, und drückt die nämliche Denktätigkeit verschiedenen Gegenständen ihr Gepräge auf, so scheint es, daß Gegenstand und Tätigkeit des Denkens nicht mehr untrennbar zusammengehören, sondern als "Ding ansich" und "Denken ansich" eine selbständige Existenz gewinnen. Denn die möglichen Bestimmungen eines Gegenstandes müssen nicht insgesamt wirklich vollzogen werden, sondern die eine kann ohne die anderen bestehen. Und wenn an verschiedenen Gegenständen eine gemeinsame Bestimmung ausführbar ist, so ist ihr Auftreten an einem Gegenstand unabhängig vom Auftreten an anderen Gegenständen. Es kann daher ein tatsächlich vorhandener Gegenstand einer Bestimmung fähig sein, ohne sie bereits zu besitzen, und es kann eine tatsächlich bestehende Denktätigkeit imstande sein, einen Gegenstand zu bestimmen, ohne an ihm die Bestimmung bereits ausgeführt zu haben. Dies könnte zu der Annahme verleiten, daß der Gegenstand, eben weil er einer mehr oder minder weit gehenden Bestimmung fähig ist, ohne jede Bestimmung als leerer Träger des Denkens beharrt, und daß die Denktätigkeit, eben weil sie bald an diesem, bald an jenem Gegenstand ihre Bestimmung vollführen kann, unabhängig von jedem Gegenstand besteht.

Man erkennt jedoch unmittelbar, daß weder das Ding ansich noch das Denken ansich wirklich ist. Denn der einer weiteren Bestimmung fähige Gegenstand ist bloß aufgrund der bereits vorliegenden Bestimmungen in Wahrheit vorhanden, und die Denktätigkeit, die imstande ist Gegenständen, die von ihr noch unberührt sind, eine Bestimmung aufzuprägen, existiert in der Tat nur, sofern sie an anderen Gegenständen bereits bestimmend gewirkt hat. Es kann sich folglich das Ding ansich lediglich als die Möglichkeit Bestimmungen zu erhalten, und das Denken ansich lediglich als die Möglichkeit Bestimmungen auszuführen behaupten.

In der Wirklichkeit hingegen tritt jede Denktätigkeit notwendig in der zugehörigen gegenständliche Bestimmung zutage, und es kann kein Gegenstand vorliegen, ohne daß er durch das Denken bestimmt ist. Indem aber zusammengehörige oder miteinander verträgliche Bestimmungen zusammengefaßt werden, und so die Gegenstände verschiedener Denkakte zu einem einzigen Gegenstand, dem Träger eines Vereins von Bestimmungen, verschmelzen, ist die Möglichkeit vorhanden, daß ein mit wirklich vollzogenen Bestimmungen behafteter Gegenstand noch andere, erst zu vollziehende Bestimmungen erhält, und daß eine Denktätigkeit, die in der ihr zugehörigen Bestimmung an diesem oder jenem Gegenstand hervortritt, auch noch an anderen Gegenständen bestimmend wirkt.

3.

Demzufolge kann zwar der Gegenstand auch als Träger eines Vereins von Bestimmungen nicht ohne die ihm anhaftenden Einzelbestimmungen des Denkens, die Glieder des Vereins, bestehen. Er kann jedoch als ein der Bestimmung fähiger Gegenstand vorausgesetzt werden, dem die den Verein bildenden Bestimmungen zuerkannt und die dem Verein fremden abgesprochen werden müssen. Das Zuerkennen oder Absprechen ist ein positives oder negatives Urteil. Die angegebene Bestimmung des Gegenstandes vollzieht sich somit in positiven und negativen Urteilen.

Da zu den in einen Verein zusammengefaßten Bestimmungen noch weitere, die dem nämlichen Verein zugehören, hinzutreten können, so ist zwischen vollständiger und unvollständiger Bestimmung eines Denkgegenstandes zu unterscheiden. Ein Gegenstand ist vollständig bestimmt, wenn von jeder überhaupt vollziehbaren Bestimmung feststeht, ob sie dem Gegenstand zukommt oder nicht. In den Urteilen, welche dies entscheiden, bietet sich die vom Gegenstand vorhandene Erkenntnis oder der Begriff des Gegenstandes dar. Ein vollständig oder unvollständig bestimmter Gegenstand ist daher ein vollständig oder unvollständig erkannter oder begriffener Gegenstand. Demnach ist die Zusammengehörigkeit und Vereinbarkeit von Bestimmungen als eine durch das Erkennen oder Begreifen bedingte zu bezeichnen. Je nach den Zielen und Bedürfnissen des Erkennens werden demgemäß verschiedene Motive zur Bildung und Abgrenzung der in den Gegenständen vorliegenden Vereine von Bestimmungen maßgebend sein.

Es sind andererseits selbständig und unselbständig bestehende Gegenstände des Denkens zu unterscheiden. Denn ein und dieselbe Bestimmung kann verschiedenen Gegenständen angehören; in gleicher Weise können mehrere, zu einem Verein zusammenfaßbare Bestimmungen an verschiedenen Gegenständen haften. Da nun die einzelne Bestimmung ebenso wie der Verein, für sich allein, als Gegenstand besteht, so kann sich demzufolge ein Gegenstand in einem anderen Gegenstand darbieten: er ist in diesem Fall ein unselbständig existierender Gegenstand. Ein Gegenstand ist hingegen selbständig, wenn die ihm zukommende Bestimmungen keinem umfassenderen Verein gegenständlich vorliegender, zusammengehöriger oder miteinander verträglicher Bestimmungen angehören. Ein solcher Gegenstand ist ein in räumlicher und zeitlicher Bestimmtheit bestehendes Einzelding. Es existiert als Träger eines keiner Ergänzung oder Erweiterung fähigen Vereins von Einzelbestimmungen. Demgemäß ist jeder Denkgegenstand entweder ein Einzelding oder er wurzelt in Einzeldingen, sofern er auf einer irgendwie begründeten Abgrenzung von Bestimmungen an Einzeldingen beruth. Die Gesamtheit der Einzeldinge, welche der nämlichen Bestimmungen teilhaftig sind, bilden - nach der üblichen Bezeichnungsweise - den Begriffsumfang für den durch jene Bestimmungen definierten Gegenstand.

4.

Man kann nun auch von den selbständig existierenden Einzeldingen aus wieder zu den in jenen wurzelnden unselbständigen Gegenständen weiterschreiten und zuletzt zu den gegenständlich vorliegenden Einzelbestimmungen des Denkens gelangen. Das Einzelding wird dann zwar als gegeben hingenommen; es erweist sich aber als ein Verein zusammengehöriger, in Denkakten hervortretender Bestimmungen. Man wird so auch auf diesem Weg zur Anerkennung der beiden Tatsachen geführt, daß in jedem Denkakt die Denktätigkeit und der Denkgegenstand sich wechselweise bedingen und bestimmen, und daß die in zusammenbestehenden Denkakten vollzogenen Bestimmungen Vereine bilden, die in mehrfach bestimmten Gegenständen ihre Träger finden.

Das Einzelding ist wegen der zeitlichen und räumlichen Bestimmtheit, in der seine Besonderung und Vereinzelung ihren Ausdruck findet, ein vorstellbarer Gegenstand: es ist das "Vorstellungsobjekt" im Sinne WUNDTs (1), "das mit der Eigenschaft Objekt zu sein alle anderen Eigenschaften der Vorstellung in sich vereinigt"; wonach Vorstellung und Objekt oder Denktätigkeit und Denkgegenstand nicht "ursprünglich voneinander verschiedene reale Tatsachen", sondern "ursprünglich eins" sind, wonach ferner die Annahme unzulässig ist, "daß das Erkennen selbsttätig seine Objekte hervorbringt, oder daß ein passives Aufnehmen und Nachbilden unabhängig bestehender Objekte sei", und vielmehr die Tatsache anerkannt werden muß, daß es "kein Objekt gibt, dem die Eigenschaft fehlen könnte denkbar zu sein, und daß es keine Denkhandlung gibt, die nicht ein Objekt als unveräußerlichen Bestandteil einschließt."

Die obigen, aus der Reflexion über den Denkakt und das Zusammenbestehen von Denkakten gewonnenen Ergebnisse stehen somit in Einklang mit der Feststellung des Ausgangspunktes der Erkenntnis in WUNDTs System der Philosophie.


II. Das erfassende und das beziehende Denken.
Die Bewußtseinsinhalte und die Substanzen.


5.

Da die Denktätigkeit und der Denkgegenstand untrennbar zusammengehören, so offenbart sich in jeder Bestimmung sowohlt tätiges Denken als auch gegenständlich Bestehendes. Denn von einer Bestimmung könnte keine Rede sein, wenn nicht eine Betätigungsweise des Denkens möglich wäre, die sich in einem jene Bestimmung darbietenden Denkakt verwirklicht. Man könnte aber ebensowenig von einer Bestimmung reden, wenn sie nicht als Gegenstand oder an einem Gegenstand Bestand hätte. Der Vollzug von Bestimmungen gewährt somit ebensowohl bezüglich des Denkens wie bezüglich des gegenständlich Bestehenden eine Erkenntnis. Und da es weder ein Denken ansich noch ein Ding ansich gibt, vielmehr alles Denken und alles Gegenständliche sich in tatsächlich vollziehbaren Bestimmungen offenbart, so kann das Denken und das Bestehende in seinem ganzen Umfang erforscht werden: es gibt weder unerkennbares Denken noch unerkennbare Gegenstände.

Es sind demnach - wenn ein System zusammengehöriger Erkenntnisse als Wissenschaft bezeichnet wird - zwei Wissenschaften möglich: die  Wissenschaft vom Denken  und die  Wissenschaft vom gegenständlich Bestehenden.  Sie bilden besondere Gebiete des Erkennens, weil das Denken als Tätigkeit vom Gedachten als Gegenstand unterschieden werden muß, und sie sind die einzig möglichen, weil außer dem Denken und den Gegenstände nichts weiter in den Denkakten hervortritt. Sie stehen aber wegen der Untrennbarkeit von Denktätigkeit und Denkgegenstand nicht beziehungslos nebeneinander, so daß es scheinen könnte, als ob sie im Grunde genommen ein und dieselbe Wissenschaft wären, deren Erkenntnisse nur eine doppelte Deutung erfahren, je nachdem sie als eine Offenbarung des Denkens oder des gegenständlich Bestehenden aufgefaßt werden.

Dies wäre in der Tat der Fall, wenn durch das Denken die Gegenstände erst erzeugt würden, oder wenn das Denken lediglich ein Spiegel der Gegenstände wäre, in welchem die letzteren ein zweites schattenhaftes Dasein gewännen. Dann müßte die Lehre vom Denken zugleich die Lehre von den Gegenständen enthalten und umgekehrt. In Wahrheit behaupten sich jedoch das Denken und das Gegenständlich nebeneinander als zwei sich wechselweise bedingende und bestimmende Faktoren, die sich von vornherein dadurch unterscheiden, daß es dem Denken eigentümlich ist, in Einzelbestimmungen zutage zu treten, während das gegenständlich Bestehende sich in der Gesamtheit der Einzeldinge darbietet, von welchen jedes der Träger eines Vereins zusammengehöriger Einzelbestimmungen ist.

Demzufolge hat die Wissenschaft vom Denken die Aufgabe, die ein Einzelbestimmungen zutage tretenden Bestätigungsweisen oder Formen des Denkens zu untersuchen. Diese Untersuchung wird an Gegenständen geführt. Denn das Denken ist nicht als reine Tätigkeit erfaßbar, sondern kann nur in den Bestimmungen der Denkakte offenbar werden, und diese Bestimmungen bestehen gegenständlich. Die Gegenstände der Untersuchung sind jedoch nicht die Einzeldinge, obwohl sie - wie es nicht anders sein kann - an denselben nachweisbar sind. Die Einzeldinge kommen nämlich nicht so, wie sie sind, sondern nur sofern sie mit dieser oder jener Bestimmung behaftet sind, unter Absehen von allen anderen Bestimmungen, in Betracht. Sie gewinnen darum bloß als Unterlage des Abstraktionsprozesses, der gewisse bislang unbemerkt gebliebene Bestimmungen aufzufinden und festzustellen gestattet, oder beim Nachweis des Umfangs, in welchem eine vorliegende Bestimmung in der gegenständlich bestehenden Welt zur Geltung kommt, eine Bedeutung.

Die Untersuchungsgegenstände selbst sind aber nichts anderes als die Träger der Bestimmungen, in denen die untersuchte Form des Denkens offenbar wird. Als solche sind sie keine, in selbständiger Wirklichkeit gegebenen Dinge; auch bedürfen sie nicht des Nachweises, daß sie an diesen Dingen tatsächlich Bestand haben. Sie beruhen vielmehr auf der Wirklichkeit des Denkens, und ihre Existenz ist, ohne daß sie bewiesen werden müßte, von vornherein gewiß, da von einer bestimmten Form des Denkens gar nicht geredet werden könnte, wenn sie nicht an einem gegenständlichen Träger zur Ausgestaltung käme.

Der Satz  "jede Denkform besitzt ihren gegenständlichen Träger, an dem sie zur Ausgestaltung kommt"  hat darum als Grundsatz für die Lehre vom Denken zu gelten.

Die Wissenschaft vom gegenständlich Bestehenden hingegen hat die Aufgabe, die Welt der Einzeldinge zu erforschen. Diese Dinge müsen allerdings schon vor dem Eintritt in die Untersuchung mit Bestimmungen behaftet sein, da sie nur als irgendwie bestimmte Dinge gegeben sein können. Aber die bereits erkannten Bestimmungen wesentlich nur, sofern die den Ausgangspunkt der Forschung bestimmen und eine vorläufige Abgrenzung des Forschungsgebietes ermöglichen, in Betracht. Die weiterschreitende Untersuchung hat vielmehr die Gegenstände, so wie sie in der Wirklichkeit Bestand haben, allseitig zu erforschen, indem sie die Gesamtheit der ihnen zukommenden Bestimmungen aufsucht und feststellt. Der Vollzug dieser Bestimmungen erfolgt durch das Denken und läßt die Beschaffenheit der erforschten Dinge zutage treten. Die Beschaffenheit wird jedoch nicht durch das Denken erzeugt oder verändert, sie wird nur beachtet und anerkannt. Das Beachten und Anerkennen des tatsächlich Bestehenden, die  Erfahrung ist demgemäß hier die Quelle der Erkenntnis, und jede aufgrund der bisherigen Erfahrung gewonnene Erkenntnis muß durch eine fortgesetzte Erfahrung ihre Bestätigung oder Berichtigung finden.

Die Wissenschaft vom gegenständlich Bestehenden ist darum als  Erfahrungswissenschaft  zu bezeichnen. Da sich jedoch jeder Erfahrungsinhalt als ein System von Bestimmungen darbietet, die in Denkakten gegenständlich vorliegen, so ist nur eine in den Formen des Denkens sich vollziehende Erfahrung möglich und jede auf Erfahrung beruhende Erkenntnis kann nur die Verwirklichung einer dem Denken möglichen Erkenntnis sein. Denn es könnte vom gegenständlich Bestehenden gar nicht die Rede sein, wenn es nicht durch die Betätigung des Denkens seine Bestimmung fände.

Der Satz  "alles gegenständlich Bestehende findet durch das Denken seine Bestimmung"  hat somit als Grundsatz der Erfahrungswissenschaft in ihrem ganzen Umfang zu gelten.

Demnach hat jede der beiden Wissenschaften ihre besondere Aufgabe. Sie stehen jedoch unbeschadet ihrer Selbständigkeit in einer Wechselwirkung, sofern einesteils das Denkmögliche in der Erfahrung seine Verwirklichung findet, und andererseits das erfahrungsgemäß Bestehende, da es durch das Denken begriffen wird, die Spuren der Denkarbeit an sich trägt und die Formen, in denen das Denken sich betätigt, erkennen läßt.

Unter Berücksichtigung dieser Wechselwirkung läßt sich in einfacher Weise ein erster orientierender Überblick über beide Forschungsgebiete gewinnen.

6.

Das Allgemeinste nämlich, was sich über die Gegenstände des Denkens aussagen läßt, findet in diesen beiden Sätzen seinen Ausdruck: "Es gibt Gegenstände." und "Es gibt Beziehungen zwischen Gegenständen." Der eine gilt nicht ohne den anderen; denn indem Gegenstände unterschieden werden, bestehen sie zusammen, und im Zusammenbestehen liegt die Notwendigkeit, nicht nur den einen sondern auch den andern zu denken. Auf diese Weise treten die Gegenstände in Beziehung und bilden in ihrer Gesamtheit die eine, in sich zusammenhängende Welt des Bestehenden.

Gibt es aber Gegenstände und Beziehungen zwischen Gegenstände, so gibt es auch ein Gegenstände erfassendes und Beziehungen setzendes Denken. Und jede Denktätigkeit ist ein Erfassung und Beziehen, da das Dasein und Bezogensein der Gegenstände die ganze Welt des Bestehende ausmacht. Die Wissenschaft vom Denken hat daher das  im Erfassen und Beziehen sich betätigende Denken  zu erforschen. Ihre Objekte sind die Träger der Bestimmungen, in denen sich das Dasein als solches und das Bezogensein als solches (nämlich so wie es durch das Denken gesetzt wird) darstellt.

Die Lösung dieser Aufgabe führt nicht nur zu den Lehren der formalen Logik von den Arten der Urteile, von den Verhältnissen der Begriffe und von den Schlußfiguren oder - wie man wohl auch sagen kann - zur Einsicht in den Schematismus der Denkarbeit, die ein System zusammenhängender Erkenntnis erzeugt. Sie eröffnet auch den Zugang zur Mathematik.

Unterwirft man nämlich zunächst das erfassende Denken der Untersuchung, so zeigt sich dasselbe als ein reihenförmig fortschreitendes Denken, das sich mit einem Akt des Erfassens beginnend in gleichartigem und unbegrenztem Weiterschreiten entwickelt. Es erhält in der Reihe von Denkobjekten, die bloß als Träger der aufeinanderfolgenden Akte des erfassenden Denkens zur Geltung kommen und demgemäß lediglich mit den Merkmalen der Reihenform behaftet sind, seine Ausgestaltung. Diese vom Anfangsglied aus ohne Ende fortlaufende, von jedem Glied aus reproduzierbare, homogene Reihe, welche in einzigartiger und allgemeingültiger Weise die Reihenform des Denkens zur Darstellung bringt, ist aber - wie man unmittelbar erkennt - die Reihe der natürlichen Zahlen  1, 2, 3, . . . in infinitum.  Sie dient zum Erfassen jeder Vielheit von Objekten, wobei jedes Objekt in gleicher Weise wie jedes andere nur als Träger des erfassenden Denkens, als absolute Einheit, auftritt. Und die Möglichkeit, in der gegeben vorliegenden Zahlenreihe vorwärts und rückwärts (bis zum Anfangsglied, aber nicht darüber hinaus) zu gehen oder vorwärts und rückwärts zu zählen, bedingt die Ausführbarkeit von Zählprozessen, auf denen die  Mathematik der Zahlenreihe  beruth.

Der Akt des beziehenden Denkens bietet sich ferner als der im Denken vollzogene Übergang von einem zugrunde liegenden Gegenstand  a  zu einem aus  a  folgenden und an  a  gebundenen Gegenstand  a1  dar. Er kann daher, wenn die auf  a  gerichtete und zu  a1  führende Denktätigkeit durch  α  bezeichnet wird, in der symbolischen Gleichung  αa = a1  seinen Ausdruck finden. Mit Rücksicht hierauf ist der auf  a  gerichtete und bei  a  verharrende Akt des erfassenden Denkens durch  α0a = a  darzustellen, wenn die Denktätigkeit in diesem Fall durch  α0  angedeutet wird. Und da jeder, als Träger irgendeiner Beziehung auftretender Gegenstand notwendig, sofern er vorliegt, einen Akt des erfassenden Denkens voraussetzt, so bedingt der Vollzug von  α = a1  zugleich das Erfassen von  a  und  a1  oder die Ausführung von  α0a = a  und  α0a1 = a1. 

Diese Beispiele genügen, um zu zeigen, daß die allgemeinen Zalen der Mathematik auf den iterierbaren [wiederholbaren - wp] Formen des beziehenden Denkens beruhen. Und da die Ausführung der Beziehungen stets eine Ordnung der aufeinander bezogenen Objekte bedingt, so ist es offenbar möglich, durch die Untersuchung dieser Formen eine allgemeine  Mathematik der objektiv begründeten ordnenden Beziehungen  zu entwickeln.

7.

Ist hiernach die Unterscheidung zwischen dem erfassenden und dem beziehenden Denken für die Wissenschaft vom Denken überhaupt und insbesondere für die Mathematik von grundlegender Bedeutung, so gestattet sie, wie man sich leicht überzeugt, auch die Erfahrungswissenschaft vom gegenständlich Bestehenden in zwei wesentlich verschiedene Gebiete zu trennen.

Jeder Erfahrungsinhalt ist nämlich durch gewisse, in Denkakten vollzogene Bestimmungen gegeben. Und da sich das Denken sowohl im Erfassen als auch im Beziehen betätigt, so können die Bestimmungen, durch welche ein Inhalt gegeben ist und aufgrund welcher er der Untersuchung unterstellt wird, nicht nur im erfassenden, sondern auch im beziehenden Denken ihre Quelle haben. Daß hierbei in jedem Fall das erfassende Denken in Betracht kommt, versteht sich von selbst. Denn jedes Beziehen setzt das Erfassen voraus. Es sind daher nur die beiden Fälle möglich, daß einmal bloß das erfassende Denken, ein andermal das beziehende zugleich mit dem erfassenden Denken den Erfahrungsinhalt darbietet.

Wird ein Akt des erfassenden Denkens, der durch  αa = a  darstellbar ist, vollzogen, so liegt in demselben der Gegenstand  a  vor, der ohne Rücksicht auf sonstige Bestimmungen besteht. Ein in solcher Weise gegebener Gegenstand soll ein  Bewußtseinsinhalt  heißen, wenn er lediglich durch die Betätigung des erfassenden Denkens gegeben ist.

Wird ferner ein Akt des beziehenden Denkens, der durch  αa = a1  darstellbar ist, vollzogen, so bedingt seine Ausführung das Erfassen von  a  und  a1  durch die beiden Denkakte  α0a = a  und  α0a1 = a1,  die ohne weiteres mit  αa = a1  gegeben sind. Er bietet somit die beiden Bewußtseinsinhalte  a  und  a1  dar. Beruth nun die Beziehung zwischen  a  und  a1  einzig und allein auf dem Erfassen von  a  und  a1,  also darauf, daß  a  und  a1  als Bewußtseinsinhalte vorliegen, so ist sie eine unmittelbare Folge des Zusammenbestehens von Bewußtseinsinhalten und enthält eine auf Bewußtseinsinhalte sich beziehende Erkenntnis. Sofern solche Erkenntnisse möglich sind, gibt es eine  Wissenschaft von den Bewußtseinsinhalten,  die der Erfahrungswissenschaft vom gegenständlich Bestehenden angehört.

Ist hingegen die Beziehung nicht durch das bloße Erfassen von  a  und  a1  bedingt, so bildet sie einen ursprünglich und schlechthin gegebenen Bestandteil der Erfahrung, der im Verein mit der Tatsache, daß  a  und  a1  als Bewußtseinsinhalte vorliegen, anerkannt werden muß. Zu der Bestimmtheit, die  a  und  a1  als Bewußtseinsinhalt besitzen, tritt somit noch die weitere, neue, im Akt des beziehenden Denkens gegebene Bestimmung, wonach das Bestehen von  a  das Bestehen von  a1  im Zusammenhang mit  a  zur Folge hat. Demgemäß erschöpft sich die Bedeutung von  a  nicht darin, ein Bewußtseinsinhalt zu sein; es muß ihm vielmehr überdies die nicht in der Bestimmtheit des Bewußtseinsinhalts liegende Möglichkeit zuerkannt werden, das Auftreten von  a1  zu veranlassen, wonach es als die Ursache von  a1  zu bezeichnen ist. In entsprechender Weise gewinnt  a1,  abgesehen davon, daß es als Bewußtseinsinhalt auftritt, die Bedeutung in seinem Bestehen von  a  abhängig zu sein und sich sonach als die Wirkung von  a  darzubieten. Ein in solcher Weise als Träger einer Ursache oder einer Wirkung gegebener Gegenstand soll eine  Substanz  genannt werden.

Da nun die Ursache als der substanziell bestehende Grund und die Wirkung als die substanziell bestehende Folge sich wechselweise bedingen, so können die Substanzen nicht beziehungslos existieren. Sind es doch gerade die von der Erfahrung dargebotenen und nicht in den Bewußtseinsinhalten als solchen begründeten Beziehungen, welche dazu nötigen, den mit ihnen behafteten Gegenständen eine substanzielle Existenz zuzuschreiben. Das Erkennen solcher Beziehungen ist die Aufgabe der  Wissenschaft  von den  Substanzen. 

Demgemäß zerfällt die Erfahrungswissenschaft vom gegenständlich Bestehenden in die beiden Wissenschaften von den Bewußtseinsinhalten und von den Substanzen, sofern sich einerseits die Bewußtseinsinhalte auf der Betätigung des erfassenden Denkens und ihre Beziehungen auf den im erfassenden Denken zutage tretenden Tatsachen der Erfahrung beruhen, und sofern andererseits jede Substanz und zugleich jede Beziehung zwischen Substanzen auf einen im beziehenden Denken gegebenen Erfahrungsinhalt gründet.

Es sind dies gesonderte Gebiete des Erkennens, da die Erforschung der Bewußtseinsinhalte von derjenigen der Substanzen der ganzen Art nach verschieden ist. Die Bewußtseinsinhalte sind nämlich, weil sie dem erfassenden Denken ihr Dasein verdanken, keine kraftbegabte Substanzen. Sie sind unfähig, Wirkungen auszuüben und sich in einer vermeintlichen Wirkungsweise zu unterstützen oder zu hemmen. Sie können auch nicht durch eine ihnen innewohnende oder an sie herantretende Kraft verändert werden. Veränderlich können sie darum nur in dem Sinne heißen, daß von verschiedenen Bewußtseinsinhalten, die aufgrund gemeinsamer Bestimmungen ein und derselben Mannigfaltigkeit angehören, der eine den andern ablösen und jeder in gleicher Weise als Repräsentant der Mannigfaltigkeit auftreten kann. Die Veränderlichkeit der Bewußtseinsinhalte findet somit ihr Urbild in der Veränderlichkeit der Zahl, die lediglich in der Ersetzbarkeit des einen Zahlenwertes durch einen anderen, der nämlichen Zahlenmannigfaltigkeit angehörenden besteht. - Aber auch nicht als Wirkungen von Substanzen lassen sich die Bewußtseinsinhalte auffassen. Denn der Akt des erfassenden Denkens, welcher einen Bewußtseinsinhalt darbietet, ist kein Akt des beziehenden Denkens, und nur in einem solchen kann eine Wirkung vorliegen, die demnach selbst wieder notwendig substanziell besteht.

Eben deswegen sind andererseits die Substanzen, da sie im beziehenden Denken gegeben werden, als das, was sie sind, nicht erfaßbar. Sie existieren nur als Träger von Kräften, durch welche sie aufeinander wirken und sich verändern, oder als Träger von Dispositionen, aufgrund welcher sie befähigt sind, Entwicklungsprozesse zu durchlaufen.

Den Substanzen, die in wechselnden Zuständen beharren, Wirkungen ausüben und empfangen oder ursprünglich vorhandene Anlagen zur Entfaltung bringen, treten so die lediglich in aufeinanderfolgenden Akten des erfassenden Denkens vorliegenden und als solche zusammenbestehenden Bewußtseinsinhalte gegenüber.

Die beiden Gebiete unterscheiden sich aber nur durch die Weise des Erkennens, während die Gegenstände des Erkennens untrennbar zusammengehören. Denn von den Substanzen lassen sich die Bewußtseinsinhalte nur in einem abstrahierenden Denken, nicht in der Wirklichkeit trennen. Es ist ja mit dem beziehenden Denken das erfassende Denken unlöslich verknüpft, so daß jedem als Bewußtseinsinhalt vorliegenden Gegenstand eine substanzielle Existenz zuerkannt werden muß, sobald er als der Träger einer Ursache oder einer Wirkung in einem Akt des beziehenden Denkens auftritt.

Diese Verwebung kann dazu verleiten, entweder den Bewußtseinsinhalten oder den Substanzen eine selbständige Bedeutung abzusprechen, falls man die Tatsache, daß bei ihrer Bestimmung wesentlich verschiedene Betätigungsweisen des Denkens in Betracht kommen, außer Acht läßt.

Hat sich demgemäß die Ansicht festgesetzt, daß es nur kraftbegabte Substanzen gibt, so sind die Bewußtseinsinhalte als Wirkungen von Substanzen aufzufassen und können bloß in ihrer Abhängigkeit von denselben erforscht werden. Denn jede Erkenntnis bezüglich der Bewußtseinsinhalte ist bei dieser Auffassungsweise auf die zugrundeliegenden Substanzen zu beziehen. Da sich aber die Bewußtseinsinhalte, weil sie auf einem erfassenden Denken beruhen, nicht als Wirkungen von Substanzen begreifen lassen und dich unzweifelhaft bestehen, so ist ihr Vorhandensein ein unlösbares Rätsel. - Führt hingegen die Besinnung auf das unmittelbar Gegebene zu der Ansicht, daß die ganze Welt doch bloß als Inhalt des Bewußtseins existiert, so verflüchtigen sich die Substanzen zu gewohnheitsmäßig aneinander geknüpften Bewußtseinsinhalten und man muß danach trachten, die gesamte Erfahrung als ein Gewebe von Bewußtseinsinhalten zu begreifen. Eine Wissenschaft von den Substanzen kann es alsdann nicht geben, da Substanz und Kausalität als unberechtigte Zutaten des Denkens, das über das unmittelbar Gegebene hinausgeht, aufzufassen sind.

Die Einseitigkeit der einen und der anderen Auffassungsweise wird jedoch offenbar, wenn man beachtet, daß Denkgegenstand und Denktätigkeit sich wechselweise bedingen und bestimmen, und daß sich das Denken im Erfassen ebensowohl wie im Beziehen betätigt. Denn aufgrund dieser Tatasache muß man zugeben, daß die Gegenstände der Erfahrung im erfassenden und im beziehenden Denken gegeben werden und somit einerseits als Bewußtseinsinhalte, andererseits als Substanzen der Untersuchung zugänglich sind.

Die Zusammengehörigkeit dieser Untersuchungsgegenstände hebt aber ihre Selbständigkeit und prinzipielle Verschiedenheit nicht auf. Denn, indem ein Bewußtseinsinhalt den jeweils erfaßbaren Zustand einer Substanz offenbart, ist er weder selbst die Substanz noch wird er durch dieselbe erzeugt; er ist vielmehr bloß ein Symbol, das auf die Substanz hinweist, deren Wesen ganz und gar auf den Beziehungen, durch sie bestimmt wird, beruth. Diese Symbole vertreten die Substanzen in den Akten des erfassenden Denkens. Sie können darum zwar nicht entbehrt werden, wenn man die Substanzen aufzeigen und kenntlich machen will; sie sind jedoch nur ein Hilfsmittel, um aufgrund der in den Akten des beziehenden Denkens dargebotenen Erfahrungstatsachen die Beschaffenheit der Substanzen zu erforschen. Ebenso dienen die Substanzen als Kennzeichen für das zu erwartende Auftreten von Bewußtseinsinhalten. Sie sind unentbehrlich, um in den ihre Veränderungen begleitenden Akten des erfassenden Denkens vorbestimmte und variierbare Sukzessionen von Bewußtseinsinhalten zu erhalten und auf diese Weise das Studium der Bewußtseinsinhalte auf eine experimentelle Grundlage zu stellen.

Hiernach behaupten sich die Bewußtseinsinhalte und die Substanzen selbständig nebeneinander, indem sie einander wechselweise entsprechen:  es besteht ein Parallelismus zwischen Bewußtseinsinhalten und Substanz.  Die Untersuchung desselben ist für die beiden Wissenschaften von den Bewußtseinsinhalten und von den Substanzen ein Bedürfnis, das von jeder, soweit es erforderlich ist, befriedigt werden muß. Sie beansprucht jedoch überdies eine selbständige Bedeutung, so daß neben den beiden unterschiedenen Forschungsgebieten und im Anschluß an dieselben ein  Grenzgebiet  anzuerkennen ist, das den Umfang und die Gesetzmäßigkeiten in einem wechselweisen Entsprechen von Bewußtseinsinhalten und Substanzen zu erforschen hat. Der Parallelismus selbst ist aber nicht etwa - im Widerspruch mit den obigen Erörterungen - als eine Abart kausaler Beziehungen zu erklären, sondern als eine Tatsache hinzunehmen, die darin ihre Erklärung findet, daß das beziehende Denken, in dem die Substanzen gegeben werden, und das erfassende Denken, in dem die Bewußtseinsinhalte vorliegen, in der Wirklickeit untrennbar zusammengehören und nur in der Reflexion unterscheidbar sind. Darum existiert weder die Welt der Bewußtseinsinhalte noch die Welt der Substanzen für sich allein, sondern beide zusammen bilden in ihrer Verwebung die eine, wirkliche Welt des gegenständlich Bestehenden.

Wird in dieser Weise die Trennung der Erfahrungswissenschaft in zwei Gebiete, die in einem Grenzgebiet zusammenhängen, durch die Betrachtung der Denktätigkeit, welche den Erfahrungsinhalt darbietet, ohne weiteres gefordert, so kann hingegen nicht die Reflexion über das Denken, sondern nur die Feststellung des gegenständlich Bestehenden lehren, was für Substanzen und was für Bewußtseinsinhalte existieren und inwieweit sie einander entsprechen: der Inhalt und der Umfang eines jeden Forschungsgebietes wird durch die Erfahrung bestimmt.

8.

Es ist aber von Interesse, mit dieser erkenntnistheoretisch begründeten Trennung die herkömmliche Spaltung der Erfahrungswissenschaft in Naturwissenschaften und Psychologie zu vergleichen. Hierbei ist folgende Bemerkung zu beachten.

Mit Erwägungen über die Grundlagen des Erkennens pflegt die auf Gegenstände der Erfahrung gerichtete wissenschaftliche Arbeit nicht zu beginnen. Man wird es vielmehr als die Regel bezeichnen dürfen, daß volkstümliche Erkenntnisse den Ausgangspunkt bilden und einzelne Probleme, deren Lösung von allgemeinerem Interesse ist, den Fortgang bestimmen. Die verschiedenen Zweige der Erfahrungswissenschaft, die der historischen Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis ihr Dasein und den Grad ihrer Ausbildung verdanken, werden darum die soeben abgeleitete Gliederung nicht unmittelbar hervortreten lassen; sie werden ihr aber doch insoweit entsprechen müssen, daß jeder, einer bestimmten Auffassung fähige, selbständige Zweig entweder der Lehre von den Substanzen oder der Lehre von den Bewußtseinsinhalten zugewiesen werden kann. Denn wäre dies nicht der Fall, so läge ein Gemenge von Erkenntnissen vor, das nur unter Verkennung der prinzipiellen Verschiedenheit der Bewußtseinsinhalte und der Substanzen als zusammengehörig angesehen werden könnte und, da es in Wahrheit nicht zusammengehört, einer einheitliche Zusammenfassung widerstreiten müßte.

Nun gehören die Naturwissenschaften zweifellos der Lehre von den Substanzen an, da jedes Naturobjekt substanziell besteht und mit Hilfe des Parallelismus zwischen Bewußtseinsinhalt und Substanz in seiner wahren d. h. substanziellen Beschaffenheit erforscht wird. Eine entsprechend einheitliche Zuweisung zur Lehre von den Substanzen oder von den Bewußtseinsinhalten ist hingegen für die gemeinhin als Psychologie bezeichneten Erkenntnisse nicht durchführbar, selbst wenn man unter diesem Namen nicht eine alle anderen Wissenschaften, auch Logik und Mathematik, umschließende oder vorbereitende Grundwissenschaft, sondern eine reine Erfahrungswissenschaft begreift und davon absieht, daß die Erfahrung durch willkürliche Annahmen verfälscht und ihre Auffassung mit Unklarheiten behaftet sein kann.

Dies weist darauf hin, daß es prinzipiell verschiedene Gebiete des Erkennens sind, die in gleicher Weise als Psychologie bezeichnet zu werden pflegen.

Will nämlich die Psychologie eine Lehre von der Seele sein, die als Trägerin von Kräften und Fähigkeiten irgendwie, sei es materiell, sei es immateriell existiert, so ist sie ein Bestandteil der Wissenschaft von den Substanzen. Sie kann alsdann gleich den Naturwissenschaften die Bewußtseinsinhalte bloß als Symbole benützen, die auf erfahrungsgemäß gegebene und substanziell bestehende seelische Kräfte und Fähigkeiten hindeuten. Nennt man die letzteren, da sie als solche nicht erfaßbar sind, im Gegensatz zu den Bewußtseinsinhalten das "Unbewußte", so hat diese Wissenschaft die Erforschung des Unbewußten zur Aufgabe. Sie wird so von der Wissenschaft von den Bewußtseinsinhalten, nicht aber von den Naturwissenschaften abgetrennt. Denn auch die Naturobjekte sind bloß in Akten des beziehenden Denkens als Substanzen und nicht als Bewußtseinsinhalte gegeben, so daß sie gleichfalls dem Reich des Unbewußten angehören. Es kann daher erst aufgrund eines vollständig entwickelten Substanzbegriffs, der auf der Erörterung der verschiedenen Betätigungsweisen des beziehenden Denkens und auf der Feststellung der in solchen Betätigungen gegebenen Tatsachen der Erfahrung beruhen muß, die Grenzlinie zwischen der Lehre von den Naturobjekten und der Lehre von der substanzielle Seele innerhalb der Wissenschaft von den Substanzen gezogen werden.

Von vornherein jedoch ist klar, daß diese Psychologie die Wissenschaft von den Bewußtseinsinhalten nicht in sich aufnehmen kann. Denn die Bewußtseinsinhalte sind keine kraftbegabten Substanzen. Der Satz HERBARTs: "Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen", mit dem die Darlegung der Grundlehre in seinem "Lehrbuch zur Psychologie" beginnt, kann folglich - da die Vorstellungen Bewußtseinsinhalte sind - unmöglich Geltung beanspruchen. Die Bewußtseinsinhalte sind aber auch nicht als Wirkungen von Substanzen denkbar. Man kann daher nur die Tatsache feststellen, daß sie als Begleiter substanzieller Prozesse auftreten. Und diese Tatsache besteht ursprünglich und schlechthin, ohne einer Ableitung fähig zu sein, da sie auf dem untrennbaren Zusammen des beziehenden und erfassenden Denkens beruth. - Zugleich erhellt sich, daß der Parallelismus zwischen Bewußtseinsinhalt und Substanz nicht mit einer behaupteten oder in Zweifel gezogenen Wechselwirkung zwischen einer physischen und einer psychischen Substanz, zwischen substanziellem Leib und substanzieller Seele zu tun hat. Er besteht vielmehr zwischen den Bewußtseinsinhalten und der mit Kräften und Fähigkeiten begabten Seele ebenso wie zwischen den Bewußtseinsinhalten und den in mechanischen und chemischen Prozessen sich kräftig erweisenden Naturobjekten.

Erforscht hingegen der Psychologe das, was er unmittelbar fühlt und empfindet, so gehören seine Forschungen - weil das Gefühlte und Empfundene als Bewußtseinsinhalt gegeben ist - der Lehre von den Bewußtseinsinhalten an. Denn die Empfindungen und Gefühle sind als das, was sie sind, und nicht als Symbole für Substanzen die Gegenstände der Untersuchung, während die Substanzen, mögen sie materiell oder immateriell existieren und die Träger physischer oder psychischer Kräfte sein, bloß als Zeichen für das Auftreten bestimmter Bewußtseinsinhalte und bestimmter Sukzessionen von Bewußtseinsinhalten aufgrund des Parallelismus zwischen Bewußtseinsinhalt und Substanz Berücksichtigung finden. Es kommt daher hier eine substanziell bestehende Materielle oder immaterielle Seele als Objekt der Forschung überhaupt nicht in Betracht: ihre Existenz wird weder vorausgesetzt noch bestritten.

Die Berechtigung, die Lehre von den Bewußtseinsinhalten als Psychologie in Anspruch zu nehmen, liegt aber darin, daß man die Bewußtseinsinhalte allgemein psychische oder seelische Erlebnisse zu nennen pflegt. Das Wort "Seele" dient alsdann - ohne Rücksichtnahme auf den volkstümlichen Sprachgebrauch, der für die Wissenschaft nicht bindend ist - zur Bezeichnung der Gesamtheit der Erlebnisse, die das Leben des Menschen erfüllen. Die Psychologie ist alsdann die Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, als welche sie von WUNDT definiert wird; denn unter unmittelbarer Erfahrung hat man die im erfassenden Denken durch Empfindungen und Gefühle gegebene zu verstehen. Für dieselbe kann in der tat , wie WUNDT (2) sagt, "die Seele nie etwas anderes sei als der tatsächlich gegebene Zusammenhang der psychischen Erlebnisse, nichts was zu diesen von außen oder von innen hinzukommt": Stellt man ihr die Naturwissenschaften als Physik (im weitesten Sinne des Wortes) gegenüber, so ist der Parallelismus zwischen Bewußtseinsinhalt und Naturobjekt als psychophysischer Parallelismus und seine Erforschung als die Aufgabe der Psychophysik zu bezeichnen.


LITERATUR - Gottlob Friedrich Lipps, Einleitung in die allgemeine Theorie der Mannigfaltigkeiten von Bewußtseinsinhalten, Philosophische Studien, Bd. 20, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) WILHELM WUNDT, System der Philosophie, 2. Auflage 1897, Seite 97
    2) WILHELM WUNDT, Völkerpsychologie, Bd. 1, 1900, Seite 9