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Fiktives in der Lehre von den Empfindungen [3/4]
Kapitel 2 Betrachtung fiktiver Elemente in den Empfindungslehren verschiedener Psychologen [ - Fortsetzung - ] § 4. Die Empfindung als unbewußtes Element Die verschiedenen Stellungnahmen zum Begriff unbewußter Empfindungen kann man sich an den extrem entgegengesetzten Ansichten von WUNDT und LIPPS verdeutlichen. Der eine behauptet:
Daß der Begriff des Unbewußten sehr leicht zur müßigen Spielerei der Phantasie führt, kann man nicht leugnen. BRENTANO zieht gelegentlich EDUARD von HARTMANNs Argument zur Begründung seiner Ansicht als "ein Muster von willkürlicher aprioristischer Spekulation" heran (57). Dagegen wird die von LIPPS vertretene Lehre des Unbewußten von mehreren Psychologen als ein psychologisch zu rechtfertigender Standpunkt empfohlen, weil er ausdrücklich auf eine metaphysische Grundlegung verzichtet. Inwieweit dem zugestimmt werden kann, wird sich zum Teil aus der gegenwärtigen Untersuchung ergeben. Zunächst aber müssen wir kurz die wichtigeren der verschiedenen Meinungen behandeln, welche den vieldeutigen Begriff des "Bewußten" erläutern; denn das Unbewußte läßt sich nur im Gegensatz dazu bestimmen. Obgleich kein Psychologe heute das Bewußtsein als wirklich räumlich lokalisiert ansieht, so nähern sich doch zuweilen die Beschreibungen der psychischen Ereignisse der Auffassung derjenigen, welche von den Gedanken as "in ihrem Kopf" sprechen. Abgesehen davon finden wir drei verschiedene Begriffe des Bewußtseins. Diese drei sind:
2. Bewußtsein als unmittelbares Erlebnis, 3. Bewußtsein als beschränkter Teil eines psychischen Zustandes. In der ersten Bedeutung ist das Bewußtsein dem "Bewußtsein überhaupt" gleich (58); es ist in dieser Bedeutung KANTs "möglicher Erfahrung" sinnverwandt; es ist mit "Natur" - all dem, dessen wir bewußt werden können - gleichbedeutend. Der Gebrauch des Wortes in diesem Sinne ist den Philosophen sehr geläufig, bei den Psychologen aber ist er nicht zu finden. Zweitens bedeutet Bewußtsein" die Bewußtheit eines mehr oder weniger bestimmten Inhalts; hier ist es auch das Haben eines Inhalts. Eine Farbe ist mir bewußt, ich erkenne ein Geräusch als mir unmittelbar gegeben. "Bewußtsein", sagt NATORP, "heißt Gegenstand für ein Ich sein." (59) Andere bezeichnen mit dem Begriff nicht einen einzelnen Zustand, sondern die Gesamtheit des seelischen Geschehens. Drittens ist "Bewußtsein" soviel wie: im Blickfeld stehen; man kann es durch: Gegenstände der Aufmerksamkeit ersetzen. Aus dem Fluß des psychischen Geschehens heben sich gewisse Teile heraus, während die übrigen unbeachtet beiben. Sie sind da, aber bis wir eine Veranlassung haben, sie zu beobachten, sprechen wir nur von den bemerkten Bestandteilen als "im Bewußtsein". In der ersten Bedeutung ist Bewußtsein eine Voraussetzung; in der zweiten ist es ein Erlebnis, das der Beobachtung zugänglich ist, oder das aufgrund des Beobachteten erschlossen ist; in der dritten ist es die Tatsache der unmittelbaren, aufmerksamen Beobachtung. In unserer Betrachtung beschränken wir uns so weit wie möglich auf die dritte Bedeutung, weil aus ihr die meisten Theorien und Begriffe des Unbewußten entstanden sind. Fragen wir jetzt nach den psychologischen Tatsachen, welche den geläufigsten Begriffen des Unbewußten zugrunde liegen (60). Die Tatsachen lassen sich in folgende drei Gruppen einteilen: Erstens die unbewußten Inhalte; zweitens die unbewußte Ordnung der Inhalte; und drittens die nach bestimmten Regeln unbewußt ausgeführten Tätigkeiten. Wir wollen diese Einteilung durch Beispiele erläutern, obwohl die Tatsachen selbst jedermann geläufig genug sind. Man hat z. B. auf einem Ozeandampfer unglücklicherweise eine nach hinten gelegene Kabine bekommen. Die erste Nacht schläft man gar nicht, weil das entsetzliche Schlagen der Schiffsschrauben zu viel Lärm verursacht. Bevor jedoch drei Tage vergangen sind, bleibt die Ruhe des Betreffenden ungestört und er hat völlig vergessen, daß das Schiff Schrauben hat, bis seine Mitreisenden aus den weiter nach vorn gelegenen Kajüten ihn darauf aufmerksam machen. Man sagt, das betreffende Geräusch ist ihm jetzt "unbewußt". Das objektive Drehen der Schiffsschrauben spielt sich fortwährend ab, der objektive Reiz ist vorhanden, seine Wirkungen aber ziehen die Aufmerksamkeit nicht länger auf sich. Daß die Wirkungen eintreten, ohne daß sie gerade in den Blickpunkt des Bewußtseins treten, d. h. ohne im gewöhnlichen Sinn bewußt zu werden, lehrt folgendes Beispiel. Fährt jemand etwa eine Stunde in einem Eisenbahnwagen, so bemerkt er plötzlich, daß er viel lauter als gewöhnlich spricht. Erst später, nachdem er ausgestiegen ist und der Lärm ihn nicht mehr beeinflußt, wird ihm der Grund dafür klar. Oder man steht vor einem Schaufenster und betrachtet die darin befindlichen Gegenstände; von einigen gewinnt man einen klaren Eindruck, während andere nur flüchtig beobachtet und wieder andere gar nicht bemerkt werden. Wenn der Betreffende nachher zu Hause sitzt, kann er diese unbemerkten Gegenstände in der Erinnerung mehr oder weniger deutlich vor sich sehen. In vielen Fällen lassen sich die scheinbar unbekannten Gestalten, die einem im Traum erscheinen, ohne Zweifel auf solche sogenannten "unbewußten" Eindrücke während des Tages zurückführen. In die zweite Gruppe gehören die Fälle, in denen man nach erlernten Regeln arbeitet, ohne gerade an diese Regeln zu denken. Ein Künstler folgt einer besonderen Methode oder der Lehre einer bestimmten Schule, ohne sich deren Lehren jedesmal vor Augen zu halten; oder man lernt eine fremde Sprache langsam nach bestimmten grammatischen Regeln, welche umso mehr unbewußt werden, je mehr man die Sprache beherrscht. Die dritte Gruppe bilden die Tätigkeiten, deren geschickte Ausführung man durch langsame Übung und mit angestrengter Aufmerksamkeit auf die Reihenfolge der Bewegung erworben hat. Nach der Erlernung fällt das Bewußtsein der Zwischenglieder fort; auf den Reiz, der zu Beginn gegeben ist, spielt sich die Reihe der Bewegungen sozusagen von selbst an. Ein Klavierspieler z. B. kann eine Melodie spielen und zur gleichen Zeit an einer lebhaften Unterhaltung mit anderen Personen teilnehmen. Andere Beispiele sind das Gehen, Schreiben, Schwimmen usw. Gleich anderen besitze ich die Fähigkeit, zu einer vor dem Einschlafen festgesetzten Zeit aufzuwachen. Die Absicht wirkt unbewußt in der Zwischenzeit und die Wirkung ist im Wesentlichen dieselbe, wie bei den anderen Beispielen dieser Gruppe. Jetzt fragen wir nach den Theorien, die diese Tatsachen des "Unbewußten" mit den Tatsachen des Bewußten zu vereinen suchen, und damit nach den Bedeutungen der Begriffe, mit denen man diese Tatsachen bezeichnet. Die wichtigste Frage aber ist für uns: welche von ihnen ist die "zweckmäßigste"? Eine Ansicht bezeichnet als unbewußt das Vorausgesetzte. EBBINGHAUS stützt sich auf die sehr geläufige Erfahrung, daß wir bei jeder Wahrnehmung viele gedankliche Voraussetzungen machen. Man sieht im Wald z. B. einen Baum und zweifelt nie daran, daß der Baum Wurzeln hat, oder daß seine Früchte den Samen zu künftigen Bäumen tragen. Selbstverständlich sieht man nicht alles, was man nicht bezweifelt, sondern man nimmt an, daß es so ist,
Jedenfalls soll hier betont sein, daß diese Theorie, wie die meisten Theorien des Unbewußten, zu vielumfassend ist. Wir erkennen natürlich an, daß in einem Erlebnis nicht alles auf so anschauliche Weise gegeben ist, wie der Stamm eines Baumes oder seine Zweige und Blätter. Wir müssen schließlich auch mit EBBINGHAUS behaupten, daß für das logische Denken gewisse Elemente vorausgesetzt werden müssen, deren Rechtfertigung nicht aus der unmittelbaren Beobachtung des Anschaulichen, sondern aus der Unmöglichkeit folgt, eine Erfahrung oder ein Erlebnis zu denken, ohne daß man diese Elemente einschließt. Wir bestreiten jedoch jede Theorie, welche Tatsachen übersieht oder vernachlässigt - die Tatsachen, welche durch Beobachtung wahrnehmbar oder beweisbar sind. Der Psychologe darf am allerwenigsten das Vorhandensein mit dem Gedachtwerdenkönnen oder die Wirklichkeit mit der Dankbarkeit verwechseln. Die Herstellung eines befriedigenden psychischen Kausalzusammenhangs ist zu oft durch Voraussetzungen statt durch erwiesenes Tatsachenmaterial versucht worden. Im nächsten Kapitel soll ausführlicher auf die Frage der in den psychischen Tatsachen begründeten Voraussetzungen der Psychologie eingegangen werden. Hier soll ein Zitat zeigen, wie leicht man in dieser Frage ins Uferlose geraten kann.
Betrachten wir jetzt eine Theorie des Unbewußten, die aufgrund der ersten der oben aufgestellten Tatsachengruppen entstanden ist. Wir fassen diese Tatsachen noch einmal kurz zusammen: Gewisse Reize machen auf uns bestimmte Eindrücke, ohne daß unsere Aufmerksamkeit während der Dauer des Reizes auf alle Bestandteile des inneren Blickfeldes gerichtet ist. Die Reize machen sich geltend durch die Färbung, welche sie der "Komplexqualität" des jeweiligen Ereignisses verleihen. Aus dem beweisbaren Vorhandensein solcher unbemerkten Teilempfindungen des gesamten Erlebnisses ist die folgende Theorie entsprungen. Auf diese Gruppe beschränkt, wird sie genauer als eine Theorie der "bewußten aber unbemerkten" Empfindungen bezeichnet. Es schein ein zweckmäßiges Verfahren zu sein, eine Theorie zunächst für eine beschränkte Gruppe von Tatsachen als wohl begründet zu erweisen und sie erst nachher versuchsweise auf andere Gebiete zu übertragen. In der Tat vertreten viele Psychologen die Theorie der "bewußten aber unbemerkten" Empfindungen, obwohl die Bezeichnungen dafür sehr verschieden sind. Unter anderem sind zu nennen: die unerkannten, die unbeachteten, die unvermerkten, die unapperzipierten, die dunklen, die überhörten und die übersehenen Empfindungen. Zunächst müssen wir zwei verschiedene Methoden der Begründung dieser Theorie auseinanderhalten. In Wahrheit ergeben sich daraus zwei wesentlich verschiedene Theorien, oder dieselbe Theorie wird auf durchaus verschiedene Fälle angewendet. Sie entstehen aus dem Gebrauch des Wortes "unbemerkt" für "unbemerkbar" und "unerkannt" für "unerkennbar". STUMPF z. B. scheint eine Theorie der "bewußten aber unbemerkten Empfindungen" zu vertreten, denn er behauptet, "daß Unterschiede und Teile in den Erscheinungen auch dann vorhanden sein können, wenn wir solche augenblicklich nicht bemerken." (65) Aber eine solche Behauptung gibt die Veranlassung zu anderen Behauptungen, die gar nicht auf demselben Boden stehen. Er sagt im nächsten Satz:
Ich muß gestehen, daß ich mir über MÜNSTERBERGs Meinung nicht ganz im Klaren bin. Wie es möglich ist, die Empfindungen als seiend anzuerkennen und doch über sie nichts zu wissen, ist mir ganz unverständlich. Zuweilen könnte man glauben, daß er nur die Tatsache zu betonen wünscht, im wahrgenommenen Ganzen ließen sich die Eigenschaften des Gesamteindrucks nur mit Schwierigkeit oder gar nicht beschreiben. Das folgende Zitat ist allerdings nicht unzweideutig.
Meiner Meinung nach bracht der Psychologe in solchen Fällen nur die Beschaffenheit des wirklich Gegebenen zu beschreiben. Es besteht keine Notwendigkeit, Teile zu hypostasieren, wo keine der Beobachtung zugänglich sind. Damit wird keine psychologische Beschreibung geleistet, die Beschreibung des wirklich Gegebenen vielmehr verfälscht. Hier habe ich mich schon bei der Betrachtung der Empfindung als konstant und als einfach genügend geäußert. MÜNSTERBERGs Ansicht unterscheidet sich von der EBBINGHAUS' insofern, als sie die Behauptung enthält, wir besäßen jene "unerkannten" Teile des Empfindungskomplexes so wie jeden "erkannten" Teil, während EBBINGHAUS Bestandteile hypostasiert, ohne daß sie wirklich vorhanden zu sein brauchen. Die folgende Theorie steht im Gegensatz zu diesen beiden dadurch, daß sie behauptet, ein komplexes Erlebnis könne unbemerkt Teilempfindungen enthalten, und wir könnten ihr Vorhandensein durch unmittelbare Beobachtung konstatieren. Diese Theorie hat KRUEGER aus seinen Untersuchungen über die Phänomene des Gehörsinns abgeleitet. Später werden wir sehen, daß KRUEGER weit stärker als MÜNSTERBERG die einheitliche Natur der Komplexe zur Geltung bringt. Hier betont seine Theorie, daß wo eine Analyse möglich ist, man die Eigentümlichkeiten des Komplexes nicht unbewußt oder unerkannten Elementen zuschreiben darf. Solche einheitlichen und spezifisch gearteten Komplexe entstehen auf dem Gebiet der Tonwahrnehmung dadurch, daß die verschieden beschaffenen Teilempfindungen auf mehr oder weniger innige Weise verschmelzen und sich assimilativ beeinflussen. Die Phänomene der Konsonanz und Dissonanz bieten besonders aufschlußreiche Beispiele dieser Art. Anstatt nun in diesen Fällen von Teilen, "über die wir nichts wissen", zu reden oder die Innigkeit des Verhältnisses zwischen den Elementen eines Mehrklanges auf physiologische Prozesse zurückzuführen, oder, was dasselbe bedeutet, das Phänomen als psychologisch unanalysierbar anzusehen, führt KRUEGER die Konsonanz und Dissonanz verschiedenen Grades und die übrigen beobachteten Komplexqualitäten auf die Anzahl, die Anordnung und die Eigenschaften bestimmter Teiltöne, insbesondere subjektiver Differenztöne, gesetzmäßig zurück. Diese Teiltöne werden bei gewöhnlichem Hören eines Mehrklangs nicht gesonder bemerkt; aber die Resultate der von diesem Forscher angestellten Untersuchungen zeigen (69), daß diese die Haupttöne begleitenden Nebentöne und ihre charakteristischen Eigenschaften durch unmittelbare Beobachtung entdeckt werden können. Er hat nachgewiesen, daß durch experimentelle, d. h. systematisch vergleichende und variierende Beobachtung schon bei Zweiklängen eine große Mannigfaltigkeit solcher Teilemfindungen rein empirisch nachzuweisen ist; und daß deren gesetzmäßige Verhältnisse die in Frage stehenden Phänomene, wie Konsonanz, Dissonanz und größere oder geringere Einheitlichkeit des Tonganzen hinreichend erklären. Ob es möglich ist, auf anderen Gebieten mit solcher Sicherheit das Vorhandensein gewisser, für gewöhnlich "unbemerkter" Teilempfindungen durch unmittelbare Beobachtung nachzuweisen, muß die zukünftige Forschung nach weisen. Für die räumlichen und zeitlichen Wahrnehmungskomplexe besitzen wir dazu bereits wertvolle Vorarbeiten. Jedenfalls zeigen Resultate der experimentellen Analyse auf jenen Gebieten deutlich, was die rein empirische Betrachtungsweise leisten kann. Was sich hier für die "anschaulichen" und auch mancherlei "assoziativen" Elemente des psychischen Erlebnisses ergibt, weist auf die Aufgabe hin, die bezüglich der "unanschaulichen" Elemente und ihrer Gesetzmäßigkeiten zu lösen ist. (70) Nach LIPPS dagegen liegen allen bewußten Vorgängen unbewußte zugrunde und begleiten sie, so daß danach die Entstehung und die qualitative Eigenart eines jeden Erlebnisses ganz und gar durch "ansich" unbewußte Elemente im strengen Sinn dieses Wortes bestimmt wäre. Er will nicht von unbemerkten Inhalten wissen.
Wie behandelt nun LIPPS die Tatsachen der Konsonanz und Dissonanz? Wie findet er sich mit den besprochenen Teilempfindungen ab, welche der gewöhnlichen Beobachtung als solcher entgehen? Er geht aus von dem allgemeineren Standpunkt, daß "jeder Empfindungsinhalt, ja schließlich jedes psychische Erlebnis", das Produkt einer Verschmelzung ist. Auf ähnliche Weise, wie die schwächeren Reize des Nervensystems sich summieren, bis sie stark genug geworden sind, um eine physiologische Reaktion hervorzurufen, soll es für jedes psychische Erlebnis notwendig sein, daß eine Mehrzahl unbewußter aber psychischer "Erregungen" zusammenwirkt, bis sie Kraft genug gewonnen haben, um über die Schwelle des Bewußtseins zu dringen. Wie man Einsicht in die Prozesse gewinnt, die unter der Schwelle vor sich gehen, ist danach nicht ganz klar, aber sicherlich beruth diese vermeintliche Einsicht auf weitgehenden Abstraktionen und wesentlich fiktiven Annahmen. Die abstrakte Möglichkeit, jeden psychischen Vorgang gedanklich in eine Mehrheit von Teilvorgängen zu zerlegen, scheint LIPPS tonpsychologisches Denken über Gebühr zu beherrschen. Auch ist seine Theorie beeinflußt durch Kenntnisse vom "Objektiven", die nicht aus den betrachteten Tatsachen selbst ableitbar sind. Dagegen versucht er nirgends eine genaue Beobachtung, Vergleichung und Zergiederung des im Bewußtsein wirklich Vorzufindenden. Sein Gedankengang ist im Wesentlichen folgender: die Konsonanz ist ein Produkt der Verschmelzung; Verschmelzung ist überall durch Gleichartigkeit der zu verschmelzenden Elemente bedingt; also fordert die Konsonanz eine Gleichartigkeit der jeweils verschmelzenden Töne.
Für die Theorie der Konsonanz und Dissonanz hat KRUEGER experimentell und methodologisch nachgewiesen, daß eine Annahme unbewußter Empfindungen nicht nur nicht erforderlich, sondern irreführend ist. Bei LIPPS bleibt in Wahrheit die erkenntnistheoretische, ebenso wie die tatsächliche Natur des Unbewußten durchaus unbestimmt. An einer Stelle lesen wir bei ihm das Bewußte und das Unbewußte seien ihrer Art nach "dasselbe". An einer anderen Stelle behauptet er, daß die Natur dieser (unbewußten) Vorgänge" eine "qualitativ ansich völlig unbestimmte" ist. Die Entscheidung über den materiellen oder immateriellen Charakter will er der Physiologie und der Metaphysik überlassen. In der Tat scheint es fraglich ob diese unbewußten Vorgänge und Erregungen auf den Namen "seelisch" Anspruch erheben dürfen (74). Zuweilen begnügt er sich mit physiologischen Analogien, zuweilen wiederum verlegt er die unbewußten Elementarvorgänge selbst ins Physiologische. "Empfindungsinhalte verdanken ihr Dasein der Wirkung physiologischer Reize auf die Seele." (75) Die schwachen, unter der Bewußtseinsschwelle bleibenden Empfindungen scheinen dann nur nervöse Prozesse oder molekulare Hirnbewegungen zu sein. Die Seele (und LIPPS ist der Meinung: man kann eine Psychologie ohne Seele fordern, aber niemand hat eine solche geliefert) oder das Empfindende und vorstellende Wesen könne sogar mit einem Teil des Körpers identisch sein und vielleicht sei dieser Teil das Gehirn. (76) Freilich ist der Versuch, psychologische Vorgänge in nervöse Vorgänge umzudeuten, nicht selten gewagt, und am häufigsten macht man angesichts der Tatsachen des sogenannten Unbewußten ernsthaft diesen Versuch. So schreibt THEODOR ZIEHEN zu Anfang seiner "Physiologischen Psychologie":
Weit vorsichtiger operiert WUNDT mit dem Begriff "unbewußt". Grundsätzlich vertritt er den Standpunkt, das Unbewußte könne keinen Gegenstand der Psychologie bilden. Aber er schreibt diesem Begriff doch eine gewisse psychologische Bedeutung zu.
Wir wollen die Resultate unserer Betrachtung der verschiedenen Theorien und Begriffe des Unbewußten kurz zusammenstellen. Es gibt Theorien, die sich auf psychologische Tatsachen gründen und solche, die wesentlich einer metaphysischen Spekulation oder einem der Psychologie fremden Standpunkt ihr Dasein verdanken. Es gibt Anwendungsweisen des Wortes "Unbewußt", die einmal gewesene oder zukünftige Zustände des Bewußtseins bezeichnen, und andere, die gewisse gegenwärtige, aber dem Bewußten nicht wesensähnliche psychische (?) Phänomene benennen sollen. Die erfahrungswissenschaftlich gemeinten Bestandteile dieser Theorien und Begriffe lassen sich wiederum in zwei Gruppen scheiden (obwohl sie nicht von ihren Vertretern so geschieden werden): in diejenigen, welche eine genetische Erklärung des Gegebenen bezwecken, und diejenigen, welche nur der Analyse des in einem Bewußtseinsquerschnitt Vorhandenen dienen sollen. Aus diesen Ergebnissen schließen wir: Erstens, daß die Begriffe, deren die letztgenannte Analyse sich bedient, nicht Unbewußtes, sondern Bewußtes bezeichnen, und daß es deshalb irreführend ist, davon als von etwa von einem Unbewußten zu sprechen. Zweitens, daß auch die zulässigen Begriffe der genetischen Theorien bewußte Tatsachen bezeichnen und es infolgedessen richtiger wäre, auch hier von "unanschaulichen" Gegebenheiten zu reden oder, je nach dem tatsächlichen Befund, von "nicht gesondert wahrgenommenen" Teilen des Gegebenen. Dadurch vermindert sich die Anzahl der psychologischen Fiktionen erheblich. Im folgenden Kapitel wollen wir, soweit es für die Kritik des Empfindungsbegriffes notwendig ist, die Frage ins Auge fassen, ob Psychologie als Wissenschaft ohne fiktive Annahmen überhaupt auskommen kann. (80)
55) WUNDT, Über die Definition der Psychologie, Philosophische Studien, Bd. XII, 1896, Seite 35. 56) LIPPS, Leitfaden, Seite 40 57) FRANZ von BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Leipzig 1874, Bd. I, Seite 151, Anmerkung. 58) Vgl. AMRHEIN, Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt und ihre Weiterbildung bis auf die Gegenwart. Mit einem Geleitwort von HANS VAIHINGER, Berlin 1909 (Ergänzungshefte der Kantstudien, Nr. 10). 59) NATORP, a. a. O., Seite 29 60) vgl. hierzu EBBINGHAUS, a. a. O., Seite 48f. 61) EBBINGHAUS, a. a. O., Seite 54, 55. 62) EBBINGHAUS, a. a. O., Seite 55 63) EDUARD von HARTMANN, Die moderne Psychologie, Leipzig 1901, Seite 123 64) HARTMANN, a. a. O., Seite 78 65) STUMPF, Abhandlung, a. a. O., Seite 21 66) HUGO MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie, Bd. I, Leipzig 1900, Seite 315 67) MÜNSTERBERG, a. a. O., Seite 316. 68) MÜNSTERBERG, a. a. O., Seite 317. 69) FELIX KRUEGER, "Differenztöne und Konsonanz", Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 1, Seite 205-275; Bd. II, Seite 1-80. "Theorie der Konsonanz", Psychologische Studien, Bd. IV, Seite 201-228; Bd. V, Seite 294-409. 70) Vgl. hierzu die Untersuchungen über das Denken von MESSER, ACH, MARBE, ORTH u. a. 71) LIPPS, Leitfaden, a. a. O., Seite 37, 38. 72) LIPPS, Leitfaden, a. a. O., Seite 81 73) LIPPS, Leitfaden, a. a. O., Seite 40 74) LIPPS, Grundtatsachen des seelischen Lebens, Bonn 1912 (1883), Seite 140f 75) LIPPS, Leitfaden, Seite 21 (vgl. auch "Grundtatsachen" Seite 36). 76) LIPPS, Grundtatsachen, Seite 445 und 69. 77) THEODOR ZIEHEN, Leitfaden der Physiologischen Psychologie, Jena 1902, Seite 4. 78) ZIEHEN, a. a. O., Seite 690 79) WUNDT, Grundriß, a. a. O., Seite 251, 261, 263. 80) HEINRICH HOFMANN, "Untersuchungen über den Empfindungsbegriffe", Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 26, Seite 20. |