p-4W. WundtF. HillebrandK. LamprechtK. MarbeJ. Eisenmeier    
 
OSWALD KÜLPE
Psychologie und Medizin
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"Bei bekannten Eindrücken pflegt regelmäßig die Wahrnehmung eines Gegenstandes und das Verständnis seiner Bedeutung verbunden zu sein. Damit wird uns die Möglichkeit eröffnet, den Vorgang der Erkenntnis genauer zu untersuchen und uns darüber klar zu werden, daß in der bloßen Empfindung, im bloßen Gegebensein eines Sinneseindrucks noch nichts liegt, was als eine Erkenntnis zu bezeichnen wäre."

"Es gibt keine Wahrnehmung ohne Identifikation und insofern auch keine reine Empfindung. Die einfachste Lichtempfindung enthält schon eine Identifikation, denn wir wissen, was sie ist, wir schätzen ihre Intensität ab, wir erkennen sie. So wird die Identifikation zur Basis aller Reflexe, ja zur Basis der Lebenserscheinungen überhaupt."

"Der Begriff der Identifikation macht alles Erkennen zum Wiedererkennen, während vielmehr umgekehrt das letztere eine Art des ersteren ist, nämlich das Erkennen der Bekanntheit, der totalen und partiellen Übereinstimmung mit einem früher gegebenen Eindruck."


III. Zum Problem der Seelenblindheit

Unter den vielen interessanten pathopsychischen Erscheinungen verdienen die Agnosien, die Erkenntnisstörungen als besonders interessant hervorgehoben zu werden. Sie bieten eine Grundlage für die psychologische Erkenntnistheorie dar, insofern sie getrennt zeigen, was bei bekannten Eindrücken regelmäßig verbunden zu sein pflegt: die Wahrnehmung eines Gegenstandes und das Verständnis seiner Bedeutung. Damit wird uns die Möglichkeit eröffnet, den Vorgang der Erkenntnis genauer zu untersuchen und uns darüber klar zu werden, daß in der bloßen Empfindung, im bloßen Gegebensein eines Sinneseindrucks noch nichts liegt, was als eine Erkenntnis zu bezeichnen wäre. Die Frage nach der Beschaffenheit des in diesem Vorgang zur Empfindung oder Wahrnehmung hinzutretenden Tatbestandes hat die agnostische Literatur von Anfang an beschäftigt und soll auch in unseren Erörterungen im Vordergrund stehen. Dabei werden wir abermals Gelegenheit finden, uns mit der Hypertrophie des Vorstellungsbegriffs auseinanderzusetzen. Außerdem aber möchte ich auf die Ergänzungsbedürftigkeit der wichtigsten über die Seelenblindheit handelnden Untersuchungen von einem psychologischen Gesichtspunkt aus nachdrücklich hinweisen und zum Schluß des Abschnitts ein Programm für eine vollständigere Untersuchung dieser Krankheitserscheinung vorschlagen, das selbst zur Anwendung zu bringen mir bisher versagt gewesen ist, obwohl ich es an Bemühungen um die Überweisung eines geeigneten Falles nicht habe fehlen lassen.

Die grundlegende Arbeit vom WILBRAND (20) bringt bekanntlich die Beobachtung einer 63jährigen gebildeten Dame, die sich nach einem Schwindelanfall in einem eigentümlichen Zustand des Sehens und Nichtsehens befand, den sie selbst als Traumzustand bezeichnet. Damals sind häufige Verwechslungen vorgekommen. Sie hatte einmal einen Hund als den Arzt angesehen und das Dienstmädchen, das zum Essen rief, als den gedeckten Tisch. Beim ersten Ausgang nach der Krankheit ist ihr das Aussehen ihrer Heimatstadt absolut verändert und völlig fremd erschienen. Sie war sehr beunruhigt und erschüttert, als ihr die Wärterin die sonst so bekannten Straßen und Gebäude wieder zeigte und sie sie nicht wiedererkennen konnte. Vier Jahre nach dem Unfall bestanden für sie noch immer größere Störungen dieser Art. Alles, was sie sah, hatte für sie einen fremden, eigenartigen Charakter angenommen. Das galt selbst von den Möbeln in ihrem Zimmer. Dabei konnte sie sich manche Straßen vorstellen, und die Eindrücke der Kindheit standen meist noch sehr lebhaft vor ihrer Seele. Auch sah sie alles vollkommen deutlich und bemerkte in den Physiognomien von Personen, die sie früher kannte, wenig oder gar keinen Unterschied. Ebenso konnten die optischen Vorstellungen durch entsprechende Reize anderer Sinne zumindest für einzelne Gegenstände des gewöhnlichen Gebrauchs prompt reduziert werden. Aber der Anblick vieler Gegenstände machte sie verwirrt und ängstlich. Vom Fenster sah sie ein Ding, das sich mit Rädern fortbewegte und eine menschliche Figur trug, aber erst nach langem Hinsehen erkannte sie darin einen Fleischerwagen.

Die Feststellungen von WILBRAND lassen eine ganze Reihe von Gesichtspunkten vermissen, deren Berücksichtigung das Krankheitsbild klarer gestaltet hätte. Wir wissen z. B. nicht, ob einzelne Gegenstände leichter erkannt wurden als andere, ob Unterschiede der Wahrnehmung in dieser Hinsicht bereits bestanden. Ebenso erhebt sich die Frage, ob die Beziehung der Sinnesinhalte auf Gegenstände im Raum ungestört war, wie es sich mit der Lokalisation und mit der Objektivierung verhielt. Hat sodann die Wahrnehmung bekannter Gegenstände vor derjenigen unbekannter einen Vorzug gehabt? Ist die Konzentration auf bestimmte Gegenstände und eine Abstraktion von anderen möglich gewesen? Sind die einzelnen Bestandteile der Sinneseindrücke, das Hell und Dunkel, das Weiß und Schwarz, die räumliche Beschaffenheit und die bunten Farben gleich gut wahrnehmbar gewesen? Worin hat die Verwirrung durch die Vielheit gleichzeitig wahrnehmbarer Objekte bestanden? Beruhte sie auf einer Unfähigkeit der Fixation und Konzentration oder der Unterscheidung und Abstraktion oder des Herauserkennens von Einzelheiten oder der Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Absicht? Hat ferner ein Unterschied in der Wahrnehmung rein optischer und gemischt optischer Gegenstände geherrscht, also zwischen Himmel, Mond, Kirchturm einerseits und Klavier, Feder, Buch andererseits? Wie und bis zu welchem Grad konnte die Wahrnehmung durch erläuternde oder hinweisende Worte unterstützt werden? Welche Beziehung bestand zwischen der Wahrnehmung und dem Handeln? Wie verhielt es sich mit der Gefühlswirkung der Sinneseindrücke? Konnte z. B. eine ästhetische Würdigung der optischen Gegenstände noch stattfinden? Auf alle diese lediglich die Wahrnehmung betreffenden Fragen erhalten wir bei WILBRAND keine Antwort. Sie zeigen uns zugleich die Lücken in den meisten anderen derartigen Untersuchungen. Außerdem sollen sie uns klar machen, daß der Psychologe noch ganz andere Gesichtspunkte und Interessen bei der Erforschung eines so seltenen Falles verfolgen könnte, als der Psychiater. So wäre z. B. das ästhetische Verhalten einer seelenblinden Person gegenüber optischen Eindrücken von größter Wichtigkeit für die seit FECHNER so oft ventilierte Frage nach der Bedeutung eines direkten Faktors für die ästhetische Wirkung.

Von besonderem Interesse sind natürlich die Mitteilungen über das Vorstellungsgebiet. Es geht aus ihnen her, daß optische Vorstellungen vorhanden und zum Teil lebhaft waren. Aber die Kranke hatte fast keine optischen Träume mehr, und die Leute, die sie seit der Erkrankung kennen gelernt hat, hinterließen keinen bildlichen Eindruck. Gerade diese Mitteilungen hätten zu einer viel genaueren und eindringenderen Untersuchung führen müssen. Wir wollen auch hier durch einige Fragen die Richtung andeuten, in der wir eine Aufklärung vermissen. Wie verhielt es sich mit den spontan, nicht durch besondere Motive angeregt target="_blank">Gesichtsvorstellungen? Wie stand es mit den einzelnen Bestandteilen derselben? Ließen sie sich durch den Willen leicht beeinflussen? Haben sie nach wie vor eine ungestörte Beziehung auf früher Wahrgenommenes oder später Wahrzunehmendes und damit auf Gegenstände gehabt? Ist die Erinnerung und die Erwartung im Anschluß an optische Vorstellungen ungestört gewesen? Wie verhielt es sich mit der Unterscheidung von Gedächtnis- und Phantasievorstellungen und wie mit der Gefühlswirkung derselben? Ließ sich im unmittelbaren Anschluß an einen Gesichtseindruck eine optische Vorstellung davon bilden? Wie stand es mit der Assoziation, dem Verlauf und der Geschwindigkeit einer Vorstellungsbewegung? Sind gewisse Arten optischer Vorstellungen vor anderen bevorzugt worden? Sind Interesse und Aufmerksamkeit, Dauer und Wiederholung von einem nachweisbaren Einfluß auf die Bildung neuer Vorstellungen gewesen? Bei der Bedeutung, welche, wie wir bald sehen werden, den Vorstellungen für die Erkenntnisstörung beigelegt worden ist, kann das Verhalten dieser Bewußtseinsvorgänge nicht gründlich genug erforscht werden (21).

Die Angaben WILBRANDs über das Erkennen und Wiedererkennen sind für ein psychologisches Verständnis dieser Erscheinungen ganz unzureichend. Wir erfahren einerseits, daß Geschriebenes und Gedrucktes gut und fließend gelesen und verstanden werden konnte, daß die Bedeutung einzelner Gebärden bekannt war und daß eine besondere Anstrengung auch in anderen Fällen ein Erkennen möglich machte. Andererseits haben sonst wohlbekannte Dinge ein völlig fremdes Aussehen und können, wenn gesucht, nicht gefunden werden, obwohl sie vor der Kranken stehen. Wir weisen auch hier durch unsere Fragen auf die Mängel der Untersuchung hin, die umso mehr zu beklagen sind, als die Kranke, nach ihren Aussagen zu urteilen, besonders befähigt war, über ihr Verhalten zuverlässige Beobachtungen anzustellen, und sich gewiß der Aufgabe einer eindringenderen Feststellung ihrer Krankheitssymptome nicht entzogen haben würde. Worin bestand, so fragen wir zunächst, das veränderte, fremde Aussehen? Fehlte etwa die Erinnerung daran, den Gegenstand früher wahrgenommen zu haben, oder sind die Sinnesinhalte selbst nach irgendeiner Richtung verändert oder ist die Unfähigkeit den betreffenden Gegenstand vorstellungsmäßig oder gedanklich zu ergänzen vorhanden gewesen, oder konnte er nicht mehr benannt und klassifiziert, in den Raum, die Zeit oder die Umgebung eingeordnet werden, oder lag eine Veränderung der Gefühlswirkung oder die eines sogenannten Wirkungsakzents, einer Komplexqualität und dgl. vor? Wie verhält sich ferner das Erkennen und Wiedererkennen bei Vorstellungen im Verhältnis zu dem bei Wahrnehmungen? Ist nicht vielleicht der Mangel an optischen Träumen lediglich eine Folge der Erkenntnisstörung gewesen? Wie stand es mit dem Finden und Wiederfinden von Gegenständen? Gab es Stufen im Erkennen und Wiedererkennen von allgemeineren zu spezielleren Bestimmungen der Gegenstände? Konnte die Patientin etwa noch erkennen, daß es eine Straße oder ein Zimmer war, was sie sah, ohne es spezieller unterbringen zu können und war vielleicht eine Deutung per analogiam noch möglich? Welche geistigen Operationen konnten überhaupt noch an den wahrgenommenen fremdartig erscheinenden Gegenständen ausgeführt werden, ließen sie sich von anderen unterscheiden, in Bezug auf die einzelnen Bestandteile miteinander vergleichen, konnten Beziehungen, z. B. der Abhängigkeit oder Sukzession, der Existenz, der Zahl an ihnen festgestellt werden, und ließen sie sich in irgendeiner Hinsicht oder Funktion beurteilen? Wie verhielt sich das Wollen und Handeln zu den nicht erkannten Gegenständen, lösten diese noch adäquate Reaktionen, wenn auch nur primitiverer Art, aus?

Erst nach einer befriedigenden Beantwortung solcher und anderer Fragen dürfte eine wirkliche Einsicht in die eigentümliche Beschaffenheit dieser Krankheit und eine wohlfundierte Theorie derselben möglich sein. Wenn man eine Störung der Erinnerungsbilder oder eine Unterbrechung der Leitung zwischen Wahrnehmungs- und Erinnerungsfeld zur Erklärung der Seelenblindheit annimmt, so entbehrt diese Annahme nach dem Vorstehenden durchaus einer sicheren Grundlage (22). Außerdem aber dürfte es erforderlich sein, die schon bekannten normalpsychologischen Erscheinungen mit den Krankengeschichten in die engste Beziehung zu bringen. Bekanntheit und Fremdheit, Erkennen und Wiedererkennen, Wahrnehmung und Erinnerung, Sehen und Verstehen sind doch auch sonst geläufige Tatsachen des Bewußtseins. Es geht nicht mehr an in Bezug auf sie die vulgäre Erfahrung allein zu befragen und die psychologische Einzelforschung unberücksichtigt zu lassen. Psychologische und medizinische Bedürfnisse und Gesichtspunkte müssen miteinander vereinigt werden. Die feinere Diagnose, die detailliertere Untersuchung kommen nicht nur dem Psychologen, sondern auch dem Arzt zugute. Wenn jener aus den pathologischen Phänomenen einen Gewinn ziehen soll, so bedarf er einer viel gründlicheren Analyse der Krankheitsbilder, als sie von medizinischer Seite geleistet zu werden pflegt. Aber auch der Arzt hat eine ganz andere Handhabe einzugreifen und zu behandeln, wenn die Symptome genau spezifiziert und eindeutig interpretiert worden sind.

Den hier gestellten Anforderungen entspricht die Arbeit von LISSAUER (23) in viel höherem Grad als die WILBRANDs. Sie enthält wirkliche Versuche am Patienten (einem 80jährigen Kaufmann), der bei einem schweren Unwetter vom Sturm mit dem Kopf gegen eine Bretterwand geschleudert eine Seelenblindheit akquiriert hatte, die zur Zeit der Untersuchung noch so weit fortbestand, daß der Patient einen großen Teil der gewöhnlichsten sinnlichen Objekte mit dem Gesichtssinn nicht wiedererkennen konnte. Durch die von LISSAUER festgestellten Arten der Verkennungen, durch die Leseproben und die Beobachtungen über den Formensinn erhalten wir ein weit genaueres Bild vom geistigen Zustand des Seelenblinden als bei WILBRAND. Aber auch hier leidet die ganze Untersuchung unter dem Vorurteilt, daß die Erinnerungsbilder an der Krankheitserscheinung beteiligt sein müssen. Deren Existenz wird durch die erhaltene Schreibfähigkeit des Patienten ebensowenig bewiesen, wie durch ein mangelhaftes Zeichnen in Frage gestellt. Ein Schreiben wäre ja auch aufgrund von akustisch-motorischen Erregungen möglich, und das Zeichnen aufgrund von Erinnerungsbildern pflegt doch wohl auch sonst eine erheblich größere Beeinträchtigung zu zeigen als das Zeichnen nach einer Vorlage. Ebensowenig sind die Angaben über die Gestalt und Farbe bekannter Objekte ein ausreichendes Kriterium für das Verhalten der Vorstellungen. Jedenfalls hat es bei diesem Patienten auch nicht an Erinnerungsvorstellungen gefehlt. Die wichtige Frage, ob das Erkennen auch Vorstellungen gegenüber versagt hat oder mit ihnen stets verbunden war, ist auch hier leider nicht geprüft worden. Die Beobachtungen scheinen auf eine mögliche Trennung beider Vorgänge auch bei Vorstellungen hinzuweisen, und bei der Güte des optischen Gedächtnisses dieses Kranken für frische Eindrücke wäre es nicht schwer gewesen zu prüfen, ob das Erkennen und Wiedererkennen auch Vorstellungen gegenüber gestört war. Aber freilich, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß das bloße Hinzutreten einer Vorstellung zu einem Sinneseindruck die Bekanntheit des letzteren bewirkt, dann kommt einem nicht einmal die Idee, auch die Vorstellungen auf diesen Charakter hin zu prüfen. Das zeigt so recht, wie schädlich der Dogmatismus für die Pathopsychologie ist.

Ebenso hätte die Wahrnehmungsfähigkeit als solche genauer bestimmt werden sollen. Bei der Annahme, daß die sogenannten Apperzeptionsmassen, die Gedächtnisresiduen einen wesentlichen Einfluß auf die Wahrnehmung haben, bei der uns naheliegenden Ansicht, daß das Erkennen die Wahrnehmung eines Gegenstandes sehr erleichtert, wäre es wünschenswert gewesen, über die Leistung der bloßen Wahrnehmung genauer aufgeklärt zu werden. Zwei Aussagen, die von einem Patienten berichtet werden, sind dabei von großem psychologischen Interesse. Er konnte ein Objekt bekannt finden, ohne zu wissen, was es ist. Sodann behauptete er entschieden, daß ein Gegenstand vor seiner Erkennung und nach ihr ganz gleich ausgesehen hat. In beiden Richtungen wäre eine genauere Feststellung der damit bezeichneten Tatsachen von Wert gewesen. So wie sie jetzt mitgeteilt sind, lassen sie einen zu großen Spielraum für die Interpretation zu.

Besonders dankenswert sind die von LISSAUER angestellten Versuche über die Beurteilung der konkreten Außenwelt, wobei dem Patienten viele im täglichen Leben vorkommende Gegenstände gezeigt wurden, über die er Auskunft geben sollte. Freilich wäre dabei ein systematischeres Vorgehen vorteilhaft gewesen, umd die regelmäßig erkannten und nicht erkannten Gegenstände (oder Bilder von solchen) deutlicher gegeneinander abgrenzen und ermitteln zu können, worauf dieser Unterschied beruhte. Jetzt weiß man nur, daß einige Gegenstände erkannt wurden (eine von mir aufgestellte Liste derselben hat mir keine Einsicht in den wahrscheinlichen Grund dieser ihrer Ausnahmestellung gegeben), daß Schwankungen in Bezug auf dieselben Gegenstände vorkamen und daß die Verkennungen nach bekannten Gesetzen der Reproduktion und Perseveration [Tendenz seelischer Inhalte im Bewußtsein zu verharren - wp] erfolgten. Worin aber das Erkennen eigentlich bestand, erfährt man nicht, weil keine Vergleichsversuche in Bezug auf diese Frage angestellt wurden. Immerhin scheint auch im Fall des Nichterkennens nicht nur ein allgemeines Wissen davon erhalten gewesen zu sein, daß es sich überhaupt um Gegenstände handelte, sondern in manchen Fällen sogar ein spezielleres Wissen, wie z. B. dort, wo leblose und lebende Gegenstände unterschieden wurden, oder von einem Bild gesagt wurde, daß es eine Figur ist. Es fehlt somit nicht jedes Verständnis für die Bedeutung eines Sinneseindrucks bei dieser Seelenblindheit, wohl aber das Verständnis für die spezifische Beschaffenheit des Gegenstandes. Damit zeigt sich die auch sonst in der Psychologie bekannte Erscheinung, daß man die allgemeineren, größeren Gruppen von Gegenständen voneinander trennenden Eigenschaften leichter erkennen kann, als die spezifischen, individuellen Merkmale. Diese wiederum für die gedankliche Natur des Erkennens sprechende Gesetzmäßigkeit verdiente eine besondere Feststellung.

Das Verständnis der Bedeutung ist nun bloß für die optischen Gegenstände gestört, hat also keine allgemeine Herabsetzung erfahren. Darum werden wir annehmen müssen, daß nur die Anwendung der Erkenntnisfähigkeit auf die optischen Inhalte gehemmt ist. Dabei zeigt sich, wie aus den Versuchen hervorgeht, daß das Bedeutungsverständnis optisch dargebotener Gegenstände zugleich die Voraussetzung für ihre sinngemäße Benutzung ist. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, auf den Mangel des Erkennens aus dem Mangel der Benutzbarkeit zu schließen. Daß dieses objektive Kriterium der Anosie nicht eindeutig ist, haben uns die apraktischen Störungen gelehrt. Es scheint ferner auch die sinngemäße Bezeichnung eines Gegenstandes aufgehoben zu sein, wo das Verständnis seiner Bedeutung fehlt, und so wird es möglich als ein zweites Kriterium der Agnosie die Unfähigkeit einer sinngemäßen Benennung bei sonst erhaltener Fähigkeit zu einer solchen zu verwenden. Ein drittes Kriterium kann aus der Tatsache abgeleitet werdne, daß sich an das Erkennen allerlei intellektuelle Operationen anknüpfen, wie z. B. das Rechnen bei Zahlen, die kausale und teleologische Beziehung auf andere Gegenstände und dgl. mehr. Aus dem Versagen solcher Operationen mit einem gegebenen Gegenstand wäre, falls sie sonst möglich sind, gleichfalls auf eine agnostische Störung zu schließen.

Damit ist natürlich nicht gesagt, daß das Erkennen in diesen seinen Folgen besteht. Die psychologische Frage nach seinem Wesen ist damit nicht beantwortet, daß man die objektiv feststellbaren Kriterien für sein Stattfinden angibt. Deskriptiv wird sich das Erkennen nur durch Selbstbeobachtung bestimmen lassen. Anfänge dazu liegen in tachistoskopischen [Apparat zur Darbietung verschiedener optischer Reize bei psychologischen Tests zur Prüfung der Aufmerksamkeit - wp] Leseversuchen, in Reaktionsversuchen (24) und in den Untersuchungen über das Verständnis von Worten und Sätzen vor, aber es ist natürlich nicht leicht, normalpsychologische Bedingungen herzustellen, die eine Trennung von Wahrnehmung und Erkennen ermöglichen. Alle diese Versuche haben jedoch für die Annahme keine Bestätigung erbracht, daß das Erkennen sich einfach in einm Reproduzieren von Erinnerungsbildern vollzieht (25).

Das Verfahren von LISSAUER, durch die Suggestion von Namen dem Patienten bei den Erkennungsversuchen zu Hilfe zu kommen, kann in einer systematischen Anwendung zweifellos lehrreich sein. Wenn man die Namen nach einem bestimmten Leitfaden mehr oder weniger an die Gegenstände angepaßt wählt und dabei streng unwissentlich verfährt, ferner die Einwirkung eine bestimmte Zeit dauern läßt, so müßte für die Verkennungen ebenso wie für die Stufen des Erkennens mancherlei, zumindest eine Kontrolle anderer Versuche zu gewinnen sein. LISSAUER scheint aber diese Methode mehr zufällig benutzt zu haben und gibt darüber nur an, daß sie sich meist als ein Unterstützungsmittel erwies. Bemerkenswert dabei ist, daß der richtige Name vom Patienten nicht immer akzeptiert, sondern ein paarmal geradezu abgewiesen wurde. Diese und andere Tatsachen lassen die Forderung aufstellen, daß die Bedingungen bei solchen Versuchen möglichst konstant gehalten werden müssen. Das gilt nicht nur für die äußeren Umstände, sondern auch für die Disposition des Subjekts.

Von Interesse ist ferner die Feststellung, daß die Sinneseindrücke vor und nach dem Erkennen gleich deutlich waren, auch noch dadurch, daß sie derjenigen Theorie der Aufmerksamkeit, die in ihr den Klarheitsgrad des Bewußtseins erblickt und sie auf die Apperzeption im HERBART-ERDMANNschen Sinne zurückführt, verhängnisvoll zu werden droht. Übrigens sind auch bei LISSAUER fast sämtliche beim WILBRANDschen Fall von uns aufgeworfenen Fragen unbeantwortet geblieben. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Agnostikern besteht darin, daß bei WILBRAND die frischen Eindrücke nicht erhalten bleiben, während sie bei LISSAUER recht gut in das Gedächtnis hinüberwirken. Wenn trotz dieses Unterschieds in beiden Fällen Seelenblindheit vorlag, so kann sie jedenfalls nicht auf einem Mangel an optischen Vorstellungen beruhen. Für die WILBRANDsche Kranke hatten alle Gegenstände ein verändertes, fremdes Aussehen, selbst das eigene Gesicht im Spiegel. Vom LISSAUERschen Kranken scheint das nicht zu gelten. Daß das nicht einfach auf einem geringeren Grad der agnostischen Störung beruth, geht daraus hervor, daß der LISSAUERsche Kranke fast gar nicht mehr lesen und früher bekannte Personen wiedererkennen konnte.

Unsere Kenntnis der Seelenblindheit ist sodann durch sorgfältige Untersuchung von F. MÜLLER wesentlich gefördert worden (26). Hier wird über zwei Fälle, zwei Handwerksfrauen von 50 und 56 Jahren berichtet, von denen der erste weit ergiebiger und interessanter ist als der zweite. Wir lernen daraus zunächst mit besonderer Eindringlichkeit die Wichtigkeit des Erkennens für das Leben einsehen. Die Kranke konnte ihre Kleider nicht finden, fand sich in ihrem Zimmer nicht mehr zurecht, war zu jeder Arbeit unfähig, mußte sich die Speisen vorlegen lassen und wie eine Blinde geführt werden. Das alles gehört zu dem von uns angegebenen ersten Kriterium der Agnosie. Aber die primitive Funktion des Ausweichens, wenn ein Gegenstand im Weg steht, war noch möglich. Ferner erfahren wir, daß an die nicht erkannten Gegenstände gedacht, daß sie gesucht und gewußt werden können, ohne daß ihre Auffindung und Erkennung gelingt. Ebenso wird uns mitgeteilt, daß die Unfähigkeit, sich mit der Außenwelt optisch in Relation zu setzen, sich nützlich zu machen, die Kranke depremiert, daß sie also ein volles Bewußtsein von ihrem Leiden hat. Sodann finden wir hier die Auffassung bestätigt, daß die Aufmerksamkeit den optisch wahrnehmbaren Gegenständen auch dann noch zuteil werden kann, wenn sie nicht erkannt werden können. Ferner stellt sich auch hier heraus, daß ein gewisses allgemeines Erkennen noch möglich ist: ein Unterscheiden von Dingen und Personen, von Männern und Frauen, von hell und dunkel, gleich und verschieden, sowie daß das Verkennen innerhalb gewisser durch die Ähnlichkeit gezogener Grenzen bleibt. Von besonderen Interesse ist sodann, daß ein optischer Gegenstand kurz nach taktil vermittelter Erkennung auch optisch erkannt, zumindest sinngemäß benannt werden konnte. Schließlich tritt uns hier eine gewisse Abart unseres dritten Kriterium entgegen, insofern die Kranke aus gewissen wahrgenommenen Eigenschaften eines vorgezeigten Gegenstandes schließen konnte, daß er ein bestimmtes Objekt nicht sein kann.

So wertvoll diese Ergebnisse der MÜLLERschen Untersuchung auch für den Psychologen sein müssen, so sind doch auch hier eine Anzahl von Desideratis [Wünschenswertes - wp] anzumerken. Wenn die Gedächtnisschwäche der Kranken besonders betont wird, so ist nicht zu übersehen, daß sie auch aus dem Mangel eines genügenden Interesses, der unter dem Einfluß einer gedrückten Stimmung vorgelegen haben wird, teilweise erklärt werden kann. Wenn ferner größere Objekte auf der scheinbar unempfindlichen Netzhauthälfte (es bestand, wie meist bei Seelenblindheit, Hemianopsie [Ausfall einer Hälfte des Gesichtsfeldes - wp]) wirksam werden konnten, so ist daraus die Lehre zu entnehmen, daß man bei der Untersuchung agnostischer Fälle möglichst eindrucksvolle Gegenstände benutzen sollte, die sich gut von der Umgebung abheben und eine gewisse Größe haben. Die Kranke von WILBRAND wurde durch die Vielheit der Objekte verwirrt. Die Abgrenzung der Gegenstände zu selbständigen Objekten wird durch das Wissen von ihrer Bedeutung wesentlich erleichtert und sollte daher hier, wo ein solches Wissen erschwert ist, durch äußere Umstände, räumliche Isolierung, gute Beleuchtung, Helligkeitskontrast und dgl. unterstützt werden. Daß MÜLLERs erste Kranke intensiv gefärbte Stoffe bestimmt als farbig bezeichnen konnte, und daß stark riechende Stoffe erkennbar waren, weist ebenfalls auf die Wichtigkeit dieses Faktors hin. Damit soll nicht bestritten werden, daß es ein interessantes Problem für sich ist, zu ermitteln, in welchem Grad das Erkennen von solchen Umständen abhängig ist.

Es ist darum methodisch notwendig, die Wahrnehmung möglichst günstig zu gestalten und gleichförmige Bedingungen für sie einzuhalten, wenn man eine Agnosie feststellen und prüfen will. Hält man sich nicht an diese Forderung, so kann das Erkennen einfach durch schlechte Wahrnehmungsleistungen in seiner Ausübung gehemmt sein. Die Hemianopsie erschwert ja schon ansich die optische Orientierung und Einstellung. Darum muß für bestmögliche und konstante Bedingungen der Sehschärfe, Fixation, Isolierung, Beleuchtung, charakteristische Erscheinungsweise der Gegenstände gesorgt werden, wenn man wirkliche Agnosie diagnostizieren will. Kann unter diesen günstigen Umständen, bei deutlichster Wahrnehmung ein Objekt nicht erkannt werden, so kann dann jedenfalls nicht mehr die Wahrnehmung daran die Schuld tragen. Diese einfache Grundregel ist auffallenderweise bisher nicht erwähnt und, wie es scheint, auch nicht genügend beachtet worden.

Daraus, daß die Kranke auf Diktat keine Zahlen schreiben und die ihr in die Hand geschriebenen auch nicht erkennen konnte, geht nicht hervor, wie MÜLLER annimmt, daß das Erinnerungsbild der Ziffern abhanden gekommen ist. Vielmehr würde sich jene Tatsache einfach dadurch erklären lassen, daß weder die wahrgenommene noch die vorgestellte Ziffer als Zahl erkannt wurde. Man ersieht auch hieraus, wie wichtig es wäre, spezielle Versuche über die Erkennbarkeit von Vorstellungen auszuführen. Es sei uns ein neuer Eindruck gegeben, den wir noch nicht kennen. Es gelingt uns nach einer Wahrnehmung desselben eine Vorstellung davon zu erzeugen. Haben wir damit irgendetwas für das Verständnis jenes neuen Eindrucks gewonnen? Die Unfähigkeit, vorzugsweise sichtbare Gegenstände zu schildern, braucht ebenfalls nicht auf den Verlust optischer Vorstellungen hinzuweisen. Sie würde sich auch erklären, wenn diese Vorstellungen vorhanden wären aber nicht erkannt würden. Dazu kommt die Geläufigkeit der Gegenstände, die Vertrautheit mit ihnen, das Interesse für sie in Betracht. Die Fähigkeit einer sinngemäßen Benutzung von Gegenständen involviert noch nicht die Möglichkeit ihrer genauen Beschreibung. Wir können Buchstaben, die wir anstandslos auf Diktat oder spontan niederschreiben, nicht immer schildern, und man kann in seinem Zimmer sehr gut Bescheid wissen und doch seine Einzelheiten anzugeben nicht immer imstande sein. Selbst der Hinweis auf fehlende Träume beweist nichts für einen wirklichen Mangel an Gesichtsvorstellungen. Auch im WILBRANDschen Fall waren die optischen Träume fast ganz verschwunden und dennoch Gesichtsvorstellungen in erheblichem Maß vorhanden. Nehmen wir an, daß das Verständnis für deren Bedeutung ebenso erloschen war, wie für die der Sinneseindrücke, so würde sich verstehen lassen, daß die Erinnerung an sie und damit auch an die Traumvorstellungen so stark herabgesetzt war, wie das bei sinnlosen Gegenständen der Fall zu sein pflegt. Wenn Gesichtshalluzinationen bei ihr stattgefunden haben, die keine Erinnerung hinterließen, so werden wir zu einer solchen Erklärung unmittelbar angeregt. Von einem besonderen Eindruck der Fremdheit wird übrigens auch hier nicht berichtet.

Die Untersuchung von H. RABUS (27) weist einige interessante psychologische Züge auf. So scheint die Aufmerksamkeit des Kranken (eines Tagelöhners von 65 Jahren) anfangs ganz erloschen gewesen zu sein, sofern er nicht unter Halluzinationen gelitten hat. Das Bemerken kann wohl als eine besonders primitive Aktivität des Subjekts betrachtet werden, deren Störung erst bei einem viel tiefer liegenden Defekt eintritt, als er für eine Störung des Erkennens vorausgesetzt zu werden braucht. Die Prüfung der Agnosie wurde hier fast ausschließlich nach dem Kriterium der Benutzbarkeit von Gegenständen durchgeführt, offenbar, weil der Kranke an Sprachstörungen litt, die das Umschreiben der gemeinten Bedeutung unmöglich machten oder zumindest behinderten. Von Interesse ist ferner, daß sich das Verständnis zuweilen an die Nachahmung einer vorgemachten Bewegung oder Handlung knüpfte. Eine ähnliche Funktion haben die Nachahmungsbewegungen auch beim ästhetischen Verhalten, wenn wir eine uns fremde Haltung, Gebärde oder Miene begreifen wollen. Sodann wird uns berichtet, daß das Verstehen mehrfach plötzlich aufleuchtete, so etwa, wie es bei der taubstummblinden HELEN KELLER der Fall war, als ihr die symbolische Funktion der Wörter zum erstenmal aufging (28). Die Fremdheit des Sinneseindrucks ist hier durch die Herstellung einer Beziehung zum Bedeutungswissen überwunden worden. Für die selbständige Bedeutung der Komplexe in unserem Vorstellungs- und Gedankenverlauf spricht die Tatsache, daß der Kranke ein ganzes Lied singen, aber nicht einzelne Wörter richtig nachsprechen konnte, ebenso, daß er seinen Namen noch zu schreiben imstande war, während wahrscheinlich die einzelnen Buchstaben desselben und andere aus ihnen bestehende Wörter nicht geschrieben werden konnten. (29)

Es hat hier freilich kein reiner Fall von Seelenblindheit vorgelegen. Die Agnosie scheint sich auch ziemlich stark auf die taktile Sphäre erstreckt zu haben. Denn Gegenstände konnten oft auch dann nicht erkannt werden, wenn sie in die Hand genommen wurden, obwohl sie deutliche taktile Merkmale hatten. Wenn aber eine Seelenanästhesie bestand, dann ist das vom Verfasser angewandte Benutzungskriterium mit unmittelbarer Demonstration des Gebrauchs für die Feststellung der Seelenblindheit von untauglicher Mehrdeutigkeit gewesen. Die Untersuchung ist auch sonst sehr lückenhaft und oberflächlich ausgefallen. Es fehlt die genaue Sinnesprüfung, die Abgrenzung der Erkenntnisstörung, jede Angabe über die Vorstellungstätigkeit, jede eindringlichere Analyse. So kann man nur bedauern, daß ein interessantes Krankheitsbild denen in die Hände fiel, die damit nichts Rechtes anzufangen wußten.

Wir wenden uns zum Schluß unserer kritischen Betrachtung zu zwei zusammenfassenden Darstellungen, die uns Veranlassung geben sollen, auf einige theoretische Fragen näher einzugehen. VICTOR NODET (30) gibt nach einer wertvollen und vollständigen historischen Übersicht über die Entwicklung der Lehre von der Agnosie eine Schilderung der physischen und psychischen Phänomene der Seelenblindheit. Dabei unterscheidet er nach dem Voranschreiten WERNICKEs zwischen primärer und sekundärer Identifikation im Erkenntnisak. Ein Objekt erkennen bedeutet NODET einen gegenwärtigen Eindruck mit früher erworbenen Erinnerungen identifizieren. Diese Identifikationen bilden eine Kette von den einfachsten zu den komplexesten, in denen jedes höhere Glied das niedere einschließt und voraussetzt. Es gibt keine Wahrnehmung ohne Identifikation und insofern auch keine reine Empfindung. Die einfachste Lichtempfindung enthält schon eine Identifikation, denn wir wissen, was sie ist, wir schätzen ihre Intensität ab, wir erkennen sie. So wird die Identifikation zur Basis aller Reflexe, ja zur Basis der Lebenserscheinungen überhaupt. Als primäre Identifikation hat die Erkenntnis der einfachsen Empfindungen, des Lichts, des Geräusches zu gelten, als sekundäre Identifikation die bewußte und lokalisierte Wahrnehmung. Diese Ausführungen, die uns auch sonst in der agnostischen Literatur begegnende Bestimmungen über den Erkenntnisakt bringen, haben den großen Vorzug vor der älteren Vorstellungslehre, daß sie eine gewisse Vergleichung zu den Empfindungen und zu den Gedächtsnisresiduen hinzutreten lassen, also die Erkennung nicht einfach auf Vorstellungen zurückführen. Aber dieser Vorzug wird durch die überaus weitherzige Anwendung des Begriffs der Identikatioin wieder preisgegeben.

Zunächst soll nach NODET die vitale Reaktion einer Amoebe auf einen Reiz oder der Lidreflex ebenso auf einer Identifikation beruhen, wie unsere Handlungen nach Befehlen, die wir verstehen. Damit wird der Unterschied zwischen Bewußtseinsinhalten und organischen Reaktionen, zwischen einer psychologischen und einer physiologischen Betrachtung ganz verwischt. Ein psychisches Phänomen, wie die Erkennung, das sich deskriptiv gegen andere psychische Phänomene abgrenzen läßt, wird durch eine solche Ausdehnung des Begriffs in höchst unzweckmäßiger Weise ganz um seine psychologische Charakteristik gebracht. Dadurch erhält die Untersuchung von NODET von vornherein eine unpsychologische Wendung, sie geht an der lohnenden Aufgabe einer Schilderung der in Betracht kommenden Bewußtseinstatsachen mit billigen evolutionistischen Bemerkungen vorbei. So fehlt es auch ganz an einer nur irgendwie befriedigenden oder ernsthaften psychologischen Theorie der Seelenblindheit und an einer Kritik der in den bisherigen Analysen dieses Phänomens hervorgetretenen Mängel. NODET hat gar nicht das Bedürfnis, die Symptome feiner herauszuarbeiten und zu differenzieren und die Notwendigkeit einer vollständigeren und detaillierteren Bearbeitung der Krankheitsbilder zu betonen.

Aber noch in einer anderen Hinsicht läßt die Lehre von der primären und sekundären Identifikation die psychologische Einsicht vermissen. Das bloße Haben einer Empfindung, eines Bewußtseinsinhaltes, eines Erlebnisses ist nicht schon ein wenn auch noch so primitives Erkennen derselben. Man braucht nur gedankenlos auf einen Gegenstand zu starren, von der Beschäftigung mit ihm gänzlich abgelenkt zu sein, um sich den Unterschied zwischen dem Haben eines Gesichtseindrucks und seiner irgendwie gearteten Erkenntnis klar zu machen. Man kann zweifellos Lichtempfindungen haben, ohne zu wissen, was sie sind, oder ihre Intensität abzuschätzen. Dann aber ist es unrichtig, schon bei der einfachsten Empfindung von einer primären Identifikation zu reden. Das bloße Erleben von Empfindungen, das bloße Sehen oder Hören, ja selbst das aufmerksame Erleben desselben bedeutet noch nicht ihre Beziehung auf die frühere Erfahrung, ihre Bestimmung mit Hilfe derselben. Wäre es nicht so, so gäbe es überhaupt keine ausgesprochene Seelenblindheit. Die Tatsache, daß jemand Empfindungen hat, würde bereits genügen, um ein optisches Erkennen für ihn behaupten zu lassen. Der "seelenblinde" Hund von MUNK, der einem Hindernis ausweicht, wäre dann auch ein erkennender Hund.

Allerdings fehlt es noch an systematischen Beobachtungen über das Verhalten gegenüber den Sinneseindrücken als solchen. Ihre Auffassung müßte in allen ihren Stadien analysiert werden. Die Skala von den allgemeinsten bis zu den speziellsten Bestimmungen wird dabei durchlaufen werden müssen. Tachistoskopische Prüfungen der Farbenschwelle haben gezeigt, daß die Angabe "Lichteindruck überhaupt" bei kürzerer Expositionszeit möglich ist, als eine konkretere Feststellung seiner Beschaffenheit. Auch bei Seelenblinden hat man gefunden, daß die längere Betrachtung eine Erkenntnis herbeiführt, die bei kürzerer Wahrnehmung unmöglich war. Hier besteht eine große und interessante Aufgabe für einen Psychologen, der an die Phänomene der Seelenblindheit herantritt. Sind gewisse allgemeinste Bestimmungen noch anwendbar, wie die des Gegenstandes, der Gleichheit und Verschiedenheit, des leblosen Dings und einer Person usw., so verliert die Seelenblindheit ihren absoluten Charakter, und wir erhalten ein natürliches Verständnis für ihre Grade. Zugleich ließe sich durch eine systematische Untersuchung verschiedener Fälle eine entwicklungsgeschichtliche und psychologische Skala kategorialer Formen gewinnen.

Ein Problem für sich bildet hier auch das Wiedererkennen, das ein Wissen um die Bekanntheit eines Gegenstandes enthält. Ob diese Bekanntheit für die primären Sinneseindrücke als solche noch besteht, wenn sie für deren Bedeutung nicht mehr vorhanden ist, müßte noch besonders festgestellt werden, wie überhaupt die Trennung zwischen einem Gegenstand und seiner Bedeutung für die Lehre vom Wiedererkennen erst durchgeführt werden muß. Zweifellos enthält ein Wiedererkennen nicht das Stattfinden einer vollen Erkenntnis des Gegenstandes, wenigstens braucht es nicht darin zu bestehen. Dagegen ist, wenn überhaupt, nur das Wiedererkennen streng genommen als eine Identifikation anzusehen. Es schließt stets die Beziehung auf eine frühere Erfahrung ein, es ist ein Erinnerungsvorgang. Das Erkennen dagegen braucht gar keine Erinnerung zu sein. Eine Identifikation findet dabei nur in einem ganz abgeblaßten Sinn statt, und ihr Begriff enthebt uns wahrlich nicht der Mühe, in jedem Einzelfall festzustellen, was eigentlich für identisch mit einer früheren Erfahrung gehalten wird. Auch das spricht gegen die ungeklärte Anwendung dieses Ausdrucks auf den Erkenntnisvorgang. Der Begriff der Identifikation macht alles Erkennen zum Wiedererkennen, während vielmehr umgekehrt das letztere eine Art des ersteren ist, nämlich das Erkennen der Bekanntheit, der totalen und partiellen Übereinstimmung mit einem früher gegebenen Eindruck.

NODET sieht zwar ein, daß man die Seelenblindheit nicht einfach auf den Mangel an optischen Vorstellungen zurückführen kann, meint jedoch, daß es theoretisch unmöglich ist, die vollständige Erhaltung der Erinnerungsbilder anzunehmen, und daß sie auch klinisch nie beobachtet worden ist. Er übersieht dabei ganz, daß die Frage hier nicht darin besteht, ob und in welchem Maß Erinnerungsbildung vorhanden waren oder beobachtet wurden, sondern darin, ob sie etwas für den Erkenntnisvorgang zu bedeuten haben und welche Rolle sie dabei spielen. Wir wiederholen nicht, was wir früher bereits gegen die Vorstellungstheorie der Seelenblindheit ausgeführt haben. Aber wir wollen doch noch darauf hinweisen, daß bisher keineswegs ein proportionaler Zusammenhang zwischen dem Grad der Seelenblindheit und dem Grad der Vorstellungsfähigkeit aufgezeigt worden ist, und daß die großen individuellen Unterschiede, die das normale Bewußtsein in der Ausbildung anschaulicher Vorstellungen zeigt, unseres Wissens keine entsprechenden Unterschiede in der Erkennungs- oder Wiedererkennungsfähigkeit nach sich ziehen.

Die andere Übersicht, von der wir sprachen, stammt von dem ausgezeichneten Genfer Psychologen CLAPARÉDE (31). Hier finden wir die Angabe, daß es möglich sein soll, aufgrund eines Wissens ein Objekt zu erkennen, ohne seinen Sinneseindruck mit einem Gedächtnisbild zu vergleichen. Hier wird es auch als eine wichtige Aufgabe der Prüfung des Wiedererkennens bezeichnet, daß man bei Seelenblinden untersuchen läßt, ob sie ein Objekt als solches wiedererkennen, ohne seine Bedeutung zu kennen. Ferner werden die Störungen der Orientierung feinsinnig analysiert und verschiedene Anforderungen erhoben, die den psychologisch geschulten und eingestellten Forscher verraten. Aber auch CLAPARÉDE ist hier (32) noch zu sehr in den Kreis der Assoziationspsychologie gebannt. Er faßt die Seelenblindheit als eine Störung in den Assoziationsbahen und hält an den unbrauchbaren Begriffen einer primären und sekundären Identifikation fest, wenn er sie auch mit einem einfacheren Gehalt zu erfüllen scheint und zwischen einer Erkennung der Sinneseindrücke als solcher und ihrer Bedeutung mit Recht unterscheidet.

CLAPARÉDE versteht unter primärer und sekundärer Identifikation die einfache und die komplizierte Wahrnehmung. Jene ist der Prozeß, in dem uns der Gegenstand als eine Einheit, als ein Ganzes der Außenwelt gegeben ist, unabhängig von den Vorstellungen oder Gefühlen, die er erregen kann. Das sinnliche Erkennen, die HERBARTsche Apperzeption ist auf diesem Boden verwirklicht. Zu der komplizierten Wahrnehmung wird das Verständnis der Bedeutung der Gegenstände, eine intellektuelle Erkenntnis, ein begriffliches Erfassen gerechnet. Beide Formen hängen voneinander ab und umfassen ihrerseits eine Fülle von Stufen. So sehr eine richtige psychologische Einsicht diese Ausführungen durchdringt, so wird doch allen Ernstes von einer Identifikation zwischen dem Sinneseindruck A und seinem Bild a gesprochen, um das Wiedererkennen zu erklären. Das soll nun freilich keine förmliche Vergleichung sein, es genügt vielmehr, offene Bahnen für A anzunehmen. Hiernach entspricht der vielbehandelten Bekanntheitsqualität eines Eindrucks der physiologische Tatbestand offener Bahnen und muß demnach der Fremdheitsqualität der Tatbestand geschlossener Bahnen zugrunde liegen. Da wir nun aber bei bestbekannten Gegenständen keineswegs eine Bekanntheitsqualität zu erleben brauchen und doch sicherlich die offensten Bahen für sie annehmen müssen, so ist mit dieser physiologischen Behauptung gar keine Erklärung für den psychologischen Tatbestand des Wiedererkennens gegeben. In diesem letzteren Vorgang liegt ein besonderer Bewußtseinsinhalt vor, den man ebenso wie die charakteristische Fremdheitsqualität durch einen solchen rein formalen physiologischen Unterschied nicht kann verständlich machen wollen. Dazu kommt, daß es falsche Bekanntheits- und Fremdheitseindrücke gibt, daß nachweisbar bekannte Gegenstände uns fremd und nachweisbar fremde Gegenstände un bekannt erscheinen können. Hier dürfte die Annahme offener oder geschlossener Bahnen erst recht versagen, weil wir uns diese als eine natürliche Folgeerscheinung wirklicher Bekanntheit oder Fremdheit in erster Linie zu denken hätten.

Jedenfalls ist die psychologische Analyse vor aller physiologischen Erklärung schon deshalb notwendig, weil sie allein die Richtung zu bezeichnen vermag, in welcher die physiologischen Annahmen sich zu bewegen haben. Wir werden außerdem beim Wiedererkennen aufgrund seiner Bewußtseinserscheinungen zu einer Anzahl von Unterscheidungen geführt, die es uns verbieten, mit so einfachen Begriffen wie Offenheit oder Geschlossenheit von Bahnen seine Mannigfaltigkeit zu bestreiten. Da haben wir zunächst das unmittelbare und das mittelbare Wiedererkennen. Jenes scheint mit dem Eindruck selbst sofort gegeben zu sein, so daß die Bekanntheit bzw. Fremdheit wie eine Eigenschaft desselben aufgefaßt werden kann. Das mittelbare Wiedererkennen dagegen kommt erst aufgrund von Hilfen zustande, einer Vergegenwärtigung der Umstände, einer ausdrücklichen Vergleichung mit früheren Erlebnissen, einer Prüfung einiger oder aller Instanzen. Dabei braucht das mittelbare Wiedererkennen nicht notwendig ein kalter Schluß oder ein nüchternes Urteil zu sein. Es kann sich vielmehr auch hier der charakteristische Bekanntheitseindruck einstellen, wie er beim unmittelbaren Wiedererkennen die Regel ist. Ferner haben wir ein allgemeines und ein spezielles Wiedererkennen auseinander zu halten. Jenes stellt eine Bekanntheit überhaupt im einfachen Gegensatz zur Fremdheit fest. Dieses weiß den allgemeinen Eindruck auch zu begründen und auf Einzelheiten zu beziehen. Die für das Erkennen von uns bereits wiederholt hervorgehobenen Stufen von einer allgemeinsten bis zur speziellsten Bestimmung von Gegenständen spielen auch für das Wiedererkennen eine große Rolle. Auch hier scheint zu gelten, daß die allgemeine Bekanntheit leichter und rascher angebbar ist, als eine spezielle Form derselben (33). Der biologische Vorteil der Möglichkeit, die Stellung zu einzelnen Gegenständen nach gattungsmäßigen Gesichtspunkten zu regeln, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden.

Ein weiterer wichtiger Unterschied, der ebenfalls für das Erkennen und nicht nur für das Wiedererkennen gilt, betrifft die Richtung auf Inhalte und auf Gegenstände. Der von TWARDOWSKI, HUSSERL und THEODOR LIPPS besonders herausgearbeitete Unterschied zwischen dem einen Gegenstand repräsentierenden Bewußtseinsinhalt und diesem Gegenstand selbst durchdringt alle Formen des sinnlichen und des intellektuellen Erkennens. Wenn ich ein Haus wiedererkenne, so kann dieser Akt auf die Sinnesempfindungen oder auf das Objekt bezogen werden, welches wir uns in ihnen vergegenwärtigen. Ebenso kann das Verständnis der Bedeutung auf die Sinnesinhalte, die Farben, die Helligkeiten, die räumlichen Charaktere oder auf die Gegenstände bezogen werden, die Tische, Schlüssel, Straßen, welche wir mit Hilfe solcher Empfindungen wahrnehmen. Die Beobachtung, daß die Inhalte wechseln können, während der gemeinte Gegenstand derselbe bleibt, daß wir z. B. verschiedene Ansichten vom gleichen Objekt haben können, läßt die Notwendigkeit dieser Unterscheidung deutlich werden. Sie sollte fortan auch bei allen Untersuchungen über agnostische Störungen berücksichtigt werden. Die Tatsache, daß ein Gegenstand, der von einer anästhetischen Hand ergriffen wird, ohne Hilfe anderer Sinne noch erkannt werden kann, weist ebenfalls auf die unmittelbare praktische Bedeutung dieses Unterschiedes hin. (34) Aus der bisherigen Literatur über die Seelenblindheit aber ist gar nichts darüber zu ersehen, ob die Kranken Inhalte oder Gegenstände nach ihrer unmittelbaren Gegebenheit oder nach ihrer Bedeutung erkannt haben bzw. nicht erkannt haben.

Außerdem ist zwischen einem affektiven und einem affektlosen Wiedererkennen zu unterscheiden. Schon der eigentümliche Bekanntheits- und Fremdheitseindruck wird als eine Form des affektiven Wiedererkennens angesehen werden können. Er gehört zu der großen Klasse affektiver Färbungen, welche die Bewußtseinsinhalte, namentlich die Sinnesempfindungen unter gewissen Umständen annehmen. Der Erregungscharakter einer Farbe, die Süßigkeit eines Tones, der spannende Charakter einer wahrgenommenen oder vorgestellten Situation bilden bekannte Beispiele solcher affektgefärbten Inhalte (35). Ich wiederhole nicht, was ich schon in meinem "Grundriß der Psychologie" (Seite 177f) über die Entstehung eines solchen affektiven Wiedererkennens gesagt habe und im wesentlichen auch heute noch für richtig halte (36). Zu diesem unmittelbaren Affektcharakter des Wiedererkennens treten aber noch sekundäre Affekte hinzu, namentlich bei unerwarteten oder im Kontrast zu sonstigen Erfahrungen stehenden Erlebnissen. So ruft das Bekannte in fremder Umgebung besonders leicht Verwunderung, Freude, Ärger und dgl. mehr hervor. Ein affektloses Wiedererkennen pflegt einzutreten, wenn man darauf vorbereitet oder eingestellt ist, oder wenn das Bekannte gleichgültig und gewohnt ist.

Schließlich sei noch auf den Unterschied zwischen einem formulierten und einem unformulierten Wiedererkennen hingewiesen. Es versteht sich hierbei von selbst, daß die Formulierung nur durch das Bedeutungsbewußtsein überhaupt für das Wiedererkennen in Betracht kommt. Die bloße Reproduktion des Wortes "bekannt" ist und verbürgt noch kein Wiedererkennen des als Reproduktionsmotiv wirkenden Gegenstandes. Auf das Auftauchen von Bildern als solchen kommt es ebensowenig an. Erkennen und Wiedererkennen sind Denkakte, welche die Beziehung des zu erkennenden Gegenstandes auf eine gewisse, die Erkennung ausdrückende Bestimmungen ausführen. Sie sind ein Wissen oder ein werdendes Wissen um solche Bestimmungen, sofern diese für gewisse Gegenstände gelten sollen. Dabei bedient man sich der Worte, um sie zu bezeichnen und mitzuteilen, aber ohne ein Bewußtsein von ihrem Sinn haben diese für das Erkennen oder Wiedererkennen nichts zu bedeuten.

Das Bestimmen von Inhalten oder Gegenständen ist, wie sich jetzt leicht verstehen läßt, keine Identifikation eines Sinneseindrucks mit einem Erinnerungsbild. Für das einfache Erkennen kann jede noch so primitive Vergleichung dieser Art ausgeschlossen werden. Aber auch beim Wiedererkennen kann infolge der Regelmäßigkeit seiner Beziehung auf die Gegenstände und nicht auf die Inhalte eine solche Identifikation als unwahrscheinlich gelten.

Wir könnte die hier aufgestellten und erläuterten Unterscheidungen noch durch manch andere vermehren, wie z. B. durch die des willkürlichen und unwillkürlichen, des toten und partiellen Wiedererkennens usw. Aber die bisherigen Erörterungen mögen genügen, um zu zeigen, mit welcher großen Mannigfaltigkeit von Tatsachen wir es hier zu tun haben, und wie notwendig es hier ist, vor allen physiologischen Betrachtungen über eine Herderkrankung oder funktionelle Störung, über eine Läsion der Zentren oder ihrer Verbindungsbahnen, über den Sitz der Störung und ihre Beziehung zum Sektionsbefund erst einmal die psychologisch feststellbaren Tatsachen genau zu analysieren. Auch die Therapie dürfte von diesem Verfahren den größeren Nutzen haben.

CLAPARÉDE scheint anzunehmen, daß schon die einfache Wahrnehmung eine Identifikation enthält. Denn er rechnet zu den Störungen jener die Abwesenheit der Identifikation von A und a. Die klinische Beobachtung scheint ihm darin Recht zu geben. Die Kranke von WILBRAND hat sicherlich einfache Wahrnehmungen gehabt, aber alle Dinge hatten ein ganz verändertes Aussehen, erschienen ihr ganz fremd. Bei der mangelhaften Analyse dieses Falles kann man nun freilich sagen, daß diese Fremdheit auf eine Störung der sekundären Identifikation zurückeht. Aber das veränderte Aussehen spricht gegen diese Deutung. Ebensowenig kann man dasselbe auf eine Alteration der primären Identifikation zurückführen. Auf die Frage, ob die Dinge verändert aussahen, weil sie nicht erkannt wurden, oder ob sie nicht erkannt wurden, weil sie verändert aussahen, kann freilich im Sinne einer Agnosie nur das erste Glied der Alternative bejaht werden. Wie nun aber eine Störung der bloßen Identifikation ein verändertes Aussehen zustande bringen soll, bleibt ebenso unklar, wie die Möglichkeit einer solchen Störung selbst, wenn die Sinneseindrücke und ihre Erinnerungsbilder intakt gedacht werden. Vielmehr müssen Wahrnehmung und Erkenntnis sorgfältig voneinander getrennt werden, sonst läßt sich überhaupt keine scharfe Charakteristik der Agnosie geben.

Der von CLAPARÉDE zum Schluß mitgeteilte Plan zur Untersuchung der Seelenblindheit, der nach den Begriffen einer primären und sekundären Identifikation orientiert ist, muß gewiß mit Dank begrüßt werden, weil er verschiedenen psychologischen Gesichtspunkten Ausdruck verleiht, die bisher kaum oder gar nicht zur Geltung gekommen waren. Aber er ist zu summarisch und trägt nicht überall den heutigen Anforderungen Rechnung. Wir wollen deshalb die Erörterung über die Seelenblindheit mit einem vollständigeren Programm für deren Untersuchung beenden, das zugleich als ein praktisches Ergebnis unserer Kritik betrachtet werden darf. Dabei werden wir die einzelnen Aufgaben gelegentlich mit Vorschlägen für deren Ausführung versehen, aber uns mit wenigen Andeutungen in dieser Richtung begnügen, um nicht zu weitläufig und zu dogmatisch zu werden. Für die praktische Geschicklichkeit des Forschers, der ein solches Programm benutzen sollte, bleibt hier ein weiter Spielraum offen.
LITERATUR Oswald Külpe, Psychologie und Medizin, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. 1, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    20) WILBRAND, Die Seelenblindheit, 1887. Vgl. dazu STÖRRING, Vorlesungen über Psychopathologie, Seite 104f.
    21) Auf die Frage nach der Sonderung eines Wahrnehmungs- und eines Erinnerungsfeldes, richtiger eines Zentrums für Empfindungen und eines anderen für Vorstellungen desselben Gebietes wollen wir hier nicht eingehen. STÖRRING hat mit Recht (a. a. O., Seite 108) darauf hingewiesen, daß der Fall von WILBRANDS Patientin dafür nichts beweist. Darum könnte doch eine solche Trennung aus anderen Gründen wahrscheinlich sein. Als ich vor etwa 10 Jahren die Beobachtung machte, daß ich ein Vorstellungsbild neben dem Wahrnehmungsbild desselben Gegenstandes, eines auf dem Boden liegenden Schlüssels, oder auch superponiert [übereinanderstehend - wp] über das Wahrnehmungsbild, das wie durch eine körperlose Luftgestalt hindurchschien, projizieren konnte, glaubte ich in dieser Beobachtung eine viel sicherere Grundlage für jene so oft behauptete Verschiedenheit der beiden Zentren gefunden zu haben.
    22) Vgl. auch BERGSON, Materie und Gedächtnis, Seite 86f.
    23) Archiv für Psychiatrie, Bd. 21, 1890, Seite 222f.
    24) Vgl. namentlich E. WESTPHAL im Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 21, Seite 227f
    25) Damit soll natürlich nicht bestritten werden, daß amnestische Erscheinungen zu Agnosien führen können, wie sich z. B. aus den interessanten Beobachtungen von A. WESTPHAL (Archiv für Psychiatrie, Bd. 47, Seite 1f) ergibt. Aber man darf nicht übersehen, daß die Begriffe des Gedächtnisses und der Erinnerung nicht mit denen der Vorstellung und des Erinnerungsbildes zusammenfallen.
    26) Archiv für Psychiatrie, Bd. 24, 1892, Seite 856f.
    27) Zur Kenntnis der sogenannten Seelenblindheit, Dissertation, Erlangen 1895
    28) Vgl. KARL BÜHLER, im Bericht über den III. Kongreß für experimentelle Psychologie, 1908, Seite 103f.
    29) Die umgekehrte Unfähigkeit zur kollektiven Auffassung, zur Komplexbildung demonstriert ein Fall von A. WESTPHAL (a. a. O., Seite 36). Vgl. dazu die eingehenden und auch pathologische Beobachtungen berücksichtigenden Ausführungen von G. E. Müller im Ergänzungsband 5 der "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinneseindrücke", Seite 253f.
    30) Les agnosies, la cécité psychique en particulier; Dissertation, Lyon 1899. Vgl. auch MONAKOW, Gehirnpathologie, zweite Auflage, 1905, Seite 764f.
    31) Revue générale sur l'agnosie. Année psychologique VI, 1900, Seite 74f.
    32) Daß seine Anschauungen sich seitdem geändert haben, zeigt die aus seinem Institut hervorgegangene interessante Untersuchung von KATZAROFF und die daran anschließende Abhandlung von ihm selbst, die eine Ichbeziehung zur Grundlage des Wiedererkennens macht (Archives de Psychol. XI, Seite 1f).
    33) Schon vor nahezu 20 Jahren habe ich auf diese Bedeutung der "Bekanntheitsqualität", die sie in eine allgemeinere psychologische Gesetzmäßigkeit einreiht, hingewiesen. (Philosophische Studien, Bd. VIII, Seite 318, Anm.) Danach habe ich auch in meinem "Grundriß der Psychologie" (Seite 176f) dieses Gesichtspunkt herangezogen.
    34) Vgl. WILHELM SPECHT, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. 1, Seite 13. Ebenso dürfte die neulich von A. GORDON geforderte Unterscheidung zwischen Astereognosie und Asymbolie hierher gehören (Neurologisches Zentralblatt, 1911, Seite 993).
    35) Vgl. die schöne Abhandlung von MORITZ GEIGER, Zum Problem der Stimmungseinfühlung, Zeitschrift für Ästhetik, Bd. VI, Seite 1f.
    36) Die späteren Ausführungen BERGSONs stimmen, wie ich zu meiner Freude bemerkt habe, zum Teil damit überein, insofern auch sie auf die motorischen Adjustierungen bekannten Objekten gegenüber hinweisen, ohne freilich die affektiven Zustände damit in Zusammenhang zu bringen.