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OLIVER SACKS
Stumme Stimmen

Nun, da MASSIEU verstanden hatte, daß ein Gegenstand oder ein Bild durch einen  Namen  repräsentiert werden kann, entwickelte er ein gewaltiges, übermächtiges Verlangen nach Namen.

Mein Interesse für die Gehörlosen - ihre Geschichte, ihre desolate Lage, ihre Sprache, ihre Kultur - wurde geweckt, als man mich bat, HARLAN LANEs Buch ("Mit der Seele hören") zu rezensieren. Besonders bedrückend fand ich die Beschreibungen völlig isolierter Taubstummer, denen es nicht gelungen war, sich irgendeine Sprache anzueignen; ihre geistigen Fähigkeiten waren offenbar stark eingeschränkt, und nicht weniger schlimm war die Hemmung ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung, zu der es infolge des Fehlens einer authentischen Sprache und Kommunikation kommen kann.

Was ist erforderlich, fragte ich mich, damit wir uns zu vollständigen menschlichen Wesen entwickeln? Ist unser sogenanntes Menschsein zum Teil abhängig von der Sprache? Was geschieht mit uns, wenn wir nicht imstande sind, uns Sprache anzueignen? Entwickelt sich Sprache spontan und natürlich, oder bedarf es dazu des Kontaktes mit anderen Menschen?

Ein Weg - ein erschütternder Weg -, nach Antworten auf diese Fragen zu suchen, besteht darin, Menschen zu betrachten, die der Sprache beraubt sind. Die Deprivation (Entzug von Liebe und Zuwendung), der Verlust der Sprache - in der Form der Aphasie (Verlust des Sprechvermögens durch Störung im Gehirn) - ist seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein zentrales Forschungsgebiet der Neurologie gewesen: HUGHLINGS-JACKSON, HEAD, GOLDSTEIN, LURIJA haben ausführliche Arbeiten darüber veröffentlicht, und auch FREUD hat diesem Thema in den neunziger Jahren eine Monographie gewidmet.

Bei der Aphasie wird die Sprache jedoch (durch einen Schlaganfall oder eine andere Hirnschädigung) einem bereits ausgeformten Geist, einer vollständig entwickelten Persönlichkeit entzogen. Man könnte sagen, daß die Sprache ihre Aufgabe (sofern ihr bei der Ausbildung des Geistes und des Charakters eine Aufgabe zukommt) in diesem Fall schon erfüllt hat. Will man jedoch die fundamentale Bedeutung der Sprache erforschen, so muß man sein Augenmerk nicht auf ihren Verlust, nachdem sie sich bereits entwickelt hat, sondern auf ihr Fehlen von Anfang an richten, darauf, was es bedeutet, wenn ihre Entwicklung gar nicht erst hat eintreten können.

Ich fand es schwierig, mir diesen Zustand auch nur auszumalen: Ich hatte Patienten, die ihre Sprache verloren hatten, die an Aphasie litten, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie es wohl sein mag, von vornherein keine Sprache zu besitzen.

Vor zwei Jahren lernte ich an der  Braefield School for the Deaf  JOSEPH kennen, einen elfjährigen Jungen, der gerade auf diese Schule gekommen war und über keinerlei Sprache verfügte. Er war taub geboren, aber seine Gehörlosigkeit war erst festgestellt worden, als er bereits vier Jahre alt war.

Die Tatsache, daß er in diesem Alter noch nicht in der Lage war, Lautsprache zu artikulieren und zu verstehen, wurde erst als "Retardierung" (Zurückgebliebenheit), dann als "Autismus" abgetan, und diese Diagnosen hafteten ihm lange Zeit an. Als seine Gehörlosigkeit schließlich festgestellt wurde, galt er als "taubstumm". Es war nie ein ernsthafter Versuch unternommen worden, ihm Sprache zu vermitteln.

JOSEPH sehnte sich danach, mit anderen zu kommunizieren, aber er konnte es nicht. Ihm standen weder das gesprochene oder geschriebene Wort noch die Gebärdensprache zur Verfügung, sondern lediglich Gesten, Pantomime und ein bemerkenswertes Zeichentalent. Immer wieder fragte ich mich: Was ist mit ihm geschehen? Was geht in ihm vor, wie ist er in diese schlimme Lage geraten?

Er wirkte lebendig und aufgeweckt, aber völlig verwirrt: Sein Blick hing an sprechenden Mündern und an Händen, die Gebärden machten - forschend, verständnislos und, wie mir schien, voller Sehnsucht verfolgte er die Bewegungen unserer Lippen, Mienen und Hände. Er sah, daß zwischen uns "etwas passierte", aber er konnte nicht verstehen, was es war - er hatte vorerst noch kaum einen Begriff von Kommunikation, wußte nicht, was es heißt, in einem Austausch von Symbolen, von Bedeutungen und Meinungen zu stehen.

Bisher hatte er da, daß ihm die Gebärdensprache nie angeboten worden war, keine Gelegenheit gehabt, diese einzusetzen, und seine Fähigkeit, Motive und Affekte zu entwickeln, war gestört ( vor allem infolge des Mangels an Freude, die Spiel und Sprache vermitteln sollten). Nun aber begann JOSEPH, sich ein paar Brocken der Gebärdensprache anzueignen und mit anderen zu kommunizieren. Man merkte, wieviel Freude ihm das machte; er wollte den ganzen Tag, die ganze Nacht, das ganze Wochenende, die ganze Zeit in der Schule bleiben.

Es war schmerzlich zu sehen, wie traurig er wurde, wenn er nach Hause gehen mußte, denn das bedeutete für ihn die Rückkehr in die Stille, in das hoffnungslose Kommunikationsvakuum, wo es keinen Austausch, kein Gespräch mit Eltern, Nachbarn und Freunden gab. Die Rückkehr nach Hause bedeutete, daß er wieder übersehen, wieder zur Nicht-Person wurde.

Dies zu beobachten war sehr ergreifend, ohne Parallele in meiner Erfahrung. Teilweise erinnerte JOSEPH mich an ein zweijähriges Kind, das an der Schwelle zur Sprache steht, nur war er elf Jahre alt und in den meisten Bereichen seinem Alter entsprechend entwickelt. Teilweise erinnerte er mich auch irgendwie an ein spachloses Tier, doch kein Tier zeigt je diese Sehnsucht nach Sprache, unter der JOSEPH litt.

HUGHLINGS-JACKSON, fiel mir ein, hat Aphasiker einmal mit Hunden verglichen - aber Hunden schein in ihrer Sprachlosigkeit nichts zu fehlen, sie scheinen zufrieden, während Aphasiker von einem Gefühl des Verlustes gequält werden. So erging es auch JOSEPH: Er spürte offenbar mit schmerzhafter Eindringlichkeit, daß ihm etwas fehlte, daß er von einer Verkrüppelung, einem Mangel, betroffen war. Er erinnerte mich an jene wilden Kinder, obwohl er offensichtlich nicht "wild", sondern eine Kreatur unserer Zivilisation und unserer Umgangsformen, zugleich aber radikal davon ausgeschlossen war.

JOSEPH war beispielsweise nicht in der Lage mitzuteilen, wie er das Wochenende verbracht hatte, man konnte keine wirkliche Frage an ihn richten, nicht einmal in der Gebärdensprache: Es war ihm unmöglich, das  Konzept "Frage" zu erfassen, geschweige denn eine Antwort zu geben. Ihm fehlte nicht nur die Sprache, sondern offenbar auch eine klare Vorstellung von Vergangenheit, von dem Unterschied zwischen "gestern" und "vor einem Jahr". Es zeigte sich ein einzigartiger Mangel an historischem Sinn, ein Lebensgefühl, dem die autobiographische und geschichtliche Dimension fehlte, das sich nur auf den Augenblick, auf die Gegenwart bezog.

Seine visuelle Intelligenz - die Fähigkeit, Bildrätsel und visuelle Probleme zu lösen - war gut entwickelt, stand aber in scharfem Kontrast zu den großen Schwierigkeiten, die ihm Probleme auf sprachlicher Basis bereiteten. Er konnte zeichnen und hatte Spaß daran: Es gelange ihm gute Raumskizzen, und er malte gern Menschen; er verstand Cartoons und visuelle Konzepte. Vor allem dies vermittelte mir den Eindruck von Intelligenz, wenn auch einer Intelligenz, die weitgehend auf das Visuelle beschränkt war. Das Spiel "Drei in eine Reihe" begriff er schnell, und schon bald zeigte er sich darin versierter als viele andere; ich hatte das Gefühl, daß es ihm leichtfallen würde, Dame oder Schach zu lernen.

JOSEPH sah, unterschied, kategorisierte, benutzte; er hatte keine Schwierigkeiten mit  perzeptueller Kategorisierung und Generalisierung, konnte aber, wie es schien, nicht sehr weit darüber hinausgehen und reflektieren, spielen, planen oder abstrakte Gedanken behalten. Er machte den Eindruck, als nehme er alles wörtlich, als sei er nicht in der Lage, mit Bildern, mit Hypothesen, mit Möglichkeiten zu spielen oder das Reich der Phantasie oder der Metaphern zu betreten.

Und doch hatte man immer das Gefühl, daß er, trotz dieser offensichtlichen Einschränkungen der intellektuellen Leistung, eine normal entwickelte Intelligenz besaß. Es mangelte ihm nicht an Geistesvermögen, nur schöpfte er es nicht voll aus.

Es liegt auf der Hand, daß Denken und Sprache verschiedenen (biologischen) Ursprungs sind. Das Kleinkind erkundet die Welt, erfaßt sie in ihrer Räumlichkeit, reagiert auf sie lange bevor es zu sprechen lernt. Vor Beginn des Spracherwerbs entfaltet sich bereits ein gewaltiges gedankliches Spektrum. Ein Mensch ohne Sprache ist nicht dumm oder geistig behindert, aber das Spektrum seiner Gedanken ist stark eingeschränkt und praktisch auf eine unmittelbar einfahrbare, kleine Welt begrenzt.

JOSEPH machte nun die ersten tastenden Schritte in die Welt der Kommunikation und Sprache, und er vibrierte vor Aufregung. Die Pädagogen der Schule waren der Ansicht, daß er nicht nur formalen Unterricht brauchte sondern auch mit Sprache spielen, zu Sprachspielen angeregt werden sollte, so wie ein kleines Kind, das sich die Sprache gerade erst anzueignen beginnt. Dadurch, so hoffte man, würde er Sprache und begriffliches Denken lernen, und zwar in einem  Akt intellektullen Spielens.

Ich fühlte mich an die Zwillinge erinnert, die LURIJA beschrieben hat; sie waren in gewissem Sinne so "retardiert", weil sie sich so schlecht ausdrücken konnten, und ihre geistigen Fähigkeiten entwickelten sich in ungeheurem Ausmaß, als sie den Umgang mit der Sprache lernten. War dies auch bei JOSEPH möglich?

"Infant", das englische Wort für Kleinkind, leitet sich aus dem Lateinischen ab: "infans" bedeutet "nicht sprechend"; und es weist vieles darauf hin, daß der Erwerb der Sprache ein absoluter, qualitativer Einschnitt in der Entwicklung der menschlichen Natur ist. In diesem Sinne war JOSEPH, sonst ein gut entwickelter, aktiver und gescheiter Elfjähriger, noch immer "infantil", ein Kleinkind - die Macht, die Wlet, zu welcher die Sprache den Zugang eröffnet, blieb ihm versagt.JOSEPH CHURCH schreibt in seinem Buch "Sprache und die Entdeckung der Wirklichkeit":
    Sprache eröffnet dem Lernen und Handeln neue Orientierungen und neue Möglichkeiten und dominiert so ihrerseits die präverbale Erfahrung und formt sie um ... Sprache ist nicht eine Funktion unter vielen Funktionen ... sondern so sehr ein alles durchdringendes Wesensmerkmal des Individuums, daß dieses durch sie zu einem  verbalen Organismus wird (dessen Erfahrungen, Handlungen, Konzepte sich nun ausnahmslos in Übereinstimmung mit der verbalisierten oder symbolischen Erfahrung verändern).

    Sprache gestaltet Erfahrung um ... Durch Sprache ... kann man das Kind einführen in die rein symbolische Sphäre von Vergangenheit und Zukunft, von fernen Gegenden, hypothetischen Ereignissen, von utopischer Literatur, Wesen, imaginären Entitäten - vom Werwolf bis zu Pi-Mesonen... Gleichzeitig bewirkt das Spracherlernen eine Umformung, die das Individuum befähigt, von sich aus neue Dinge zu tun oder alte Dinge auf eine neue Weise zu tun. Die Sprache erlaubt, mit den Dingen aus der Distanz umzugehen, auf sie ohne physische Aktion einzuwirken.

    Diese Aktion auf Distanz läßt zwei Möglichkeiten zu: Man wirkt entweder auf andere Menschen ein oder durch andere Menschen auf die Objekte ... Überdies vermag man mit Sprachsymbolen in einer Art zu operieren, wie es mit den Dingen selbst, für die sie stehen, unmöglich wäre, und so zu neuartigen oder gar schöpferischen Gestaltungen der Wirklichkeit zu kommen ... Wir können auf verbalem Weg Situationen neu ordnen, die an sich einer Neuordnung widerstehen würden ... wir vermögen einzelne Daten zu isolieren, die faktisch isolierbar sind ... wir können Objekte und Ereignisse, die der Zeit und dem Raum nach weit auseinanderliegen, nebeneinander stellen ... wir können, wenn wir wollen, auf symbolische Weise das Universum auf den Kopf stellen.
 Wir können das alles, aber JOSEPH konnte es nicht. JOSEPH war der Zugang zu jener symbolischen Ebene, auf die jeder Mensch von frühester Kindheit an ein Recht hat, verwehrt. Wie ein Tier oder ein Kleinkind schien er in der Gegenwart verhaftet und auf die konkrete und unmittelbare Erfahrung beschränkt, nur wurde ihm dies durch ein Bewußtsein, das ein Kleinkind nicht haben kann, ständig vor Augen geführt.

Ich begann mich zu fragen, wie es wohl anderen Gehörlosen ergehen mochte, die das Jugendlichen -, vielleicht sogar das Erwachsenenalter erreicht hatten, ohne über irgendeine Art von Sprache zu verfügen. Im 18. Jahrhundert hatte es solche Menschen in großer Zahl gegeben: JEAN MASSIEU war einer der berühmtesten gewesen.

Bis weit ins dreizehnte Lebensjahrzehnt hinein war er ohne Sprache aufgewachsen; dann wurde er Schüler von ABBÈ SICARD und feierte, nachdem er gelernt hatte, sich sowohl in der Gebärdensprache als auch in geschriebenem Französisch fließend auszudrücken, große Erfolge. MASSIEU selbst schrieb eine kurze Autobiographie, während SICARD hm ein ganzes Buch widmete, in dem er darlegte, wie es möglich war, einen sprachlosen Menschen zu "befreien", so daß er in eine neue Seinsform eintreten konnte.

MASSIEU beschreibt, wie er mit acht Geschwistern, von denen fünf wie er selbst von Geburt an gehörlos waren, auf einem Bauernhof aufwuchs:
    Bis zum Alter von dreizehn Jahren und neun Monaten blieb ich zu Hause, ohne je irgendwelche Schulbildung zu erhalten. Ich war ein völliger Analphabet. Meine Gedanken drückte ich mit Handzeichen oder Gesten aus ... Die Gebärden, deren ich mich bediente, um meine Gedanken meiner Familie mitzuteilen, waren ganz anders als jene, die von gebildeten Taubstummen verwendet werden. Fremde verstanden uns nicht, wenn wir unsere Gedanken mittels Gebärden zum Ausdruck brachten, wohl aber die Nachbarn ... Kinder meines Alters wollen nicht mit mir spielen; sie sahen auf mich herab; ich war wie ein Hund. Ich verbrachte die Zeit allein, spielte mit einem Kreisel oder mit Schläger und Ball oder ging auf Stelzen.
Da ihm eine echte Sprache fehlte, ist es nicht ganz klar, wie MASSIEUs Gedankenwelt beschaffen war (auch wenn deutlich wird, daß er über eine primitive Form der Kommunikation verfügte, und zwar mittels "hausgemachter Gebärden", die er und seine Geschwister entwickelt hatten und die ein komplexes, aber kaum grammatikalisiertes System von Gesten ergaben. Er fährt fort:
    Ich sah Rinder, Pferde, Esel, Schweine, Hunde, Katzen, Gemüse, Häuser, Felder und Weinstöcke, und nachdem ich all die Dinge gesehen hatte, behielt ich sie gut im Gedächtnis.
Er hatte auch eine Vorstellung von Zahlen, obwohl ihm Bezeichnungen für sie fehlten:
    Vor meiner Ausbildung wußte ich nicht, wie man zählt; meine Finger hatten es mich gelehrt: Ich kannte keine Zahlen, sondern zählte an meinen Fingern, und wenn die Zählung über zehn hinausging, machte ich Kerben an einem Stock.
Und er schildert in ergreifenden Worten, wie er die anderen Kinder beneidete, die in die Schule gehen durften; wie er Bücher aufschlug, aber nichts mit ihnen anfangen konnte; wie er sich bemühte, die Buchstaben des Alphabeths, von denen er wußte, daß sie eine seltsame Macht besitzen mußten, mit einer Feder nachzuzeichnen, aber unfähig war, ihnen irgendeine Bedeutung einzuhauchen.

SICARDs Beschreibung des Unterrichts ist faszinierend. Er stellte fest (genau wie ich bei JOSEPH), daß MASSIEU ein scharfes Auge besaß, und er begann, indem er Gegenstände zeichnete und den Jungen ermunterte, dasselbe zu tun. Um ihn in die Sprache einzuführen, schrieb SICARD die Namen der Gegenstände auf die Bilder. Zuerst war sein Schüler
    "gänzlich verwirrt. Er verstand nicht, wie Linien, die nichts abzubilden schienen, als Bild eines Gegenstandes dienen und ihn mit solcher Genauigkeit und Schnelligkeit wiedergeben konnten."
Dann, ganz plötzlich,  begriff MASSIEU es, begriff das Konzept einer abstrakten und symbolischen Darstellung:
    "In diesem Augenblick erkannte (er) den ganzen Vorteil, die ganze Schwierigkeit des Schreibens ... (und) von jenem Moment an gaben wir das Zeichnen auf und ersetzten es durch Schreiben."
Nun, da MASSIEU verstanden hatte, daß ein Gegenstand oder ein Bild durch einen  Namen repräsentiert werden kann, entwickelte er ein gewaltiges, übermächtiges Verlangen nach Namen. Wunderbar anschaulich beschreibt SICARD, wie sie gemeinsame Spaziergänge unternahmen, bei denen MASSIEU die Namen von allem, was er sah, wissen wollte und aufschrieb:
    Wir suchten einen Obstgarten auf, um die Früchte zu benennen. Wir gingen in den Wald, und ich wies ihn auf den Unterschied zwischen einer Eiche und einer Ulme ... zwischen einer Weide und einer Pappel hin und zeigte ihm schließlich die anderen Bewohner des Waldes ... Er hatte nicht genug Karten und Bleistifte für all die Namen, mit denen ich sein Wörterverzeichnis füllte, und seine Seele schien angesichts dieser unzähligen Bezeichnungen zu wachsen und sich zu weiten ... MASSIEUs Besuche gleichen denen eines Landbesitzers, der zum erstenmal seine reichen Liegenschaften in Augenschein nimmt.
SICARD hatte den Eindruck, daß mit dem Erlernen von Namen, von Worten für alles, ein radikaler Wandel in MASSIEUs Verhältnis zur Welt eintrat - er war wie Adam: "Dieser Neuling auf der Erde war ein Fremder auf seinen eigenen Gütern, und diese wurden ihm jetzt, da er ihre Namen lernte, zurückgegeben."

Wenn wir frage: Warum wollte MASSIEU all diese Namen wissen? Oder warum wollte Adam sie wissen, obwohl er doch allein war? Warum erfüllte das Benennen MASSIEU mit einer solchen Freude, warum beflügelte es seine Seele, sich auszuweiten und zu wachsen? Wie veränderten diese Namen sein Verhältnis zu den Dingen, die bis dahin namenlos gewesen waren, so daß er plötzlich das Gefühl hatte, als gehörten sie ihm, als seien sie sein "Besitz" geworden?  Wozu dient das Benennen?

- Es hat gewiß mit der Urkraft der Worte zu tun, mit der Kraft, die definiert, die spezifiziert, die Herrschaft und Lenkung ermöglicht, die es erlaubt, vom Reich der Gegenstände und Bilder in die Welt der Namen, der Begriffe und Konzepte hinüberzuwechseln. Die Zeichnung einer Eiche stellt eine bestimmte Eiche dar, aber der Name "Eiche" bezeichnet die ganze Klasse der Eichen, eine generelle Identität - "Eichenheit" -, die für alle Eichen gilt.

Während MASSIEU durch den Wald ging, war das Benennen also sein erster Griff nach der Macht der Generalisierung, die die ganze Welt umzuformen vermag; so trat er, im Alter von vierzehn Jahren, sein Erbe als Mensch an und konnte, in einer Weise, wie es für ihn nie zuvor denkbar gewesen wäre, die Welt als sein Zuhause, als seine "Domäne" erkennen.

LEW S. WYGOTSKI schreibt: (1)
    Ein Wort bezieht sich niemals auf irgendeinen einzelnen Gegenstand, sondern auf eine  ganze Gruppe oder eine ganze Klassen von Gegenständen. Infolgedessen bildet jedes Wort eine indirekte  Verallgemeinerung ... Doch die Verallgemeinerung ist in überaus starkem Maße ein  wortgebundener Akt des Gedankens", der die Wirklichkeit völlig anders widerspiegelt, als sie in den unmittelbaren Empfindungen und Wahrnehmungen wiedergegeben wird.
Er fährt damit fort, die "Auffassung eines dialektischen Sprungs von der Empfindung zum Gedanken" zu erläutern, die zum Ausdrucke bringen will, "daß das (sprachliche) Denken die Wirklichkeit qualitativ anders widerspiegelt als die unmittelbare Empfindung", daß es "im Wesen die  verallgemeinerte Widerspiegelung der Wirklichkeit ist. Folglich stellt die Wortbedeutung in ihrer Verallgemeinerung einen Denkakt im eigentlichen Sinne des Wortes dar."

Für MASSIEU kamen also die Substantive, Namen, Nomina an erster Stelle. Er benötigte charakterisierende Adjektive, aber die warfen Probleme auf.
    MASSIEU wartete nicht auf die Adjektive, sondern benutzte die Namen von Objekten mit einer hervorstechenden Eigenschaft, auf deren Vorhandensein in einem anderen Objekt er hinweisen wollte ... Um die Schnelligkeit eines Kameraden bei einem Wettrennen auszudrücken, sagte er: "Albert ist  Vogel"; um Kraft auszudrücken, sagte er: "Paul ist  Löwe"; um Sanftheit auszudrücken, sagte er: "Deslyons ist  Lamm."
SICARD erlaubte ihm das zunächst, ermunterte ihn sogar dazu. Dann aber begann er - "zögernd", wie er schreibt -, diese Wendungen durch Adjektive zu ersetzen ("Lamm" durch "sanft", "Löwe" durch "stark"), und er fügt hinzu: "Ich tröstete ihn über den Verlust hinweg ... indem ich (ihm erklärte), daß die neuen Worte, die ich ihm gab, denen, die aufzugeben ich ihn aufforderte, (gleichwertig) seien." (2)

Auch Pronomina machten machten MASSIEU zu schaffen. "Er" hielt er zunächst für einen Namen, und verwechselte "icht" und "du" (wie es ja auch bei Kleinkindern geschieht); schließlich aber hatte er die Funktion auch dieser Wortart begriffen. Propositionen stellten ihn vor besondere Schwierigkeiten, aber nachdem er sie einmal erfaßt hatte, machte er sie sich so begierig zu eigen, daß er sich plötzlich in der Lage sah, "propositionale Gedanken" auszudrücken.

Geometrische Abstraktionen - unsichtbare Konstrukte - erwiesen sich jedoch als das größte Problem. Es fiel MASSIEU nicht schwer, viereckige Objekte zusammenzufügen, daber es erforderte eine ganz andere Art von Leistung, Viereckigkeit als geometrisches Konstrukt, die  Idee der Viereckigkeit zu erfassen. Besonders dieser Entwicklungssprung weckte SICARDs Begeisterung. "Die Abstraktion ist erreicht! Ein weiterer Schritt! MASSIEU versteht Abstraktionen!" jubelt er. "Nun ist er ein Mensch."

Im 18. Jahrhundert, als es noch keine Schulpflicht gab, müssen Fälle wie der MASSIEUs weit häufiger gewesen sein als heute, aber selbst in unserer Zeit treten sie noch gelegentlich auf, vor allem wohl in abgeschiedenen ländlichen Gegenden oder wenn bei dem Kind eine falsche Diagnose gestellt wurde und es von früh an in einer Anstalt gelebt hat.

Im November 1987 erhielt ich einen außergewöhnlichen Brief von SUSAN SCHALLER, einer Wissenschaftlerin und Gebärdensprachendolmetscherin aus San Francisco.
    Im Augenblick (schrieb sie) arbeite ich an einem Bericht darüber, wie es einem siebenundzwanzigjährigen Taubgeborenen gelungen ist, zum erstenmal eine Sprache zu erlernen. Er war nie mit irgendeiner Sprache, auch nicht mit der Gebärdensprache, in Berührung gekommen. Mein Schüler, der (abgesehen von konkreten und funktionalen Äußerungen, die er durch Pantomime mitteilte) siebenundzwanzig Jahre lang nie mit einem anderen Menschen kommunizierte, hat zu meiner Verwunderung die "Einzelhaft" ohne Desintegration der Persönlichkeit überstanden.
ILDEFONSO wurde auf einer Farm in Süd-Mexiko geboren; er und sein ebenfalls taubgeborener Bruder waren die einzigen Gehörlosen in der Familie und in der Gemeinde, und beide sind nie auf eine Schule geschickt worden oder mit der Gebärdensprache in Berührung gekommen. Als Saisonarbeiter kam er in Begleitung verschiedener Verwandter immer wieder über die Grenze in die USA. Er hatte zwar ein freundliches Gemüt, war aber im Grund isoliert, denn seine Kommunikation mit anderen Menschen beschränkte sich auf ein paar einfache Gesten.

Als SUSAN SCHALLER ihn zum erstenmal sah, machte er einen aufgeweckten, lebhaften, aber gleichzeitig verängstigten und verwirrten Eindruck und schien etwas zu suchen, sich nach etwas zu sehnen - ähnlich hatt ich JOSEPH erlebt. Wie JOSEPH war er ein sehr aufmerksamer Beobachter ("er tastet alles und jeden mit seinen Blicken ab"), nur beobachtete er sozusagen von außen, fasziniert, aber abgetrennt von der inneren Welt der Sprache. Als SCHALLER die Gebärde für "Dein Name?" machte, imitierte er sie einfach; das war zunächst alles, was er tat, ohne das geringste Verständnis dafür, daß Gebärden sprachliche Zeichen sind.

Bei dieser Wiederholung von Bewegungen und Geräuschen blieb es in der ersten Zeit, in der SCHALLER versuchte, ILDEFONSO die Gebärdensprache beizubringen; er verstand nicht, daß sie ein "Inneres", eine Bedeutung zum Ausdruck brachten, und es schien möglich, daß er nie über diese "mimetische Echolalie" hinausgelangen, nie in die Welt des Denkens und der Sprache eintreten würde.

Doch dann geschah es ganz plötzlich und unerwartet. Der erste Durchbruch gelang ILDEFONSO mit Zahlen. Mit einemmal begriff er ihren  Sinn, verstand, was sie sind und wie man mit ihnen umgeht; und das bewirkte eine Art intellektueller Explosion: Innerhalb weniger Tage hatte er die Hauptprinzipien der Arithmetik erfaßt. Zwar besaß er noch immer kein Konzept von Sprache (die arithmetischen Symbole sind vielleicht keine Sprache, sind nicht im selben Sinne bedeutungstragend wie Worte), aber das Verfügen über Zahlen, die mentalen Operationen der Arithmetik gaben seinem Geist einen Anstoß, schufen inmitten des Chaos einen Bezirk der Ordnung und zeigten ihm zum erstenmal den Weg zu einer Art von Verständnis und Hoffnung.

Der eigentliche Durchbruch kam am sechsten Tag, nachdem Worte hundert- und tausendmal wiederholt worden waren, besonders das Zeichen für "Katze". Plötzlich war das nicht mehr eine Bewegung, die zur Imitation aufforderte, sondern eine Gebärde, die eine Bedeutung in sich barg und zur Symbolisierung eines Begriffes eingesetzt werden konnte. Dieser Augenblick des Verstehens war sehr erregend und führte zu einer zweiten intellektuellen Explosion, aber diesmal ging es nicht um etwas rein Abstraktes (wie die Prinzipien der Mathematik), sondern um den Sinn und die Bedeutung der Welt:
    Sein Gesicht wird vor Erregung lang und offen ... bedachtsam zunächst, dann gierig, nimmt er alles auf, als hätte er es noch nie zuvor gesehen: die Tür, das Schwarze Brett, Stühle, Tische, Schüler, die Uhr, die grüne Tafel, mich ... Er ist eingetreten in das Universum der Menschen, er hat die Geistesgemeinschaft entdeckt. Er weiß jetzt, daß er und die Katze und der Tisch einen Namen haben.
SCHALLER vergleicht ILDEFONSOs "Katze" mit HELEN KELLERs "Wasser" - es ist das erste Wort, das erste Zeichen, das den Weg zu allen anderen weist und den eingesperrten Geist befreit.

Dieser Augenblick und die darauffolgenden Wochen waren für ILDEFONSO eine Zeit, in der er sich fasziniert und mit frischer Aufmerksamkeit der Welt zuwandte. Nachdem er jahrzehntelang eine lediglich wahrnehmende Existenz geführt hatte, war dies sein Erwachen, ein Hinaustreten in die Welt des Denkens und der Sprache.

Die ersten zwei Monate waren bei ihm, wie bei MASSIEU, vor allem dem Benennen gewidmet - er war damit beschäftigt, die Welt zu definieren und eine ganz neue Beziehung herzustellen. Aber wie bei KASPAR HAUSER blieben gewichtige Probleme bestehen: Besonders, schreibt SCHALLER, "zeitliche Konzepte - Zeiteinheiten, grammatische Tempora, zeitlich Relationen - schienen ihm unbegreiflich, und allein die Vermittlung des Gedankens, daß Zeit in Ereignissen bemessen werden kann, brauchte Monate". Diese Probleme ließen sich nur Schritt für Schritt lösen.

Jetzt, mehrere Jahre später, beherrscht ILDEFONSO die Gebärdensprache recht gut. Er hat andere Gehörlose kennengelernt und ist ein Mitglied ihrer Sprachgemeinschaft geworden. Und damit hat er sich, wie SICARD über MASSIEU gesagt hat, "ein neues Sein" erworben.
LITERATUR - Oliver Sacks, Stumme Stimmen, Reinbek 1990
    Anmerkungen
  1. WYGOTSKI wurde 1896 in Weiß-Russland geboren und publizierte als sehr junger Mann ein bemerkenswertes Buch über die Psychologie der Kunst. Dann wandte er sich der systematischen Psychologie zu und schuf in den zehn Jahren bis zu seinem Tod (er starb mit 38 Jahren an Tuberkulose) ein Gesamtwerk, das ihm bereits unter den zeitgenössischen Wissenschaftlern den Ruf eines hochoriginellen, ja genialen Denkers sicherte; auch PIAGET gehörte zu seinen Bewunderern.

    Nach WYGOTSKIs Auffassung wird die Entwicklung von Sprache und Geisteskraft weder durch Erlernen im landläufigen Sinne noch epigenetisch (durch Neubildung entwickelt) hervorgebracht, sondern ist ein seinem Wesen nach sozialer und vermittelter, aus der Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind entstehender Prozeß, in dessen Verlauf das kulturelle Instrument Sprache verinnerlicht wird, um Denken zu ermöglichen.

    Sein Werk erregte den Argwohn marxistischer Ideologen, und sein posthum veröffentlichtes Buch "Denken und Sprechen" wurde einige Jahre später als "antimarxistisch", "antipawlowianisch" und "antisowjetisch" verboten und verfemt. Sein Werk und seine Theorien durften nicht mehr öffentlich diskutiert werden, wurden aber von seinen Schülern und Kollegen bewahrt - vor allem von A.R. LURIJA und A.N. LEONTJEW. Später schrieb LURIJA, die Begegnung mit einem Genie wie WYGOTSKI und der nähere Kontakt zu ihm seien das wichtigste Ereignis in seinem Leben gewesen - er bezeichnete sein eigenes Werk oft als "bloße Fortsetzung" dessen, was WYGOTSKI begonnen hatte. Hauptsächlich LURIJAs mutigem Einsatz (denn auch er war zeitweilig geächtet und gezwungen, ins "innere Exil" zu gehen) ist es zu verdanken, daß "Denken und Sprechen" in den späten fünfziger Jahren in russischer und Mitte der sechziger Jahre in deutscher Sprache neu aufgelegt wurde.

    WYGOTSKI war seiner Zeit in den dreißiger Jahren so weit voraus, daß ein Zeitgenosse ihn als "einen Besucher aus der Zukunft" bezeichnete. In den letzten zwanzig Jahren aber ist sein Werk in zunehmenden Maße als theoretische Basis für eine Reihe wichtiger Untersuchungen über die Sprache und die geistigen Prozesse (und damit auch die Erziehung) von Kindern genutzt worden.

  2. LÈVY-BRUHL schildert ähnliche Beobachtungen bei den Tasmaniern, die "kein Wort zu Darstellung abstrakter Ideen besaßen ... (Sie) konnten auch nicht Eigenschaften abstrakt ausdrücken: hart, süß, warm, kalt, lang, kurz, rund etc. Für  hart sagten sie:  wie ein Stein, für  hoch:  große Beine, für  rund:  wie ein Ball, wie der Mond, und so fort, indem sie gewöhnlich die Gebärde mit der Rede verbanden und durch ein augenfälliges Zeichen das, was sie verstehen lassen wollten, bekräftigten". Man fühlt sich unwillkürlich daran erinnert, wie MASSIEU Sprache lernte - wie er sagte: "Albert ist Vogel", "Paul ist Löwe", bevor er sich den Gebrauch generischer Adjektive aneignete beziehungsweise sich ihnen zuwandte.