p-4R. WeinmannW. DiltheyG. K. UphuesH. EbbinghausB. Erdmann    
 
JOHANNES VOLKELT
Psychologische Streitfragen
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"Was heißt es vom Standpunkt des Bewußtseins: von einer Wahrnehmung A ist in mir das Erinnerungsbild a vorhanden? Als bewußter Vorgang betrachtet, bedeutet die Reproduktion von A - abgesehen von der Absicht und Willkür, die in vielen Fällen dem Reproduzieren vorangeht - lediglich folgendes: Es tritt eine Vorstellung a in meinem Bewußtsein auf, der die Gewißheit anhaftet, daß ich mit ihr den Inhalt eines früher in mir vorhanden gewesenen Bewußtesinsvorgangs A (z. B. einer Wahrnehmung) meine und bezeichnet; oder mit anderen Worten: die Gewißheit, daß a sich als Abbild zu A als dem Ursprünglichen verhält. Der Inhalt a will nichts für sich sein, sondern lediglich die Stelle von A vertreten, A bedeuten. Auf diese Gewißheit der Abbildlichkeit, diesen Glauben der Stellvertretung kommt es an; hierin allein liegt das Eigenartige der Reproduktion als bewußten Aktes."


II. Die Einheit des Bewußtseins
als Erfahrungstatsachef

[Fortsetzung]

8. Wesentlich verschieden von der Einheit des Bewußtseins in Bezug auf die koexistierenden Inhalte ist seine Einheit im Verhältnis zu den sukzedierenden Inhalten. In der Regel allerdings ist nur von dieser letzteren die Rede; jene dagegen, wiewohl in ihr eine merkwürdige Eigenschaft des Bewußtseins zutage tritt, wird meistens vernachlässigt (17).

Diese zweite Bewußtseinseinheit läßt sich zunächst so beschreiben, daß unser Bewußtsein sich in jedem beliebigen Zeitpunkt als dasselbe eine und gleiche Bewußtsein spürt und weiß, als welches es sich in allen früheren Zeitpunkten, soweit die Erinnerung nach rückwärts reicht, spürte und wußte. Ich will diese Einheit kurz als Einheit in der Bewußtseinssukzession bezeichnen und ihr die vorhin erörterte als Einheit in der Bewußtseinskoexistenz - ich finde keinen besseren Ausdruck - gegenüberstellen. Auch bei dieser zweiten Einheit - es braucht dies kaum hinzugefügt zu werden - ist die Dieselbigkeit nicht in einem generellen, sondern in einem numerischen Sinn zu verstehen. Zunächst nun scheint die Einheit in der Bewußtseinssukzession etwas höchst Einfaches und Durchsichtiges zu sein; die Analyse derselben wird jedoch zeigen, daß wir es dabei mit einem ziemlich verwickelten Produkt zu tun haben.

Die enge Beziehung dieser Einheit des Bewußtseins zur Erinnerung fällt in die Augen. Wir wissen uns unmittelbar nur soweit nach rückwärts als identisches Ich, als unsere Erinnerung reicht; die zeitlichen Grenzen, die dem Rückswärtsgreifen unserer Erinnerung gezogen sind, bilden zugleich die Grenzen unseres identischen Bewußtseins. Wenn wir sagen, daß wir auch in den psychischen Vorgängen, die jenseits dieser Grenzen liegen, also während der ersten Jahre unseres Lebens, dasselbe Ich gewesen sind, das wir jetzt sind, so wird hierdurch nicht mehr eine Bewußtseinstatsache ausgedrükt, sondern es ist hierin ein Schluß auf eine dem gesamten Verlauf unserer Bewußtseinsvorgänge von der Geburt an zugrunde liegende unbewußte Einheit enthalten. Darum liegt es nahe, zunächst nach dem Verhältnis der Einheit des Bewußtseins zur Erinnerung zu fragen.

Es scheint nun die Meinung viel für sich zu haben, daß die in der Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] zutage tretende Bewußtseinseinheit nichts anderes ist als ein zusammengesetztes Produkt der Erinnerung. Man findet diese Ansicht häufig ausgesprochen. So sagt LAAS vom Bewußtsein, daß es "nur an lockeren Fäden der Erinnerung und Verschmelzung seine eigene Identität fortsetzt." (18) Auch der dänische Psychologe HARALD HÖFFDING führt die Einheit des Bewußtseins auf die Erinnerung zurück. Im Wiedererkennen, das im Akt der Erinnerung liegt, findet er eine so innige und einzig dastehende Einheit verwirklicht, daß er es für möglich hält, in ihr das einheitliche Ich selber wurzeln zu lassen. (19) Er glaubt hierdurch der HUME'schen Verflüchtigung des Ich wirksam entgegentreten und der Einheit des Ich einen festen Halt geben zu können.

In der Tat, wenn ich frage, woher es kommt, daß mein jetziges Ich sich als identisch mit dem Ich weiß, das ich eben vorher oder gestern oder vor einem Jahr gewesen bin, so bietet sich zunächst die Antwort dar, daß ich mich eben an Wahrnehmungen, Vorstellungen usw. erinnere, die ich unmittelbar vorher oder gestern oder vor einem Jahr gehabt habe. Scheint doch in jedem Erinnerungsakt der unmittelbare Miterfolg enthalten zu sein, daß ich dabei der Identität meines Ich inne werde! Da nun in jedem Zeitpunkt meines Bewußtseins Reproduktionen früherer Bewußtseinsvorgänge vorzukommen scheinen, so liegt nichts näher, als die Identität meines Bewußtseins als das unmittelbare Produkt meiner so gut wie ununterbrochen stattfindenden Erinnerungen anzusehen. Es würde dann, im Gegensatz zu jener ersteren Bewußtseinseinheit, die sich uns als eine besondere ursprüngeliche Eigenschaft des Bewußtseins erwiesen hat, die Bewußtseinseinheit der zweiten Art ein lediglich abgeleitetes und zusammengesetztes Erzeugnis aus anderen elementareren Vorgängen sein. Doch wird bei näherer Betrachtung dieser Anschein verschwinden. Es wird sich dann dieser schein sekundäre Charakter sozusagen verdichten und gleichfalls eine gewisse ursprüngliche Einheit des Bewußtseins als seinen zunächst verborgen gewesenen Mittelpunkt erkennen lassen.

9. Um die aufgeworfene Frage zu entscheiden, frage ich zunächst nach der Eigentümlichkeit des Reproduktionsakte, soweit sich derselbe im Bewußtsein abspielt. Was heißt es vom Standpunkt des Bewußtseins: von einer Wahrnehmung A ist in mir das Erinnerungsbild a vorhanden? Ich brauche kein Wort darüber zu verlieren, daß wir weder das Verschwinden des A aus dem Bewußtsein, noch etwas von dem unbewußten Vorgang α, in welchem sich A fortsetzt, noch endlich auch den Akt des Übergangs dieses unbewußten α in die Vorstellung a erfahren. Als bewußter Vorgang betrachtet, bedeutet die Reproduktion von A - abgesehen von der Absicht und Willkür, die in vielen Fällen dem Reproduzieren vorangeht - lediglich folgendes: Es tritt eine Vorstellung a in meinem Bewußtsein auf, der die Gewißheit anhaftet, daß ich mit ihr den Inhalt eines früher in mir vorhanden gewesenen Bewußtesinsvorgangs A (z. B. einer Wahrnehmung) meine und bezeichnet; oder mit anderen Worten: die Gewißheit, daß a sich als Abbild zu A als dem Ursprünglichen verhält. Der Inhalt a will nichts für sich sein, sondern lediglich die Stelle von A vertreten, A bedeuten. Auf diese Gewißheit der Abbildlichkeit, diesen Glauben der Stellvertretung kommt es an; hierin allein liegt das Eigenartige der Reproduktion als bewußten Aktes. So richtig es auch ist, daß vorher die abbildliche Vorstellung a aus dem unbewußten Zustand α entsprungen sein muß, so ist dies doch ein hinzupostulierter unbewußter Vorgang, und es kann also hierin nicht das Eigenartige der Reproduktion als Bewußtseinsvorgangs liegen. Einzig jene Gewißheit des Abbildlichen ist es, wodurch sich der Reproduktionsvorgang von allen übrigen Bewußtseinsakten unterscheidet.

Diese Gewißheit nun ist zugleich eine nicht weiter analysierbare und ableitbare Bewußtseinsleistung; sie ist eine elementare Bewußtseinsfunktion. Sie kann nicht etwa als Erzeugnis der beziehenden (vergleichenden, unterscheidenden) Tätigkeit aufgefaßt werden. Denn ein Beziehen findet nur zwischen Inhalten statt, die im Bewußtsein bereits gegeben sind. Ist dagegen einer der Inhalte - hier der ursprüngliche, der Vergangenheit angehörige Wahrnehmungsinhalt A - im Bewußtsein überhaupt, noch nicht vorhanden, so wird es ungereimt, diesen Inhalt (A) mittels der beziehenden Bewußtseinstätigkeit zu einem Bewußtseinsinhalt (a) in Beziehung treten zu lassen. Aber auch sonst ist es ganz vergeblich, jene Gewißheit der Abbildlichkeit auf etwas Einfacheres im Bewußtsein zurückführen zu wollen. Es liegt in ihr also eine elementare, qualitativ einfache Leistung des Bewußtseins vor.

Ähnlich verhält es sich mit der sinnlichen Wahrnehmung. Die Analyse derselben führt auf ein Element, das sich als Gegebensein eines Inhalts mit der unmittelbaren Gewißheit, daß dieser Inhalt ein Stück Außenwelt selber ist, bezeichnen läßt. Und es ist diese unmittelbare Gewißheit der Außenwelt, dieses Offenbarsein derselben das einzige Eigenartige, wodurch sich die sinnliche Wahrnehmung von allen übrigen Bewußtseinsakten unterscheidet. Vielleicht kann man diesen Faktor in der Wahrnehmung speziell als "Empfindung" bezeichnen. In einem entsprechenden Gegensatz hierzu ist in der Erinnerung ein Inhalt gegeben, der von der unmittelbaren Gewißheit begleitet ist, daß er einen vergangenen Bewußtseinsinhalt bedeutet. Und beide Arten unmittelbarer Gewißheit sind innerhalb des Bewußtseins elementare, nicht weiter ableitbare oder auseinander zu legende Funktionen. - Natürlich ist hierdurch in keiner Weise der Entscheidung der Frage vorgegriffen, welcher unbewußte (sei es physiologische, sei es unbewußt-psychische) Entstehungsprozeß jenen beiden Arten der Gewißheit.

10. Nachdem wir das Eigentümliche der Erinnerung kennen gelernt haben, wird sich die Frage besser beantworten lassen, ob die Einheit in der Bewußtseinssukzesseion nichts als ein Ergebnis der jeweiligen Erinnerungen ist. Es läßt sich nicht leugnen, daß durch jeden Erinnerungsakt eine gewisse Einheit im Gang des Bewußtseins gestiftet wird. In jedem Erinnerungsakt geschieht das Merkwürdige, daß ein vergangenes Stück des Ich durch einen gegenwärtigen Vorgang gemeint und wiedergegeben wird, daß die Gegenwart einen Teil der Vergangenheit bedeutet. Im Akt der Erinnerung werden also die verschiedenen reproduzierten Inhalte in eine ideelle Einheit mit bald kürzer, bald länger vergangenen Akten desselben Bewußtseins gesetzt. Diese Einheit mag die Erinnerungseinheit heißen. Jetzt kann ich auch sagen: die Erinnerung charakterisiert sich durch die Gewißheit der ideellen Einheit des abbildlichen und gegenwärtigen Inhalts mit dem ursprünglichen und vergangenen. (20)

Und noch mehr muß zugestanden werden. Indem der gegenwärtige (reproduzierte) Inhalt einen vergangenen bedeutet, fehlt niemals ein gewisser begleitender Vorgang. Ich weiß mich nämlich im Augenblick der Reproduktion als dasselbe Ich, das ich in jenem Zeitpunkt der Vergangenheit war, in welchem ich den ursprünglichen Bewußtseinsinhalt hatte. So führt jeder Erinnerungsakt als tatsächlich nie fehlender Begleitvorgang die vorhin beschriebene Einheit des Bewußtseins mit sich, wenn auch immer nur mit Rücksicht auf denjenigen Zeitpunkt der Vergangenheit, auf den die reproduzierte Vorstellung hinweist. Es kommt also im Erinnerungsakt zu jener spezifischen "Erinnerungseinheit" noch die Einheit in der Bewußtseinssukzession als solcher hinzu.

Durch den zuletzt hervorgehobenen Umstand nun scheint es ganz besonders wahrscheinlich zu werden, daß die Einheit in der Bewußtseinssukzession nichts anderes ist als ein Ergebnis der verschiedenen Erinnerungsakte. Wenn doch jene Einheit in allen Erinnerungsakten mitenthalten ist, liegt darin nicht ein deutlicher Fingerzeig, daß dieselbe wohl aus der so verwandten "Erinnerungseinheit" entstanden sein wird? Und bedenkt man außerdem noch die ununterbrochene Aufeinanderfolge der Erinnerungsakte, so scheint jeder Zweifel zu verschwinden.

Da ist nun zunächst darauf hinzuweisen, daß die Einheit in der Bewußtseinssukzession laut des Zeugnisses der Innenerfahrung nichts von jenem zerstückelten und abgerissenen Charakter an sich trägt, den sie notwendig haben müßte, wenn sie lediglich eine Zusammensetzung aus Erinnerungsakten wäre. Die Erinnerung ist erstens ein besonderer Vorgang, neben dem es noch mannigfache andere Akte des Bewußtseins gibt. Jene Einheit des Bewußtseins dagegen begleitet sämtliche Akte desselben, nicht etwa bloß die reproduzierten Inhalte, ja sie trägt überhaupt nichts von der Differenzierung des Bewußtseins in besondere Betätigungsweise an sich, sie betriff die reine Bewußtseinsform als solche. Und zweitens kennzeichnen sich die meisten Erinnerungsakte durch einen scharf begrenzten, ja oft plötzlichen Anfang, auf den in der Regel sehr bald ein völliges Verschwinden des erinnerten Inhalts aus dem Bewußtsein folgt. Auch hiervon zeigt die Einheit im Wechseln des Bewußtseins das Gegenteil. Sie stellt sich als eine unterbrechungslose Begleitung unseres Bewußtseins, als eine kontinuierlich Erstreckung dar. Auch die ununterbrochene Folge der Erinnerungsakte hilft hier nichts. Denn genauer gesprochen kann damit doch nur gemeint sein, daß zu keiner Zeit die Erinnerung gänzlich im Bewußtsein fehlt, daß also der folgende Erinnerungsakt immer schon eintritt, ehe noch der vorangehende aus dem Bewußtsein geschwunden ist. Wäre daher Erinnerung in unserem Bewußtsein unaufhörlich vorhanden, so wäre damit doch das Vereinzelte, Diskontinuierliche der Erinnerungsakte nicht im mindesten aufgehoben. Die Einheit des Bewußtseins müßte sich demnach, wenn sie nichts als ein Produkt der Erinnerungsakte wäre, auch in diesem Fall als Aggregat, als Summe vereinzelter, diskreter Einheitsgefühle darstellen. Es bliebe also nach wie vor der kontinuierliche, sozusagen glatte Verlauf der Bewußtseinseinheit unbegreiflich.

11. Doch auch direkt läßt es sich aufweisen, daß die Einheit in der Bewußtseinssukzession noch etwas anderes ist als ein bloßes Erinnerungsprodukt. Die Selbstbeobachtung lehrt nämlich unwidersprechlich, daß ich der Einheit meines Ich in allem Wechsel desselben auch abgesehen von aller besonderen Erinnerung und in einer von aller Erinnerung spezifisch unterschiedenen Weise gewiß bin.

Mein Bewußtsein spürt sich in jedem Zeitpunkt unmittelbar als den vorangehenden Zeitpunkt fortsetzend und eben in diesem Fortsetzen doch als ein und dasselbe. Kein Zeitpunkt, den ich erlebe, stellt sich mir dar als ausgefüllt von einem anderen Bewußtsein, als dasjenige war, das den vorangegangenen Augenblick ausfüllte. Vielmehr spüre und fühle ich mich als in der Zeit fließend, als kontinuierlich verlaufend. Und indem ich mich so spüre, weiß ich mich in jeder folgenden kleinsten Zeitstrecke als denselben, der ich soeben war. Ich spüre mein Bewußtsein als herkommend aus dem eben vergehenden Zeitteil oder - umgekehrt betrachtet - als werdend zum gegenwärtigen Augenblick. Wenn ich mich nicht sehr täusche, so liegt das Eigenartige und Primäre der Einheit des wechselnden Ich in diesem Kontinuitätsgefühl.

Habe ich hiermit Recht, so wird man in doppelter Bedeutung von der Einheit in der Bewußtseinssukzession reden können. Erstens nämlich wird damit dieses Kontinuitätsgefühl als solches bezeichnet sein. Dies ist die elementare Einheit im Bewußtseinswechsel. Zweitens aber wird man auch von einer konkreten Einheit im Bewußtseinswechsel reden dürfen. Darunter wird diejenige Einheit zu verstehen sein, die sich mit Hilfe der mannigfaltigen Erinnerungsakte auf dem Kontinuitätsgefühl aufbaut; also diejenige Einheit, welche durch das Zusammenwirken von Erinnerungseinheit und Kontinuitätsgefühl entsteht. Dies ist die wirkliche, lebendige Einheit des Bewußtseins, wie wir sie stetig im Wechsel desselben spüren; jene erstere Einheit ist nur ein Element darin.

Das Kontinuitätsgefühl ist eine besondere Weise, wie das Bewußtsein sich zum Zeitverfluß verhält. Es wäre irrig, mit dem zeitlichen Verfluß des Bewußtseins als solchem schon jenes Kontinuitätsgefühl als mitgesetzt anzusehen. Man kann sich in abstracto den Fall vorstellen, daß das Bewußtsein zwar in der Zeit verläuft, aber von Zeitteil zu Zeitteil ununterbrochen ein anderes wird. Wäre das Bewußtsein so eingerichtet, dann käme es nie dazu, die Begriffe "ich", "mein" und dgl. zu gebrauchen; und überhaupt wäre dann eine in ihren Folgen unübersehbare Umstürzung unseres geistigen Lebens herbeigeführt. Durch den Zeitverfluß als solchen wäre eine stetige Selbstverwandlung des Bewußtseins nicht ausgeschlossen; oder positiv ausgedrückt: durch den Zeitverfluß als solchen ist noch nicht notwendig gegeben, daß sich das Bewußtsein auch nur durch die kürzeste Zeit als dasselbe festhält. Soll also jenes Kontinuitätsgefühl zustandekommen, so muß zum zeitlichen Verlauf des Bewußtseins ein Weiteres hinzutreten, nämlich daß sich das Bewußtsein von Zeitpunkt zu Zeitpunkt als dasselbe spürt. Mit anderen Worten: das Kontinuitätsgefühl ist etwas prinzipiell Neues, was zum Zeitverfluß des Bewußtseins als zu seiner Voraussetzung noch hinzukommt (21).

So hat sich uns jetzt wieder eine ursprüngliche und eine einfache Eigenschaft des Bewußtseins aufgedeckt. Der Durchdringlichkeit steht das Kontinuitätsgefühl zur Seite; auf jene führte uns die Betrachtung der Einheit in der Bewußtseinskoexistenz, auf diese die Betrachtung der Einheit in der Bewußtseinssukzession; jene ist die genauere Bezeichnung der ersteren Einheit selber, in dieser liegt das Eigenartige der zweiten Einheit. Beide aber sind unableitbare, unzerlegbare Eigenschaften des Bewußtseins.

Auch in Bezug auf das Kontinuitätsgefühl ist diese elementare Natur einfach eine unmittelbare Bewußtseinstatsache. Es ist eben im Bewußtsein nichts aufzufinden, woraus dasselbe entsteht oder sich zusammensetzt. Die Gesamttatsache freilich, die jedermann im Wechsel seines Bewußtseins als Einheit erfährt, ist zusammengesetzter Natur. Sie besteht eben aus verschiedenen besonderen Erinnerungsakten und jenem Kontinuitätsgefühl. Dieses ist der gleichbleibende Untergrund, jenes der bestimmtere, vielgestaltige Ausbau.

12. Zur größeren Klarlegung der hier in Frage kommenden Verhältnisse kann es dienen, wenn ich die Abhängigkeit, in der die Erinnerungsakte von einem Kontinuitätsgefühl stehen, noch schärfer bezeichne. Der Erinnerung liegt - so haben wir gesehen - als spezifische und elementare Bewußtseinsfunktion die Gewißheit der Abbildlichkeit eines Inhaltes zugrunde. Eben diese Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück kann offenbar nur geschlagen werden, wenn sich das Bewußtsein im Zeitverfluß von Augenblick zu Augenblick als dasselbe erhält. Stelle ich mir vor: es wollte ein Gott einem Bewußtsein, das auch seiner Bewußtseinsform nach von Zeitteil zu Zeitteil ins Anderssein sozusagen mitgerissen würde, die Gabe der Erinnerung verleihen, so müßte er, um für die Verleihung dieser Gabe den Boden zu schaffen, zunächst dem Bewußtsein die Fähigkeit geben, sich im Anderswerden der Zeit in Identität mit sich zu spüren. Ohne diese Grundlage würde eben einfach nichts da sein, worauf sich das Bewußtsein in Form der Erinnerung beziehen könnte. Sollen in besonderen Erinnerungsakten bestimmte gegenwärtige Inhalt als Stellvertreter vergangener Inhalte dienen, so muß das Bewußtsein als Ganzes und überhaupt sich im Zeitverfluß als dasselbe Bewußtsein fortsetzen. So ist also das Kontinuitätsgefühl die Grundlage, auf der allererst die Erinnerung mit ihrer Gewißheit der Abbildlichkeit zustandekommen kann (22).

Steht denn nun aber hiermit nicht die Tatsache in Widerspruch, daß wir uns auch nach den Zuständen des Schlafs und sonstiger Bewußtlosigkeit als dieselben wissen, die wir vorher gewesen sind? Hier leidet doch offenbar das Kontinuitätsgefühl eine Unterbrechung, und doch wird die Einheit des Bewußtseins nicht gestört. Man darf also jenes Gefühl doch wohl nicht als Grundlage und Bedingung dieser Einheit bezeichnen!

Trotz seiner Scheinbarkeit ist dieser Einwand doch auf ein Überleben gegründet. Das Kontinuitätsgefühl wurde ja von vornherein dahin bestimmt, daß es den zeitlichen Verlauf des Bewußtseins begleitet, diesen also zu seiner Voraussetzung hat. Es wurde davon von vornherein das Kontinuitätsgefühl natürliche nur insofern als das Eigenartige und Grundlegende der konkreten Bewußtseinseinheit bezeichnet, als das Bewußtsein überhaupt in der Zeit verläuft und so überhaupt erst da ist. Solange das Bewußtsein überhaupt fehlt, kann natürlich auch das Kontinuitätsgefühl nicht vorhanden sein. Jene Zustände der Bewußtlosigkeit sind daher zwar eine Unterbrechung des Kontinuitätsgefühls, aber sie sind dies nicht in einem Sinn, der den vorigen Behauptungen zuwiderläuft.

Dies würde nur dann der Fall sein, wenn bei vorhandenem Bewußtsein das Kontinuitätsgefühl fehlen würde und doch die auf einer Erinnerung beruhende Bewußtseinseinheit fortbesteht. Gerade das Erwachen aus den Zuständen der Bewußtlosigkeit zeigt nun aber im Gegenteil auf das Deutlichste, daß das Kontinuitätsgefühl, trotz der tatsächlichen Unterbrechung, doch in dem Augenblick wieder vorhanden ist, wo die Erinnerung die Einheit des Bewußtseins herstellt.

Ist dies aber der Fall, so liegt darin auch das Weitere, daß sogar im Augenblick des Erwachens das Kontinuitätsgefühl die Unterlage des Erinnerungsaktes bildet. Denn wenn ich mich unmittelbar nach dem Erwachen an das vor demselben Gefühlte, Gedachte, Getane zurückerinnere, so ist dieses Erinnern ja doch nur dadurch möglich, daß die zu diesem Akt gehörige Bewußtseinsform sich als identisch mit dem früheren Bewußtsein spürt; also unter der Voraussetzung des Kontinuitätsgefühls. Sonst würde ja der Erinnerungsakt überhaupt nicht mir zu Bewußtsein kommen: er würde sonst für mich völlig verloren sein und daher natürlich auch die ideelle Brücke nach den der Bewußtlosigkeit vorangehenden Zuständen meines Ich nicht schlagen können.

So ist also beim Erwachen das Kontinuitätsgefühl nicht nur sofort vorhanden, sobald die Erinnerung an Vorangegangenes entsteht, sondern es bildet auch die Unterlage der wiederanknüpfenden Erinnerung. Das Kontinuitätsgefühl setzt, trotz der tatsächlichen Pause, in der es fehlte, das vor der Bewußtlosigkeit vorhanden gewesene Bewußtsein nicht erst durch eine Vermittlung der Erinnerung, sondern von sich aus weiter fort. Für das nicht reflektierende Bewußtsein hat daher überhaupt keine Unterbrechung der Kontinuitätsgefühls stattgefunden. Erst die vergleichende und folgernde Tätigkeit sagt uns, daß unser Bewußtsein eine Zeit lang verschwunden war. Begreiflicherweise werden sich an diese Fähigkeit des Kontinuitätsgefühls, sich über die Zeitstrecken, in denen es nicht vorhanden war, gleichsam hinüberzuschwingen und sich dann unmittelbar fortzusetzen, mancherlei Erwägungen und Folgerungen knüpfen lassen; hier genügt es, die Tatsache konstatiert zu haben.

Sagte ich früher (Punk 7) in Bezug auf die Koexistenz der Bewußtseinsinhalte, daß das Bewußtsein im strengsten Sinn eine Einheit in der Vielheit ist, so darf ich jetzt hinzufügen: das Bewußtsein ist - soweit die Erinnerung reicht - im strengsten Sinn eine Einheit im Anderswerden der Zeit. Wir brauchen, um auf einen von der Vergänglichkeit der Zeit schlechthin unberührten Faktor zu stoßen, nicht in weitentlegene, vornehme Höhen zu steigen; sondern der alltägliche Verlauf unseres Bewußtseins läßt uns jederzeit einen solchen Faktor erleben. Das Bewußtsein verläuft zwar in der Zeit, doch es erhält sich mitten im Zeitverfluß aus von der Flüchtigkeit der Zeit unberührt. Sowohl das Kontinuitätsgefühl, als auch die Erinnerungseinheit enthalten tatsächlich diese in der Zeit vorhandene Überzeitlichkeit unseres Bewußtseins. Indem wir zeitlich verfließen, überwinden wir zugleich die Vergänglichkeit. - Es leuchtet wohl ohne weiteres ein, wie wichtig die Erkenntnis dieser Tatsache für die Hypothesen über das metaphysische Wesen des Bewußtseins sein muß.

Ähnlich, wie von der Durchdringlichkeit (Punkt 7), ließe sich auch vom Kontinuitätsgefühl zeigen, daß hierin etwas zu den Eigenschaften der Körperwelt unvergleichlich Gegensätzliches vorliegt. In der Körperwelt wäre es etwas ganz Unerhörtes, daß im gegenwärtigen Zustand eines Dings die numerische Identität mit den vergangenen Zuständen zum Vorschein kommen sollte. Die weitere Ausführung dieses Gegensatzes überlasse ich dem Leser.

13. Ich hebe die tatsächliche Einheit unseres Bewußtseins darum so nachdrücklich hervor, weil auch heute noch die HUME'sche Ansicht von der Einheit des Ich als einem bloßen Phantasiegebilde ihre Vertreter hat. Und doch wäre, so scheint mir, seit HUME genügend Zeit verstrichen, um den Widerspruch einzusehen, in dem sich die Verzweiflung der Einheit des Ich unter die Einbildungen mit den unwidersprechlich vorliegenden Bewußtseinstatsachen befindet. Was bei HUME, in anbetracht der damaligen Lage der Philosophie, vorwiegend als origineller und kühner Fortschritt auf der Bahn der kritischen Reinigung der Vorstellungen erscheint, dies muß uns, wenn es in unserer Zeit immer und immer wiederholt wird, weit eher an einen Mangel vorurteilslosen Beobachtens und Forschens denken lassen. Und umso auffallender wird dieser Mangel, wenn jene Eskamotierung [zweifelhaftes Verschwinden - wp] der Einheit des Ich in Büchern vorkommt, deren Verfasser gerade auf die Exaktheit des Beobachtens einen besonderen Anspruch erhebt.

In neuester Zeit ist dieser Kampf gegen die Einheit des Bewußtseins besonders scharf und unerbittlich von dem Physiker ERNST MACH geführt worden (23). Wenn HUME die Einheit des Ich zu einer Erzeugnis der Einbildungskraft machte, so ist für MACH das Ich lediglich eine "ideelle denköknomische Einheit" oder - was auf dasselbe hinausläuft - eine "praktische Einheit für eine vorläufige orientierende Betrachtung". Sterbe ich, so hat mit meinem Ich keine reelle Einheit zu bestehen aufgefhört. Die Elemente der Empfindungen "bilden das Ich". Was man Ich nennt, ist nichts als ein unanalysierter Komplex von Empfindungen. Für wichtig hält MACH nur die Kontinuität des Ich. Diese aber besteht vor allem in der langsamen Änderung des Ich, wozu dann noch die sehr allmähliche Änderung unseres Leibes als weiterer Faktor hinzukommt.

Im Grunde läuft also MACHs Ansicht auf diejenige HUMEs hinaus. Denn was MACH als "ökonomische" Vorstellungen unseres Denkens, als "Gedankensymbole" und dgl. bezeichnet, dies sind im Grunde und mit richtigem Namen benannt nichts anderes als wahrheitslose Fiktionen, welche sich Menschen von theoretischem Interesse ausklügeln, um sich möglichst bequem und mühelos gewisse Erfahrungstatsachen zurechtzulegen (24). Und auch darin steht MACH auf demselben Boden wie HUME, daß er meint, eben der Gedankengang, der zum Eliminieren der körperlichen Außenwelt führt, nötige auch zur Streichung der realen Einheit des Ich. Es liegt hier eine sonderbare Verwechslung vor. Der transsubjektiven Körperwelt entspricht das transsubjektive, jenseits unseres Bewußtseins fallende Ich, das Ich als Ding-ansich. HUME und MACH beseitigen aber nicht nur diese substantielle Grundlage des Ich, sondern auch das Ich als Bewußtseinstatsache, die im Bewußtsein erfahrungsmäßig vorhandene Einheit. Wäre e auch richtig, daß, wie MACH meint, die vermeintliche Einheit "Körper" nur ein Notbehelf zu vorläufiger Orientierung ist, so würde dadurch die Einheit des Bewußtseins gänzlich unangefochten bleiben; einfach weil sie eine über alle Beweisbedürftigkeit erhabene Erfahrungstatsache ist. Wenn HÖFFDING von HUME in der genannten Beziehung sagt, daß man sich damit an der psychologischen Erfahrung versündigt (25), so gilt das Gleiche auch gegen MACH.

Bei anderen Philosophen tritt die Verneinung der Einheit des Ich nicht so konsequent und schneidig hervor. Hierher gehören HERBART, der schon oben (Punkt 7) erwähnt wurde; ebenso HERBERT SPENCER (26), der gleichfalls im Ich nichts findet, was über ein Aggregat von Gefühlen und Vorstellungen hinausgeht, und andere.

14. Von der tatsächlichen Einheit des Bewußtseins ist die erschlossene, hypothetische Einheit desselben auf das strengste zu unterscheiden. Wenn die erfahrungsmäßige Einheit des Bewußtseins festgestellt ist, so entsteht die weitere Frage, woher dieselbe stammt, woraus sie sich ergibt. Hierbei eröffnen sich drei Lösungsmöglichkeiten. Erstens könnte die empirische Bewußtseinseinheit als ein Ergebnis aus gewissen anatomischen und physiologischen Verhältnissen des Gehirns angesehen werden. Man könnte meinen, daß die durchgängige, vielseitige Verbindung der Hirnganglien und der Leitungsbahnen die Verknüpfung der psychischen Leistungen des Gehirns zur Einheit des Bewußtseins zur unmittelbaren Folge hat. Eine zweite Ansicht könnte dahin gehen, daß die Einheit des Bewußtseins allerdings etwas Sekundäres ist, jedoch nicht hinsichtlich des Gehirns, sondern nur im Vergleich zu den einzelnen psychischen Regungen. Nicht infolge der physiologischen Grundlage, sondern aus Ursachen, die in ihnen selbst liegen, geraten die psychischen Regungen in ein derartiges Wechselspiel, daß daraus die Einheit des Bewußtseins hervorgeht. Drittens könnte diese Einheit in beiderlei Hinsicht, sowohl gegenüber der physiologischen Grundlage, als auch gegenüber den einzelnen psychischen Regungen als ursprünglich und unabhängig angesehen werden. In diesem Fall müßte man annehmen, daß die Bewußtseinseinheit in einer unbewußten ideellen Einheit, in einer ideellen Kraft, deren Funktion eben das Einigen wäre, wurzelt. Die Bewußtseinseinheit wäre dann die unmittelbare Erscheinung einer ideellen Tätigkeit, die in nichts anderem besteht als darin, daß sie das koexistierende und sukzedierende psychische Viele auf sich bezieht und sich darin mit sich identisch erhält. Diese einigende Kraft und Tätigkeit wäre gleichsam der ideelle Ort, in dem alle psychischen Vorgänge entstehen.

Für welchen Lösungsversuch man sich nun auch entscheiden mag, keinesfalls wird hierdurch jene tatsächliche Bewußtseinseinheit irgendwie berührt. Weder darf man, wenn man einer der beiden ersten Beantwortungsweisen geneigt ist, jene Einheit herabzudrücken, noch auch, wenn man die dritte Lösung wählt, sie hinaufzuschrauben versuchen. Dagegen muß anerkannt werden, daß durch die genaue Feststellung jener tatsächlichen Einheit die Entscheidung über die Frage des Ursprungs derselben in nicht geringem Grad vorbereitet, ja - wie mir scheint - die Richtung, in der allein die Lösung liegen kann, deutlich gewesen ist. Nach meiner Überzeugung erscheint, wenn man jene tatsächliche Bewußtseinheit unbefangen würdigt, der dritte Lösungversuch als notwendig vorgezeichnet. Es liegt nun nicht im Plan dieser Untersuchung, diese Überzeugung genau auszuführen und zu begründen. Nur anhangsweise sei einiges zur Begründung derselben angedeutet.

15. Am wenigsten haltbar ist der erste Lösungsversuch. Hiernach würden die psychischen Vorgänge, die an den verschiedenen Stellen des Gehirns, in den Zentren der Sinnesnerven, der Sprachbildung usw. ausgelöst werden, durch die funktionellen Beziehungen, in welche jene Zentren zueinander treten, sich zu dem einen Ich verschmelzen. Es wird sonach hier für möglich gehalten, nicht nur daß psychische Vorgänge, die an getrennten Orten entstehen und zunächst vollkommen getrennt vorhanden sind, infolge der mechanischen Verbindung zwischen diesen Orten füreinander bewußt werden, sondern sogar daß sie in denselben ideellen Punkt gleichsam hineinfahren und die Getrenntheit zur unbedingten Einheit aufheben. Wer in psychologischen Dingen kritisch zu denken gewohnt ist, wird das Unheuerliche dieser Ansicht sofort einsehen. Denn mag auch die Wechselbeziehung und das Miterregtwerden der verschiedenen Hirnzentren noch so innig sein, so kann dies doch nur zu dem Erfolg führen, daß die gesonderten psychischen Herde aufeinander durch eine Vermittlung der mechanischen Leitungsbahnen einen gewissen Einfluß ausüben. Höchstens könnte es, falls das eine oder andere dieser Vorstellungszentren mit einem besonderen Grad von Scharfsinn und Findigkeit ausgestattet sein sollte, dahin kommen, daß sie von ihren psychischen Nachbarn Kunde gewinnen. Dagegen wäre es ohne jede Analogie mit physischen und psychischen Erfahrungstatsachen geurteilt, ja gänzlich ohne sinn, wenn man jene (immerhin denkbare) mittelbare gegenseitige Beeinflußung der räumlich getrennten, durch mechanische Wege verbundenen Vorstellungsherde in das Zusammengehen zu einer unbedingten Einheit verwandeln wollte. Wer dies tut, macht sich der groben Verwechslung von Beziehung und numerischer Einheit schuldig. Wo liegen denn in den räumlich-mechanischen Vorgängen - und nichts anderes sind ja jene Verbindungsbrücken - die Mittel und Kräfte, um aus einer Vielheit die Einheit herauszuzaubern? Was soll man aber gar dazu sagen, wenn PREYER diese räumlich getrennten psychischen Erregungen geradezu als verschiedene bewußte Ichs auffaßt? Mit viel Phantasie malt er sich aus, wie im Kind zunächst jedem der verschiedenen Sinneszentren ein besonderes Ich vorsteh, und weiter scheint es ihm die einfachste Sache von der Welt zu sein, daß mit der Zunahme der "interzentralen Verbindungsfasern" und der "Miterregungen funktionell verschiedener Hirnteile" die verschiedenen Ichs sich allmählich verschmelzen. Wäre selbst, was ich nicht glaube und PREYER auch nicht im entferntesten beweist, die Annahme der Existenz jener verschiedenen Ichs im Gehirn eine naheliegende und nützliche Hypothese, so würden diese Ichs doch ihr Lebenlang eben gesonderte Bewußtseinszentren bleiben. Wer ihre Verschmelzung für möglich hält, müßte es auch für möglich halten, daß zwei Atome - dieses Wort im strengsten Sinn genommen - zu einem Atom verschmelzen. Und ferner ist das einheitliche Ich nach PREYER gar eine bloße Abstraktion und jener Verschmelzungsprozeß ein Abstraktionsprozeß! Unser gegenwärtiger Bewußtseinszustand müßte sich uns daher, wenn PREYER recht hätte, als eine Vielheit von Ichs darstellen, über denen als dem eigentlich Realen das einheitliche Ich als schattenhafte Abstraktion schwebt! Man sieht, PREYER setzt sich mit seinen Behauptungen in einen immer auffallenderen Widerspruch zu den unmittelbar vorliegenden Bewußtseinstatsachen (27).

Auch die zweite Lösungsmöglichkeit dürfte kaum geeignet sein, uns in der Frage nach der Herkunft der Bewußtseinseinheit auf den richtigen Weg zu weisen. Hiernach wären es die einzelnen Vorstellungen, aus deren Wechselwirkung die Bewußtseinseinheit entspringen soll. Natürlich dürfte diesen Vorstellungen nicht selbst schon die Einheit des Ichbewußtseins versteckt und stillschweigend zugeschrieben werden. Diese soll ja eben erst aus einem (zumindest für den Standpunkt des Zentralbewußtseins) unbewußten Prozeß zwischen jenen Vorstellungen hervorgehen. Nun wäre es wohl möglich, daß diese isolierten Vorstellungen unter gewissen Umständen gegenseitig auf ihre Anordnung und Gestaltung Einfluß ausüben; es wäre am Ende vielleicht auch noch verständlich, daß sie voneinander Kenntnis erhalten, wie ich von meinen Nebenmenschen Kunde gewinne; dagegen hieße es ein Wunder annehmen, wenn man behaupten wollte, daß die Vorstellungen von sich aus ihr getrenntes, selbständiges Dasein in den absoluten Einheitspunkt des Bewußtseins zusammenfahren lassen. (28) Die hier angedeuteten Schwierigkeiten verschwinden auch dann nicht, wenn man mit HERBART das Wechselspiel der Vorstellungen in der einfachen Seelensubstanz begründet sein läßt. Denn dann ist eben durch die einfache Seele direkt nur soviel verursacht, daß die Vorstellungen aneinander gebunden und gezwängt werden; die Einheit des Bewußtseins ist auch dann ein sekundäres Produkt. Die Vorstellungen sind hier in Bezug auf das ihnen beiwohnende Innesein geradeso getrennt, als ob sie nicht durch die einfache Seele aneinandergespannt wären. Dazu kommt noch, daß die Seele bei HERBART ein unlebendiges, starres Ding ist; hierdurch wird es sozusagen noch unmöglicher, die Vorstellungen in die Einheit des Bewußtseins zusammenzupressen.

Wenn nach all dem die Einheit des Bewußtseins weder ein Produkt physiologischer Prozesse, noch einzelner psychischer Erregungen ist, so liegt darin unmittelbar zugleich das Positive, daß sie in beiderlei Hinsicht etwas Selbständiges und Ursprüngliches ist. Es fragt sich nur, ob wir, wie dies LOTZE tut (29), diese Ursprünglichkeit dem sich als identisch wissenden Bewußtsein als solchem zuerteilen oder vielmehr annehmen soll, daß das identische Bewußtsein nur in etwas nach beiderlei Hinsicht Ursprünglichem wurzelt, das also von einem identischen Bewußtsein selber, so unmittelbar es ihm auch zugrunde läge, dennoch verschieden wäre. In welcher von beiden Bedeutungen man nun auch die Ursprünglichkeit der Bewußtseinseinheit verstehen möge: jedenfalls gewinnt dieselbe erst dadurch einen richtigen Sinn, daß man in der Einheit des Bewußtseins den Ausdruck einer einigenden Tätigkeit und weiterhin einer einigenden Kraft erblickt. Ohne die Annahme einer einigenden Tätigkeit würde die Einheit des Bewußtseins eine bloße Zuständlichkeit bleiben. Eine Zuständlichkeit aber, die sich sozusagen selbst genügt und auf sich beruth, ist ein Widerspruch in sich. Und nicht weniger ist die Annahme einer einigenden Kraft, die sich in jener Tätigkeit zum Ausdruck bringt, gefordert. Denn ohne diese Annahme wären, nachdem sowohl die physiologischen Vorgänge, als auch die Einzelvorstellungen sich als untauglich zur Grundlage erwiesen haben, die sukzessiven Erscheinungen der Bewußtseinseinheit eine zufällige, wunderliche Aneinanderreihung. Erst die Zurückführung auf einen zugrunde liegenden Kraftmittelpunkt läßt jene in der Zeit auseinander gezogenen Äußerungen der Bewußtseinseinheit als zusammengehörig, als in sich kausal verbunden erscheinen.

Wenn uns nun die innere Erfahrung die Bewußtseinseinheit als Tätigkeit und Kraft erleben ließe, so könnte man mit LOTZE bei der Bewußtseinseinheit also solcher stehen bleiben und in ihr selber, also ohne Hinzufügung eines tieferen Halt- und Mittelpunktes, ein Ursprüngliches oder - wie LOTZE sagt - eine Substanz erblicken. Allein da dies offenbar nicht der Fall ist, die innere Erfahrung uns die Bewußtseinseinheit vielmehr als etwas bloß Zuständliches und als bloße Aneinanderreihung zeigt, so bleibt nichts anderes übrig, als die Bewußtseinseinheit in einer (zumindest für unser Bewußtsein) unbewußten ideellen Kraft und Tätigkeit des Einigens wurzeln zu lassen. Dagegen bin ich mit LOTZE darin völlig einverstanden, daß es überflüssig ist, die Bewußtseinseinheit auf ein "hartes und unzersprengbares Atom" oder ein einfaches reales Wesen, in dem Kraft und Tätigkeit allererst säße, zurückzuführen. Die "Seelensubstanz" ist nichts als Kraft und Tätigkeit.

Aus den Andeutungen dieser letzten Paragraphen, sowohl in ihrem negativen wie auch in ihrem positiven Teil, geht von selbst hervor, wie wichtig es für eine reinliche und vorsichtige Diskussion der Frage nach der dem Bewußtsein zugrunde liegenden hypothetischen Einheit ist, daß vorher die Bedeutung der tatsächlichen Bewußtseinseinheit mit aller Schärfe festgestellt wird.
LITERATUR: Johannes Volkelt, Psychologische Streitfragen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge, Bd. 92, Halle/Saale 1887
    Anmerkungen
    17) Scharf unterscheidet WILHELM VOLKMANN in seinem "Lehrbuch der Psychologie" zwischen beiden Arten von Bewußtseinseinheit (zweite Auflage, Bd. 1, Seite 58f).
    18) LAAS, Idealismus und Positivismus, Bd. III, Seite 54 (vgl. Seite 62)
    19) HARALD HÖFFDING, Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung (übersetzt von BENDIXEN), Leipzig 1887, Seite 168f.
    20) Nachträglich finde ich, daß sich HÖFFDING (a. a. O., Seite 58f) in ähnlicher Weise über die in der Erinnerung vorhandene "Einheit" äußert.
    21) Ist dieses Neue hinzugetreten, dann allererst spürt sich auch das Bewußtsein als zeitlich verlaufend. Jenes stetig sich verwandelnde, des Kontinuitätsgefühls entbehrende Bewußtsein, könnte, trotzdem es tatsächlich in der Zeit verläuft, doch nicht zum Gefühl seines zeitlichen Verlaufs kommen. Ein solches ist erst in und mit jenem Kontinuitätsgefühl gegeben. Das Innesein des zeitlichen Verlaufs ist also nicht, wie es zunächst scheinen könnte, die Voraussetzung des Kontinuitätsgefühls, vielmehr kommt jenes Zeitgefühl erst mit dem Kontinuitätsgefühl zustande. Man sieht, wie eng die Analyse der Bewußtseinseinheit mit der Frage nach der Zeitanschauung zusammenhängt.
    22) Wenn ich LIPPS recht verstehe, so stimmen wir insoweit überein, als auch er die Einheit des sukzessiven Ich in einem "ununterbrochenen Zusammenhang des Ichbewußtseins in den verschiedenen Momenten" bedingt sein läßt. Erst auf der Grundlage dieser Bedingung können sich die "Assoziationen" vollziehen, durch die sich die Einheit des Ich vollendet (Grundtatsachen des Seelenlebens, Bonn 1883, Seite 446f).
    23) ERNST MACH, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886 (vgl. besonders Seite 3f und 16f.
    24) Ich werde in einer ausführlichen Besprechung der MACH'schen Schrift zu zeigen versuchen, daß die scheinbar höchst kritische Zurückführung der logischen Notwendigkeit auf einen ökonomischen, kraftersparenden "Anpassungsprozeß" der Gedanken an die Erfahrungen in Wahrheit die Willkür und Zuchtlosigkeitkeit des Denkens zur Maxime erhebt.
    25) HÖFFDING, a. a. O., Seite 170
    26) HERBERT SPENCER, Die Prinzipien der Psychologie (übersetzt von VETTER) Bd. I, Seite 522f.
    27) WILHELM PREYER, Die Seele des Kindes, zweite Auflage, Leipzig 1884, Seite 402f.
    28) Man vergleiche hierzu die schlagenden Bemerkungen LOTZEs in der "Metaphysik", Seite 478f.
    29) LOTZE, a. a. O., Seite 480f.