cr-4cr-2 R. TigerstedtA. Rapoportvon Rümelin    
 
CHRISTOPH SIGWART
Über die sittlichen Grundlagen
der Wissenschaft


"Es ist nicht so, daß die logische Ordnung eines Begriffssystems, daß der durchgängige ursächliche Zusammenhang allen Geschehens mit Händen zu greifen wäre; aber wir verfahren so, als müßte die Welt erkennbar sein, wir halten an der Forderung fest, daß sich auch das scheinbar Verworrenste in durchgängige Formeln auflösen lassen muß und wir glauben an ein immer fortschreitendes Gelingen, weil wir die Wissenschaft als eine Aufgabe betrachten, auf deren Erfüllung wir nicht verzichten können.

Mag uns die Hoffnung noch so oft täuschen, mag uns die Wahrnehmung, daß eine Theorie nach der anderen im Laufe der Zeiten stürzt, manchmal zweifelhaft machen, ob wir nicht einem für uns unlösbaren Rätsel gegenüberstehen, mag uns das Gefühl beschleichen, als ob schon wieder der Boden unter uns wankt und was wir bisher geglaubt haben, sich zu der langen Reihe von Irrtümern gesellen - wir hielten es für unmännliche Schwäche, uns darum der skeptischen Stimmung hinzugeben, welche die Hände in den Schoß legt, weil zu einer so unendlichen Aufgabe unsere Kräfte nicht ausreichen."


In einer Stunde, in welcher wir zusammentreten, um den Gefühlen ehrfurchtsvollen Dankes gegen den hohen Erhalter und Beschützer unserer Hochschule Ausdruck zu geben, ziemt es sich wohl auf das Ziel hinzublicken, das unsere akademische Gemeinde sich steckt, und uns den Sinn unseres gemeinschaftlichen Tuns zu vergegenwärtigen. Ich fürchte den Vorwurf nicht, daß sich darüber nichts Neues und nur Selbstverständliches sagen läßt; denn an das, was selbstverständlich ist, muß zuletzt in der Wissenschaft wie im Leben jede Überlegung und jede Entscheidung anknüpfen; und der Philosoph zumindest lernt in einem unaufhaltsamen Wechsel neuer Lehre alte erprobte Wahrheit so schätzen, daß er in der Wiederholung des Alten keine Gefahr sieht. Darüberhinaus gilt der Gewohnheit und der herrschenden Meinung Vieles als längst ausgemacht und selbstverständlich, bei dem eine vorsichtigere Untersuchung doch noch das Recht hat, nach der Begründung seines Anspruchs zu fragen und den Sinn festzustellen, in welchem dieser Anspruch gilt. So wird heutzutage niemand, auf dessen Stimme wir hören, die Notwendigkeit bestreiten wollen, daß der Staat die Wissenschaft pflegen und wissenschaftliche Anstalten erhalten soll, daß eine Anzahl von Männern die Wissenschaft und ihre Lehre zum ausschließlichen Lebensberuf macht und daß die Erkenntnis und Verbreitung der Wissenschaft von keiner Rücksicht beschränkt werden darf; aber doch würden wir nicht durchweg gleichlautende Antworten erhalten, wenn wir fragten, was denn der letzte Grund dieser Notwendigkeit und ihr eigentlicher Charakter ist.

Wir reden häufig von der Wissenschaft, als ob sie ein selbständiges, wesenhaftes Dasein hätte, wie ein ausgedehnter Bau auf festen Fundamenten, in den wir nur einzutreten und dessen einzelne Räume wir zu durchwandern und unter uns zu teilen hätten, oder wie ein lebendiger Organismus, der aus unscheinbaren Anfängen wächst und sich entwickelt, Zweig um Zweig aus sich hervortreibt nach inneren Gesetzen, die wir aus seiner Geschichte zu entnehmen trachten, und nach denen wir uns eine Vorstellung des vollen ausgewachsenen Ganzen entwerfen. Aber unter welchem Bild wir von einem solchen Sein und Leben der Wissenschaft reden mögen, es bleibt immer ein Bild, dem nur unsere Phantasie ein selbständiges Dasein verleiht. In einem ähnlichen Sinne reden wir auch von der Sprache, von ihrem Material, ihrem Bau, ihren Gesetzen, ihrer Entwicklung, und vergessen dabei oft, daß die Sprache ihre wirkliche Existenz nur im Sprechen und Verstehen der Einzelnen hat; oder wir reden vom Staat als einer außer uns und über uns stehenden Macht, wir leihen ihm eine Art von persönlichem Dasein, ein Leben das Jahrhunderte oder Jahrtausende dauert; und doch besteht der Staat nur durch den Willen und die Tätigkeit seiner Glieder, hat seine Festigkeit nur in ihrer Übereinstimmung, und seine Macht nur dadurch, daß die Ordnungen des gemeinsamen Lebens bei der weit überwiegende Zahl der Zusammenlebenden vermöge ihrer Interessen und ihrer sittlichen Gesinnung Anerkennung erlangen und den Willen erzeugen, diese Ordnungen zu erhalten.

So ist es auch mit der Wissenschaft; sie besteht und lebt nur im Geist der Einzelnen; sie wurzelt in ihrem Gedächtnis und der Kraft ihres Denkens, und ihr Fortbestand ist die ununterbrochene Arbeit, durch welche der Einzelne das Wissen erwirbt, sich gegenwärtig hält und erweitert, ihre Zukunft ruht schließlich darauf, daß statt der absterbenden Generationen immer neue und neue Reihen dieselbe Arbeit des Lernens und Forschens wieder beginnen und weiter führen. Wohl mag es uns, wenn wir den immer wachsenden Umfang des Wissens bedenken, mit einer Art von Bangigkeit erfüllen, daß in so zerbrechlichen und engen Gefäßen eine so unermeßliche Fülle konstbaren Gutes aufbewahrt werden soll, und wir fragen besorgt, wohin es kommen mag, wenn ein immer kleinerer Bruchteil des gesamten Schatzes wirklicher Besitz eines Einzelnen werden, als lebendiger Gedanke in ihm vorhanden sein und in Anderen erzeugt werden wird. Und wie zum Trost wenden sich dann unsere Blicke hinauf zu den weiten Räumen, in denen schwarz auf weiß die Wissenschaft von Jahrhunderten und Jahrtausenden ihre dauernde greifbare Wirklichkeit hat, und die lange Kunst der Vergänglichkeit des kurzen Lebens entrückt ist. Aber es ist ein melancholischer Trost; denn erst recht dringlich fragen uns diese Bände, wieviel lebendige Kraft nötig ist, um die erstarrten Gedanken aus ihrem Totenschlaf zu erwecken, und es mutet uns an, als sollten wir einen Gletscher mit dem Hauch unseres Mundes flüssig machen.

Je deutlicher wir uns aber vergegenwärtigen, daß die Wirklichkeit der Wissenschaft nur im Bewußtsein der einzelnen Wissenden ihren Sitz hat, desto sicherer stellt sich die Frage ein, woher wir denn das Recht haben, von der Wissenschaft in der Einzahl, wie von einem einheitlichen geschlossenen Ganzen zu reden. Wo ist sie, diese Wissenschaft, wessen Wissen ist sie und welcher Geist besitzt sie?

Es scheint nicht schwer, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Wie die deutsche Sprache von keinem Deutschen ganz gesprochen, von keinem ganz verstanden wird, aber doch ein in sich zusammenhängende, von gleichartigen Regeln beherrschte Summe von Wörter und Wortverbindungen bildet, die von Deutschen gebraucht werden; wie ein Teil des Wortvorrates allen gemeinsam und verständlich, ein anderer Teil nur in kleinen Kreisen im Gebrauch ist und jeder zuletzt eine individuelle Auswahl trifft, um seine Gedanken zu bezeichnen, so scheint es auch mit der Wissenschaft zu sein. Vom unermeßlichen Gesamtgebiet des Wißbaren hat jeder einen besonderen, vom Besitz aller anderen unterschiedenen Teil inne; Einzelnes ist ihm allein bekannt, anderes teilt er mit Wenigen, anderes mit einem größeren Kreis; noch anderes, die elementarsten und einfachsten Kenntnisse, die uns der Verlauf des Lebens selbst zu erwerben zwingt, sind in aller Hand. Wenn wir also von der Wissenschaft als einheitlichem Ganzen reden, könnten wir die Summe des Wissens aller Einzelnen meinen, die sich durch vielfach ineinandergreifende, aber doch nirgends sich deckende Kreise bildlich darstellen läßt, und der Zusammenhang des Ganzen bestünde darin, daß, wie Glieder einer Kette, das Wissen des Einen in das der zunächststehenden Anderen eingreift, und ergänzend und fortführend sich daran anschließt.

Bei genauerer Betrachtung aber werden wir uns doch bedenken, dieser Summe all dessen, was die Einzelnen wissen, dem in seiner Vollständigkeit gedachten, aber nirgends greifbaren Konglomerate ihrer Kenntnisse, den stolzen Namen der Wissenschaft zu geben. Dächten wir auch die Kenntnisse der mannigfaltigen Art so lückenlos aneinandergefüft, daß sie sich zu einem annähernd vollständigen Bild der Welt gestalteten, fänden wir das ganze Universum in den einzelnen Geistern abgespiegelt wie in den tausend Facetten eines Insektenauges, deren jede einen Bruchteil desselben enthielte - es fehlte uns das Auge, das jenes Mosaik betrachtet, es fehlte uns die Seele, für welche jenes Ganze da wäre und einen Wert hätte.

Nicht in dieser äußerlichen Aneinanderreihung können wir die Einheit der Wissenschaft suchen; sie hat ihre Existenz als gewußter und gewollter  Zweck.  Nicht dort erkennen wir Wissenschaft an, wo zufällig Kenntnisse entstehen, wie sich eben der Neugier der Gelegenheit zur Beobachtung bietet oder das Bedürfnis des Lebens auf die Natur der Dinge zu achten zwingt, oder ein glücklicher Einfall eine allgemeine Wahrheit richtig trifft; sie ist uns weder ein Geschenk einer von selbst sich entwickelnden Natur, noch ein bloßer Nebenerwerb bei der Befriedigung unserer Bedürfnisse, sondern eine mit Bewußtsein übernommene Aufgabe und ein Gegenstand planmäßiger Arbeit; erst ein  Ideal des Wissens,  auf das wir unseren Erwerb von Kenntnissen beziehen, macht denselben zur wissenschaftlichen Tätigkeit, und wir messen die Reinheit und Stärke des wissenschaftlichen Sinnes an der Klarheit, mit der das Ideal der Wissenschaft gedacht wird, und an der Sicherheit, mit der es unser Tun regelt.

Entwerfen wir uns aber dieses Ideal in seinen Hauptzügen, so enthält es zuerst die  extensive Vollständigkeit  unserer Erkenntnis. Ein treues Bild des Universums, das sich unabsehbar nach Raum und Zeit vor uns ausbreitet, soll gezeichnet werden; der Riß des Weltbaus soll in seinen Maßen vor uns liegen; mit gleicher Klarheit suchen wir die Verteilung der kosmischen Massen, welche die immer sich schärfende Sehkraft der Teleskope in den zurückfliehenden Fernen des Weltraums erblickt, wie die Lagerung der Atome im kleinsten Splitter von Materie zu ergründen; auf der ganzen Erdoberfläche soll sich keine Höhe und keine Tiefe unserem Auge und unserer Messung entziehen, kein Gewässer rinnen, keine Pflanze wachsen, kein Tier sich regen, das wir nicht kennen; wir fragen selbst den Wind, von woher er kommt und wohin er fährt. Das Unbekannte, wo immer es auch ist, empfinden wir wie einen Vorwurf, von dem uns zu befreien keine Anstrengung zu groß, keine Unternehmung zu gewagt dünkt.

Ebenso verfolgen wir rückwärts in der Zeit die Geschichte der Welt; aufgerollt vor unseren Blicken soll die Vergangenheit des Alls liegen; wir wollen im Geist zusehen, wie seit Myriaden von Jahren die Himmelskörper ihre Kreise zogen, wie sich die Erde geballt und ihre Oberfläche sich geschichtet hat, wie die Geschlechter der Pflanzen und der Tiere auf ihr erschienen und wieder verschwunden sind; und zuletzt soll die Geschichte unseres eigenen Geschlechts uns erzählen, wie die Völker gelebt und das vielverschlungene Netz ihrer rastlosen Tätigkeit über die Erde gesponnen haben, wie sie gedacht und gesprochen und von welchen Ideen ihr Geist, von welchen Regungen ihr Gemüt bewegt worden ist.

Aber ein solches Gesamtbild der Welt wäre ein verwirrendes Chaos von Formen und Vorgängen, das festzuhalten keine Einbildungskraft ausreicht, wenn es nicht unseren  Begriffen  gelänge, Ordnung und Übersicht in die Vielheit zu bringen und die unzählbare Menge des Einzelnen in das feste Fachwerk von Gattungen und Arten zu stellen. Erst dadurch erhebt sich ja die  Wahrnehmung  zur  Erkenntnis,  daß wir vergleichend und unterscheidend das Einheitliche und Gemeinsame im Vielen herausfinden und in festen Abständen seine Unterschiede abstufen, bis uns der Stammbaum vorliegt, aus dem die Nähe oder Ferne der Wesensverwandtschaft aller Dinge abzulesen ist. Ein  System von Begriffen  in der Welt verwirklicht zu denken, ist die zweite Forderung unseres wissenschaftlichen Ideals.

Aber neben der extensiven Vollständigkeit und der logischen Ordnung ist noch ein Drittes darin enthalten - die durchgängige  Gesetzlichkeit Alles was ist und geschieht als notwendig zu begreifen, in seinem Hervorgehen aus bestimmenden Ursachen nach allwaltenden unveränderlichen und unfehlbaren Gesetzen zu verstehen, ist uns die höchste Vollendung des Wissens; nur dasjenige Gebiet gibt uns das Gefühl wirklicher Herrschaft, in dem wir solche Gesetze ergründet haben und nach ihnen den aus jeder Kombination mit Notwendigkeit eintretenden Erfolg voraussagen können. Längst hat das ruhelose Weiterdringen der Forschung die Grenze überschritten, welche der Erkenntnis eines strengen Kausalzusammenhangs durch den Unterschied des geistigen Lebens vom materiellen Geschehen gezogen schien; die Gedanken und Bilder, die verschwiegen durch unsere Seele ziehen, die Handlungen unseres Willens und die Ausbrüche der Leidenschaft müssen, wenn eine strenge Wissenschaft von der Seele möglich sein soll, ebenso festen Gesetzen gehorchen wie der Gang der Magnetnadel und der Schlag des elektrischen Funkens, und der vollendeten Erkenntnis müßte es gelingen, den weiteren Gang der Geschichte mit derselben Sicherheit vorauszusehen, wie eine Mondfinsternis oder einen Venusdurchgang.

Mögen wir noch so weit von der Verwirklichung dieses Ideals entfernt sein - das klare Bewußtsein desselben und der feste Glaube, daß es unsere Aufgabe ist, dasselbe zu verwirklichen, scheidet uns vom Abenteurer, der planlos auf Entdeckungen ausgeht, wie vom Lohnarbeiter, der sich für Zwecke abmüht, die er nicht kennt, einigt dagegen die gesamte Tätigkeit aller Einzelnen und gibt ihrem Zusammenwirken Richtung und Maß.

Woher aber haben wir die Züge dieses Ideals genommen und woraus entspringt der Wille es zu verwirklichen?

Wenn wir die Geschichte fragen, auf welchem Weg der Mensch sich aus der Verwirrung erhebt, in welche ihn die von allen Seiten auf ihn einstürmenden Eindrücke der äußeren Natur, in welche ihn die Unruhe seiner eigenen Triebe und der stete Kampf ums Dasein zu stürzen drohen, so sehen wir überall ihn zuerst damit beginnen, daß er in seine eigene Tätigkeit Ordnung und Plan, Sinn und Vernunft bringt, unter klar gedachte Zwecke die Mannigfaltigkeit seiner Strebungen und Triebe beugt, das gemeinsame Leben nach Sitte und Recht ordnet und damit ein für Alle gültiges, über seinem Belieben stehendes Gesetz anerkennt. Im Bewußtsein dessen, was er  soll vollzieht er zuerst den Gedanken einer systematischen Einheit, der vernünftigen, von Grundsätzen beherrschten Ordnung einer Vielheit von Wesen und ihrer Beziehungen; denn sein Wollen ist nur dann vernünftig, wenn es aus  einem  Gedanken den Wechsel seiner vielfältigen Tätigkeit regelt.

Das Bewußtsein eines Zwecks, den er sich setzt, eines Gesetzes, das er sich gibt, einer Pflicht, die er anerkennt, gibt ihm das Gefühl seiner Würde als eines freien und vernünftigen Wesens; in diesem hebt er sich aus dem Zusammenhang der vernunftlosen Natur heraus und stellt sich ihr gegenüber als ein Wesen eigener Art; sie ist ihm der Schauplatz seiner Tätigkeit, das Gebiet, auf dem er zu herrschen berufen ist. Und so scheidet er zuerst in ihr, was ihm freundlich entgegenkommend die Mittel zur Erreichung seiner Zwecke bietet, und was feindlich widerstrebend ihn zu Kampf und Überwindung herausfordert, die guten und die bösen, die lichten und die finsteren Gewalten. Aus seinem Wollen, das Zwecke in der Welt verwirklicht, entspringen die motive, die ihn drängen, sein Verhältnis zu ihr zu verstehen; je deutlicher er sich seiner vernünftigen Freiheit bewußt ist, desto mehr rückt er in den Abstand von den übrigen Dingen, von dem aus er sie zu übersehen vermag; erst dann kann er sich berufen glauben, sie mit seinem Wisen zu umspannen und in sich selbst alle ihre Strahlen in  ein  Bild zu vereinigen.

Nur aus sich selbst kann er zuletzt das Maß dessen nehmen, was er als höchstes Ziel für sich anerkennt; nichts Äußeres, was ist und geschieht, kann ihm sagen, was er als sein höchstes Gut, als den Zweck seines Daseins zu betrachten hat. Im  Stoff  des Wissens freilich ist er von außen abhängig; was da ist und geschieht, kann er nur dadurch erfahren, daß die Dinge auf seine offenen Sinne einwirken; aber diese Einwirkungen, zerstreut und zufällig wie sie der natürliche Verlauf ihm zuführt, könnten ihn niemals zwingen, sie zu einem Ganzen zu vereinigen, und niemals die Idee eines allumfassenden Systems zu erzeugen. Wohl ist von Anfang an ein natürlicher Erkenntnistrieb in ihm lebendig, und sucht bald dieses bald jenes zu beobachten und zu begreifen, und aus ihm entnimmt er die  Formen,  in denen sich sein Wissen gestalten muß; aber was ihn seine Natur zu tun treibt, kann sich erst dann zu einem festen Zweck, zu einer unwiderruflichen Aufgabe gestalten, wenn er den Wert dieses Triebes begreift und ihn als einen Teil seiner Bestimmung anerkennt, die zu erfüllen er verpflichtet ist.  Was  er wissen  kann,  ist ihm durch die Welt und seine geistige Organisation vorgeschrieben;  daß  er wissen  soll,  entspringt aus seiner sittlichen Natur und kann nur von seinem Willen bejaht werden. Und diesen Primat des Wollens auch auf wissenschaftlichem Gebiet könnte selbst die vollendete Wissenschaft nicht aufheben. Gelänge es uns auch, mit mathematischer Genauigkeit die Formeln aufzustellen, nach denen das wirkliche Denken und Tun der Menschen vor sich geht, sie würden uns nicht belehren über das was sein soll, so wenig wie die Moralstatistik und überzeugt, daß jährlich so und so viele Verbrechen begangen werden sollen; ist es uns ja nicht gegeben, unserem lebendigen Tun nur zuzusehen, und eswie ein fremdes Ereignis zu zergliedern; indem wir das tun, wollen wir, und die vollste theoretische Überzeugung, im Wollen von einer unausweichlichen Notwendigkeit bestimmt zu sein, könnte weder den Unterschied zwischen dem aufheben was geschieht und dem was geschehen soll, noch unser Wollen hindern, immer wieder über das Gegebene hinauszustreben. Das Erste und Höchste ist immer die Überzeugung von dem, was unsere letzte Bestimmung ist; und nur weil uns aus dem Bewußtsein dieser Bestimmung die Idee der Wissenschaft fließt, ist sie da als Aufgabe, und verwirklicht sie sich in einem ununterbrochenen Fortschritt.

Es erklärt sich daraus, daß die dem Wollen und Handeln des Menschen entnommenen Begriffe zuerst die leitenden Gesichtspunkte für die Erkenntnis der Welt werden; er sucht sie in demselben Sinn zu verstehen, in welchem er sich selbst und sein bewußtes Tun versteht, aus den leitenden  Zwecken.  Wenn SOKRATES den planlosen und fruchtlosen Phantasien der älteren Naturphilosophie entgegen ein festes und seiner Sache gewisses Wissen fordert, da beginnt er mit der Forderung, daß der Mensch wissen soll, was er will, daß er sich zuerst in einem deutlich gedachten Begriff über sein eigenes Tun Rechenschaft gibt. Seine ethische Richtung wirkt in PLATON nach; die ewigen Musterbilder, nach denen die Welt geschaffen ist, durch welche sie allein erkannt werden kann, finden ihre Einheit in der Idee des Guten; und ebenso ist für ARISTOTELES der Gedanke des Zwecks der Schlüssel, mit dem er in alle Rätsel einzudringen strebt; Natur wie sittliche Welt werden ihm verständlich, wenn er sie als ein von Zwecken beherrschtes Werden betrachtet. Das Interesse, die Welt als ein zweckvolles Ganzes zu verstehen, drängt PLATON und ARISTOTELES zum  Monotheismus;  denn der Polytheismus, der in der Welt nur die geteilten Kreise voneinander unabhängiger Gewalten sieht, ist seiner Natur nach der die Einheit suchenden Wissenschaft feind. Umgekehrt hat der Monotheismus der jüdischen und christlichen Religion den fruchtbaren Boden für die Idee einer allumfassenden, die einheitlichen Gesetze des Universums erforschenden Wissenschaft gegeben. Oder in welcher anderer Form konnte zuerst der Gedanke aufgehen, daß Himmel und Erde von  einem  Gedanken umfaßt, und daß der Mensch berufen ist, diesen Gedanken zu verstehen, als in dem Glauben an  einen  Schöpfer, der Himmel und Erde gemacht und den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat? in welcher Form konnte wirksamer ausgesprochen werden, daß nichts zufällig ist und sich die Dinge nicht nach einem blinden Ungefähr in verworrenen Bahnen kreuzen, als im Gedanken einer Vorsehung, ohne deren Willen kein Sperling zu Boden fällt? Teils die allzu menschlichen Bilder, welche sich an diese religiösen Gedanken knüpfen und die damit verwandte Neigung, in Wundern die göttliche Wirksamkeit sinnlich anzuschauen, teils die Erinnerungen an die Kämpfe gegen die Dogmen der Kirche, unter denen die Wissenschaft großgewachsen ist, lassen leicht die durchschlagende Bedeutung jener Grundanschauung des christlichen Glaubens für die Entwicklung der wissenschaftlichen Ideen unterschätzen; aber es gengt ein Blick auf die eigentlichen Begründer der großen Grundsätze heutiger Forschun, auf GALILEI und KEPLER, um zu sehen, was ihnen die christliche Gottesidee war. Die Erforschung der Gesetze, durch die alles nach Maß und Gewicht bestimmt ist, hat für GALILEI nur einen Sinn, wenn wir an die Stetigkeit und durchgängige Allgemeinheit der Naturgesetze glauben; und dieser Glaube hat zu seinem Fundament den Glauben an einen allmächtigen und weisen Schöpfer, der die Welt nach bestimmten Zwecken geordnet hat; und ebenso ist KEPLERs Sinnen und Rechnen von dem Gedanken getragen, die Harmonie in der Welt zu finden, welche das Werk einer unendlichen Intelligenz haben muß.

Wir bescheiden uns heutzutage, und mit Recht, den göttlichen Weltplan zu erforschen und die Zwecke einzeln nachzuweisen, zu denen alles gerade so geordnet ist; aber auch in den Gebieten, die am sichersten vor jedem Vergleich mit menschlichem Tun geschützt zu sein scheinen, verraten die Grundbegriffe noch den Boden, auf dem sie gewachsen sind. Wenn die Mechanik allen Geschehens auf  Kräfte  zurückzuführen trachtet, die unabänderlichen Gesetzen gehorchen, so erkennen wir leicht im Ausdruck  Kraft  noch das schattenhafte Bild unseres Wollens, das durch unsere Muskeln Druck und Zug zu üben Macht hat; und im Wort Gesetz klingt noch vernehmlicher der gebietende und Gehorsam fordernde Wille durch, der die Glieder eines Gemeinwesens zu ihren Handlungen an feste und unverbrüchliche Regeln bindet; und so haben wir auch in der Mechanik nur das übertragene Bild eines Reiches, in dem jeder Einzelnen willig die Aufgabe erfüllt, die ihm die Ordnung des Ganzen vorschreibt und eben darin die vollkommenste Erfüllung dessen, was zuerst die Forschung suchte.

Aber auch wo die wissenschaftliche Einsicht in die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens uns noch nicht gelungen ist, lassen wir uns nicht beirren; wir halten am wissenschaftlichen Ideal fest, und das Recht dazu, und damit die Gültigkeit der höchsten Grundsätze wissenschaftlicher Forschung fließt zuletzt nur daraus, daß wir die Erkenntnis wollen müssen. Aus der Erfahrung läßt sich ja niemals die Unmöglichkeit des Zufalls und regelloser Verwirrung beweisen; es ist nicht so, daß die logische Ordnung eines Begriffssystems, daß der durchgängige ursächliche Zusammenhang allen Geschehens mit Händen zu greifen wäre; aber wir verfahren so, als müßte die Welt erkennbar sein, wir halten an der Forderung fest, daß sich auch das scheinbar Verworrenste in durchgängige Formeln auflösen lassen muß und wir glauben an ein immer fortschreitendes Gelingen, weil wir die Wissenschaft als eine Aufgabe betrachten, auf deren Erfüllung wir nicht verzichten können. Mag uns noch so oft die Hoffnung täuschen, mag uns die Wahrnehmung, daß eine Theorie nach der anderen im Laufe der Zeiten stürzt, manchmal zweifelhaft machen, ob wir nicht einem für uns unlösbaren Rätsel gegenüberstehen, mag uns das Gefühl beschleichen, als ob schon wieder der Boden unter uns wankt und was wir bisher geglaubt haben, sich zu der langen Reihe von Irrtümern gesellen - wir hielten es für unmännliche Schwäche, uns darum der skeptischen Stimmung hinzugeben, welche die Hände in den Schoß legt, weil zu einer so unendlichen Aufgabe unsere Kräfte nicht ausreichen. So wenig die Gesetzgebung deshalb rastet, weil es doch nicht möglich ist, die Verbrechen zu verhindern und das goldene Zeitalter des allgemeinen Friedens herbeizuführen, so wenig rastet die Forschung, ihr Ziel zu verfolgen; hier wir dort ist es die verpflichtende Kraft der sittlichen Idee, welche die immer erneuten Anstrengungen fordert.

Auf dieser ruht es, daß die Pflege der Wissenschaft nicht der persönlichen Liebhaberei Einzelner überlassen, sondern als eine gemeinsame Angelegenheit und als ein Teil der Aufgabe erkannt ist, welche sich der in den Staatsordnungen zusammengefaßte und wirksame Gesamtwille setzt; und daraus ergibt sich, daß die Arbeit an der Wissenschaft ein Beruf werden kann und soll, eine der Formen, in denen der Einzelne seine Kraft in den Dienst des Ganzen stellt. Aus dem Bewußtsein des gemeinsamen Ziels geht das Zusammenwirken Aller, welche die Wissenschaft betreiben, die Gliederung der Wissensgebiete, die Teilung der Arbeit hervor; sie ürde der Wissenschaft feindlich sein, sobald sie das Bewußtsein der Gemeinschaft aufhöbe, und es dahin käme, daß die einzelnen Gebiete, wie revolutionäre Provinzen eines großen Reiches, sich für selbständig erklären und die anderen ignorieren und mißachten, oder fehdelustig und eroberungssüchtig ihre besonderen Gesetze auch den anderen aufdrängen wollten.

Weil das Wissen eine gemeinsame Angelegenheit ist, werden wir auch nur dem zugestehen, daß er mit wissenschaftlichem Sinn arbeitet, der lernend und lehrend in die gemeinschaftliche Arbeit eintritt. Weder wer verschmäht sich den Erwerb anderer zunutze zu machen und den schon begonnenen Bau weiter zu fördern, wird uns als ein Mann der Wissenschaft gelten, noch der gelehrte Schatzgräber, der im Dunkel der Einsamkeit nur zu eigener Befriedigung Kenntnisse sammelt und mit ihrer Mitteilung geizt. Darum fordern wir von jedem, den wir als vollberechtigtes Mitglied unserer Gemeinschaft anerkennen sollen, daß er nicht bloß die Kraft hat, sondern auch den Trieb und den Willen betätigt, an der Förderung des gemeinsamen Wissens teilzunehmen und durch Schrift und Wort zu lehren. Und wie keine sittliche Gemeinschaft die Pflicht abweisen kann, ihre Grundsätze dem nachwachsenden Geschlecht einzupflanzen und dasselbe zur Fortführung ihrer Aufgabe zu erziehen, so geht auch aus dem Wesen der Wissenschaft die Pflicht der  Erziehung zur Wissenschaft  hervor.

Nicht allein darin sehen wir ja das Ziel unseres Berufes, unseren Schülern ein bestimmtes Maß von Kenntnissen mitzuteilen, das ihnen etwa für die spätere Praxis unentbehrlich wäre, sondern darin, ihnen das Ziel des vollendeten Wissens vor Augen zu halten, damit sie den weiten Blick und den freien Geist gewinnen, den die Richtung auf das Ganze der Wissenschaft verleiht, und ihnen die Regeln der Forschung und die Methoden zu zeigen, welche die Idee des Wissens in jedem Gebiet vorschreibt.

Denn davon muß überall jedes vernünftige Tun ausgehen, daß es an den Zwecken die Mittel und am Plan des Ganzen den Wert jedes einzelnen Versuches mißt; darum fragen wir zuerst, was als Wahrheit gelten darf und was nicht; was als streng bewiesen für alle feststehen muß und auf welchen Wegen die Beweise zu erbringen sind; wo die feine Grenzlinie läuft zwischen der Gewißheit und der Vermutung, zwischen der Wahrheit und der Wahrscheinlichkeit, zwischen der Tatsache und der Hypothese. Je deutlicher das Bewußtsein über die Bedingungen des Erkennens, desto empfindlicher ist das wissenschaftliche Gewissen, desto strenger die Kritik, in der dieses Gewissen sein Urteil fällen soll. Nichts beweist so deutlich für die Vertiefung und Verschärfung der ethischen Forderungen, welche das Ideal der Wissenschaft einschließt, als die klare Einsicht, die auf jedem Gebiet allmählich über die dem Gegenstand angemessene Methode gewonnen wird, und die Strenge, mit der wir darauf achten, daß diese Methoden befolgt werden; sie stellen die Moral der wissenschaftlichen Tätigkeit dar, den Inbegriff der Regeln, die für den Dienst an der Wissenschaft die Natur des Zwecks vorschreibt.

Übersehen wir die Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes in den letzten Jahrhunderten, so finden wir als den hervorstechendsten Zug des Fortschritts nicht sowohl die ungeahnte Erweiterung des Wissens, sondern vor allem das, woraus diese Erweiterung erst entsprungen ist, daß nämlich immer schärfer auseinandertritt, was individuelle Meinung und was fester Erwerb für alle Zeit ist. Es liegt ja in der Natur der Sache, daß der menschliche Geist, ungeduldig zu seinem Ziel zu gelangen, durch Gebilde seiner Phantasie die Lücken ergänzt, die er durch Beweise nicht füllen kann, und geneigt ist für wahr zu halten, was ihm Zusammenhang und verständliche Einheit in das Stückwerk seines Wissens zu bringen vermag. Nicht bloß die Philosophie, die das Ideal einer einheitlichen allumfassenden Erkenntnis als die eigentliche Triebkraft unseres Strebens lebendig zu erhalten berufen ist, hat seit PLATON die Dichtung zu Hilfe gerufen,, um in festen und bestimmten Zügen zeichnen zu können, was sie ahnte und suchte; auch den nüchternsten Wissenschaften wird es nicht erspart, in unbeweisbaren Vorstellungen die Einheitspunkte zu suchen, aus denen sich die einzelnen Tatsachen zu einem sinnvollen und verständlichen Ganzen ordnen; weder die Atome der Chemie, noch die Entwicklungslehre der organischen Wissenschaften sind mehr als die Formen, in denen wir heute unserer Überzeugung von einem einheitlichen Grund einer unübersehbaren Menge von Einzelheiten Ausdruck geben. Aber unser Auge ist geschärft für den Unterschied zwischen Schein und Wahrheit; wir nehmen es schwerer, auf ungenügenden Beweis zu glauben und Glauben zu verlangen; und umso lauter das kritische Gewissen seine Stimme erhebt, desto friedlicher können nebeneinander die verschiedenen Wissensgebiete bestehen und sich die Hand reichen. Die Ansprüche der Philosophie, ein absolutes Wissen zu besitzen und in ihren Formeln den letzten Sinn allen Seins und Werdens endgültig auszudrücken, sind verstummt; die wissenschaftliche Theologie weigert sich nicht mehr, die Grundsätze geschichtlicher Forschung auf ihrem Gebiet zuzulassen, die Naturwissenschaft kommt von dem Wahn zurück, als sei mit Attraktion und Repulsion oder dem Gesetz der Erhaltung der Kraft auch das Rätsel der geistigen Welt gelöst; und so gewinnen wir allmählich gleiches Maß und Gewicht, nach dem die Wahrheit gewogen wird, wir disputieren nicht mehr darüber, ob etwas in der Philosophie falsch und in der Theologie wahr sein kann; es bildet sich ein gemeinsames Recht, dem sich alle unterordnen, ein festes Prozeßverfahren, nach dem die Streitigkeiten entschieden werden können.

Fassen wir die Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung einer sittlichen Aufgabe, dann haben wir auch das Recht von einem  nationalen  Charakter derselben, von einer  deutschen  Wissenschaft zu reden. Ihrem Gegenstand nach ist die Wissenschaft kosmopolitisch; dieselbe Welt bietet sich allen dar, und dieselben Bedingungen der Erkenntnis sind allen gestellt; und so fügt sich auch, was irgendwo an Wissen erworben wird, von selbst ineinander zu einem Gemeingut der Menschheit. Wohl aber bestehen Unterschiede des Sinns, in dem die Wissenschaft betrieben und der Vollständigkeit, mit der das gemeinsame Ziel gedacht und nach allen Seiten ins Werk gesetzt wird, ebenso Unterschiede der Lebendigkeit, mit er die ganze Nation die Wissenschaft als ihre Aufgabe anerkennt. Wenn wir mit Stolz von deutscher Wissenschaft reden, so meinen wir nicht sowohl den Glanz ihrer Erfolge, sondern auch die Reinheit der Gesinnung, die jede Vermischung mit fremdartigen Interessen verschmäht, und die, getragen von der Willigkeit, das wissenschaftlich Erkannte gelten zu lassen, freimütig und rücksichtslos der Wahrheit die Ehre gibt; wir denken an den großen Verband unserer Universitäten, die, durch den Wetteifer aller Glieder des deutschen Volkes gegründet, in ihren Einrichtungen dahin zielen, jeder tüchtigen Kraft einen Wirkungskreis zu eröffnen, und die selbst wetteifernd jede im Kleinen ein Bild des Gesamtstrebens der ganzen Nation darstellen; wir rühmen uns, daß zwei Grundsätze an unseren Universitäten reiner und voller als irgendwo sonst verkörpert sind - die Einheit der Wissenschaft, die nur leben kann, wenn alle ihre Glieder in Wechselwirkung stehen, und die Regel, daß die Forschenden lehren und die Lehrenden forschen, durch die allein eine nationale Erziehung zu wissenschaftlichem Sinn möglich ist.

Eine Pflanzstätte deutscher Wissenschaft in diesem Sinne zu sein ist unsere Hochschule unter dem Schutz des hohen Fürstenhauses, dem sie ihre Gründung verdankt, redlich bestrebt gewesen; enger und durch mannigfaltigere Fäden als vielleicht irgendeine andere mit dem Land verbunden, dem sie angehört, hat sie doch nie ein Sonderleben geführt, sondern ist gebend und nehmend im befruchtenden Verkehr des gesamten deutschen Universitätslebens gestanden; durch sie will Württemberg seinen vollen Teil zum Bau der deutschen Wissenschaft beitragen, und die stets wachsende Zahl ihrer Arbeiter soll den guten Namen erhalten, den Württembergs Anstalten immer gehabt haben. Ein dankbares und ehrendes Andenken sei denen bewahrt, die nach treuer Arbeit aus unserer Mitte geschieden sind; ein aufrichtiges Willkommen denen zugerufen, die von nah oder fern kommen, ihre Arbeit mit der unseren zu vereinigen.

Das lebendige Bewußtsein aber, daß jede deutsche Hochschule einem allgemeinen Zweck dient, und daß jedes Glied des deutschen Volkes eine Pflicht gegen die deutsche Wissenschaft zu erfüllen hat und an ihrer Ehre Anteil nehmen soll, möge uns auch für die Zukunft erfüllen, und eine Mahnung sein zuzusehen, daß Württemberg nicht nachlasse das Seine zu tun und sein Kontingent an Arbeitern auf dem Feld des Wissens zu stellen. Und so wende ich mich an Sie, Kommilitonen, an alle, die ein lebendiges Interesse für das Gedeihen der Wissenschaft haben und die Kraft in sich fühlen, an ihrem Weiterbau zu arbeiten - lassen Sie nicht den Gedanken aufkommen, Ihr Pfund zu vergraben, um nachher zu sprechen: Ich weiß, daß du ein harter Mann bist und erntest, das du nicht gesäet hast; verwechseln Sie nicht die echte Bescheidenheit, welche die eigenen Leistungen an der Höhe des unerreichten Ziels mißt, mit der falschen, die sich ihr Ziel niedrig genug steckt, um auch ohne sonderliche Anstrengung nicht merklich unter demselben zu bleiben; bedenken Sie, daß es auch für die Wissenschaft eine allgemeine Wehrpflicht gibt, und daß ihr Dienst fortwährend die Freiwilligen unter seine Fahnen ruft, um die sich lichten Reihen zu ergänzen.

Es ist zugleich der Dienst des Vaterlandes; und an diesen vor allem mahnt uns der Tag, an dem wir das Geburtsfest unseres Königs feiern. Aufs Neue ist uns auch im letzten Jahr durch reichliche Zeichen königlicher Fürsorge der höchste Wille kund geworden, unsere Hochschule zu immer vollerer Tätigkeit auszurüsten; so durchdringe und vereinige uns alle der Dank für die uns zugewendete Huld, der Wille, die königlichen Gedanken nach Kräften zu verwirklichen, und der Wunsch, daß in langer Zukunft seines edlen Strebens reiche Früchte zu sehen unserem König beschieden sei!
LITERATUR - Christoph Sigwart, Über die sittlichen Grundlagen der Wissenschaft, Rede zur Feier des Geburtsfestes des Königs in der Aula zu Tübingen am 6. März 1876, Kleine Schriften, Freiburg i. Br. 1889