ra-2B. BauchK. KromanA. SchopenhauerW. SternN. Hartmann    
 
ERICH ADICKES
Ethische Prinzipienfragen
[3/3]

"Der Beweggrund, der mich zu moralischen Zweck- und Wahlhandlungen treibt, ist das von der Handlung erwartete Lustgefühl, also die Rücksicht auf mein Wohl, auf meine Glückseligkeit. Es ist bekannt, wie sehr zuwider Kant diese Anschauungsweise war und wie streng er Neigung und Lust vom pflichtmäßigen Handeln ausschloß."

"Für den Guten ist das Gefühl des inneren Friedens und der inneren Freude aufgrund moralischen Handelns der Hauptfaktor des Wohls; dieses Gefühl vermag den Mangel an äußeren Gütern, Unlust, Anstrengung, Opfer aller Art weit zu ersetzen. Für den Bösen ist ein solches Gefühl etwas Wertloses oder zumindest keine irgendwie wichtige Bedingung seines Wohlbefindens."

"Auf der Stufe, wo der kategorische Imperativ befiehlt, ist die sinnliche Natur sich selbst entfremdet, das Natürliche streitet gegen das Ethische; berechtigte Ansprüche müssen unterdrückt werden, wesentliche Teile des menschlichen Wesens unbefriedigt bleiben; das Gute setzt sich nur durch Kampf durch, und wie bei jedem Kampf kann der unterliegende Teil nicht anders, als einen Haß gegen den Sieger empfinden."


II. Eudämonismus (Utilitarismus)
[Fortsetzung 2]

C. Wie bei allem zweckbewußten Handeln, ist natürlich auch beim moralischen zwischen dem Inhalt, den Folgen einer Handlung, den durch sie erreichbaren Zwecken einerseits und dem sie veranlassenden Motiv andererseits zu unterscheiden. Es sind deshalb zwei Fragen zu beantworten: 1. Wann ist eine Handlung ihrem Motiv nach gut? 2. Wann ihrem Inhalt, ihren Folgen oder den durch sie erreichbaren äußeren Zwecken nach? Oder 1. worin besteht die subjektive, 2. worin die objektive Seite des Guten?

Aus methodologischen Gründen werde ich die erste Frage vorab zu beantworten suchen. Auf den ersten Anblick erscheint es zwar als eine etwas sonderbare Zumutung, darüber zu entscheiden, weshalb man das Gute tut, bevor man ausgemacht hat, was Gut ist. Aber wie auch die Lösung des letzteren Problems ausfallen mag: das durch eine Beantwortung der ersten Frage aufgefundene Motiv ist für alle Fälle gültig. Das Warum? der sittlichen Handlung bleibt dasselbe, wie man auch das Was? der handlung bestimmen mag.

Von vollbewußten Zweck- und Wahlhandlungen gehe ich also aus, um das Wesen des Guten zu bestimmen. Und zwar selbstverständlich vom autonomen sittlichen Handeln, in welchem die Idee des Guten rein, ohne Nebenrücksichten zum Ausdruck kommt. Wir werden nachher sehen, daß es auch gute Handlungen gibt, die instinktiv begangen werden, ohne daß ein Gefühlsmotiv und ein Zweck in das Bewußtsein treten. Und das sind sogar die höchstehenden Handlungen. Aber möglich sind sie nur als letztes Resultat der Entwicklung, als Folge und Niederschlag vieler autonomer vollbewußter Willensäußerungen, die auf Objekte gingen, welche mit Grund als gut erkannt wurden.

Nach den Ausführungen unter B ist es ohne Weiteres klar, daß, wie bei allen Zweck- und Wahlhandlungen, so auch bei den moralischen ein Gefühl der Lust als Motiv vorhergehen muß. Der Determinismus führt also mit Notwendigkeit zum Eudämonismus. Der Beweggrund, der mich zu moralischen Zweck- und Wahlhandlungen treibt, ist das von der Handlung erwartete Lustgefühl, also die Rücksicht auf mein Wohl, auf meine Glückseligkeit.

Es ist bekannt, wie sehr zuwider KANT diese Anschauungsweise war und wie streng er Neigung und Lust vom pflichtmäßigen Handeln ausschloß. Zwar bedurfte auch er einer Triebfeder, um gute Handlungen zu erklären. Diese Triebfeder sollte jedoch kein sinnliches, kein Lustgefühl sein, sondern die durch das reine Sittengesetz der praktischen Vernunft erwirkte Achtung: zwar auch in gewisser Weise ein Gefühl, aber ein reines Vernunftgefühl im Gegensatz zu allen empirischen. KANT hat entschieden Recht darin, daß er das, die moralischen Handlungen begleitende, Lustgefühl weit absondert von den Gefühlen körperlicher Lust. Aber ein Gefühl der Lust bleibt es trotzdem. Das Genus ist kein Gefühl überhaupt, so daß unter ihm das Gefühl der Lust und ein Gefühl der Achtungf als zwei verschiedene Spezies stehen, sondern das Genus ist ein Gefühl der Lust und die Spezies sind z. B. eine körperliche, ästhetische, moralische Lust. Auch KANTs kategorischer Imperativ, dieser vom Glorienschein der Verachtung alles Empirisch-Sinnlichen umstrahlte Heilige, muß sich schließlich, wenn er auf die wirkliche Welt einwirken und den Menschen von Fleisch und Blut in Bewegung setzen will, doch an das halten, was Fleisch und Blut allein zum Handeln anzutreiben vermag: an Lust und Leid, an Wohl und Wehe. Nicht die abstrakte Idee des Achtung gebietenden Moralgesetzes oder des Adels der Menschenwürde bestimmt uns zum Guthandeln, sondern allein das mit der guten Tat als solcher verbundene oder von ihr erwartete Lustgefühl.

Aber auch nur dieses selbst darf in Frage kommen, kein anderes Motiv, welches auch immer, darf sich hineinmengen. In dem oben gebrauchten Beispiel der milden Spende würde die Tat ihrem Motiv nach gut also nur dann sein, wenn der Täter sie vollbringt, weil sie gut war, weil das Tun des Guten ihn mit höchster, sonst nicht erreichbarer Freude erfüllt und ihm allein Befriedigung verschaffen kann. Wer eine materiell gute Tat nicht um ihrer Güte und Gutheit und der damit verbundenen Lust willen tut, sondern wegen einer ihrer Nebenfolgen, z. B. um Ansehen oder Ruhm dadurch zu erlangen, der handelt nicht gut, mag seine Tat auch dieselben äußeren Folgen haben, die sie als gute gehabt haben würde.

Der Ausdruck "das Gute um des Guten willen tun" ist sinn- und inhaltslos, wenn man mit ihm sagen will, die Rücksicht auf das Gute muß ohne Weiteres den menschlichen Willen bestimmen, ohne daß das Bindeglied eines durch die gute Handlung hervorgebrachten Lustgefühls vorhanden ist. Der Ausdruck ist dagegen durchaus berechtigt, wenn er besagen soll, daß man das Gute tun muß um der mit dem Guthandeln verbundenen Lustgefühle willen, nicht wegen irgendwelcher Vorteile oder Nebenfolgen.

Subjektiv oder dem Motiv nach gut ist also eine zweckbewußte Handlung dann, wenn sie nur wegen der mit dem Guttun verbundenen eigenartigen Lust und aus Widerwillen gegen die mit dem Gegenteil verbundene unvergleichlich große Unlust erfolgt. Gut ist ein Mensch, der zu inhaltlich sittlichen Taten aus dem einen sittlichen Motiv tendiert, der also seine Befriedigung nicht in dem finden kann, was man gewöhnlich "Glückseligkeit" nennt, sondern allein im Guthandeln (sei es auch auf Kosten jener "Glückseligkeit"). Ein solcher Mensch handelt also gut auch nur aus Rücksicht auf sich selbst, auf seine Triebe und Bedürfnisse, sein Wohl und Wehe. Aber zwischen Wohl und Wohl ist ein gewaltiger Unterschied. Für den Guten ist das Gefühl des inneren Friedens und der inneren Freude aufgrund moralischen Handelns der Hauptfaktor des "Wohls"; dieses Gefühl vermag den Mangel an äußeren Gütern, Unlust, Anstrengung, Opfer aller Art weit zu ersetzen. Für den Bösen ist ein solches Gefühl etwas Wertloses oder zumindest keine irgendwie wichtige Bedingung seines Wohlbefindens.

KANT würde dieser Theorie einen Mangel an Reinheit, an Rigorismus vorwerfen. Aber mit Unrecht! Sie ist sogar rigoristischer als die seine, insofern als sie größere Anforderungen stellt. Daß KANT die Lustgefühle völlig ausschloß aus der Moral, daran war einmal ein psychologischer Irrtum schuld: er übersah, daß keine Wahlentscheidung ohne vorhergehende Gefühle der Lust oder der Unlust getroffen werden kann. Der eigentliche Grund liegt aber tiefer, in seiner Persönlichkeit: KANT war ein Mann der abstrakten Pflicht, der Prinzipien: alles suchte er nach ihnen zu regeln, und ohne diese Leitung durch die Vernunft traute er sich selbst, seinen Sinnen und Trieben, seinem ganzen natürlichen Menschen nicht. So erschien ihm als die Hauptsache, als das Kennzeichnende an der Moral, objektiv betrachtet: das Sollen, und demgemäß subjektiv, im Menschen: die Achtung, die ehrerbietige Unterwerfung. Der Mensch vernimmt zwar in sich selbst das Soll des Moralgesetzes, aber es tönt doch gleichsam von außen her in ihm hinein und in ihm nur wieder. Dem gebietenden Soll stellt sich eine Sinnlichkeit entgegen, die unterworfen werden muß. Neben dem Gott in unserem Busen steht eine nicht nur ungöttliche, sondern widergöttliche Materie.

Nach der Theorie des wahren Eudämonismus soll der ganze Mensch, auch die Sinnlichkeit, ethisiert werden und beim idealen Menschen ethisiert sein. Das Gute soll nicht mher fordernd und Unterwerfung fordernd über uns und außer uns stehen, sondern in uns als natürliche Krone des Wesens aus uns selbst heraus sich erheben. Nicht die Vernunft, sei es die individuell-menschliche, sie es wie bei KANT die überindividuelle, allgemein-menschliche, soll dem übrigen Menschen das Moralgesetz aufdrängen. Sondern von einem Moralgesetz kann beim wahrhaft Guten nur insofern die Rede sein, als man darunter die ihm naturgemäße und darum notwendige Handlungsweise versteht. Der Idealmensch bedarf des Moralgesetzes und der Achtung vor demselben nicht im einzelnen Fall, um dadurch erst zum Guthandeln auf eine uns unfassßbare Weise bestimmt zu werden, sondern ein für allemal hat er sich für die dem Moralgesetz jedesmal entsprechende Handlungsweise prinzipiell entschieden, weil sie ihm allein Befriedigung geben kann und weil sie nach Ausweis der einzigartigen, hohen mit ihr verbundenen Lustgefühle die seinem "Wesen" angemessenste ist. Im einzelnen Fall bedarf er nicht einer besonderen Willensbestimmung zum Guten; es genügt vielmehr die Erkenntnis, daß dieses oder jenes Gut ist, - und ohne jedes Schwanken wird er an die Realisierung desselben gehen. Sowie sich also dem Guten eine Gelegenheit zum Guthandeln dem Guthandeln zeigt und als solche von ihm erkannt wird, treten die mächtigen moralischen Lustgefühle in Tätigkeit und bestimmen den Willen ohne Weiteres zum moralischen Handeln. Die ganze Sinnlichkeit, das ganze Gefühlsleben wird so ethisiert; bei KANT werden sie tyrannisiert.

Nur so kann auch das erreicht werden, was man als höchste Entwicklung moralischen Wesens betrachten muß: das instinktive gute Handeln. Wie im gewöhnlichen praktischen Leben nur verhältnismäßig selten ein Schwanken darüber stattfindet, was inhaltlich gut ist, wie daselbst vielmehr meistens ohne Zaudern und Überlegen unter dem Einfluß von Erziehung, Gewöhnung und früheren selbständigen Entschlüssen die betreffende Entscheidung gefällt wird: so soll auch der guten Tat selbst kein Augenblick des Kampfes, des Besinnens vorangehen. Eine Entscheidung muß gar nicht mehr nötig sein, weil das Gegenteil der guten Tat, wenn es überhaupt dem Handelnden in den Sinn kommt, sofort mit Entrüstung abgewiesen wird. Der Idealmensch wird in den meisten Lagen instinktiv sofort herausfühlen, was gut ist, und zu diesem Guten wird ihn sein ganzes Wesen so sehr hinziehen, daß er es ohne Besinnen tut, ohne daß andere Möglichkeiten ihm auch nur zu Bewußtsein kommen. Wie der an Reinlichkeit Gewöhnte vor Schmutz und üblem Geruch einen natürlichen Abscheu hat, so der sittlich normal Entwickelte vor dem Bösen. Das Gute erscheint ihm als das Gesunde, Normale, Schöne; es zieht ihn an, weckt in ihm Begeisterung, einen Enthusiasmus, dem kein anderer gleichkommt. Indem die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Handelns wegfällt, werden auch die Gefühle der Lust und Unlust überflüssig, welche allen Zweck- und Wahlhandlungen vorangehen müssen. Beim instinktiven Guthandeln denkt der Mensch nicht an sich, nicht an die Lust, an die Glückseligkeit, welche eine Folge der Handlung sein mögen: er denkt überhaupt nicht oder höchstens an die Handlung, zu der ein übermächtiger Trieb ihn drängt. Einem Trieb, einem Bedürfnis (von körperlichen Bedürfnissen freilich himmelweit verschieden!) zu genügen, handelt der Mensch also auch hier. Die Rücksicht auf sein Wohl ist das Ausschlaggebende, insofern sich bei Nichtbefriedigung des Triebes die qualvollste Reue einstellen würde. Der Eudämonismus hat also auch hier Recht. Doch erfolgt jene Rücksichtnahme bei instinktiven Handlungen unbeabsichtigt, ja dem Handelnden selbst oft unbewußt. Sein ganzes Wesen entscheidet ohne Weiteres, nach der Richtung hin natürlich, welche ihm am gemäßesten ist.

Auf der höchsten Stufe der Sittlichkeit kehrt also die Natur wieder in sich selbst zurück; der Widerstreit, der das Sollen und Wollen trennte, ist geschwunden. Wie die Kunstschönheit da am größten ist, wo die Kunst, die Geistesarbeit, das Können uns gar nicht mehr zu Bewußtsein kommen, wo vielmehr alles uns anmutet als wahre Natur, so auch die Sittlichkeit. KANTs Ethik erinnert an jene fleisch- und farblosen Gestalten auf den Gemälden der Nazarenergemeinde. Alles soll hier Geist und Idee sein. Aber der Beschauer geht unbefriedigt hinweg; ihn verläßt das Gefühl nicht, daß hier Wollen und Können miteinander in einem Streit liegen, daß der Geist den spröden Stoff nicht überwinden, ihn nicht nach seinen Ideen gestalten konnte. So ist es auch auf der Stufe, wo der kategorische Imperativ befiehlt. Die sinnliche Natur ist sich selbst entfremdet, das Natürliche streitet gegen das Ethische; berechtigte Ansprüche müssen unterdrückt werden, wesentliche Teile des menschlichen Wesens unbefriedigt bleiben; das Gute setzt sich nur durch Kampf durch, und wie bei jedem Kampf kann der unterliegende Teil nicht anders, als einen Haß gegen den Sieger empfinden.

Anders die höchste Sittlichkeit. Hier ist alles Friede und Harmonie. Wie beim Ideal der bildenden Kunst Geist und Materie in Einklang sind, wie die Darstellung die darzustellende, das Kunstwerk die durchgeistigende Idee voll und klar zum Ausdruck bringt: so ist auch beim wahrhaft sittlichen Menschen alles in harmonischer Einheit. Das Sollen ist zum Wollen geworden und mit dem Können gepaart. Der Streit hat aufgehört, die Natur ist mit sich selbst ausgesöhnt. Nicht mehr gebietet die ethisierte Vernunft, gehorcht der übrige Mensch. Sondern die Vernunft hat ihre Ausnahmestellung verloren, der ganze Mensch ist ethisiert. Der Gegensatz zwischen Teil und Teil, der auf der Stufe des Soll den Menschen drückte und seine Kraft lähmte, ist geschwunden. Jetzt kann wieder der ganze ungeteilte Mensch handeln; er kann handeln, ohne daß erst ein Parlamentieren zwischen Vernunft und Sinnlichkeit zu erfolgen braucht; er kann handeln, wie er meistens handelt und handeln muß, wenn er sein ganzes Wesen und Können einsetzen will, nämlich: instinktiv. Sittlichkeit ist die höchste Ausbildung des menschlichen Wesens, ist gerade die Sphäre, wo der einzelne mit seiner ganzen Persönlichkeit am meisten und häufigsten eintreten muß. Darum ist es auch gerade so wichtig, daß der Mensch dazu gebracht wird, unbewußt sittlich zu handeln, daß er dazu kommt, das Gute ohne Schwanken, ohne Entscheidung, ohne Wahl zu tun, rein instinktiv.

Die erste Frage wäre beantwortet. Wir haben gefunden, wann eine Handlung formell, ihrem Motiv nach, gut zu nennen ist; damit ist das Gute seiner subjektiven Seite nach bestimmt. Wir sahen uns gezwungen, beim Eudämonismus des Rätsels Lösung zu suchen, erkannten aber zugleich, daß er die Anforderungen an die Reinheit und Selbstlosigkeit des moralischen Handelns nicht verringert, sondern eher erhöht.

d. Doch eine Frage drängt sich uns noch auf: Wie kommt es, daß die moralischen Lustgefühle eine solche Stärke und einen solchen Reiz haben? Eine Antwort ist erst dann möglich, wenn wir das objektive Wesen guter Handlungen untersucht haben. Denn der eigentümlich Inhalt der letzteren ist es, welcher den moralischen Lustgefühlen ihren Wert und ihre hervorragende Bedeutung verleiht. Wir werden somit zu der zweiten schon weiter oben gestellten Fragen geführt: wann ist eine Handlung inhaltlich oder ihren Folgen und den durch sie erreichbaren Zwecken nach gut?

Auch hier kann gemäß den Ausführungen unter B die Antwort nicht zweifelhaft sein. Wie bei allen Handlungen, so kann auch bei den moralischen der bewußte Zweck, den man zu erreichen sucht, nur in Lustgefühlen, Wohl, Glück sei es der Handelnden selbst, sei es Anderer bestehen. Wird eine Tat als inhaltlich gut bezeichnet, so wird ihr damit ein Wert beigelegt, der sie über alle anderen zugleich möglichen Taten weit erhebt. Dazu ist nötig, daß sie die Tendenz hat, die größte Summe von Lustgefühlen oder Glückseligkeit hervorzubringen, die unter den gegebenen Umständen überhaupt erreichbar ist.

Auch an diesem Punkt führt also die deterministische Anschauungsweise zum Eudämonismus und verfällt dem Verdammungsurteil voll Verachtung, das KANT und Gleichgesinnte über jeden Eudämonismus ausgesprochen haben. Die oft gebrauchten Ausdrücke "Nützlichkeitsprinzip, Utilitarismus" geben allerdings zu begründeten Ausstellungen Anlaß und rufen Mißverständnisse fast mit Notwendigkeit hervor. Ich verwerfe sie deshalb. Berechtigt sind ferner die Vorwürfe gegen diejenigen Eudämonisten, welche die verschiedenen Lustgefühle als gleichwertig, höchstens als durch ihre Dauer verschieden ansehen und die größtmögliche Glückseligkeit durch eine koordinierende Summierung der einzelnen Lustgefühle entstehen lassen.

Der Vertreter eines geläuterten Eudämonismus muß daher vor allem danach trachten, einen zuverlässigen Maßstab aufzustellen für die Wichtigkeit der einzelnen Lustgefühle, für die Dringlichkeit der verschiedenen Bedürfnisse, Triebe, Tendenzen, Begehrungsdispositionen, durch deren Befriedigung, Betätigung, Entwicklung die Lustgefühle entstehen, sowie für die Größe der Güter oder Werte, welche Gelegenheit zur Befriedigung oder Betätigung und damit zum Entstehen von Lustgefühlen geben.

Ich kann die Richtung dieser Untersuchungen hier nur ganz flüchtig andeuten, und darum bediene ich mich im vorhergehenden Absatz der Vielheit von Ausdrücken, um den Resultaten der Untersuchung nicht vorzugreifen und den verschiedenen möglichen Theorien bei dieser kurzen Zusammenfassung zugleich gerecht zu werden.

Es müßte zunächst eine Übersicht über die Bedürfnisse oder Begehrungsdispositionen der menschlichen Natur und die ihnen entsprechenden Werte oder Güter, als die Bedingungen für die Entstehung von Lustgefühlen, gegeben werden. Darauf müßte die Wichtigkeit und Bedeutung der einzelnen Bedürfnisse für den Gesamtorganismus, also auch ihre Dringlichkeit festgestellt werden. Es würde sich zeigen, daß in der Entwicklung der Menschheit wie des Einzelnen je länger je mehr die geistigen Bedürfnisse an Wichtigkeit gewinnen, sich hervordrängen und, wenn befriedigt, besonders starke Lustgefühle zu erzeugen vermögen. Es würde sich ferner als Eigentümlichkeit des menschlichen Organismus ergeben, daß eine vorhandene Unlust im Hinblick auf eine erwartete große Lust, zu der sie eine notwendige Vorbedingung ist, ihren Unlustcharakter verlieren und als gleichgültig oder gar als lustvoll erscheinen kann. Aufgrund davon würde erwiesen werden können, daß größtmögliche Glückseligkeit nur dann erreichbar ist, wenn alle Bedürfnisse einem Hauptbedürfnis untergeordnet werden, wenn die Befriedigung des letzteren als höchstes Gut betrachtet und allem Wollen, Wünschen und Handeln in einem Streben nach diesem höchsten Gut und den mit ihm verbundenen Lustgefühlen ein Mittelpunkt und damit Einheit gegeben wird. Dieses Hauptbedürfnis müßte an Dringlichkeit alle anderen weit übertreffen und gleichsam ein Bedürfnis höherer Potenz sein. Seine Befriedigung müßte unabhängig sein von äußeren, nicht in unserer Macht stehenden Faktoren. Trotz der Unterordnung aller Bedürfnisse unter dieses eine Hauptbedürfnis wäre dann eine harmonische Ausbildung möglich: denn das Streben nach dem höchsten Gut würde zugleich allen berechtigten Trieben eine Betätigung, allen normalen Bedürfnissen eine genügende Befriedigung bringen.

Ein solches Bedürfnis höherer Potenz gibt es nun wirklich in uns. Es gründet sich auf den Betätigungstrieb. Jede Anlage hat den Trieb, sich zu entwickeln und zu betätigen. Die Gelegenheit dazu schafft Lust, Mangel an Gelegenheit Unlust. Beide Gefühle gelten aber zunächst eigentlich nur den Teilen unseres Wesens, deren Förderung oder Nicht-Förderung sie ihr Dasein verdanken. Hätten diese Teile Bewußtsein und könnten wir als Ganzes uns ihrer fühlender Teile bewußt werden, so würde sie es zunächst sein, die Lust und Unlust fühlen; unser "Wesen" als Ganzes würde nur mitfühlen. So wie die Sache aber wirklich liegt, wird unser "Wesen" selbst direkt von Lust- und Unlustgefühlen in Anspruch genommen, obwohl Ursache dieser Gefühle nur das Wohl- oder Übelbefinden einzelner Teile ist.

Nun wollen sich aber nicht nur die einzelnen Anlagen entwickeln und äußern. Auch unser "Wesen" als Ganzes, als Gesamtorganismus verlangt nach Tätigkeit, nach Arbeit. Wie das Ganze größer und wichtiger ist als der Teil, so ist auch das letztere ein Bedürfnis drängender, die Lust infolge seiner Befriedigung intensiver als da, wo es sich nur um einzelne Teile oder Anlagen handelt. Das Bedürfnis, sich als Mensch würdig zu betätigen, ist das Bedürfnis der Bedürfnisse, das Bedürfnis in der höheren Potenz, dem sich alle anderen unterordnen müssen. Ist es befriedigt, so kann selbst das Unglück von der Fülle des Glück durchstrahlt sein. Wird es nicht gestillt, so ist der Mensch elend mitten im höchsten Glück.

Jedem denkenden Menschen drängt sich dieses Bedürfnis auf. Es tritt die Frage an ihn heran: was ist meine Bestimmung hier auf Erden? wie kann ich mich in würdigster Weise betätigen? Die Antwort kann eine doppelte sein: entweder im Dienst meiner selbst oder im Dienst anderer. Im ersteren Fall geht das Streben auf Selbstvervollkommnung, im zweiten auf ein Wirken zum Besten der Gesamtheit nach den Gesetzen der Gesamtheit. Freilich, völlig voneinander trennen lassen sich die beiden Fälle nicht. Denn: "wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten", und andererseits: um für andere wirken zu können, muß man sich selbst leistungsfähig machen.

Aber ich glaube doch nicht, daß die beiden Fälle als gleichwertig einander zu koordinieren sind. Die innere Konsequenz des Betätigungstriebes führt über das Individuum hinaus mitten in die Interessen einer größeren Gemeinschaft hinein. Wir brauchen, um das einzusehen, nur einen Blick ins praktische Leben zu werfen. Selbst der ausgeprägteste Quietist kann nicht umhin, sich und seine Fähigkeiten im Interesse seiner Familie zu verwerten. Die Mönche wollten die Welt fliehen und ganz ihrer Selbstvervollkommnung durch religiöse Bußübungen leben: und doch wandelten sie für die Welt Urwald in Fruchtland um, brachten sie den Segen einer höheren Kultur in abgelegene Gegenden, retteten sie die geistigen Errungenschaften des Altertums fernen Generationen. Je höher und durchgreifender die Bildung eines Menschen ist, je geläuterter seine Anschauungsweise, je edler und dem Gemeinen ferner seine Lebensführung: desto mehr wird er versuchen, Propaganda zu machen, wenn auch nicht durch Wort und Schrift so doch durch Beispiel und erzieherische Einwirkung. Das Bewußtsein seiner Kraft wird den Wunsch in ihm erzeugen, die Zeichen seiner Kraft außer sich in Werken verkörpert zu sehen. Wie der gesunde Baum nicht anders kann, er muß Früchte tragen: so verlangt auch der Mensch danach, daß das in ihm Wohnende sich nach außen kehrt, damit er seine Fähigkeiten, sein Können und Wissen in irgendeiner Weise ausgestaltet sich gegenüber sieht. Was kann, will produzieren und schaffen: das ist ein Gesetz, welches durch die ganze Natur hindurchgeht. Der Betätigungstrieb kann sich mit dem Arbeiten am eigenen Ich (trotz ARISTOTELES) nicht begnügen, sondern fordert, daß durch diese Arbeit, die ja ansich freilich schon wertvoll ist, weiterer Wert geschaffen wird, Wert für andere. Diese Anderen sind zunächst die Familie, die "Nächsten". Aber immer weiter drängt das Streben nach Betätigung; auch die Stammesglieder, die Volksgenossen werden zu "Nächsten", schließlich die ganze Menschheit. Nicht eher findet der Betätigungstrieb dem immanenten Gesetz gemäß Ruhe, bis sein Arbeitsfeld die weiteste Ausdehnung erhalten hat und seiner Arbeit der höchste Wert zukommt. So entsteht im Menschen jener begeisterungsvolle Drang zum Schaffen und Wirken in großem Stil, wie er Faust beseelt, wenn nach einem langen Leben, in dem er alles Köstliche der Erde genossen hat, den höchsten Augenblick ihm das Bewußtsein verschafft, für die Menschheit gelebt und gewirkt zu haben.

Das ist der eine Grund, weshalb das Bedürfnis, unser Wesen als Ganzes würdig zu betätigen, nur im Dienste der Gesamtheit zu seinem Recht kommen und wahrhaft befriedigt werden kann. Andere Gründe kommen hinzu: vor allem die auch beim selbständigsten der heutigen Menschen vorhandene Gebundenheit an den Gesamtwillen größerer Gemeinschaften und, im Zusammenhang damit, die selbstlosen, altruistischen Triebe in der Menschennatur. Das Tun des materiell Guten ist ferner in vielen Fällen (man denke an Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Kindesliebe, Dankbarkeit etc.) für den normalen Menschen das Naturgemäße, das Selbstverständliche, das Nächstliegende. Sittlichkeit ist zu einem großen Teil nichts als Geistesgesundheit. Jedes Handeln ferner, welches sich nicht in den Dienst der Gesamtheit stellt, fügt in den meisten Fällen der Gesamtheit Schaden zu oder hat zumindest die Tendenz es zu tun. Der Selbstsüchtige kränkt seine Mitmenschen, schmälert ihre Reche, behindert sie in der ihnen zukommenden Freiheitssphäre. Gegen eine solche Benachteiligung empören sich wie die altruistischen Triebe so vor allem auch die Vernunft, die, abstrakt denkend, allen prinzipiell gewisse gleiche Rechte und Pflichten zuerkennt. Noch stärker wird dieses abstrakte Denken, wenn es auf das Gefühl Einfluß gewinnt und als Gerechtigkeitsliebe oder Gerechtigkeits- (Vergeltungs-) Trieb direkt auf das Leben umgestaltend einwirkt. In den meisten Fällen wirken auch noch andere Umstände mit, wie Erziehung, Beispiel, Gewöhnung, religiöser Einfluß, äußere Rücksichten etc. Von ihnen allen muß hier abgesehen werden, da nur die autonome, nicht aber die heteronome Entschließung zum moralischen Handeln in Frage kommt.

Damit wäre also im Trieb nach Betätigung unseres Wesens als eines Ganzen ein Bedürfnis höherer Potenz nachgewiesen, dem sich alle anderen Bedürfnisse unterordnen müssen und können. Und auch die Möglichkeit ist da, dieses Bedürfnis zu befriedigen: Wirken im Interesse der Gesamtheit, wobei jeder Kraft zu jeder Zeit Gelegenheit geboten werden kann sich zu äußern. Damit ist auch ein höchstes Gut, ein höchster Wert gefunden und zugleich die oben aufgeworfene Frage beantwortet, woher den moralischen Lustgefühlen ihre Stärke und ihr besonderer Reiz zukommt.

Nach dem früher Gesagten wird niemand auf den Einfall kommen, ich glaubte auf dem eben dargestellten Weg absolute Werte und im Anschluß daran absolute Normen ableiten zu können. Was ich sagen will, ist nur dies: Erfahrung und Induktion lehren: für den normalen Menschen ist sittliches Handeln das Wertvollste; größtmögliche Glückseligkeit erlangt er nur dadurch, daß er ein tätiges Leben im Dienst der Gesamtheit führt und alle anderen Triebe und Bedürfnisse dem Trieb nach einer würdigen Betätigung seiner Selbst in diesem Dienst unterordnet. Daß die Sache anders steht für Tausende, welche in emotional-sittlicher Hinsicht abnorm veranlagt sind: wie könnte man das zu leugnen wagen? Wer an sittlichem Handeln keine Freude hat, wer die würdigste Betätigung seines Wesens im Anhäufen von Schätzen oder in der Befriedigung eines Sammeltriebes oder in der Liebe zu Wein, Weib und Gesang sieht und sucht, oder wer in seinen Begehrungen und Wertungen überhaupt nichts von Unterordnung unter ein Hauptbedürfnis wissen will, sondern höchstens die eine Konstanz kennt, daß er alle Konstanz meidet und, soweit möglich, jeder Augenblicksbegierde nachgibt: für den sind die letzten Seiten nicht geschrieben, und auf den beziehen sie sich nicht. Es kann mir auch nicht in den Sinn kommen, ich könnte etwas lehren, ihn zu bessern und zu bekehren. Aber an einem halte ich aufgrund der Erfahrungstatsachen fest und lasse mich nicht davon abbringen: Vertreter eines wahren (nicht einmal idealen!) menschlichen Wesens sind solche Leute nicht. Sie sind nicht gesund, sind abnorm und können darum nicht von der Regel wohl die übliche Ausnahme bilden, sie aber nicht umstoßen.

Das nachgewiesene Grundbedürfnis nun sowie das auf ihm beruhende höchste Gut und die mit letzterem verbundenen Lustgefühle sind der Maßstab, an welchem alle Bedürfnisse, Güter und Lustgefühle gemessen werden müssen. Mit Hilfe dieses Maßstabes kann man die Wichtigkeit und den Wert der einzelnen Faktoren genau und gerecht gegeneinander abwägen und - natürlich nur in großen Gruppen - in einer systematischen Skala darstellen.

Und dieselbe Unterscheidungf, die wir hinsichtlich der Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse machen, muß natürlich auch mit Bezug auf die anderen Wesen Platz greifen, für welche wir handeln sollen. Beim Wirken für die Gesamtheit ist es nicht gleichgültig, welche Bedürfnisse der Mitmenschen man zu befriedigen trachtet. Je höher ein Bedürfnis steht, desto mehr verdient und verlangt es Berücksichtigung. Die erhabenste Aufgabe ist, andere dahin zu bringen, daß sie auch ihrerseits nur im Dienst der Gesamtheit glauben, sich würdig betätigen zu können, mit anderen Worten: andere zu guten Menschen zu machen. Ein solches Wirken kann in Aeonen [Zeitaltern - wp] nicht untergehen; wie es der Fluch der bösen Tat ist, daß sie fortzeugend Böses muß gebären, so ist es der Segen eines solchen Wirkens, daß es seines Gleichen immer wieder von Neuem hervorbringt. Das Grundprinzip der Pflichtenlehre ist also nicht: "Sorge für irgendwelche Bedürfnisse Deiner Mitmenschen!", sondern: "Sorge in erster Linie für die würdige Befriedigung des Grundbedürfnisses Deiner Mitmenschen und für die Befriedigung ihrer übrigen Bedürfnisse gemäß dem Wert, welcher ihnen im Verhältnis zu jenem Grundbedürfnis zukommt!"

Als inhaltlich gut wäre hiernach die Handlung zu bezeichnen, welche erfahrungsgemäß die Tendenz hat, die größte Glückseligkeit hervorzubringen, die unter den betreffenden Umständen möglich ist.

Der Zweck, mit Rücksicht auf welchen zwischen Gut und Böse unterschieden wird, ist also schließlich das, was KANT "höchstes Gut" nennt: Glückseligkeit verbunden mit der Würdigkeit glückselig zu sein. Das Gewicht, welches ich auf diese Würdigkeit lege, der Nachdruck, mit dem ich darauf hinweise, daß die selbstlose moralische Lust, die Freude am Wohlergehen anderer, am Glück der Gesamtheit den Hauptfaktor der Glückseligkeit ausmacht: sind ein Zeugnis dafür, wie weit entfernt der hier vertretene Eudämonismus von Selbstsucht und von dem ist, was man gewöhnlich als Nutzen [grenznutzen] und nützlich zu bezeichnen und zugleich zu verschreien pflegt. Auch auf dem Standpunkt des Eudämonismus fallen "nützlich" und "gut" nicht zusammen.

Die Ausdrücke "Nutzen" und "nützlich" haben im gewöhnlichen Sprachgebrauch entschieden einen Beigeschmack von Selbstsuch, der verstärkt im Begriff "Eigennutz wiederkehrt. Man spricht mit Vorliebe von einem Nutzen, den Einzelne oder Familien oder Gemeinden oder höchstens Staaten haben. Immer aber denkt man dann unwillkürlich zugleich an eine Kehrseite, an einen Schaden, der entweden den koordinierten einzelnen Personen, Familien etc. oder dem Ganzen der Menschheit zugefügt wird. Derjenige, der für seinen eigenen Nutzen sorgt, kann zwar zugleich für die Allgemeinheit sorgen, aber letzteres nur faute de mieux [in Ermangelung eines Besseren - wp] er muß für andere oder für die ganze Menschheit sorgen, um eines bestimmten - nur indirekt zu erlangenden - Nutzens teilhaftig zu werden. Der letzte Zweck ist hier der eigene Nutzen, das letzte Ziel das liebe Ich; der fremde Nutzen ist nur das unumgängliche notwendige Mittel zum Zweck, nur der Durchgangspunkt. Ich erwarte, daß der Anderen zugewandte Nutzen mit Zins und Zinseszins wieder auf mich zurückfällt. Ganz anders der Eudämonist, wie er oben geschildert wurde. Bei ihm ist die Allgemeinheit das letzte Ziel, ihr Bestes und der letzte Zweck. Das eigene Ich kommt nur soweit in Betracht, als sein Bestes für das Beste der Allgemeinheit notwendig ist. Ich werde also zwar für mich sorgen müssen, aber nicht weil ich eben dieses Ich und damit mir selbst der Nächste, sondern weil ich ein Mitglied der Menschheit bin und die Pflicht gegen die letztere mir Pflichten gegen mich selbst auferlegt. Bei dem, der auf seinen eigenen Nutzen ausgeht, ist er selbst A und O, Ein und Alles; Rücksicht auf Andere oder gar auf die ganze Menschheit wird nur zeitweise - wenn durchaus nötig für das eigene Wohl - zugelassen und als notwendigs Übel betrachtet. Bei einem wahren Eudämonisten ist die Menschheit das A und O, Ein und Alles; Rücksicht auf mich selbst wird nur in dem Grad zugelassen, in welchem die Rücksicht auf das Ganze sie fordert.

Und derselbe Unterschied zwischen nützlich und gut, der hinsichtlich des Handelnden selbst zu konstatieren ist, muß auch bezüglich der Anderen gemacht werden, für welche er handelt. Auch bei ihnen sorgt er nicht in erster Linie für die Bedürfnisse, welche ihre Entstehung der Selbstsucht, der Rücksicht auf das eigene Ich verdanken, sondern für diejenigen, aus welchen das Interesse an der Gesamtheit spricht. Was man Nutzen nennt, z. B. das glückliche Fortkommen des Anderen in der Welt, seine Befreiung vom Leid: das muß oft zurückstehen hinter Interessen höherer Art. Viel wichtiger noch als die Sorge für die "Glückseligkeit" Anderer ist die Sorge für ihre "Würdigkeit glücklich zu sein". Oft muß jene geschmälert werden, um diese zu schaffen. Wer nur dem Andern nützen will, strebt danach, dessen Wohl mit allen erlaubten Mitteln zu fördern. Wer gut handelt, hat stets das Ganze der Menschheit im Auge; er sorgt für den Anderen nicht, weil derselbe diese oder jene bestimmte Persönlichkeit ist, sondern weil die Rücksicht auf das Wohl der Menschheit es fordert. Ebensowenig wie sein eigenes Ich darf er das Ich eines Anderen im Auge haben: der alleinige, immerforg gleiche Gesichtspunkt für den moralisch Handelnden muß die ganze Menschheit sein.

Unberechtigt würde sein, wenn man dem Eudämonismus vorwerfen würde, er mache eine objektive Moral unmöglich, hebe die scharfe Grenze zwischen Gut und Böse auf und stelle die Entscheidung darüber, was gut zu nennen ist, ganz in das subjektive Belieben des Einzelnen. Das würde der Fall sein, wenn man sich bei dieser Entscheidung nur an den einzelnen Fall und seine besonderen Bedingungen halten dürfte. Dann könnte z. B. dann und wann eine Lüge - und zwar nicht nur eine sogenannte Notlüge - vielleicht für erlaubt gelten, weil sie zunächst eine höhere allgemeine Glückseligkeit zur direkten Folge hat als die ihr entgegengesetzte Wahrheit. Ihre indirekten Folgen aber würden allerdings dahin tendieren, der allgemeinen Glückseligkeit Abbruch zu tun. Wäre z. B. eine Lüge in einem Fall als moralisch anerkannt, so würden viele mit Berufung auf diesen einen Fall auch in anderen Fällen lügen und diese Lügen für moralische Handlungen halten. Würde eine solche oder eine ähnliche Kasuistik allgemein, so wäre Unsicherheit des moralischen Denkens und Empfindends, Verfall der Sitte, Jesuitismus die notwendige Folge. Man darf deshalb bei der Beurteilung einer Handlung nicht von einem einzelnen Fall ausgehen, sondern muß alle ähnlichen Fälle mit in Rücksicht ziehen und untersuchen, ob die Handlung ansich (nicht nur in diesem bestimmten Fall) geeignet ist und von Natur die Tendenz hat, die allgemeine Glückseligkeit zu befördern. - Will man aus sich selbst heraus über den moralischen Wert einer Handlung entscheiden, so läßt man sich nur zu leicht unwissentlich durch die Rücksicht auf das eigene Wohl bestimmen und erklärt eine Handlung für gut, die ihrer Natur nach nicht die größte allgemeine, sondern nur große eigene Glückseligkeit zur Folge hat. Bis zu einem gewissen Grad liegt es deshalb im Interesse der Moral, daß die Mehrzahl der Menschen in der Mehrzahl der Fälle nicht selbst entscheidetf, was inhaltlich gut ist, sondern sich an das hält, was sich ihnen in Sitte und Gesetz als Niederschlag verschiedener Strömungen, als zeitweiliger Ausdruck des sittlichen Fühlens, Denkens, Wertes ganzer Völker und Völkergruppen offenbart. Es braucht daraus durchaus keine Heteronomie [Abhängigkeit von anderer als der eigenen sittlichen Gesetzlichkeit - wp] der Verpflichtung hervorzugehen; sondern dem Vorgefundenen, Bestehenen: Gesetz, Sitte, Institutionen ordnet man sich freiwillig unter, weil man dabei besser fährt als wenn man im Einzelfall das sittlich Gute erst selbst feststellen wollte. Aber freilich gibt es auch hier wichtige Ausnahmen. "Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage". Entwicklung, Fortbildung muß sein. Nur fasse man nicht mit roher Hand zu, und keiner lehne sich gegen das Bestehende auf, der nicht die historisch-genetische Betrachtungsweise zu der seinen gemacht hat. Der Sitte Recht zu erfassen und Unrecht zu ertragen vermag nur der, welcher ihr Werden erkennt und in seiner Notwendigkeit begreift. Die Moralwissenschaft vor allem und das sittliche Genie haben die Pflicht, umgestaltend einzugreifen: die Moralwissenschaft, gestützt auf sichere, probehaltige und anwendbare Kriterien; das sittliche Genie, in Taten und Charakter, in Worten und Eröffnung neuer Bahnen das Siegel seiner Sendung zeigen.

Auch so ist meine Behauptung nicht aufzufassen, als ob auch nur eine Minderzahl von Menschen, bevor sie moralisch handle, erst in jedem Fall oder doch meistens Überlegungen darüber anstelle, was dem Gesamtwohl am förderlichsten sein wird. Die Mehrzahl der Handlungen geschieht ja impulsiv, instinktiv. Und auch bei sittlichen Wahlhandlungen schließt selbst der wissenschaftliche Ethiker sich meistens an die geltenden Moralvorstellungen an, welche ja sehr oft auch so selbstverständlich sind, daß gar kein Zweifel obwalten kann. Meine Formel soll nur sagen: wenn man aus irgendeinem Grund (z. B. bei Kollision von Pflichten oder auch bei neuauftauchenden Problemen) sich darüber klar werden will, welche Handlung unter mehreren möglichen als die inhaltlich gute zu bezeichnen ist, dann kann nur die Rücksicht auf das Gesamtwohl das Entscheidende sein.

Auf einem Mißverständnis würde schließlich auch der Vorwurf beruhen, der Eudämonismus beurteilt die einzelne Handlung des Menschen nach ihren zufälligen Folgen und taxiert demgemäß den moralischen Wert des Menschen nach dem von ihm in der Welt Vollbrachten. Aber nach der hier vertretenen Theorie kommt es bei der moralischen Bewertung nicht auf das letzte Resultat der Handlung an, sondern allein auf Motiv und natürliche Tendenz. Ob die letztere sich durchsetzt oder nicht: hat zwar auf das Resultat der Handlung (auf ihre Folgen für die allgemeine Glückseligkeit) den größten Einfluß, auf die moralische Beurteilung aber gar keinen. Es gibt keine verschiedenen Grade des Guten: jede Handlung ist "gut", welche die Tendenz hat, die allgemeine Glückseligkeit so sehr zu befördern, wie die augenblicklichen Umstände es erlauben. Einer Handlung kann also das Prädikat "gut" nicht deshalb in einem höherem Maß zukommen als einer anderen, weil sie die Glückseligkeit mehr zu befördern geeignet ist. Der moralische Wert der Menschen richtet sich nicht nach ihren Resultaten, nicht nach dem Nutzen, den Familie, Staat, Menschheit von ihnen hatten, sondern allein nach ihren Motiven, (in welchem Maß sie sittlich waren) und nach der Tendenz ihrer Handlungen (ob sie nach menschlichem Ermessen geeignet waren, die größtmögliche Glückseligkeit herbeizuführen). Ob sie also als Fürsten und Staatsmänner oder als Denker und Dichter auf der Menschheit Höhen wandeln, oder ob sie im Schweiß ihres Angesichts mühsam ihrer Tagesarbeit nachgehen: ihr Wert ist derselbe, wenn nur jeder seinen Platz als ganzer Mann ausfüllt.

E. Das Ergebnis meiner Ausführungen ist: Der Eudämonismus muß als derjenige moralische Standpunkt angesehen werden, den die Tatsachen selbst an die Hand geben. Kein Ethiker kommt deshalb um ihn herum, so sehr er sich oft den Anschein geben mag. Ganz offen muß jeder Determinist und jeder, der die Moral psychologisch fundamentieren will, sich zum Eudämonismus bekennen. Und diese Theorie schadet der Moral in keiner Weise: sie verringert nicht, sie vermehrt höchstens die Anforderungen an Reinheit des sittlichen Handelns und Beurteilens.

Für Manchen liegt vielleicht der Einwand nahe, ich presse gar zu verschiedene Dinge unter einen Namen zusammen. Er meint, es sei doch ein zu gewaltiger Unterschied zwischen einem Mann, dem "der Bauch sein Gott ist", und dem, welcher aus Liebe zum Guten seine Pflicht tut, als daß man von beiden zusammenfassend sagen könnte, sie handelten, um einem Trieb, einem Bedürfnis zu genügen, aus Rücksicht auf ihr Wohl, auf vorhandene oder erwartete Lust.

Daß ein gewaltiger Unterschied vorliegt, leugne ich durchaus nicht: aber nur in moralischer, nicht in psychologischer Hinsicht. Nun soll man sich ja hüten, moralische Wertunterschiede in die Psychologie hineinzutragen. Das führt dazu, Faktoren, die sich psychologisch betrachtet völlig gleich stehen, voneinander zu trennen, sie nicht nur mit einem verschiedenen Namen zu bezeichnen, sondern auch als verschiedene Dinge anzusehen, und zwar bloß deshalb, weil die einen Geistiges, die anderen Körperliches, jene Höheres, Sittliches, diese Niederes, sittlich Indifferentes oder Unsittliches bezeichnen. Durch Beinamen mag man, muß man unterscheiden. Denn damit sagt man: es handelt sich um dieselbe Gattung, aber um verschiedene Arten. So spreche auch ich von körperlichen, geistigen, intellektuellen Lustgefühlen, Bedürfnissen, Trieben und Werten. Aber über dem Unterscheidenden darf das Gemeinsame nicht übersehen werden. Und dieses Gemeinsame zwingt zu einer gemeinsamen Benennung. Nicht ich also presse die Dinge zusammen, sondern die Erfahrung zeigt, daß sie naturgemäß eng zusammen gehören.

Noch ein weiterer Einwand ist nichtig: daß nämlich der Eudämonismus Erscheinungen wie den freiwilligen Heldento, die Selbstaufopferung und Ähnliches nicht zu erklären vermag. So meint STERN (Seite 342), das mit dem Guthandeln verbundene Lustgefühl kann nicht das Ziel des Handelnden sein, weil dieses Lustgefühl nur mit großen Opfern (eventuell sogar unter Lebensgefahr) erkauft wird und "kein normaler Mensch um eines nicht einmal sicher eintretennden höheren Lustgefühls willen ein so großes Unlustgefühl, wie die Gefährdung seines Lebens, auf sich nimmt". Aber wie oft schlagen Verliebte, Ehrsüchtige, Geizige und viele andere auf ein bestimmtes Objekt Kaprizierte [leicht verbohrt seine Aufmerksamkeit auf etwas richten - wp] gern ihr Leben in die Schanze, wenn sich ihnen nur eine leise Möglichkeit bietet, das Erstrebte zu erringen, weil ihnen das Leben ohne dessen Besitz nicht lebenswert erscheint. Auch sie "opfern" ihr Leben auf, freilich zu einem ganz anderen äußeren Zweck als der moralisch Handelnde. Aber der Grund des Handelns ist derselbe: beide geben Glück auf, um sich ein höheres Glück zu sichern oder zu erwerben, dessen sie andernfalls verlustig gehen würden. Springt eine Mutter ihrem Kind ins Wasser nach, um es zu retten, obwohl die Möglichkeit einer Rettung völlig ausgeschlossen ist: so handelt sie meistens aus einem unwiderstehlichen Drang heraus; oder, überlegt sie, so ist das, was sie in die Wellen treibt, die Vorstellung von den Schmerzen des Kindes, welche ihr unterträglicher scheint als die eigene Todesqual, oder die Vorempfindung davon, wie leer und öde ihr das Leben ohne die Gemeinschaft des Kindes sein wird. Umd die Befriedigung eines Bedürfnisses, eines Triebes, oder - im Fall eines planvollen Überlegens: - um die Vermeidung qualvollster Unlust handelt es sich auch hier.

Aber die Bedürfnisse sind sehr verschieden und beim Tun des Guten kommen solche ganz eigener Art in Betracht. Die Freude, welche mit ihnen verbunden ist, kann nur aufgrund der Freude entstehen, welche wir Anderen machen; sie ist also altruistisch. Das Selbsterhaltungsstreben kann hier nur durch eine Aufgabe, eventuell sogar durch eine Vernichtung des eigenen Selbst sein Ziel erreichen. Um mich "durchzusetzen", um mir selbst Genüge zu tun, um nicht vor mir selbst als nichtswürdig dazustehen, muß ich mich verlieren, aufopfern. Auch bei der eudämonistischen Theorie bleibt also die völlige Revolution, welche bei den sittlichen Handlungen die gewöhnliche Kausalordnung gleichsam umstürzt und zu der strengen Entgegensetzung von sittlichen und selbstsüchtigen Handlungen, von Selbstlosen und Egoisten führt. Diese Unterschiede sind durchaus berechtigt: denn der Guthandelnde sucht zwar Freude, aber nur als Freude über die Freude, welche Andere ihm verdanken; er sucht zwar sich Selbst, aber nur in der Selbstaufopferung. Und im Drang des Lebens, bei impulsiven, instinktiven sittlichen Handlungen, tritt das Denken an das eigene Selbst sogar gänzlich zurück; wird überhaupt noch gedacht und nicht nur triebartig reagiert, so füllt der Gedanke an das fremde Wohl und Wehe das Bewußtsein ganz aus.

Ja, man muß noch weitergehen! Auch bei Wahl- und Zweckhandlungen, wo wir ursprünglich bestimmte Lustgefühle erstrebten, die uns als Motive zum Tun drängten, kann dieser Zweck (wie jeder Zweck) zeitweilig aus dem Bewußtsein völlig verschwinden und das zu seiner Erreichung erforderliche Mittel scheinbar ein Selbstzweck werden. Es kann sich z. B. Jemand mit einem gewissen Zögern zu einer sittlichen Handlung entschließen, welche ihm Opfer auferlegt; er entscheidet sich für sie wegen der andernfalls drohenden Gewissensbisse und Selbstverachtung. Während des Handelns aber tritt dieses Motiv, überhaupt der Gedanke an das eigene Ich, völlig zurück. Der ganze Mensch ist eingenommen von der Strenge für fremdes Wohl; er geht aus seinem Ich scheinbar ganz heraus: so sehr lebt er im Anderen. Da ist das Mittel zum Selbstzweck geworden. Aber am psychologischen Tatbestand ist auch dadurch nichts geändert. Der Eudämonismus behält auch hier recht.
LITERATUR - Erich Adickes, Ethische Prinzipienfragen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 116, Leipzig 1900