p-4cr-4ra-1E. StettheimerA. MesserR. HönigswaldE. DreherW. James     
 
GUSTAV STÖRRING
Die intellektuellen Gefühle

"Das assoziative bedingte Zwangsgefühl ist bekanntlich von  David Hume  besonders betont worden. Er erkennt, daß dasselbe z. B. auftritt, wenn wir häufig erlebt haben, daß auf das, was wir  Ursache  nennen, das was wir  Wirkung  nennen, folgt. Durch diese häufige Aufeinanderfolge bildet sich eine starke Assoziation zwischen der Vorstellung des  Vorhergehenden  und der Vorstellung des Nachfolgenden, so daß, wenn dann später so ein Vorhergehendes wieder auftritt, die Wahrnehmung desselben uns mit einem assoziativ bedingten Zwangsgefühl die Vorstellung dieses Nachfolgenden aufdrängt."

"Das Gefühl des Denkzwanges grenzt sich dadurch deutlich vom Gefühl des assoziativ bedingten Zwangs ab, daß sich das Gefühl des Denkzwangs mit einem mehr oder weniger deutlich hervortretenden Gleichheitsbewußtsein verbindet. Die Gleichheit ist dabei gesetzt zwischen dem jeweilig gemachten neuen Schritt im Denken und den Prämissen."

Unter intellektuellen Gefühlen verstehe ich solche Gefühlszustände, die sich an  Erkenntnisvorgänge  anschließen.

In Denkprozessen spielt das Denknotwendigkeitsgefühl eine große Rolle. Das Gefühl der Denknotwendigkeit muß scharf geschieden werden von einem Notwendigkeitsgefühl, welches ein  assoziativ  bedingtes Zwangsgefühl ist. Das assoziative bedingte Zwangsgefühl ist bekanntlich von DAVID HUME besonders betont worden. Er erkennt, daß dasselbe z. B. auftritt, wenn wir häufig erlebt haben, daß auf das, was wir  Ursache  nennen, das was wir  Wirkung  nennen, folgt. Durch diese häufige Aufeinanderfolge bildet sich eine starke Assoziation zwischen der Vorstellung des Antezedens [Vorhergehendes - wp] und der Vorstellung des Konsequens [Nachfolgendes - wp], so daß, wenn dann später das Antezedens wieder auftritt, die Wahrnehmung desselben uns mit einem assoziativ bedingten Zwangsgefühl die Vorstellung des Konsequens aufdrängt. Für unser Erkennen ist es sehr wichtig, daß wir das Gefühl des Denkzwangs vom Gefühl des assoziative bedingten Zwangs unterscheiden können. Ich habe bei der experimentellen Untersuchung von Urteilsprozessen festgestellt, daß es den Versuchspersonen nicht schwer fällt, den Denkzwang vom assoziativ bedingten Zwang zu unterscheiden, daß es aber viel schwerer für die Versuchspersonen ist, anzugeben, in welchen Merkmalen sich beide voneinander unterscheiden (1).

Bei näherer psychologischer Untersuchung stellt sich dann heraus, daß der Unterschied zwischen dem Gefühl des assoziativ bedingten Zwangs und dem Gefühl des Denkzwangs in vielen Fällen hauptsächlich darin besteht, daß das Gefühl des Denkzwangs eben das Erleben eines Zwangs unter einer ganz bestimmten Einstellung ist, die wir als Einstellung zum Denken bezeichnen. Eine nähere Beschreibung derselben habe ich an einem anderen Ort gegeben (2). Häufig wird von den Versuchspersonen auch angegeben, daß das Denknotwendigkeitsgefühl eine  aktive  Beimischung habe. Diese aktive Beimischung rührt wohl von der Einstellung zum Denken her.

Das Gefühl des Denkzwanges grenzt sich in manchen Fällen, abgesehen von der Beziehung zur Einstellung zum Denken, dadurch deutlich vom Gefühl des assoziativ bedingten Zwangs ab, daß sich das Gefühl des Denkzwangs mit einem mehr oder weniger deutlich hervortretenden  Gleichheitsbewußtsein  verbindet (3). Die Gleichheit ist dabei gesetzt zwischen dem jeweilig gemachten neuen Schritt im Denken und den Prämissen.

Beim Bewußtsein der Denknotwendigkeit ist zu unterscheiden das  Gefühl des tatsächlich im Denken auftretenden Zwangs  und die  Auffassung des erlebten Zwangs als Denkzwang.  Das Gefühl des Zwanges, welches tatsächlich von der Einstellung zum Denken abhängt, kann auftreten, ohne daß dabei ein Bewußtsein der Denknotwendigkeit, der Gültigkeit des Gedachten vorhanden ist. Ich spreche da vom Zustand der Sicherheit im Gegensatz zum Bewußtsein der Sicherheit. Diesen Zustand der Sicherheit habe ich allgemein als ein Etwas charakterisiert, welches so beschaffen ist, daß auf die Frage nach der Richtigkeit eine Bejahung eintritt. Dieses Etwas ist in manchen Fällen ein Gefühl des tatsächlich im Denken auftretenden Zwangs, der also nicht als Denkzwang aufgefaßt wird, aber nicht immer. Häufig gibt auf die Frage nach der Richtigkeit ein in den Denkoperationen auftretendes Beruhigungs- oder Befriedigungsgefühl einen deutlichen Anlaß zur Entwicklung des Bewußtseins der Sicherheit. Bei allen Versuchspersonen trat in meinen Untersuchungen über das Bewußtsein der Gültigkeit bei einfacher Anweisung, einen Schluß zu ziehen, in Schlußprozessen nach der ersten Schlußfigur und bei häufiger Aufeinanderfolge von Schlüssen gleicher Art das Notwendigkeitsgefühl häufig zurück; es gewinnt dann ein  Befriedigungsgefühl  an Bedeutung.

Es fragt sich nun, wie ein Befriedigungsgefühl oder Beruhigungsgefühl als Grundlage für die Entwicklung des  Bewußtseins  der Sicherheit dienen kann. Darauf habe ich (4) geantwortet:
    "Wenn man das verstehen will, muß man berücksichtigen, unter welchen Bedingungen diese Phänomene auftreten. Sie treten auf unter der von uns beschriebenen Einstellung zum Denken, welche durch den Vorsatz des Individuums bedingt ist, einen Schluß aus den und den Prämissen zu entwickeln. Tritt unter solchen Bedingungen eine Empfindung der Erleichterung, ein Befriedigungsgefühl auf, so wird diese Empfindung, dieses Gefühl im allgemeinen als Zeichen dafür angesehen werden können, daß der Forderung der Einstellung, gültige Schritte zum Ziel der Gewinnung des Schlußsatzes hin zu machen, entsprochen ist."
Man versteht so auch, wie sogar das  Fehlen des Gefühls der Unruhe  bei den Denkoperationen zur Grundlage für die Entwicklung des Gedankens der Sicherheit dienen kann; das ist offenbar durch das Vertrauen bedingt, welche die Versuchspersonen in die Prozesse setzen, die bei einer Richtung der Aufmerksamkeit unter einem bestimmten Gesichtspunkt auf den zu beurteilenden Tatbestand auftreten.

Wie steht es nun mit der  Freude an wissenschaftlicher Produktion? Webersche Gesetz gilt, der Fall ist. Interessanter ist der Fall, wo die einzelnen Schritte der Untersuchung nicht durch eine spezielle Methode im Voraus bestimmt sind.

Da vollziehen sich die Erkenntnisprozesse entweder so, daß die Lösung des wissenschaftlichen Problems  sprunghaft  auftritt oder nicht. Wir wollen den zweiten Fall zunächst ins Auge fassen. Da wird Freude über den Vollzug der Erkenntnisprozesse eintreten, wenn dieselben einen  glatten Verlauf  unter Mitwirkung dunkel bewußter Beziehungsgedanken nehmen und zwar umso mehr, je  reicher  die Beziehungsgedanken sind und je mehr diese Beziehungsgedanken  aufgefaßt werden als durch die eigene wissenschaftliche Phantasietätigkeit erzeugt. 

Diese reiche intellektuelle Betätigung verbindet sich mit Freude einmal  aufgrund des Reichtums dieser Betätigung,  die dem Kräftevorrat des Individuums entspricht und sodann  aufgrund der Auffassung dieser Betätigung als einer Leistung der eigenen wissenschaftlichen Persönlichkeit,  wobei der Gedanke der eigenen wissenschaftliche Leistungsfähigkeit hineinspielen kann.

Die an die Auffassung einer gerade vollzogenen wissenschaftlichen Betätigung als einer Leistung der eigenen Persönlichkeit, etwa mit einem Hineinspielen des Gedankens der Leistungsfähigkeit, auftretende Freude muß man scharf scheiden von dem sich leider nicht sehr selten bei Forschern realisierenden Fall, daß eine ähnliche Freude offenbar systematisch zur Entwicklung gebracht wird durch einen Rückblick auf längst vollzogene wissenschaftliche Leistungen. Das wirkt sich ohne Zweifel ungünstig auf den späteren Vollzug wissenschaftlicher Leistungen aus. Dem Gedanken nun an den im Denken erzielten Erfolg  ad hoc [sofort - wp] Raum zu geben, ist aber ohne Zweifel fördernd für einen späteren Vollzug wissenschaftlicher Leistungen.

Eine Steigerung der wissenschaftlichen Freude tritt in den Fällen ein, wo die betreffende Erkenntnis, weil sie eine abstraktere ist,  als eine solche aufgefaßt wird, die für ein größeres Gebiet der Erkenntnisobjekte Gültigkeit hat. 

Eine weitere  Steigerung der wissenschaftlichen Freude tritt eventuelle durch Kontrast  ein, nämlich im Kontrast zur  Unlust die sich im Forscher entwickelt, wenn ihm ein Problem zunächst unüberwindliche Schwierigkeiten zu machen scheint. Diese wissenschaftlichen Unlustgefühle stellen außerordentlich stark treibende Kräfte dar!

Diese Unlustgefühle mögen schon bei der Inangriffnahme des Problems wirken. Häufig setzen sie auch ein, nachdem bei anscheinend vollzogener Beantwortung des Problems sich an einer Stelle ein schwacher Punkt zeigt. Der Forscher muß sich der Wahrhaftigkeit und Zweckmäßigkeit wegen so einstellen, daß er über ihm als schwach erscheinende Punkte in seiner eigenen Entwicklung nicht hinweggeht, sondern sie scharf ins Auge faßt und die Unlust nicht scheut, die sich dabei entwickelt. Es verlohnt sich diese Unlustgefühle in sich zur kräftigen Ausgestaltung kommen zu lassen. Nach einem anfänglichen Stadium passiven Charakters nehmen sie in der Norm immer mehr aktiven Charakter an und bedingen ein hartnäckiges Festhalten an dem in einem schwachen Punkt noch ungelösten Problem. Man kann von einer  mutartigen Färbung  dieser aktiven wissenschaftlichen Unlustgefühle sprechen. Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gefühlszuständen, die bei einer Betätigung in einem der Gefahr nicht ganz entbehrenden Sport auftreten.

Sie unterscheiden sich von ihnen aber unter anderem darin,  daß beim wissenschaftlichen Forschen die Absicht einen Einfluß auf die ganze Gefühlsstimmung hat, Feststellungen zu machen, die der Wirklichkeit oder der Wahrheit entsprechen.  Daher kommt es, daß das wissenschaftliche Befriedigungsgefühl zuweilen den deutlichen Einschlag eines sittlichen Gefühlszustandes bekommt. Wo dieses Streben in einen Gegensatz zu anderen Tendenzen tritt, wie sie z. B. da vorhanden sind, wo ein Forscher Feststellungen macht, welche eigenen Lieblingsanschauungen, z. B. religiösen, widerstreiten, prägt sich die Absicht, sich durch die Wahrheit bestimmen zu lassen, deutlicher als gewöhnlich aus und die wissenschaftliche Freude bekommt dementsprechend einen stärkeren sittlichen Einschlag.

Wirken alle diese Faktoren bei der Entstehung der wissenschaftlichen Freude zusammen, so kommt ein Affekt von starker Intensität zustande. Diesen Fällen entspricht der Hymnus, den der sonst so trockene ARISTOTELES auf die produktive wissenschaftliche Betätigung singt:
    "Wenn nun unter den tugendhaften Handlungen die des Staatsmannes und des Feldherrn an Schönheit und Größe den übrigen voranstehen, diese aber keine Muße gewähren und nach einem Ziel außerhalb ihrer gewählt werden, wenn sich dagegen die Tätigkeit der Vernunft schon durch ihren Ernst unterscheidet, weil sie nur betrachtender Natur ist und kein Ziel außer ihr erstrebt und wenn ihr eine eigentümliche Lust innewohnt und diese die Tätigkeit mit steigert, so scheint diese Tätigkeit auch sich selbst zu genügen, Muße zu gewähren und frei von Ermüdung zu sein, soweit dies bei einem Menschen möglich ist ... Diese Glückseligkeit wird dann vollkommen für den Menschen sein, wenn sie die volle Länge des Lebens andauert, da nichts in der Glückseligkeit unvollendet sein darf. Ein solches Leben würde ein übermenschliches sein, denn niemand kann so leben, insofern er nur Mensch ist, sondern nur sofern etwas Göttliches in ihm besteht. Um so viel sich dieses Göttliche von zusammengesetzten Dingen unterscheidet, um so viel übertrifft auch dessen Tätigkeit die auf andere Tugenden gerichtete. Ist nun die Vernunft im Vergleich zu den Menschen etwas Göttliches, so ist auch das ihr gemäße Leben ein göttliches im Vergleich zum menschlichen. Auch braucht man nicht, wie die Ermahnungen vielfach lauten, nur auf Menschliches zu denken, weil man nur ein Mensch sei und nur auf Sterbliches, weil man nur ein Sterblicher sei, sondern man muß sich nach Möglichkeit unsterblich machen und alles tun, um ein Leben zu gewinnen, welches dem besten Teil in uns entspricht. Denn wenn es auch klein an Umfang ist, so übertrifft es doch weit jedes andere an Kraft und Ehre. Auch wird jeder in einem solchen Leben sein eigenstes Sein finden." (5)

LITERATUR - Gustav Störring, Psychologie des menschlichen Gefühlslebens, Bonn 1922
    Anmerkungen
    1) STÖRRING, Experimentelle und psychopathologische Untersuchungen über das Bewußtsein der Gültigkeit, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 14, Seite 20.
    2) STÖRRING, Untersuchungen a. a. O., Seite 9f
    3) STÖRRING, Untersuchungen, a. a. O., Seite 21f.
    4) STÖRRING, Untersuchungen a. a. O., Seite 32
    5) ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, übersetzt von KIRCHMANN, Seite 227 und 228.