W. WundtF. HillebrandK. LamprechtK. MarbeJ. Eisenmeier | |||
Psychologie und Medizin [4/4]
Programm für die Untersuchung der Seelenblindheit I. Die erste Aufgabe besteht in einer genauen Feststellung der Leistungen des Gesichtssinns (37). Dazu gehört nicht nur die ophthalmoskopische Untersuchung des Auges [Ausspiegelung des Augenhintergrundes - wp], sondern auch eine Prüfung der Sehschärfe, des Gesichtsfeldumfanges mit besonderer Berücksichtigung des deutlichen Sehens, der Motilität [nicht bewußte Bewegungen - wp] der Augen, des stereoskopischen Sehens, des Farben-, Licht- und Formensinnes und des Augenmaßes. Dadurch soll einerseits ermittelt werden, ob und in welchem Grad die Störungen des Erkennens durch bloße Mängel in der Funktion des Sinnesorganes bedingt sind. Es empfiehlt sich zur Beurteilung dieses Einflusses eventuell eine künstliche Herstellung der nämlichen optischen Bedingungen bei einem Gesunden, um darüber ins Klare zu kommen, welche Beeinträchtigung unser Erkennen durch eine solche Herabsetzung der Leistungen des Gesichtssinnes erfahren kann. Andererseits soll diese Prüfung, die natürlich mti den besten Hilfsmitteln ausgeführt werden sollte, darüber Aufschluß geben, wie man die günstigsten Bedingungen für das Sehen von Gegenständen bei einem Patienten zu erzielen vermag, dessen Erkenntnisfähigkeit untersucht werden soll. II. Daran schließt sich die Prüfung der Wahrnehmungsfähigkeit. Als objektive Kriterien einer erfolgten Wahrnehmung haben im allgemeinen vier zu gelten, die sich wechselseitig ergänzen und kontrollieren müssen:
2. das Beschreiben, Schildern, 3. das Zeichnen oder Malen desselben, 4.die Ausführbarkeit von Operationen, die die Wahrnehmung voraussetzen, etwa Reaktionen auf einen Sinneseindruck, Vergleichungen seiner wahrnehmbaren Beschaffenheiten, der Farben, der Helligkeiten, der räumlichen Bestimmtheiten und dgl. a) Wie steht es mit dem Bemerken und Beobachten eines optischen Gegenstandes? Ist eine Konzentration auf bestimmte Gegenstände möglich und kann dabei von anderen daneben vorhandenen abstrahiert werden? Kann der Kranke sich längere Zeit mit demselben Gegenstand beschäftigen, und zeigt er dabei ein gewisses Interesse für das Wahrgenommene? Ist eine Konzentration auf unselbständige Gegenstände wie Farbe, Form, Helligkeit, Zahl unter gleichzeitiger Abstraktion von anderen möglich? Bestehen die Unterschiede der Eindringlichkeit und Auffälligkeit für gewisse Farben, für glänzende oder große Gegenstände im Gegensatz zu glanzlosen und kleinen? Wie groß ist der Umfang dessen, was gleichzeitig bei der Wahrnehmung erfaßt werden kann, die sogenannte Distribution der Aufmerksamkeit? Sind die Vereinzelung der Gegenstände und ihr Kontrast gegen den Hintergrund für das Beobachten und Bemerken von wesentlichem Einfluß? Ist eine Trennung von Aufmerksamkeit und Fixation möglich, so daß auch peripherisch gesehene Objekte in der Wahrnehmung begünstigt sein können? Bestehen die sinnlichen Unterschiede einer Deutlichkeit und Klarheit, welche man als eine Leistung der Aufmersamkeit zu betrachten pflegt? Alle diese Fragen gruppieren sich, wie man sieht, um die Funktionen der sogenannten Aufmerksamkeit. Ihre Beantwortung soll uns dazu führen, klarer als bisher die Bedeutung dieses Faktor für den Erkenntnisvorgang festzustellen. Es versteht sich hier, wie auch im späteren Verlauf unseres Programms übrigens von selbst, daß die Beantwortung sämtlicher Fragen ein gewisses höheres Niveau psychologischer Beobachtungsfähigkeit beim Patienten voraussetzt. Ich hielt es trotzdem für richtiger, das Programm möglichst vollständig zu gestalten, als mit Rücksicht auf die praktische Undurchführbarkeit in einzelnen Fällen die Zahl der psychologischen Gesichtspunkte und Probleme zu verringern. Übrigens kann bei einem Seelenblinden das, was mit solchen Fragen gemeint ist, durch den vergleichenden Hinweis auf andere Sinne verhältnismäßig leicht erläutert werden (38). b) Wie steht es mit der Beziehung der optischen Inhalte auf Gegenstände im Raum? Sind Subjektivierung und Objektivierung von Sinneseindrücken einigermaßen scharf voneinander gesondert? Werden sie richtig projiziert und lokalisiert? Werden die Farben und Helligkeiten naiv realistisch als Eigenschaften außerweltliche Objekte angesehen? Werden die wahrnehmbaren Veränderungen, die Bewegungen, Erleuchtung und Verdunkelung und dgl. als objektive Veränderungen betrachtet? Wird zwischen der scheinbaren und wirklichen Größe, zwischen der perspektivischen Ansicht und der wirklichen Gestalt eines Gegenstandes unterschieden? Wird die Entfernung richtig geschätzt? Kann die Richtung auf Bewußtseinsinhalte von derjenigen auf Gegenstände sicher unterschieden werden? Ist ein Gesamteindruck (ein Komplexqualität) bei einer Mehrheit von sinnlichen Elementen möglich, und läßt er sich leichter oder schwerer bilden, als die Erfassung von Einzelheiten oder die Analyse durchführen? c) Innerhalb welcher Grenzen sind reine Sinnesurteile möglich, d. h. Urteile, welche lediglich die sinnlich wahrnehmbaren Bestandteile betreffen? Sind vielleicht einzelne von diesen leichter und sicherer bestimmbar als andere, so daß etwa über Helligkeit und Dunkelheit besser geurteilt werden kann, als über die tonfreien und die bunten Farben, über Größenunterschiede besser als über Formunterschiede? Gelingt die Analyse eines komplexeren optischen Eindrucks in seine Elemente? d) Besteht für die Wahrnehmung ein Vorzug bekannter (wenn auch jetzt nicht erkannter) Gegenstände vor unbekannten, sind sie leichter, vollständiger und treuer wahrzunehmen und ziehen sie die Aufmerksamkeit leichter auf sich? e) Besteht ein Unterschied in der Wahrnehmung rein optischer und gemischt optischer Gegenstände? f) Kann die Wahrnehmung durch erläuternde oder bezeichnende Worte und entsprechende Gebärden untersützt werden und bis zu welchem Grad? g) Sind gewisse Reaktionen auf das Wahrgenommene möglich, wie z. B. das Greifen nach einem Gegenstand, das Ausweichen, wenn er im Weg steht, das Auffangen, wenn er zugeworfen wird und dgl.? h) Sind die Operationen der Vergleichung und Unterscheidung von sinnlichen Beschaffenheiten, der Bewertung und Auswahl von solchen noch möglich? i) Ist eine Gefühlswirkung der wahrgenommenen Gegenstände oder der sie repräsentierenden Inhalte noch vorhanden? Dazu gehört der affektive Wert eines optischen Eindrucks, sein Gefühlscharakter, seine Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, seine Gefälligkeit oder Mißfälligkeit, seine sympathische oder antipathische Natur und dgl. mehr. Lösen spezielle Gegenstände Angst bzw. Wünsche aus (39)? III. Zur Untersuchung der Vorstellungsfähigkeit rechnie ich nur die Erinnerungs- und Phantasiebilder. Die objektiven Kriterien für ihren Bestand sind
2. die sinnliche Nachahmung durch Zeichen oder Malen, 3. die Ausführbarkeit von Operationen und Reaktionen, welche das Vorhandensein von Vorstellungen voraussetzen, 4. die Geltung der Gesetzmäßigkeiten ihres Auftretens und ihres Verlaufes, aufgrund deren man z. B. annehmen darf, daß eine in der Ferne erklingende bekannte Stimme die Gesichtsvorstellung ihres Trägers erweckt. a) Sind optische Vorstellungen durch eine Nachwirkung von Empfindungen zu erzeugen? Man läßt etwa rein optische Gegenstände intensiv anblicken, dann die Augen schließen und feststellen, ob nach einiger Zeit eine Gesichtsvorstellung des gesehenen Gegenstandes auftritt bzw. reproduziert werden kann. Dabei läßt sich zugleich ermitteln, ob es sogenannte Erinnerungsnachbilder gibt, und wie lange die entstandenen Vorstellungen im Bewußtsein verharren oder erhalten werden können. b) Sind freisteigende Vorstellungen zu beobachten, die ohne Zusammenhang mit dem jeweiligen Bewußtseinsbestand auftreten und auf eine Perseverationstendenz zurückgeführt zu werden pflegen? Sind optische Träume nachweisbar? c) Lassen sich Vorstellungen assoziativ anregen? Dabei sind drei Fälle einer solchen Anregung zu unterscheiden:
2. durch disparate Sinneseindrücke, z. B. können das Rasseln mit Schlüsseln, das Drücken eines Gummiballs, das Berühren einer Bürste, der Geruch von Petroleum entsprechende Gesichtsvorstellungen erwecken; 3. durch Worte, die teils die Gegenständ direkt bezeichnen, auf die sich die zu reproduzierenden Vorstellungen beziehen, teils sie umschreiben, teils auf andere damit zusammenhängende Gegenstände hinweisen. e) Sind die Gesichtsvorstellungen deutlich, vollständig, lebhaft und treu (in Bezug auf das Empfindungsmaterial, das in ihnen reproduziert wird)? Wie verhalten sie sich in dieser Richtung zu den Vorstellungen im gesunden Zustand, soweit darüber eine Auskunft möglich ist, und zu den Vorstellungen anderer Sinnesgebiete? f) Ist die Beziehung der Vorstellungen auf frühere Wahrnehmungsinhalte und auf die durch sie repräsentierten Gegenstände erhalten? Kann die zeitliche Distanz zwischen der Wahrnehmung und der entsprechenden gegenwärtigen Vorstellung einigermaßen sicher und richtig angegeben werden? g) Lassen sich Erinnerungs- und Phantasievorstellungen unterscheiden und worauf beruth diese Unterscheidung? Vorstellungen von gewesenen Eindrücken anders als die Vorstellungen von erwarteten Eindrücken, ist z. B. die Vorstellung des Arztes oder Wärters, der vorhin gesehen wurde, verschieden von der Vorstellung einer erwarteten Person dieses Standes, oder die Vorstellung einer Speise, die genossen wurde, von derjenigen, die gewünscht wird. (41) h) Läßt sich bei den Vorstellungen gerade so wie bei den Wahrnehmungen zwischen dem repräsentierenden Bewußtseinsinhalt, dem Bild, und einem Gegenstand sondern, der durch dieses Bild vergegenwärtigt wird? i) Wie steht es mit den einzelnen Vorstellungsteilen und -arten? Zeigen sich Differenzen in den räumlichen Beschaffenheiten, den Helligkeiten, den tonfreien und bunten Farben? Ist die Vorstellungsfähigkeit für rein optische und gemischt optische Gegenstände, für bekannte und unbekannte verschieden? Sind gewisse Bestandteile leichter reproduzierbar als andere? Besteht eine Abweichung der Sach- von den Wortvorstellungen? Gibt es wesentliche Differenzen zwischen den Vorstellungen einzelner Klassen von Dingen oder Zeichen? k) Liegt ein ausgeprägter Unterschied im Verhalten der alten und der neuen Vorstellungen vor, derjenigen, die vor der Erkrankung erworben wurden, und derjenigen, die sich während derselben bildeten? l) Können Assoziationen leicht gestiftet werden, indem man z. B. einzelne Wörter oder sinnlose Silben vorzeigt und sie in richtiger Reihenfolge reproduzieren läßt? Besteht ein Unterschied in der Einprägung sinnvoller und sinnloser optisch dargebotener Stoffe? Versuche dieser Art haben freilich mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß sie die Beteiligung anderer Gebiete, insbesondere des akustisch-motorischen Gedächtnisses ins Spiel setzen. Doch kann die Wahl geeigneter Bilder und Zeichen davor schützen. m) Können Gegenstände aus dem Gedächtnis gezeichnet werden und zwar aufgrund der bloßen Vorstellung? Besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen solchen Darstellungen und denen, die durch das Nachzeichnen von Vorlagen entstehen? n) Wie steht es mit der Gefühlswirkung der Vorstellungen? o) Ist der Einfluß des Willens auf die Reproduktion erhalten und zeigt sich ein Unterschied zwischen unwillkürlicher und willkürlicher Reproduktion? p) Haben die Vorstellungen einen nachweisbaren Einfluß auf das Wollen und Handeln? Wird z. B. nach vorgestellten Objekten gesucht? Einzelne dieser Fragen scheinen über den Zweck dieses Programms hinauszuführen. Bei der Wichtigkeit aber, welche gerade den Vorstellungen für die Erkenntnis und für die Erklärung der Seelenblindheit zugeschrieben worden ist, muß eine möglichst umfassende Orientierung über ihr Verhalten wünschenswert sein. Die genauere Scheidung der für den Erkenntnisvorgang wesentlichen und unwesentlichen Bestimmungen wird sich danach unschwer ausführen lassen. Die ganze Untersuchung trägt hier zugleich den Charakter einer methodischen Einschränkung an sich, insofern einerseits auf die Abgrenzung eines engeren Vorstellungsbegriffs hingearbeitet und andererseites der Beitrag genau bestimmt werden muß, den die Vorstellungsfähigkeit bestenfalls für das Erkennen leistet. IV. Die Untersuchung der Denkfähigkeit ist mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft, wie die zahlreichen vergeblichen Anläufe zu einer Intelligenzprüfung beweisen. Sicherlich kann man viele von den hier angewandten Methoden dazu benutzen, um die Denkfähigkeit der Seelenblinden zu bestimmen. Wir können in dieser Richtung auf die wertvollen kritischen Übersichten von ZIEHEN (42) und JASPERS (43) verweisen. Aber diese Prüfungen pflegen nur auf zwei der objektiven Kriterien gestützt zu sein, die man für den Nachweis der Denkfähigkeit angeben kann. Im Ganzen lassen sich auch hier vier Kriterien aufstellen: 1. Das Beschreiben oder Schildern der Gedanken und des Denkens. Bei der Anwendung dieses Kriteriums hat man wohl zu unterscheiden zwischen den unanschaulichen Bewußtseinsinhalten, die als Gedanken gegeben sind, und den Gegenständen, auf die sie sich beziehen. Eine Beschreibung dieser Gegenstände kann weit über das hinausgehen, was im Bewußtsein von ihnen gegenwärtig war. Aber andererseits darf nicht übersehen werden, daß die Gegenstände, die gedacht werden, eben doch irgendwie in den Gedanken vergegenwärtigt werden und damit selbst zu ihnen gehören. Von einer Empfindung und einer Vorstellung kann man wohl behaupten, daß sie ansich keinerlei Beziehung auf ein Objekt enthalten. Die Gedanen dagegen unterscheiden sich gerade dadurch von jenen anschaulichen Bewußtseinsinhalten, daß sie ein Wissen von den Gegenständen sind (44). Wenn daher gegen die denkpsychologischen Untersuchungen BÜHLERs gelegentlich der Einwand (45) erhoben worden ist, daß sie die psychologische Beschreibung mit einer Schilderung der gedachten Gegenstände verwechselt hätten, so ist dabei die im Denken selbst liegende Richtung auf Gegenstände nicht genügend berücksichtigt worden. 2. Das Hinweisen auf Gegenstände, an die gedacht worden ist. Selbstverständlich ist auch dieses Kriterium für den Nachweis von Gedanken nur verwendbar, wenn die Vergegenwärtigung von Gegenständen eben eine gedankliche und keine empfindungs- oder vorstellungsmäßige war. Darum dürften sich abstrakte oder generelle Bestimmungen von Gegenständen am besten zur Benutzung dieses Kriteriums eignen, weil sie erfahrungsgemäß in der Empfindung und Vorstellung nicht für sich vorkommen und zum Teil anschaulich überhaupt nicht adäquat repräsentiert werden können. 3. Die Ausführbarkeit von Operationen und Reaktionen, welche ein Denken voraussetzen. Zu diesen gehören das Überlegen verschiedener Möglichkeiten und die Entscheidung für eine von ihnen, das Beurteilen und Kritisieren gegebener Behauptungen oder Gedankengänge, das Beweisen der Richtigkeit oder Wahrheit eines Urteils, die Lösung von nicht rein mechanisch zu bewältigenden Rechenaufgaben, das sogenannte intelligente Handeln, das auf einer selbständigen Zielsetzung und Mittelwahl beruth, und das Erkennen, von dem sofort näher die Rede sein soll. 4. Die Gesetzmäßigkeiten des Auftretens, Verlaufs und Zusammenhangs der Gedanken. Das Entstehen derselben läßt sich dreierlei Weise begreifen: erstens werden sie durch Abstraktion gebildet, zweitens durch Verallgemeinerung (46), drittens durch einen eigentümlichen, hier nicht näher zu beschreibenden Vorgang des Meinens, der auch auf konkrete Gegenstände gerichtet sein kann (47). Nach allen drei Entstehungsweisen kann das Auftreten der Gedanken auch experimentell geprüft werden. Doch liegt bisher nur über den Vorgang der Abstraktion einiges vor. Verlauf und Zusammenhang der Gedanken haben in der Über-, Unter- und Nebenordnung in der Abhängigkeitsbeziehung, in der Vergleichung und Unterscheidung, im Urteil und Schluß und dgl. eigentümliche Formen. Der Unterschied zwischen Logik und Psychologie soll gewiß nicht verwischt werden, aber es gibt kein logisches Gebilde, das sich nicht gedanklich vergegenwärtigen läßt, und darum muß zwischen der Logikk und einer auf ihre Gegenstände gerichteten Psychologie bei aller Verschiedenheit der Methoden und Ziele eine enge Beziehung obwalten, die es erlaubt, aus der Logik psychologische Aufgaben zu gewinnen. Von diesen vier objektiven Kriterien pflegen die Intelligenzprüfungen nur die beiden letzten zu benutzen. Auf eine nähere Ausführung der für die Untersuchung der Denkfähigkeit in Betracht kommenden Fragen können wir hier verzichten, weil wir es in diesem Zusammenhang nur mit dem Erkenntnisvorgang zu tun haben. Es sei deshalb in aller Kürze bloß darauf hingewiesen, daß wir zwischen Gedanken als Bewußtseinsinhalten, die auch Bewußtheiten d. h. ein Gegenwärtiges eines unanschaulich gegebenen Wissens genannt werden können (48) und zwischen einem Denken als einer Funktion oder als einem Komplex von Funktionen, z. B. dem Überlegen, dem Urteilen, dem Schließen, zu unterscheiden haben. Die Gedanken haben eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Vorstellungen und es scheinen für sie, wenn auch nicht ausschließlich, ebenfalls die Gesetze der Reproduktion und Assoziation zu gelten, die in der Vorstellungslehre mit so großem Erfolg aufgestellt und angewandt worden sind (49). Das Denken trägt alle Züge einer psychischen Aktivität an sich, wie sie auch im Bemerken, Vorziehen oder Wollen hervortreten. Es ist ein Stellungnehmen zu den Inhalten des Bewußtseins oder den durch sie repräsentierten Gegenständen, ein Erfassen und Bestimmen von ihnen, ein Operieren mit ihnen. Gedanken und Denken können daher innerhalb gewisser Grenzen voneinander unabhängig vorkommen und verlaufen. Auch an Empfindungen und Vorstellungen kann eine Denktätigkeit ausgeübt werden, und das Kommen und Gehen der Gedanken im Traum ist, wie besonders HACKER (50) nachgewiesen hat, ohne eine regelmäßige Beteiligung psychischer Funktionen möglich. Darum sollte eigentlich eine gesonderte Prüfung der Gedanken und des Denkens vorgenommen werden. Aber hier läßt uns die experimentelle Methodik noch zu sehr im Stich, als daß wir schon bestimmte Vorschläge zu machen wagen möchten. V. Mit der Untersuchung der Erkenntnisfähigkeit betreten wir den letzten Kreis von Aufgaben innerhalb dieses Programm. Alles Vorausgegangene hat nur als Mittel zum Zweck der Beantwortung der hier aufzuwerfenden Fragen zu dienen. Wir müssen wissen, welcher Art die Empfindungen, die Gedanken und Vorstellungen sind, über die der Seelenblinde noch verfügt, um seine Störung als eine reine Erkenntnisstörung begreifen und erklären zu können. Wir müssen aber auch möglichst günstige und gleichmäßige Bedingungen für die Erkenntnis schaffen, um die Agnosie nicht auf die unklare, der Erkenntnis Schwierigkeiten bereitende Beschaffenheit der zu erkennenden Tatbestände zurückführen zu müssen. Ein wesentliches Hilfsmittel für die Beurteilung der Erkenntnisfähigkeit ist bei der Untersuchung der Seelenblindheit dadurch gegeben, daß die Eindrücke aus anderen Sinnesgebieten noch erkennbar sind. Darum sollte die Erforschung der Leistungen des Erkennens an den nicht-optischen Gegenständen systematisch ausgeführt werden, damit man über die sonst noch vorhandene Erkenntnisfähigkeit, über ihre allgemeinen Betätigungen und Grenzen ein klares Bild erhält. Endlich müssen die Beziehungen des Kranken zur Sprache sichergestellt sein, also die Frage nach der Fähigkeit sich korrekt auszudrücken, zu lesen und zu schreiben, sowie Gesprochenes zu hören und zu verstehen. Von den bisher angewandten Kriterien für den Nachweis einer Erkenntnisfähigkeit haben wir bereits früher gesprochen. Sie beruhen sämtlich auf der Ausführbarkeit von Operationen oder Reaktioinen, die eine Erkenntnis voraussetzen. Das gilt für die Ausführung sinngemäßer Handlungen, insbesondere die sinngemäße Verwendung vorgezeigter Gegenstände, ebenso wie für die Anwendung sinngemäßer Bezeichnungen zur allgemeinen und speziellen Benennung und zur Erläuterung und Umschreibung der dabei gebrauchten Namen und für die Ausführung sinngemäßer, intellektueller Operationen, wie das Rechnen mit Zahlen, das Zusammensetzen von Buchstaben zu Wörtern, von Wörtern zu Sätzen, die Bedeutungs- oder die Verständnisurteile, die Schlüsse, die sich auf eine Erkenntnis von Gegenständen stützen und dgl. mehr. Außerdem ist aber auch hier noch von Kriterien zu reden, die denjenigen analog sind, die wir sub II, III und IV aufgestellt haben. Auch hier kann das Hinweisen auf Gegenstände, die angeblich erkannt sind, zur Kontrolle dienen, ferner kann das Beschreiben und Schildern der Erkenntnis und ihres Verlaufs dazu benutzt werden, um über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Erkenntnis oder über die Grenzen derselben eine sichere und zuverlässige Auskunft zu erhalten. Wenden wir uns nun zu den besonderen Aufgaben, die der Untersuchung der Erkenntnisfähigkeit zu stellen sind, so lassen sich folgende Fragen aufwerfen: a) Wie steht es mit der Erkenntnis der primären Bewußtseinsinhalte, der Empfindungen oder Vorstellungen? Ist ein forumuliertes oder unformuliertes Wissen von ihrer Qualität, ihrer Intensität oder Lebhaftigkeit, ihrer Dauer, ihrem Gesamteindruck und der Anordnung der Einzelheiten möglich? Dabei haben wir es hier nur mit der Tatsächlichkeit, mit der schlichten Gegebenheit dieser Inhalte zu tun. Sie selbst, so wie sie sind, ohne Rücksicht auf etwas, was sie bedeuten oder worauf sie hinweisen, also ohne alle relativen Faktoren, sind hier die Gegenstände der Erkenntnis. b) Wie verhält es sich ferner mit der Erkenntnis der durch solche Inhalte repräsentierten Objekte? Auch bei diesen sehen wir zunächst von allen Bedeutungen ab, die ihnen zugeschrieben werden können, bei einem Messer z. B., daß es zum Schneiden benutzt wird, und halten uns lediglich an die in jenen primähren Inhalten vergegenwärtigten Objekte selbst. Man kann diese, und wir selbst haben es gelegentlich getan, als die Bedeutung der Inhalte bezeichnen, muß sich aber dann bewußt sein, daß darin nicht die einzige Bedeutung dieser Inhalte liegt, auf Objekte hinzuweisen. c) Wie steht es mit der Erkenntnis der Bedeutung von Inhalten und Objekten? Bei dieser Frage denken wir z. B. an die emotionale Bedeutung einer Empfindung, sofern sie nicht in einer aktuellen Gefühlswirkung gegeben ist, oder an die Bedeutung eines Inhalts für das erlebende Bewußtsein, an seinen psychologischen Begriff und anderes mehr. Für die Objekte sind namentlich die Zwecke, denen sie dienen, hierher zu rechnen. Außerdem kommt hier die eigentlich symbolische Natur von Inhalten und Gegenständen in Betracht, wie z. B. die Signale bei der Eisenbahn, bei der Marine, beim Militär, das Vikarieren [Stellvertreten - wp] von Vorstellungen für frühere Erlebnisse und dgl. mehr. Hier wird es sich empfehlen, sich über den Umfang solcher Bedeutungszusammenhänge beim Patienten eine genauere Aufklärung zu verschaffen. d) Lassen sich Stufen der Erkenntnis in dem früher bezeichneten Sinn für optische Eindrücke unterscheiden? In welchem Sinn ist überhaupt noch eine Bestimmung derselben möglich? e) Kommen Verkennungen vor und innerhalb welcher Grenzen halten sie sich? Besteht zwischen diesen Grenzen und den Erkenntnisstufen ein gesetzmäßiger Zusammenhang, so daß sie nur bei spezielleren Formen einer noch möglichen Bestimmung beobachtet werden? f) Zeigt sich ein Unterschied in der inhaltlichen Beschaffenheit von erkannten und nichterkannten Eindrücken, ein verändertes Aussehen, eine Fremdheitsqualität der letzteren, und worin besteht derselbe? g) Erstreckt sich die Erkenntnisstörung auf die Vorstellungen und die durch sie repräsentierten Gegenstände ebenso, wie auf die Empfindungen und deren Objekte? h) Ist die Aufmerksamkeit in allen oder einigen der unter diesem Namen von uns zusammengefaßten psychischen Vorgänge bei der Agnosie gleichfalls herabgesetzt? Können vielleicht die nichterkannten Eindrücke weniger gut bemerkt oder aus dem Zusammenhang mit anderen herausgehoben werden? i) Welche Rolle spielen die intellektuellen Funktionen der Vergleichung, der Unterscheidung, der Setzung und Bestimmung, der Auffassung und Beurteilung bei den nicht erkannten Eindrücken? Sind sie überhaupt unmöglich geworden oder sind sie in irgendeinem Sinn auch hier noch anwendbar? k) Welcher Unterschied zeigt sich in allen diesen Richtungen zwischen dem Erkennen und dem Wiedererkennen? Hierbei sind die Formen näher zu untersuchen, welche wir weiter oben aufgeführt haben. l) Ist das Finden und Wiederfinden eine einfache Folge des Erkennens und Wiedererkennens oder hat es daneben bzw. ausschließlich andere, mehr auf eine Reflexauslösung hindeutende Gründe? m) Welche Bedeutung hat die Seelenblindheit für das Gefühl, Affekte und Stimmungen, Triebe und Leidenschaften? Lassen sich die Gefühle, welche eine Erkenntnis voraussetzen, scharf von denen sondern, die bloße Wahrnehmungen oder Vorstellungen zur Grundlage haben? Im letzteren Fall könnten diese intellektuellen Gefühle auch als ein Kriterium für den Vollzug eines Erkenntnisvorgangs benutzt werden. n) Welchen Einfluß hat die Seelenblindheit auf das Wollen und Handeln? Lassen sich die mehr instinktiven Reaktionen auf Sinneseindrücke, das Angezogen- und das Abgestoßenwerden von ihnen, auch bei nicht erkannten Eindrücken beobachten? Entsprechen die sinngemäßen Handlungen genau den Grenzen, innerhalb deren eine Erkenntnis noch möglich ist, so daß z. B. nur noch Unterschiede in der Reaktion auf leblose und lebende Objekt vorkommen, aber jede Differenzierung innerhalb dieser beiden Sphären unterbleibt? Nach der Ausführung dieses Programms dürfte eine weit genauere Einsicht in das Wesen der Seelenblindheit und eine viel begründetere Erklärung derselben (auch in physiologischer Richtung) möglich sein, als es zur Zeit der Fall ist. Zugleich ist es unschwer ersichtlich, daß unser Programm auch auf andere Formen der Agnosie mutatis mutandis [unter vergleichbaren Voraussetzungen - wp] anwendbar ist. Alle die von uns bezeichneten Aufgaben lassen sich auch bei Seelentaubheit und bei der Seelenanästhesie vorschlagen und behandeln. Nur eine allgemeine Erkenntnisstörung, eine allgemeine Agnosie oder Asymbolie würde eine wesentliche Modifikation der hier bezeichneten Untersuchungsrichtungen mit sich führen müssen. Auf die Verwandtschaft mit anderen Formen psychischer Erkrankung sind wir nicht näher eingegangen. Wir glauben jedoch, daß die Erfüllung unseres Programms eine erheblich eindeutigere Abgrenzung der Seelenblindheit gegenüber anderen, ähnlich aussehenden Phänomenen mit sich bringen wird, als sie bisher möglich war. Auf die Angabe spezieller Tests haben wir aus den schon angeführten Gründen verzichtet. Was die Psychologie dem Psychiater bieten kann und bieten sollte, sind ja nicht sowohl spezielle Vorschriften für die Ausführung bestimmter Prüfungen und für die Anwendung bestimmter Hilfsmittel, sondern psychologische Gesichtspunkte und Fragestellungen. Man könnte endlich noch die Formulierung genauer Definitionen der zu untersuchenden Vorgänge bzw. ihrer Begriffe vermissen. Sollte nicht die Prüfung der Seelenblindheit zunächst einmal eine Definition des Begriffs erfordern, ebenso die Untersuchung der Wahrnehmungsfähigkeit oder der Erkenntnisfähigkeit auf eine sorgfältige, logische Abgrenzung dieser Begriffe gestützt werden müssen? Wir haben es mit Absicht vermieden, eine solche Festlegung von vornherein vorzunehmen. Solange noch so wenige Tatsachen vorliegen, auf die sich die Ausmalung dieses Krankheitsbildes gegründet hat und solange die Untersuchung dieser Fälle noch so unzureichend ist, wie wir gezeigt haben, hat eine scharfe Definition wenig Sinn und Wert. Vielleicht ergibt eine gründlichere Prüfung neuer Fälle, daß wesentliche Symptome bisher übersehen und falsch gedeutet worden sind (51). MUNK hat bekanntlich von einer Seelenblindheit auch bei Hunden gesprochen, denen er angeblich das Zentrum für optische Erinnerungsbilder zerstört hatte. Es leuchtet ein, daß die beiden gleichbezeichneten Störungen beim Hund und beim Menschen nicht den gleichen psychologischen Charakter tragen können. Darum sollte dieser erst erarbeitet werden, ehen man an die Aufstellung einer allen Anforderungen genügenden Definition denken kann. Dazu kommt, daß die Begriffe hier zunächst die vulgäre Bedeutung haben, die ihnen durch die praktischen Bedürfnisse des Lebens aufgeprägt worden ist. Ein solcher Begriff der Erkenntnis z. B. mag einerseits nicht alles umfassen, was in unserem wissenschaftlichen Begriff dieses Namens enthalten ist, und andererseits darüber hinausragen (52). Darum ist die Aufgabe der pathopsychologischen Forschung nicht darin zu erblicken, die Verwirklichung eines idealen Begriffs anzustreben und die Tatsachen aufzusuchen, welche ihm entsprechen mögen, sondern vielmehr darin, eine unbefangene und vorurteilsfreie Beschreibung der nach allen Regeln empirischer Kunst erforschten Krankheitsbilder zu geben und daraus erst deren Begriffe und die exakten Definitionen abzuleiten (53). Es ist nur eine kleine Auswahl von Untersuchungen gewesen, die wir in den vorstehenden Erörterungen herangezogen haben. Wir glaubten unserem Zweck durch sie am besten entsprechen zu können. Einmal bot sie uns reichliche Gelegenheit, auf die Unvollkommenheiten und Unvollständigkeiten bisheriger Methoden, Analysen und Erklärungen hinzuweisen, und sodann konnte die Notwendigkeit einer psychologischen Betrachtungsweise und einer Schulung in den Gesichtspunkten und Verfahrensweisen der modernen psychologischen Forschung für die Zwecke einer pathologischen Einsicht und einer therapeutischen Maßnahme hier besonders deutlich gemacht werden. Gewiß hat der Psychiater nicht für jede Einzelheit der psychologischen Zerlegung und Bestimmungen ein gleichmäßiges Interesse, so wenig wie der innere Kliniker sich für die physiologischen und anatomischen Details in jedem Teil und in jeder Richtung besonders zu erwärmen braucht. Aber die eigentümlichen Formen einer psychologischen Betrachtungs- und Untersuchungsweise lassen sich schließlich in jeder Kleinigkeit erfassen und zur typischen Darstellung bringen, und wie weit ihre Benutzbarkeit reicht, wie weit ihr praktischer Wert sich erstreckt, läßt sich nicht mit Sicherheit voraussagen (54). Den Hauptvertretern der modernen Psychiatrie braucht es heute nicht mehr gesagt zu werden, daß ihre Wissenschaft und Kunst von der Psychologie abhängt, und daß auch die Annahmen über Art und Sitz der den psychischen Erkrankungen entsprechenden Gehirnstörungen auf der psychologischen Umsicht und Einsicht beruhen, mit der das Wesen jener Erkrankungen erfaßt und bestimmt worden ist. Es dürfte darum bei ihnen keinem Widerspruch begegnen, wenn wir die psychologische Vorbildung für das ärztliche Studium allgemein eingeführt sehen wollen. Der innere Kliniker wird davon, namentlich bei den Nervenkrankheiten, ebenfalls einen Nutzen zu ziehen wissen. Natürlich ist es wünschenswert, daß auch die Psychologen sich mit den pathologischen Phänomenen einigermaßen bekannt gemacht haben, wenn sie die Mission übernehmen sollen, dem werdenden Arzt eine unentbehrliche Unterstützung für seinen späteren Beruf zu leisten. Wichtiger ist jedoch die Vertrautheit mit den Methoden und Hilfsmitteln, mit den Gesichtspunkten und Ergebnissen der experimentellen Psychologie und Psychophysik. Die moderne pathopsychologische Forschung läßt allenthalben die große positive Bedeutung des Experiments fr die Erkenntnis und eine Abgrenzung der einzelnen Phänomene hervortreten. Außerdem bereiten sich gegenwärtig die interessantesten und folgenschwersten Wandlungen in der Auffassung und Bestimmung der Tatsachen und der Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens innerhalb der experimentellen Psychologie vor. Seit STUMPF in seiner Tonpsychologie die Berücksichtigung der psychischen Funktionen mit vollem Bewußtsein für die Empfindungslehre durchführte und EBBINGHAUS das Gedächtnis in den Kreis einer exakten Untersuchung zog, seit das Denken und Wollen zu Gegenständen einer eindringenden psychologischen Analyse geworden sind und die angewandte Psychologie auf den verschiedensten Gebieten ihre Triumphe zu feiern begann, hat sich eine große Umwälzung in den Anschauungen über die Methoden, die Voraussetzungen und die Tragweite der experimentellen Psychologie bei den Sachverständigen angebahnt. Damit ist erst die Möglichkeit gewonnen, den Anforderungen des Mediziners entsprechend eine wirkliche Grundlegung für seine Bedürfnisse zu bieten. Wir kommen damit auf unsere ersten Bemerkungen zurück. Selbstverständlich wird eine philosophische Psychologie neben der einzelwissenschaftlichen bestehen bleiben. Aber nur die letztere ist für den Arzt, insbesondere für den Psychiater als eine unmittelbare Voraussetzung zu verwenden. Jene kann gewiß über die logischen und erkenntnistheoretischen Probleme und Vorbegriffe, sowie über die metaphysischen Fortsetzungen und Abschlüsse eine Orientierung und eine kritische Auseinandersetzung geben und wird all denen willkommen sein, die nach einer philosophischen Ergänzung ihrer fachwissenschaftichen Kenntnisse und Forschungen streben. Aber sie hat keine unmittelbare Bedeutung für die Medizin, als etwa die Naturphilosophie, die Philosophie der anorganischen und organischen Naturwissenschaften. Die moderne einzelwissenschaftliche Psychologie aber bietet der Medizin methodisch und sachlich eine Fülle direkt verwertbarer Grundlagen dar und kann somit allein für die hier vertretene Annahme der Psychologie unter die Fächer der medizinischen Vorprüfung in Betracht kommen. Die Belastung, die dadurch für den Studierenden der Medizin entsteht, wird reichlich durch den Vorteil aufgewogen, den die psychologische Betrachtungs- und Untersuchungsweise für den Arzt mit sich bringt. Ein stattliches Kapital von psychologischen Begriffen trägt jeder aus dem Leben und Verkehr, aus täglicher Erfahrung und Beobachtung in sich. Ein Menschenkenner sollte gerade der Arzt sein, der selbst bei körperlichen Erkrankungen durch eine Einwirkung auf die Seele viel zu erreichen vermag. Ist die Einführung in die wissenschaftliche Psychologie mit ihren exakteren Gesichtspunkten, mit ihren feineren Analysen, mit ihren systematischeren Bestimmungen unter solchen Umständen als eine Belastung zu bezeichnen? Auch in der psychiatrischen Klinik wird beständig auf psychologisch faßbare Erscheinungen hingewiesen, selbst in der inneren Klinik spielen sie eine größere Rolle, da alle Erkrankungen schließlich auch als solche empfunden und erlitten werden und sich damit im Bewußtsein spiegeln. Sollte nicht allein schon diese ständige Bezugnahme auf Gegenstände der Psychologie den Mediziner veranlassen, sich mit den Formen und Gesetzen des psychischen Lebens genauer bekannt zu machen? In der Physiologie der Sinnesorgane und des Großhirns wird er sowieso mit einem Teil dessen bekannt, was auch die Psychologie in ihrer Empfindungslehre zu behandeln pflegt. Somit kann von einer großen Belastung auch inhaltlich nicht wohl geredet werden. Notwendige Ergänzungen der Bildung aber haben vollends das Recht, nicht unter den Begriff einer Überbürdung gestellt zu werden. Die Ablösung einer einzelwissenschaftlichen Psychologie von der Philosophie mag bedauert werden, aber verfrüht wird man sie nicht nennen können. Die Verbindung beider Gebiete ist für einen gewissenhaften Forscher kaum mehr zu leisten. Die Arbeitsteilung fordert bei der gewaltigen Ausdehnung der einzelwissenschaftlichen Psychologie und ihrer Abhängigkeit von Nachbargebieten und Hilfswissenschaften die Verselbständigung ihres Betriebes. Auch wird man nicht zu befürchten brauchen, daß der Psychologie die philosophische Vertiefung und Begründung fehlen wird, wenn sie einen eigenen Lehrstuhl und ein eigenes Institut an den Universitäten erhalten hat. Denn die philosophische Psychologie soll und wird ja bestehen bleiben und ihren Einfluß jederzeit geltend machen können. Andererseits kann es für den werdenden Philosophen kein zweckmäßigeres Gebiet einzelwissenschaftlicher Vorbildung geben, als die moderne Psychologie, die einesteils mit den Naturwissenschaften und der Mathematik in einer lebendigen Fühlung ist und deren Kenntnis bis zu einem gewissen Grad voraussetzt und andernteils den Geisteswissenschaften in wachsendem Maß zur Hilfswissenschaft wird und ihrerseits in ihnen ein reiches Material ihrer Forschung findet. Es ist daher kaum zu erwarten, daß die äußere Trennung der einzelwissenschaftlichen Psychologie von der Philosophie auch zu einer inneren Entfremdung zwischen beiden führen wird. Vielleicht wird man einwenden, daß es noch nicht genug Vertreter einer experimentell gerichteten einzelwissenschaftlichen Psychologie gibt, um alle Universitäten bereits mit einem Lehrstuhl und Institut für sie versehen zu können. Wir halten dieses Bedenken deshalb für bedeutungslos, weil man, wie es ja auch sonst, z. B. bei der Trennung von romanischer und englischer Philologie oder bei der Einrichtung von geographischen Ordinariaten geschehen ist und geschieht, vorläufig erst bei einer Anzahl von Universitäten den Anfang damit zu machen braucht und allmählich zu einer lückenlosen Vertretung unseres Gebietes fortschreiten kann. Außerdem aber ist die Zahl der jüngeren Psychologen bereits so groß geworden, wir haben schon so viele hervorragende Vertreter dieses Fachs unter uns, daß wir kaum in Verlegenheit kämen, wenn wir sämtliche Universitäten mit besonderen psychologischen Lehrstühlen besetzen sollten. Auch unter den jüngeren Psychiatern gibt es manche, die in der Lage und bereit wären, eine solche Funktion zu übernehmen. Wenn man sieht, wie sich die jungen Psychologen heute zu einer philosophischen Habilitation bequemen müssen, wenn sie im herrschenden Unterrichtssystem überhaupt zu einer wissenschaftlichen Verwendung ihrer Fähigkeiten und Neigungen gelangen wollen, so kann man im Interesse der Psychologie und Philosophie nur dringend wünschen, daß ihnen bald Gelegenheit geboten wird, auf dem eigenen, so weiten und so fruchtbaren Feld zu säen und zu ernten. Die Verbindung einer einzelwissenschaftlichen Psychologie mit der Philosophie übersteigt allgemach die Arbeitskraft, das Talent und die Neigung eines Menschen. Wir älteren sind in diese Situation hineingewachsen und können noch zur Not mit ihr fertig werden. Dem neu heranwachsenden Geschlecht aber wird es geradezu unmöglich beiden Herren zu dienen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, falls sie nicht zum Dilettantismus und zu einer oberflächlichen Betriebsamkeit herabsinken wollen. Kein Wunder daher, wenn die psychologischen Spezialisten überhand nehmen und zur Philosophie nur in ein äußereliches Verhältnis treten. Und so wird es begreiflich, daß sich die Philosophen gegen die Invasion solcher Spezialisten zu wehren beginnen und ihrem Unmut darüber einen mehr oder weniger geschmackvollen Ausdruck geben. Möchten die Philosophen, die in dieser Weise gegen die Psychologen vorgehen, sich mit ihnen in der Bemühung um eine selbständige Vertretung der einzelwissenschaftlichen Psychologie an den Universitäten vereinigen. Damit würden sie ihr Ziel einer reinlichen Abgrenzung leichter und würdiger erreichen, als mit unziemlichen und verständnislosen Ausfällen gegen die Psychologie und mit einer eifersüchtigen Wahrung ihrer Sonderinteressen. Die Loslösung einer Wissenschaft von der Philosophie ist ein viel zu bedeutungsvoller, ernsthafter und schmerzlicher Entwicklungsprozeß, als daß man ihn mit billigen Witzen verunglimpfen und durch selbstsüchtige Erwägungen herabsetzen sollte. Gerade den Philosophen steht es wohl an, von hoher Warter herab auf solche Veränderungen zu blicken und durch eine Betrachtung [im Hinblick auf die Ewigkeit - wp] die Entwicklung der wissenschaftlichen Kultur zu adeln und zu fördern. Es ist uns die Aufgabe gestellt, für ein Gebiet, das in unerhört rascher und erfolgreicher Entfaltung sich ideell und im Ausland zum Teil auch reell verselbständigt hat und eine schier unübersehbare Fülle von Entfaltungs- und Anwendungsmöglichkeiten in sich birgt, ein eigenes Arbeitsfeld abzustecken und den zu seiner Bebauung herandrängenden Kräften als ausschließliche Domäne zu überweisen. Möchte das Geschlecht, das diesem großen Akt beiwohnen und zu seiner Verwirklichung beitragen darf, sich nicht zu klein erweisen!
37) Vgl. dazu A. PICK in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 50, Seite 281. 38) Über die Bedeutung der Aufmerksamkeit für die Wahrnehmung vgl. auch JAENSCH, Zur Analyse der Gesichtswahrnemungen, vierter Ergänzungsband der "Zeitschrift für Psychologie etc." 1909, Seite 225f. 39) Bei der praktischen Anwendung des Schemas wird sich eine Umstellung der hier bezeichneten Prüfungsaufgaben hier wie auch im späteren Verlauf vielfach empfehlen. 40) Vgl. dazu TAYLOR in der "Zeitschrift für Psychologie etc.", Bd. 40, Seite 225f. Selbstverständlich werden hier die in der Normalpsychologie ausgebildeten Methoden zur Untersuchung des Vorstellungstypus, der Ideations-, Perseverations- und Reproduktionstendenz der Vorstellungen mit größerem Vorteil zur Anwendung gelangen. Das sogenannte Assoziationsexperiment ist dabei besonders bequem und beliebt, aber keineswegs zugleich besonders durchsichtig und aufschlußreich in der Richtung der Vorstellungspsychologie, wenn es nicht in Verbindung mit sorgfältigen Selbstbeobachtungen angewandt wird. 41) Vgl. PERKY, An experimental Study on Imagination, American Journal 21, Seite 422f. 42) THEODOR ZIEHEN, Die Prinzipien und Methoden der Intelligenzprüfungen, 1908. Vgl. auch MEUMANN, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. 43) KARL JASPERS, Die Methoden der Intelligenzprüfung, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 1, Seite 402f. 44) Vgl. dazu AUGUST MESSER, Empfinden und Denken, 1908 45) Vgl. E. B. TITCHENER, Lectures on the Experimental psychology of the Thought-Processes, 1909, Seite 145f 46) Vergleiche dazu die interessanten Feststellungen und Unterscheidungen bei KURT KOFFKA, Über Vorstellungen, Gießener Habilitationsschrift, 1911, Seite 50f 47) Mit dem Meinen fällt zum Teil der in der englischen Psychologie vorzugsweise geschilderte Vorgang des "Meaning" zusammen. (vgl. W. McDOUGALL, Body and Mind, 1911, Seite 301f. 48) Daß ACH, der die Bewußtheiten zuerst bei seinen Versuchspersonen entdeckte, die Gedanken jetzt als eine Unterart derselben faßt (Wille und Temperament, Seite 10), sei hier nur erwähnt. 49) Vgl. dazu die wertvolle Untersuchung von MICHOTTE und RANSY, Contribution á l'étude de la mémoire logique, (Annales de l'Institut Supérieur de Philosophie, Louvain 1912. Bei den oben angegebenen zwei ersten Entstehungsweisen der Gedanken ist die Geltung der Vorstellungsgesetze naheliegen. 50) a. a. O., Seite 24f. 51) A. PICK (a. a. O.) hat erklärt, daß in der Mehrzahl, vielleicht in allen Fällen von Seelenblindheit unseren gegenwärtigen Methoden kaum zugängliche Sehstörungen eigentümlicher Art vorliegen. Auch diese Ansicht kann durch die Ausführung unseres Programms geprüft werden. 52) Vgl. dazu die anregenden Ausführungen bei ERNST DÜRR, Erkenntnistheorie 1910, Seite 2f. 53) Vgl. dazu KARL MARBE, Beiträge zur Logik und ihren Grenzwissenschaften in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 30, Seite 489f. 54) Wie groß z. B. die diagnostische Bedeutung einfacher Assoziationsexperimente werden kann, geht nicht nur aus der sogenannten Tatbestandsdiagnostik im Sinne MAX WERTHEIMERs (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VI, Seite 59f), sondern auch aus der eben erschienenen "Ètude expérimentale de l'association des idées dans les maladies mentales von A. LEY und P. MENZERATH (1911) hervor. |