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JOHANNES VOLKELT
Das Denken als Hilfvorstellung

"Was dem Positivisten sein Spaziergang darbietet, ist ein unheilbarer Wirrwarr, eine Sammlung kuriosester Überraschungen. Die Rationalisierung, die der gesunde Instinkt und die gewöhnliche Wissenschaft mit dieser wüsten Zufalls- und Wunderwelt vornehmen, ist eitel Vorurteil."

"Es ist schwer, sich angesichts des Schauspiels, das diese im Trugnetz der subjektivistisch überspannten Bewußtseinsidentität zappelnden Philosophen gewähren, des Spotts zu enthalten."

"Eine Armut an Problemen findet sich bis zu einem gewissen Grad selbst bei den bedeutendsten Vertretern des Positivismus. Auch Hume oder John Stuart Mill lassen uns an Punkten, wo wir erwarten, daß hier das Suchen und Bohren eigentlich erst anheben müsse, einfach stehen, als ob die Sache erledigt wäre."

1. Für die Philosophen der reinen Erfahrung liegt eine eigentümliche Schwierigkeit im Anspruch, den neben den Erfahrungstatsachen das Denken erhebt. So gering auch ihre Anforderungen an das Umarbeiten der Erfahrungstatsachen sein mögen, so wird eben doch auch von ihnen alles wissenschaftliche Verfahren in ein solches Umarbeiten gesetzt. Der Erfahrungsstoff soll gegliedert, geordnet, in gesetzmäßige Beziehungen gebracht werden. Hierzu aber bedarf man offenbar einer Tätigkeit, die etwas anderes ist als bloßes Aufweisen von Erfahrungstatsachen; Erfahrungen haben - das ist nicht zugleich schon jenes vielfache Umformen des Erfahrungsstoffes. Andererseits aber steht jenen Philosophen außer der Gewißheit der reinen Erfahrung eine andere Erkenntnisquelle nicht zu Gebote. Kommt doch ihre erkenntnistheoretische Grundformel, so verschiedene Gestalten sie auch annehmen mag, immer darauf hinaus, daß nur das als wissenschaftlich berechtigt gelten könne, was sich lediglich aus den Mitteln der Erfahrung und innerhalb der Erfahrung aufweisen lasse. Es besteht demnach in Bezug auf das Denken eine verlegenheitsvolle Lage: nach der einen Seite scheint es eine der Erfahrung übergeordnete Erkenntnisquelle zu sein, denn die Erfahrungen sollen durch das Denken geordnet, von den mannigfaltigsten Beziehungen durchsetzt und - man denke nur an die Physik - in durchgreifender Weise umgeformt werden; auf der anderen Seite dagegen soll es außer der Erfahrung überhaupt kein Erkenntnisprinzip geben können. Man darf daher gespannt sein, zu sehen, wie und mit welchem Erfolg sich die Philosophen der reinen Erfahrung aus dieser Verlegenheit gegenüber dem Denken zu befreien suchen.

2. Wenn man von der Erfahrung alles nicht wirklich Erfahrene streng fernhält, so ergibt sich eine durchweg unzusammenhängende Aufeinanderfolge von Erscheinungen. Ich erfahre lediglich meine Bewußtseinsvorgänge; sieht man nun von allen transsubjektiven Ursprüngen, Beziehungspunkten und Fortsetzungen derselben, von allen transsubjektiven Zwischenschaltungen und Unterbauungen durchgängig ab, so bilden sie ein Gewirre, dem alle kausale Ordnung, alle Gesetzmäßigkeit und Regelmäßigkeit fehlt, und das allenthalben ein herkunftsloses Entstehen und ein fortsetzungsloses Verschwinden, also Wunder auf Wunder zeigt.

Wenn ich z. B. über das, was auf einem Spaziergang an meinen Augen vorübergeht, im Sinn eines folgerichtigen Positivismus berichten will, so werde ich etwa folgendermaßen sprechen müssen. Während ich die Absicht des Spazierengehens ausführte, waren in meinem Bewußtsein der Reihe nach und teilweise zu gleicher Zeit die verschiedensten Wahrnehmungsinhalte bald kürzere, bald längere Zeit gegenwärtig. Bilder von Grashalmen, Sträuchern, Bäumen, Sandkörnern, Steinen und dgl. hielten sich in der Regel nur wenige Sekunden oder höchstens Minuten in meinem Blickfeld auf; etwas länger verweilten darin einige Bilder von Bergen, Kirchtürmen, Wolken, Menschen; doch war dieses Verweilen mehr oder weniger durch Pausen unterbrochen, in denen diese Inhalte in meinem Bewußtsein bis auf die letzte Spur abwesend waren; das war auch bei denjenigen Bildern der Fall, welche, wie die der Himmelsbläue, meiner eigenen Arme, Beine und dgl. zu den verschiedensten Zeiten des Spazierganges in meinem Bewußtsein anzutreffen waren. Wollte ich nun aber hinzufügen, daß diesem Bericht selbstverständlich die Voraussetzung zugrunde liege, daß den genannten Wahrnehmungsinhalten während, vor und nach der Zeit ihres Bestehens in mir zugleich etwas in einer außerhalb meines Bewußtseins vorhandenen Welt entsprochen habe und noch entspreche, so wäre dies eine gänzlich unwissenschaftliche Annahme. Für den Positivisten gibt es  keine den verschiedenen Subjekten gemeinsame Natur.  Ein mir begegnender Freund hat mit mir über den schönen Sonnenuntergang gesprochen; er meinte dieselbe Sonne, die auch ich wahrnahm; trotzdem sind dies zwei gänzlich zusammenhangslose Wahrnehmungsbilder; ein gemeinsames, einexemplariges Etwas, auf das sowohl mein Sonnenbild als auch das seinige gleichermaßen sich bezögen, gibt es nicht. Allein ich darf auch nicht einmal das Dasein eines Sonnenbildes im Bewußtsein meines Freundes behaupten; aus dem einfachen Grund, weil für mich, solange ich den Standpunkt der reinen Erfahrung innehabe, überhaupt  die Annahme vom Dasein anderer Subjekte unerlaubt ist.  Sind aber die transsubjektive Natur und die transsubjektiven Iche getilgt, so sind damit  auch den von mir unmittelbar erfahrenen Bewußtseinsvorgängen Ordnung und Gesetz genommen.  Was dem Positivisten sein Spaziergang darbietet, ist ein unheilbarer Wirrwarr, eine Sammlung kuriosester Überraschungen. Die Rationalisierung, die der gesunde Instinkt und die gewöhnliche Wissenschaft mit dieser wüsten Zufalls- und Wunderwelt vornehmen, ist eitel Vorurteil. So ist demnach der Positivismus unauflöslich - um es kurz zu sagen - mit dem Widersinn des Akosmismus, Solipsismus und Anomismus verknüpft.

Es läßt sich nun kaum der Fall denken, daß ein Positivst  alle  diese Folgerungen unverhüllt auf sich nähme. Würde er doch damit alle Wissenschaft und alles, was der Wissenschaft nur von fern ähnlich sieht, aufheben! Andererseits aber muß es im Laufe der geschichtlichen Entwicklung des Positivismus geschehen, daß seinen Vertretern ein immer größerer Teil jener Folgerungen als zutreffend erscheint. Dafür sorgen schon die Gegner, indem sie an den Positivisten den Mangel an Folgerichtigkeit hervorheben. In den übrigen Folgerungen aber, mit denen die Positivisten nicht einverstanden sind, werden sie doch naheliegende und gefahrdrohende Einwände erblicken. In dieser Lage nun entsteht für die Vertreter dieser Richtung eine doppelte Aufgabe: insofern sie jene Folgerungen anerkennen, müssen sie dieselben so wenden, daß sie den wissenschaftlichen Charakter ihres Standpunktes ungefährdet zu lassen scheinen; soweit sie jene aber als irrige Einwände betrachten, müssen sie die Grundlagen ihres Philosophierens so deuten und drehen, daß sie jenen Folgerungen, trotz ihrer offen daliegenden Unwidersprechlichkeit, doch entgehen zu können scheinen.

3. Ich habe nun nicht die Absicht, den aus dieser Lage entspringenden falschen Deutungen, Beschönigungen und Ausflüchten nachzugehen; einiges darüber findet sich in meinem Buch "Erfahrung und Denken", Seite 106 - 127. Ich möchte hier nur einen merkwürdigen Ausweg betrachten, den ich gerade in verschiedenen positivistischen Schriften der neuesten Zeit öfters gefunden habe. Dieser Ausweg besteht in folgendem.

Es wird anerkannt, daß man, um sich die Erfahrungstatsachen kausal zurechtzulegen, notwendig Vorstellungen bilden müsse, deren Inhalt unter den Erfahrungstatsachen nicht anzutreffen sei, also Vorstellungen von  transsubjektivem  Inhalt. Allein es wird diesen Vorstellungen der Sinn gegeben, daß ihr Inhalt, obgleich mit ihm ein Transsubjektives gemeint und gefordert ist, doch nur in der Form  subjektiver  Gedanken vorhanden sei. Sämtliche Vorstellungen mit unerfahrbarem Inhalt sollen bloße  Hilfsvorstellungen,  bloße subjektive Zurechtlegungen, bloß vorstellungsmäßige Gedankengebilde sein. Trotzdem aber werden diese Ergänzungsvorstellungen mit dem Anspruch aufgestellt, daß durch sie jene ungeordneten Erfahrungstatsachen, um deretwillen sie eben hinzugedacht wurden, in befriedigender Weise in kausale Beziehung gesetzt und in wissenschaftliche Ordnung gebracht werden. Es sind demnach im Grunde Einbildungen, Erdichtungen von transsubjektivem Inhalt, wodruch in zusammenhanglose, verworrene Erfahrungstatsachen Zusammenhang und Ordnung kommen soll.

So gewinnt also hier das Denken die Bedeutung eines Werkzeuges für zweckmäßige Erdichtungen. Durch diese Annahme scheint das Denken eine Aufgabe erhalten zu haben, die auch der Positivismus anerkennen kann. Darf sich doch nun das Denken allen möglichen Gedankeninhalt, der von den Wissenschaften in einem transsubjektiven Sinn gemeint ist, aneignen, ohne daß damit die reine Erfahrungsphilosophie ihre Befugnisse zu überschreiten scheint! Denn alle jene auf eine transsubjektive Welt hinausweisenden Gedankeninhalte sollen ja lediglich in einem intersubjektiven Sinn, d. h. als bloße Vorkommnisse in den von Fall zu Fall erzeugten Gedankenverknüpfungen verstanden werden. Ich muß gestehen, daß mir selten ein Ausweg, der in einer bedrängnisvollen wissenschaftlichen Lage ergriffen wurde, so gänzlich seinen Zweck zu verfehlen und so stark mit aller Logik in Widerstreit zu stehen scheint, wie jene Hypothese von der die Erfahrung ordnenden Kraft der Gedankengespinste. Dies soll in folgendem bewiesen werden.

4. In einer nicht häufig vorkommenden Allgemeinheit und Ausdrücklichkeit wird der bezeichnete Ausweg von MARTIN KEIBEL ergriffen. In seinem Schriftchen über "Wert und Ursprung der philosophischen Transzendenz" (Berlin 1886) prüft er die Beweise vom transsubjektiven Dasein. Dabei hat nun seine Stellung eine doppelte Seite. Einmal erkennt er die Notwendigkeit an, die zerrissenen Wahrnehmungsreihen durch die Annahme transsubjektiver Zustände und Vorgänge zu ergänzen. Seite 23f stimmt er dem Satz zu, daß in die Tatsachen der unmittelbaren Erfahrungen Gesetzmäßigkeit und Zusammenhang nur dadurch komme, daß sie in eine transsubjektive Wirklichkeit eingeordnet werden. Ähnlich wird Seite 26 zugestanden, daß die äußeren und inneren Erfahrungsvorgänge der kausalen Ergänzung durch "Wahrnehmungsmöglichkeiten" bedürfen, die über den jeweiligen Umkreis der unmittelbaren Erfahrung hinausgreifen. Und weiterhin (Seite 67) wird hervorgehoben, daß die Veränderungen an den wahrgenommenen Bildern fremder Leiber durch die Annahme entsprechender fremder Geister kausal ergänzt werden müssen.

Auf der anderen Seite aber fügt er diesen Annahmen jedesmal die Einschränkung hinzu, daß der in ihnen ausgesprochene transsubjektive Inhalt nicht etwa als transsubjektives Dasein vorkomme, sondern daß es sich überall nur um  vorgestellte  Ergänzungen, um "notwendige Hilfsvorstellungen" (Seite 68) handle. Auch das fremde Ich ist eine notwendige Hilfsvorstellung, gleich den Atomen und den unbewußten Vorgängen. (Seite 68)

Diese angehängten Einschränkungen wirken - gelinde gesagt - überraschend. Rauben sie doch jenen Annahmen, die zum Zweck einer kausalen Ergänzung der regellosen Wahrnehmungsreihen gemacht wurden, durchaus die Möglichkeit, diesen ihren Zweck zu erfüllen! Ich kann es nur als widersinnig bezeichnen, von jenen Annahmen auch dann, wenn sie bloß Hilfsvorstellungen sind, die Überführung der zerrissenen Erfahrungsreihen zu Gesetz und Ordnung zu erwarten. Ich nehme an: eine Reihe von Wahrnehmungen  a, b, c, d ...  sei gegeben; es seien dies etwa die Gesichtsbilder, die ich der Reihe nach im Lauf einesTages, Monats oder Jahres vom Stand und Lauf der Sonne und ihrer Planeten erhalte. Nun muß, wenn diesen Gesichtswahrnehmungen ein kausaler Zusammenhang zuteil werden soll, die Gültigkeit des kopernikanischen Systems und der KEPLERschen Gesetze angenommen werden. Hiermit ist das Bestehen einer ganzen Welt von Bewegungen und Beziehungen gesetzt, die, so wie sie stattfinden, niemals wahrgenommen werden. Der elliptische Lauf der Erde und der übrigen Planeten, das Stehen der Sonne im Brennpunkt, auch die Größe dieser Körper, ihre Entfernungen voneinander, die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen usw. - das alles ist ein schlechthin Unerfahrbares, das aus äußerst bruchstückartigen Wahrnehmungen erschlossen wurde, - aus Wahrnehmungen außerdem, die jenem erschlossenen Ergebnis äußerst unähnlich sind. Wenn ich diese transsubjektive Welt von beharrenden Körpern und gesetzmäßig verlaufenden Bewegungen mit  A, B, C, D ...  bezeichne, so darf ich sagen: jene Tatsachenreihe  a, b, c ...  hat durch ihre Beziehung auf  A, B, C ...  ihre kausale Verknüpfung erhalten. Ohne die Beziehung auf ein transsubjektives Planetensystem würden jene Erfahrungstatsachen einen launenhaften, chaotischen Verlauf bilden.

Hier würde nun KEIBEL Einspruch erheben. Nach seinen Grundsätzen ist der Glaube, daß den kopernikanischen und KEPLERschen Aufstellungen irgendein Transsubjektives entspreche, ein unwissenschaftliches Vorurteil, das höchstens in Gemütsbedürfnisse seine Entschuldigung findet (vgl. Seite 72f). Dem wahrhaft kritischen Standpunkt haben jene Aufstellungen als bloß subjektiver Hilfsapparat zu gelten. Schon dadurch allein, daß ich mir  vorstelle,  die Erde bewege sich um die Sonne usw., soll die zusammenhangslose Reihe von Erfahrungstatsachen, die sich mir an Sonne, Erde usw. zeigen, einer kausal geordneten Welt angehören. Selbst wenn ich mich mit dem Transsubjektiven in seiner magersten Form, d. h. mit einem unbekannten Ding ansich begnügen wollte, zu dem meine erschlossenen Vorstellungen vom Planetensystem im Verhältnis einer, allerdings unbekannten, gesetzmäßigen Abhängigkeit stehen, so würde dies von KEIBEL als eine völlig überflüssige Annahme bezeichnet werden.

5. Ist es noch nötig, den hieren liegenden Widersinn ausdrücklich ans Licht zu ziehen? Nur die Beobachtung, wieweit jener am Beispiel KEIBELs aufgezeigte Fanatismus in der Ausrottung des Transsubjektiven verbreitet ist, bewegt mich dazu, dem Leser dieser Umständlichkeit aufzubürden.

Ich habe drei Reihen vor mir: die Reihe der an Sonne und Planeten wahrgenommenen Erfahrungstatsachen (a, b, c ...), die Reihe der transsubjektiven Vorgänge im Sinne von KOPERNIKUS und KEPLER (A, B, C ...) und die Reihe der Gedanken, die in meinem Bewußtsein dann ablaufen, wenn ich mir über den Zusammenhang jener Erfahrungstatsachen Rechenschaft ablege (α β γ ...). Die dritte Reihe weist offenbar weit größere Unterbrechungen auf als die zweite. Wenn ich nicht gerade Astronom bin, so werde ich nur zuweilen meine Gedanken in zusammenhängender Weise auf die Verhältnisse unseres Planetensystems richten. Ich kann die Sonne hundertmal über den Himmel wandern sehen, und ich lenke vielleicht nicht ein einziges Mal meine Vorstellungen ausdrücklich darauf, daß sich die Sonne als ein riesiger Körper in dem einen Brennpunkt der von der Erde beschriebenen Ellipse befindet, usw. Und es gibt Millionen Menschen, die ihre Wahrnehmungen von Sonne, Erde usw. niemals in jene ursachliche Verknüpfung zu bringen vermögen. So treten also im Bewußtsein der einzelnen Menschen die Vorstellungen von den Lehren des KOPERNIKUS und KEPLER  mit Rücksicht auf die von ihnen erlebten Wahrnehmungstatsachen a, b, c, d ... ganz beliebig und zufällig  auf. Und doch sollen wir glauben, daß dadurch die ordnungslosen Tatsachenreihen  a, b, c, d ...  Teile eines kausal zusammenhängenden Ganzen werden? Woher soll sich denn aber die Kausalität nehmen, wenn zwei Reihen zusammengetan werden, die untereinander keine Spur eines geregelten Zusammentreffens und Aufeinanderfolgens zeigen?

Der Widersinn steigert sich noch durch folgendes. Ich nehme an, es seien bei mir 1000 Wahrnehmungen von Stücken der Erdoberfläche (a1, a2, a3 ...), 100 Wahrnehmungen der Sonne (b1, b2, b3 ...), 10 Wahrnehmungen des Abendsterns (c1, c2, c3 ...) vorausgegangen, bis ich mir einmal das Verhältnis der Erde (&alpha), Sonne (β) und Venus (γ) nach den Lehren der modernen Astronomie in der Vorstellung vergegenwärtige. Wenn nun das Vorhandensein der Vorstellungsinhalte  α β γ  als solcher die Zugehörigkeit jener regellosen, zerrissenen Erfahrungsreihen zu einer kausal geordneten Welt herbeiführen soll, so liegt darin eingeschlossen, daß ein in der Zeit Nachfolgendes  (α β γ)  Voraussetzung und Ursache für  vorangegangene  Tatsachen (a, b, c) bilden solle. Auch möchte ich wohl wissen, welche Glieder auf der einen Seite  (α β γ)  und welche Glieder auf der anderen Seite (a1, a2, a3 ..., b1, b2, b3 ..., c1, c2, c3 ...) als Ursache und Wirkung zusammengehören. Es wäre interessant, zu hören, wie sich die Vertreter jenes Standpunktes das Ineinandergreifen der beiden Reihen vorstellen.

Ich weiß nun: hierauf werden die Vertreter jenes äußersten Bewußtseins-Idealismus - denn dies ist nur die andere Seite der folgerichtigen Philosophie der reinen Erfahrung - antworten, daß sie mit diesem Widersinn nichts zu tun haben. Sie werden sagen, daß ihrer Meinung nach durch  α β γ ...  nur die  Vorstellungen  von  a, b, c ...  kausal geordnet werden. Das sei ja das Eigentümliche ihres Standpunktes, daß er es für genügend erkläre, sich die kausale Ordnung der Erfahrungstatsachen  nur vorzustellen.  Allein damit wäre doch zugestanden, daß man darauf verzichtet, in die Reihe  a, b, c ...  Ordnung und Zusammenhang hineinzubringen. Indem sich der Positivist in eine gesicherte Stellung zurückziehen will, sagt er im Grunde: "Mir kommt es nur darauf an, daß ich mir vorstelle, wie es sein müßte, wenn in die Reihe der Wahrnehmungen Ordnung kommen sollte; daß hierdurch die Reihe der Wahrnehmungen selbst kausal geordnet werde, behaupte ich gar nicht, und daran liegt auch nichts; das Gegebene mag endgültig so wüst und regellos bleiben, wie es dies als unmittelbar Gegebenes unstreitig ist!"

Ich sehe demnach nur  zwei Möglichkeiten  für den folgerichtigen Positivisten.  Entweder  er meint es mit seiner Behauptung ernst, daß durch die von ihm aufgestellten Hilfsvorstellungen die Reihen des unmittelbar Gegebenen kausal ergänzt und geordnet werden sollen. Dann aber muß er auch den ganzen vorhin dargestellten Widersinn - der sich übrigens noch vielgestaltiger ausführen ließe - auf sich nehmen. Er muß dann offen aussprechen, daß zusammenhangslose Wahrnehmungsreihen ihre Ursachen in nachträglich daran geknüpften Gedankenvorgängen besitzen. Er darf dann auch nichts einwenden, wenn man ihn mit einem Mann vergleicht, der aus einem wüsten Chaos von Steinen dadurch ein Haus bauen zu können sich einbilden würde, daß er sie mit Fetzen von Spinnweben überzöge, von denen ein jeder die Zeichnung des Hauses oder eines Teiles desselben darstellte. -  Oder  der Positivist muß rundweg erklären, daß er das unmittelbar Gegebene als solches überhaupt nicht kausal ergänzen und ordnen, sondern es endgültig als ein wildes Durcheinander bestehen lassen wolle. Dann aber muß er sich gefallen lassen, daß man ihn als einen Sonderling der Logik einfach stehen läßt. So mögen denn die Bewußtseins-Idealisten mit der Sprache deutlich herausrücken und zwischen den beiden Möglichkeiten wählen!

6. Nicht ganz so deutlich wie bei KEIBEL tritt bei RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN die Herabsetzung des Denkens zu einer Erdichtungs-Vorrichtung hervor; dafür aber zeigen sich bei ihm manche bemerkenswerte Folgeerscheinungen dieser Auffassung, und deswegen gehe ich ganz besonders etwas näher auf die Meinungen dieses Positivisten ein.

Besonders bei der Frage nach dem Dasein des fremden Ich spricht SCHUBERT-SOLDERN Vorstellungen aus, deren Inhalt über das eigene Bewußtsein in das Transsubjektive hinausweist. Er bekennt von sich, er sei wohl "erkenntnistheoretischer", nicht aber "praktischer Solipsist". Den erkenntnistheoretischen Solipsismus kennzeichnet er durch die Behauptung, daß alle Erkenntnis  in mir  ihren Anfang und ihr Ende habe. Die Ablehnung des praktischen Solipsismus dagegen liegt in den Sätzen: es sei absurd, das individuelle fremde Ich für ein Phantasiegebilde zu erklären; das fremde Ich für ein Phantasiegebilde zu erklären; das fremde Ich verhalte sich kausal ebenso wie mein eigenes individuelles Ich und trete diesem kausal gleichberechtigt gegenüber; mein eigenes individuelles Ich falle wohl in den Zusammenhang alles unmittelbar und mittelbar Gegebenn, fassen ihn aber nicht in sich ("Der Kampf um die Transzendenz", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 10, Seite 471 und 484). Ähnlich heißt es auch in seinem Buch "Reproduktion, Gefühl und Wille" (Leipzig 1887), daß die fremden Vorstellungswelten als fremde Iche aus meinem Ich ausgeschieden werden (Seite XIII).

Ich will nun keineswegs behaupten, daß SCHUBERT-SOLDERN hiermit bewußterweise das transsubjektive Dasein fremder Subjekte angenommen habe. Über diesen Mangel an Folgerichtigkeit ist der unerbittliche Vernichter aller "Transzendenz" längst hinaus. Wohl aber werde ich von jenen Sätzen urteilen dürfen, daß die durch verlangten fremden Bewußtseinswelten, wenn sie ein Dasein haben sollen, das dem vom Verfasser über sie Ausgesagten entspricht, nicht anders als schlechtweg außerhalb meines Bewußtseins, also transsubjektiv existieren können. Freilich bleibt nun diese unwillkürliche transsubjektive Neigung des Verfassers nicht das letzte Ergebnis: das bewußte Streben, das Transsubjektive bis auf den letzten Rest auszurotten, hängt jenen Sätzen eine gewisse Einschränkung an, die ihren transsubjektiven Sinn vernichtet und ins Gegenteil verkehrt. Immer wieder kommt der Verfasser darauf zurück, daß das fremde Ich doch nur meine Vorstellung sei. Er sagt: die fremden Bewußtseinswelten sind nur "in meinem Bewußtsein gegeben und beschlossen"; wohl sind sie kausal selbständig, aber nur innerhalb meines Bewußtseinszusammenhanges (Der Kampf um die Transzendenz, Seite 471 und 478); auch die erschlossenen fremden Bewußtseinswelten gehören zu meiner Vorstellungswelt ("Reproduktion, Gefühl und Wille, Seite XIII), und dgl. So sind also die fremden Bewußtseinswelten lediglich Vorstellungen, die ich aus meinen Wahrnehmungen fremder Leiber erschließe, um diese zu einem kausal verknüpften Ganzen zu ergänzen ("Reproduktion, Gefühl und Wille, Seite X), also Hilfsvorstellungen.

Ich erlaube mir hier die Frage einzuschalten: muten die Solipsisten ihren Lesern wirklich zu, dergleichen raffinierte Torheiten zu glauben? Der geozentrische Standpunkt wurde durch die neuere Astronomie überwunden; und nun wird gar - man gestatte mir den Ausdruck - der egozentrische Standpunkt als höchste Leistung der kritischen Denkweise ausgegeben. Und wozu schreibt den Herr von SCHUBERT-SOLDERN Bücher? Um von gewissen Vorstellungen, die er niederschreibt, anderen Vorstellungen, die gleichfalls in seinem Bewußtsein enthalten sind, - nämlich den fremden Subjekten - Kunde zu geben? Allein diese Vorstellungsgruppen müssen ja doch ohnehin von jenen in den Büchern verzeichneten Vorstellungen wissen! Gehören sie doch dem Bewußtsein desselben Menschen an! Andererseits werden die Leser der Bücher des Herrn von SCHUBERT-SOLDERN sich schwerlich damit einverstanden erklären, zu bloßen Hilfvorstellungen des Verfassers zu verduften. Ich wenigstens spüre glücklicherweise nichts davon, daß das Bewußtsein jenes solipsistischen Philosophen mein Dasein beherberge. Auch möchte ich, so angenehm vielleicht auch der Aufenthalt unter den "Vorstellungsergänzungen" und "Reproduktionswelten" der Herrn von SCHUBERT-SOLDERN sein mag, mich doch bestens für eine so fadenscheinige Daseinsform bedanken. Es ist schwer, sich angesichts des Schauspiels, das diese im Trugnetz der subjektivistisch überspannten Bewußtseinsidentität zappelnden Philosophen gewähren, des Spotts zu enthalten.

Es bleibt jedoch nicht bei dieser Herabsetzung des fremden Ichs zu einer Hilfsvorstellung. SCHUBERT-SOLDERN scheint doch für das Sonderbare dieser Ansicht ein Gefühl besessen zu haben. Es schien ihm unausweichlich, die fremden Bewußtseinswelten irgendwie unabhängig von seinem eigenen Ich zu stellen, und so verfiel er auf den Ausweg, in seinem Bewußtsein einen Bezirk anzunehmen, der von seinem Ich unterschieden sein soll; und in dieses  innerhalb seines eigenen Bewußtseins gelegene  Nicht-Ich setzt er die fremden Bewußtseinswelten hinein. In seiner oft erwähnten Abhandlung heißt es geradezu, daß die fremden Bewußtseinswelten sich zwar "jenseits meines individuellen Ich", aber "in meinem Bewußtsein" befinden (Seite 481). So nimmt SCHUBERT-SOLDERN um ein Quasi-Transsubjektives als Ort für das Dasein des fremden Ichs zu erhalten, seine Zuflucht zu einer psychologischen Erfindung und zudem zu einer  contradictio in adjecto  [Widerspruch in sich - wp]. Ich wenigstens sollte meinen, daß alles, was in "meinem" Bewußtsein vorkommt, zu meinem Ich gehört; "meine" Wahrnehmung der Sonne geradeso wie "mein" Kopfweh. (1)

Bei näherem Zusehen jedoch stellt sich die Sache noch schlimmer für SCHUBERT-SOLDERN. In der Einleitung seines oft genannten Buches hören wir, daß das ganze Ich im Leib konzentriert ist, daß der Leib als das Gefäß der Vorstellungen, Gefühle und Begehrungen erscheint und dgl. (Seite IX); und hierauf wird das Recht der Annahme einer "Innenwelt" gegründet. Demnach würde mein "individuelles Ich" nur die Wahrnehmung  meines Leibes  und die Lokalisation aller meiner Gefüle usw.  innerhalb meines Leibes  bedeuten. Somit würde die Setzung der fremden Bewußtseinswelten in den Umfang meines Nicht-Ich nur den überraschend trivialen Sinn haben, daß ich die fremden Bewußtseinswelten mir nicht innerhalb der Wahrnehmung meines Leibes lokalisiert vorstelle. Es bleibt also trotz jener von einer transsubjektiven Regung eingegebenen Ausflucht dabei, daß das fremde Ich zu meinem individuellen Ich gehört.

7. Wird das Transsubjektive zu einer bloßen Hilfsvorstellung verflüchtigt, so wird das Gegebene nur insoweit durch Vorstellungen vom Transsubjektiven ergänzt werden, als diese Ergänzung handgreiflich unentbehrlich und verhältnismäßig einfach ist. Wo nämlich das Gegebene transsubjektive Ergänzungen fordert, die über das Gröbste hinausgehen und schwieriger vorstellbar sind, da würden sie, wenn man in ihnen lediglich Hilfsvorstellungen ohne ein entsprechendes Transsubjektives sieht, zu sehr als überflüssige und subjektive Spielerei erscheinen, als daß man sich leicht zu ihnen entschlösse. So kommt es, daß in einer großen Anzahl von Fällen, wo die Erfahrungstatsachen transsubjektive Einschaltungen und Unterbauungen nötig machen, die Bewußtseins-Idealisten jede Ergänzung der Erfahrung für unnötig erachten. Sie begnügen sich damit, die unzusammenhängenden, zerrissenen, unfaßbaren Erfahrungstatsachen aufzunehmen und zu beschreiben.

So findet sich im Gefolge der Umwandlung der Denkvorgänge in Hilfsvorstellungen vielfach eine auffallende Armut an Problemen vor. Lückenhafte, diskontinuierliche, der Kausalität hohnsprechende Reihen von Erfahrungen werden ohne Frage und Bedenken hingenommen. Diese Reihen erhalten, indem sie so unergänzt gelassen werden, die Gestalt des Wunders, des Zufalls, des Sinnlosen; allein der Bewußtseins-Idealist bleibt davon unberührt. Es ist eine beneidenswerte Vereinfachung der Philosophie, die sich für diese Philosophen ergibt. Von den Weltanschauungen, welche seit jeher die denkende Menschheit beschäftigt haben, sind die allermeisten für diesen kurzdenkende Standpunkt überhaupt nicht vorhanden.

Diese Armut an Problemen findet sich bis zu einem gewissen Grad selbst bei den bedeutendsten Vertretern des Positivismus. Auch HUME oder JOHN STUART MILL lassen uns an Punkten, wo wir erwarten, daß hier das Suchen und Bohren eigentlich erst anheben müsse, einfach stehen, als ob die Sache erledigt wäre. Doch werden wir bei diesen großen Forschern dadurch entschädigt, daß sie innerhalb weiter Grenzen eine hervorragende und erfolgreiche Spürkraft des Denkens und insbesondere der Fähigkeit eindringlicher Unterscheidung und Zergliederung bewähren. So zeigen sie - in typisch englischer Weise - eine merkwürdige Mischung von durchdringendem Scharfblick und einer jede Hoffnung abschneidenden Ummauerung des Denkens. Die bewußtseins-idealistischen Folgerungen sind hier noch nicht bis auf die Spitze getrieben ; aus der Welt ist noch nicht mit aller Folgerichtigkeit ein gespensterhaftes Rumoren im individuellen Bewußtsein geworden, und so vermag sich ihre Denkkraft noch in hohem Grade tüchtig und gesund zu entfalten. Dies eben ist nun bei den fortgeschrittensten Vertretern des Bewußtseins-Idealismus viel schwerer möglich. Hier schiebt sich jedem ernsthaften Eindringen in die durch die Erscheinungen aufgegebenen Fragen sofort das Verbot der Betretung des transsubjektiven Gebietes als Riegel vor.

Es gibt keine Richtung in der Philosophie, die der Gedankenarbeit der Menschheit so absprechend gegenüberstünde. Eine der üblichsten Entgegnungen SCHUBERT-SOLDERNs lautet, daß er mit den Worten des Gegners keinen Sinn verbinden könne. Sollte es denn wirklich so sein, daß alle transsubjektivistischen Richtungen in der Philosophie (d. h. nahezu alle Philosophen) bei der Behandlung der meisten Fragen nur Worte, nur Lautgebilde gedacht haben? Es scheint mir dies eine schon psychologisch genommen höchst unwahrscheinliche Annahme zu sein.

8. Ich will dieses scharfe Urteil nicht ohne Belege lassen. Wo SCHUBERT-SOLDERN in seiner psychologischen Schrift die Reproduktion behandelt, da spricht er sich des entschiedensten gegen die Annahme eines Unbewußten aus. Weder gebe es physiologische, noch psychische Vorgänge, die unbewußt wären. Aber - so wird man sagen - es muß doch wohl zwischen der Wahrnehmung  A,  die ich gestern hatte, und der Erinnerungsvorstellung  a,  die ich jetzt habe, irgendein unbewußter Vorgang  α  verlaufen sein, der zum gewesenen  A  ununterbrochen in einer eindeutigen Beziehung gestanden ist? Wie sollte sonst die Vorstellung  a  entstehen können, die nichts ist und nichts sein will als Vorstellung des Inhalts von  A?  Doch SCHUBERT-SOLDERN verbietet geradezu die Frage, "ob und wie dieses  a  vor seinem Bewußtwerden vorhanden war". Anzunehmen, daß das, was jetzt reproduzierte Vorstellung ist, vor seinem Bewußtwerden als unbewußte psychische oder physiologische Disposition oder Tendenz vorhanden war, gilt ihm als "der reinste und unerfaßbarste Unsinn" (Seite 16f). Ihm genügt es, zu wissen, daß die Vorstellung, die er jetzt hat, möglicherweise einmal wieder in der Form der Wahrnehmung auftreten werde (Seite 18). Dieses subjektive Erwarten ersetzt ihm das sachliche Untersuchen. Man sieht: dem Verfasser macht es keine Gedanken, wie es komme, daß sich derselbe Wahrnehmungsinhalt hundert- und tausendmal als Vorstellung in mir wiederholen könne. Daß ohne die Annahme jenes unbewußten  α  die Erinnerung als das Werk eines unerhörten Zufalls erscheinen würde, bekümmert ihn nicht; er enthält sich eben aller Gedanken.

Dieselbe Armut an Problemen tritt auch zutage, wo der Verfasser den Begriff der Anlage erörtert. Liegt z. B. die Tatsache vor, daß Großvater, Vater, Sohn und Enkel sich durch musikalische Leistungen ausgezeichnet haben, so weiß der Verfasser nur zu sagen: diese Tatsache ist ein "Zeichen", das zu einer "Erwartung" berechtigt, auch der Urenkel werde in der Musik Bedeutendes leisten (Seite 19f und 61). Die Frage, ob denn wohl in den Vermittlungsakten, welche die Abstammung des Vaters vom Großvater usw. ausmachen, etwas vor sich gegangen sein möge, was jenes wiederholte Auftreten musikalischer Leistungen zur Folge gehabt habe, d. h. die Frage von der Vererbung und der durch sie erzeugten Anlage ist für den Verfasser nicht vorhanden. Und es ist dies nur folgerichtig, da es sich hierbei um Vorgänge außerhalb des Bewußtseins handelt.

Besonders reich an Beispielen für diese Armut an Problemen ist auch die Logik von RICHARD SHUTE (Discourse on truth; unter dem Titel "Grundlehren der Logik" übersetzt von GOSWIN K. UPHUES, Breslau 1883) - eine Schrift, die in mancher Hinsicht den Subjektivismus noch weiter treibt als KEIBEL und SCHUBERT-SOLDERN. (2) Es handelt sich z. B. um den Begriff der Zukunft. SHUTE will diesen Begriff von aller Verwirrung befreien, und er findet den einzig verständlichen Sinn desselben darin, daß die Zukunft gleichbedeutend sein soll mit der "Summe all dessen, was wir erwarten", oder mit der "Summe von Gedanken, zu denen wir aufgrund dessen, was wir Erwartung nennen, übergehen". Die Zukunft ist "ein Teil der Gegenwart" (Seite 28f). SHUTE verwechselt in handgreiflicher Weise die subjektiven Bestandteile in unserer Vorstellung von der Zukunft mit dem gemeinten transsubjektiven Gegenstand derselben. Die Zukunft muß für den Leugner alles Transsubjektiven etwas Unfaßliches und Unheimliches haben; bedeutet sie doch das Hinaussein über das vorhandene Bewußtsein, also das Setzen eines Transsubjektiven. So biegt sich dem Bewußtseins-Idealisten die Zukunft, sobald er ihren Begriff erörtern will, sofort in gegenwärtige Bewußtseinsvorgänge um, die der Vorstellung von der Zukunft hinzugesellt sind; er kann von der Zukunft  als solcher  überhaupt nicht reden, und so ist natürlich die ganze Fülle von Fragen, die sich seit jeher über die  Natur der Zeit  aufgedrängt haben, mit einem Schlag beseitigt. Und zwar nicht etwa nur der metaphysische, sondern auch der phänomenalistische Zeitfluß hat prinzipiell aufgehört, ein Problem zu sein.

Oder sehen wir auf die Erörterung des Begriffs der Ursache bei SHUTE. Er definiert die Ursache als eine "Erscheinung, die der Geist ausgewählt hat als  Zeichen  des Eintritts einer anderen Erscheinung" (Seite 41). Nun kommt es aber doch wohl vor allem darauf an, diese Auswahl richtig, d. h. so zu treffen, daß nur diejenigen Erscheinungen kausal verknüpft werden, die sich in Wahrheit als Ursache und Wirkung verhalten. Allein das paßt nicht zu SHUTEs Vorstellungs-Idealismus. SHUTE ist so folgerichtig, daß er, im Gegensatz zu JOHN STUART MILL, die "Gleichförmigkeit des Naturlaufs" leugnet (Seite 21f); er gibt dieser Annahme nicht einmal den Wert einer logisch berechtigten Hypothese. Auf diesem Standpunkt kann es natürlich eine  Zusammengehörigkeit  einer bestimmten Ursache und einer bestimmten Wirkung nicht geben. Die Frage: welche Bedingungen und Ursachen hat diese oder jene Erscheinung? ist auf dem Boden des SHUTEschen Skeptizismus im Grunde unsinnig. Die ernsthafte Ursachenforschung ist beseitigt. Es gibt nur subjektive Zusammenstellungen von mehr oder weniger häufig nacheinander bemerkten Erscheinungen. So erklärt dann auch SHUTE die von der Naturwissenschaft aufgefundenen Ursachen zum großen Teil für willkürlich erfunden (Seite 168f) (3) Ich kenne kaum ein Buch, das so sehr, wie die SHUTEsche Logik, von einem verstockten Nichtwissenwollen erfüllt ist, das uns glauben machen will, daß selbst die offenkundigsten, durch millionenfache Erfahrungen bestätigten Wahrheiten gänzlich unbewiesen seien und keinerlei Gewähr für die Zukunft bieten. Der folgende Artikel wird uns noch manche weitere Belege dafür bringen.

Ich habe absichtlich solche Beispiele gewählt, die nicht die Metaphysik betreffen. Es sollte gezeigt werden, daß auch die übrigen Erfahrungswissenschaften, wenn der überspannte Bewußtseins-Idealismus in ihnen zur Herrschaft käme, in einen Zustand wahrer Verkümmerung und Trivialisierung geraten würden.

9. Wenn der subjektvistische Idealismus auf der einen Seite zur Trivialisierung der Philosophie führt, so sollte man nach der anderen Seite hin vermuten, dieser Standpunkt werde, soweit es sich in der Philosophie um Beschreibung und Zergliederung von Bewußtseinstatsachen handelt, die Auffassung recht unbefangen machen und vor allem Hineindeuten und Verdrehen schützen. Ich möchte nun durchaus nicht in Abrede stellen, daß einige Vertreter des subjektivistischen Idealismus aus jenem Wegwerfen alles Transsubjektiven die angedeutete Förderung für die psychologische Beschreibung und Zergliederung empfangen. Häufig ist indessen gerade das Gegenteil der Fall: der subjektivistische Idealismus führt nicht nur zu einem ungenauen, sondern geradezu falschen Ablesen der Bewußtseinsvorgänge.

Es ist dies auch nicht schwer zu begreifen. Die Bewußtseinsvorgänge als solche bilden ein lückenvolles, diskontinuierliches, regelloses Mit- und Nacheinander. Werden nun die Bewußtseinsvorgänge beschrieben, so sagt man sich stillschweigend, daß da, wo diese Vorgänge als solche zusammenhängend und bedeutungslos sind, ohne Zweifel durch die transsubjektiven Einschaltungen und Unterbauungen (durch die Mittel des Unbewußt-Psychischen und Physiologischen) Zusammenhang und Bedeutung hineinkommen werde. Eben dieser stillschweigende ergänzende Nebengedanke kann bei den subjektivistisch-idealistischen Psychologen keinen Platz finden; sie müssen ihn vielmehr als widersinnig unterdrücken. Geschieht das aber, so drohen dadurch die Bewußtseinsvorgänge endgültig zu einem unbegreiflichen Gemengsel, zu einem sinn- und ordnungslosen Verlauf zu werden. Das Gefühl hiervon scheint es mir besonders zu sein, was bei der psychologischen Beschreibung  unwillkürlich  das Bestreben entstehen läßt, die Bewußtseinsvorgänge so zu drehen und zu wenden, daß doch einiger Zusammenhang und Sinn in sie komme. Der natürliche Zusammenhang der Bewußtseinsvorgänge wird, als ins Transsubjektive fallend, gewaltsam weggedacht; so tritt dann anstelle desselben ein widernatürlicher, die Tatsachen verdrehender Zusammenhang. Es entsteht eine unabsichtliche  Verdrehtheit  in der Beschreibung der seelischen Tatsachen. Aber auch abgesehen von diesem besonderen Zusammenhang kann die Künstlichkeit jenes Standpunktes überhaupt leicht in dem Sinne wirken, daß die Unbefangenheit in der Auffassung der Bewußtseinstatsachen gestört wird.

Auch diesen Typus der Verdrehtheit will ich nicht ohne Belege lassen. Doch werde ich, da dies den Gedankengang, der unseren Hauptgegenstand betriff, allzu sehr unterbrechen würde, sie lieber an das Ende des Artikels setzen.

10. Man sollte es für kaum denkbar halten, daß der Positivismus unter den Naturforschern Eingang finden könne. Was soll der Physiker mit einer Lehre anfangen, der zufolge z. B. die erschlossenen Bewegungsvorgänge, auf die er Schall und Licht zurückführt, lediglich Erdichtungen sein sollten, die sich im Bewußtsein einiger Menschen - nämlich der naturwissenschaftlich Gebildeten - zuweilen mit einer gewissen Nötigung einstellen? Oder müßte sich der Anatom oder Physiologe nicht lächerlich vorkommen, wenn er seine Untersuchungen aufgrund einer Lehre vornehmen wollte, dergemäß kein Mensch von sich sagen darf, er besitze Gehirn, Herz, Blutkreislauf usw., sondern die ihm nur erlaubt, von Gehirn, Herz, Blutkreislauf lediglich als vom Inhalt gewisser Hilfsvorstellungen zu reden, die er sich zum Zweck der Zurechtlegung gewisser Erfahrungen bilden müsse, die also nur als ein in ihm hier und da auftauchender Vorstellungsinhalt existieren? Müßte nicht auf Grundlage des Positivismus die Naturwissenschaft überhaupt zu einer Beschreibung des individuellen Wahrnehmungs-Wirrwarrs unter Hinzufügung wunderlich spielerischer Vorstellungskombinationen, also zu einer wahren Spottgeburt herabsinken?

Dennoch hat sich ein angesehener Physiker, ERNST MACH, rückhaltlos zum Positivismus bekannt. Seine nach vielen Seiten hin bemerkenswerte Schrift "Beiträge zur Analyse der Empfindungen" (Jena 1886) enthält im ersten und letzten Abschnitt die Grundzüge einer in hohem Grad folgerichtigen positivistischen Erkenntnistheorie. Es findet sich hier ausführlicher dargelegt, was MACH schon im Werk "Die Mechanik in ihrer Entwicklung" (Leipzig 1889) in gedrängter Form ausgesprochen hat (Seite 452f). Wir hören von ihm: die Welt besteht nur aus unseren Empfindungen (Beiträge, Seite 8); die ganze innere und äußere Welt setzt sich aus einer geringen Zahl von gleichartigen Elementen zusammen, die man Empfindungen nennt (a. a. O. Seite 16; vgl. auch Seite 141; Mechanik Seite 454); das Ich kann in einer solchen Erweiterung aufgefaßt werden, daß es schließlich die ganze Welt umfaßt (Beiträge Seite 9). Ja, MACH schein so weit wie SCHUBERT-SOLDERN und KEIBEL zu gehen, wenn er sagt, daß die Vorstellung, die wir uns von den Empfindungen und Gedanken anderer Menschen machen, nur einen "ökonomischen Wert", nur die Bedeutung einer vorstellungsmäßigen Ausfüllung unserer Erfahrungslücken besitze (Mechanik, Seite 463). Es gilt demnach gegen MACH in der Hauptsache alles, was ich gegen KEIBEL und SCHUBERT-SOLDERN gesagt habe.

Sehen wir nun zu, mit welcher Folgerichtigkeit MACH diesen Subjektivismus auf die Gestaltung der Naturwissenschaften anwendet. Ohne Schwanken steht ihm fest, daß die "Körper" nur "Gedankensymbole für Empfindungskomplexe" sind (Beiträge, Seite 20). Wie das Ich nur eine "ideelle denkökonomische Einheit" ist, zu deren Annahme uns die Empfindungen aus praktischen Bedürfnissen veranlassen (a. a. O. Seite 17), so schieben wir der Vereinfachung halbe in die Empfindungskomplexe bleibende Kerne, die "Körper", hinein, die demnach auch nichts weiter sind als "Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung und für bestimmte praktische Zwecke" (a. a. O. Seite 9). So sind natürlich auch die Moleküle und Atome nur "ökonomische Symbolisierungen der Welt der Erfahrung", ähnlich den Symbolen der Algebra (a. a. O. Seite 142f). Ja, er stellt eine Physik "ohne Zuhilfenahme der künstlichen Atomtheorie" als Ideal hin (Mechanik, Seite 469). Demselben Schicksal verfällt die bedingungslose Beständigkeit der chemischen Elemente (Beiträge, Seiten 155 und 157). Die vollständige Nachbildung der sinnlichen Tatsachen ist das Ziel der Physik, die Atome, Kräfte, Gesetze hingegen sind nur die  Mittel,  welche uns jene Nachbildung  erleichtern  (a. a. O. Seite 144). MACH, der sich "von den herkömmlichen intellektuellen Mitteln der Physik nicht mehr imponieren läßt" (a. a. O. Seite 142), geht dann soweit, daß er auch die naturwissenschaftlichen Gesetze für bloße Erleichterungs- oder Hilfsvorstellungen zum Zweck bequemerer Beschreibung der sinnlichen Wahrnehmungsinhalte ansieht.

11. Wodurch verhüllt sich nun für den Verfasser die Einsicht, daß auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage sich geradezu die Aufhebung jeder Naturwissenschaft ergeben müßte?  Erstens  durch seinen Mangel an Folgerichtigkeit. Im Widerspruch mit seinen grundsätzlichen Aufstellungen erkennt er der "Beständigkeit der Verbindung oder Beziehung", deren begrifflicher Ausdruck eben das "Gesetz" ist, objektive Gültigkeit zu (Seite 157f). Jeder Blick auf seine Wahrnehmungen indessen hätte ihn darüber belehren können, daß die sinnlichen Tatsachen ohne transsubjektive Ergänzung ein zerrissenes Chaos bilden, innerhalb dessen eine Beständigkeit der Beziehungen nirgends zu finden ist. (4) Hätte MACH auf diesen Charakter der Wahrnehmungen seine Aufmerksamkeit gelenkt, so wäre es ihm vielleicht fraglich geworden, ob aufgrund seiner Allempfindungslehre Naturwissenschaft möglich sei.

Auch sonst muß man sich den Mangel an Folgerichtigkeit vor Augen halten, wenn man es sich erklären will, wie es möglich sei, daß eine so unhaltbare Ansicht von so kritischen Denkern vertreten werden kann. Soeben haben sie noch allem, was gesunder Verstand und Erfahrungswissenschaft bisher angenommen haben, in einem kaum steigerungsfähigen Radikalismus den Krieg erklärt, und schon hört man sie sprechen, als ob der altmodische Glaube an ein überempirisches Erkennen noch zu Recht bestünde. SHUTE z. B. betrachtet es als ein, solange Menschen auf der Erde existieren, allgemeingültiges, ausnahmsloses Naturgesetz, daß sich der Mensch überall, wenn er am Leben bleiben will, mit seinen Erwartungen den Verhältnissen "anpaßt" (Seite 25, 42f, 114, 173 usw.) Diese Wahrheit bildet die Voraussetzung seiner Erkenntnistheorie. Wie kann aber jemand die Zustimmung zu jenem Satz verlangen, der alles logisch berechtigte Erkennen der Zukunft, alle strenge Naturgesetzlichkeit, alle Gleichförmigkeit des Naturgeschehens leugnet oder bezweifelt? SHUTE dürfte die Anpassung der Erwartungen der Menschen an die Verhältnisse (also die Grundlage seiner Erkenntnistheorie) nur als Inhalt eines von ihm gehegten Gefühls subjektiver "Erwartung" hinstellen! (5)

Nicht weniger stark ist der Abfall von den positivistischen Grundsätzen bei AVENARIUS. Die Wissenschaft soll nichts als die reine, durch Tilgung alles Hineingedachten entmischte Erfahrung zur Darstellung bringen ("Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes", Seite 28). Dabei aber führt er den Leser durch seine Lehren von der Bewegung als der Form des Seins, von der Koordination der Bewegungen und Empfindungen und von der Selbstdifferenzierung der Urempfindung( Seite 60f und 64f) wie der erstbeste Metaphysiker weit in das Unerfahrbare hinein (6). Und in einer Abhandlung von JOSEF PETZOLDT, einem Anhänger von AVENARIUS, heißt es zuerst so deutlich als möglich, daß das Denken mit seinen Zumischungen zur reinen Erfahrung "keine Erweiterung seiner theoretischen Kenntnis des Seienden" beabsichtige; bald darauf aber mutet er dem Leser zu, ihm zu glauben, daß in aller Natur notwendig ein Prinzip der Tendenz zur Stabilität, ein Prinzip zur zweckmäßigen Verwendung der Kräfte, ein Prinzip der größten Harmonie und dgl. herrsche ("Zu Richard Avenarius' Prinzip des kleinsten Kraftmaßes und zum Begriff der Philosophie"; Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XI, 1887, Seite 182 und 189). Diese Geraten in die Geleise der verspotteten Transzendenz ist für die positivistische Denkweise typisch.

Zu diesem Mangel an Folgerichtigkeit gesellt sich noch ein  Zweitens,  wodurch sich für MACH der mit der Naturwissenschaft unverträgliche Charakter seines Standpunktes verbirgt. Schon aus den vorhin erwähnten Stellen seines Buches geht hervor, daß er ganz besonderes Gewicht darauf legt, daß die naturwissenschaftlichen Hilfsvorstellungen  praktischen  Bedürfnissen dienen. Hierbei denkt er sicherlich nicht im mindesten daran, daß es aufgrund der Hilfsvorstellungen möglich wird, zukünftige Erscheinungsreihen genau vorherzubestimmen. In der Tat bleibt den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, auch wenn man ihren transsubjektiven Gehalt durchweg im Sinne von Hilfvorstellungen deutet, der Nutzen für Vorausbestimmung des Naturgeschehens ungeschmälert erhalten. Mir scheint nun der Hinblick auf diesen Nutzen nicht nur bei MACH, sondern auch bei anderen Positivisten der Einsicht in die Unhaltbarkeit ihrer Auffassung als eines der hauptsächlichsten Hindernisse im Weg zu stehen. Der Verlust des transsubjektiven Gehaltes scheint wenig zu besagen, wenn doch die Brauchbarkeit für das Berechnen der Zukunft bestehen bleibt. Diese Brauchbarkeit ist es auch, was die Positivisten unwillkürlich veranlaßt, die wissenschaftlichen Begriffe mit Vorliebe als Mittel für das Bestimmen der Zukunft zu betrachten und ihre Bedeutung für die Erkenntnis der Vergangenheit zu vernachlässigen. Dies tritt z. B. zutage, wo HUME die Kausalität als einen auf Gewohnheit beruhenden Glauben erörtert. Eine der kostbarsten Wendungen indessen, die aufgrund dieser Neigung entstanden sind, ist es, wenn SHUTE die allgemeineren Naturgesetze, wie das Gesetz der Schwere, lediglich als "erfüllte Prophezeiungen" betrachtet (Seite 232).

So sehr nun auch jene Brauchbarkeit der naturwissenschaftlichen Vorstellungen die Unhaltbarkeit des positivistischen Standpunktes zu verdecken geneigt ist, so kann doch davon keine Rede sein, daß in jener Brauchbarkeit eine Rechtfertigung der Auffassung läge, die alle transsubjektive Erkenntnis zu Hilfsvorstellungen herabsetzt. Im Gegenteil läßst sich die Tatsache, daß aufgrund gewisser Vorstellungsverbindungen das zukünftige Naturgeschehen genau vorhergesagt werden kann, nur unter der Voraussetzung verstehen, daß dieses Naturgeschehen zu einer Wirklichkeit in Beziehung steht, die entweder dem Inhalt jener Vorstellungen gleicht oder ihnen doch derart entspricht, daß diese als die durchgängigen gesetzmäßigen Stellvertreter, als die genauen Zeichen der - in diesem Falle unbekannt bleibenden - Wirklichkeit gelten können. Wenn den Vorstellungen, aus denen das naturwissenschaftliche Vorausberechnen besteht, gar nichts außerhalb des berechnenden Bewußtseins entsprechen soll, so wird die Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen des Vorausberechnens und den später eintretenden Erscheinungen zum reinen  Wunder.  Warum ist es dann nicht möglich, lediglich aus den Merkmalen der vorliegenden Erscheinungen das zukünftige Geschehen vorherzusagen? Warum muß unser Vorstellen zu diesem Zweck zuvor die Erscheinungen in ein davon grundverschiedene Welt (etwa in die Bewegungsvorgänge, die dem Schall oder Licht zugrunde liegen) umwandeln? Der Positivismus führt nach dieser Seite zum Wunderglauben.

12. Indessen nicht nur in der Brauchbarkeit der naturwissenschaftlichen Begriffe für das Vorausbestimmen der Erscheinungen liegt ein scheinbarer Anhaltspunkt für die positivistische Lehre von den Hilfsvorstellungen, sondern auch im Gebrauch, den gerade die Naturwissenschaft in bedeutendem Maße von den Hilfsvorstellungen macht. In den verschiedensten naturwissenschaftlichen Untersuchungen bilden Hilfsvorstellungen ganz unentbehrliche Glieder. Da nun dieslben insofern rein subjektiver Natur sind, als ihr Inhalt nicht den Anspruch auf eine entsprechende Existenz in der Außenwelt erhebt, so kann sich leicht die irrige Meinung damit verknüpfen, daß das naturwissenschaftliche Erkennen auf den Gebieten, wo sie verwendet werden, überhaupt von aller Beziehung zur Außenwelt absehe. Dann aber kann der positivistische Erkenntnistheoretiker leicht dazu kommen, zu sagen, daß er nichts anderes tue, als daß er den Sinn, in welchem die Naturwissenschaft ihre Hilfsvorstellungen nimmt, auf sämtliche Vorstellungen ausdehne, durch die etwas zu den Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung hinzugedacht werde. Es wird daher gut sein, festzustellen, daß die Naturwissenschaften die Hilfsvorstellungen in einer wesentlich anderen Bedeutung verwenden als die positivistischen Erkenntnistheoretiker.

Wenn sich der Physiker verschiedene Elektrizitätserscheinungen durch die bekannte Annahme von einer positiven und einer negatigen elektrischen Flüssigkeit zurechtlegt, so bildet er sich eine Hilfsvorstellung. Indem er sich etwa vorstellt, daß in einem guten Leiter bei der Annäherung eines positiv geladenen Körpers sich die beiden Elektrizitäten scheiden, daß sich die negative elektrische Flüssigkeit nach derjenigen Seite hinbegibt, die dem positiv geladenen Körper zugewandt ist usw., so weiß er, daß in dem Ding der Außenwelt, welches seiner Wahrnehmung von diesem Leiter entspricht, nichts vor sich geht, was dem Inhalt jener Vorstellung ganz oder auch nur in der Hauptsache gliche. Allein auf der anderen Seite verbindet sich dem Physiker mit jener Hilfsvorstellung keineswegs der Gedanke, daß in der Außenwelt  überhaupt nichts  den wahrgenommenen Erscheinungen der Elektrizität zugrunde liege. Vielmehr ist jener Hilfsvorstellung - wenn dies auch stillschweigend geschieht - der  Nebengedanke  hinzugesellt, daß ihr Inhalt  stellvertretend  steht für die noch nicht genau erschlossenen transsubjektiven Vorgänge, die den Elektrizitätserscheinungen entsprechen und daß es die Aufgabe der Naturforschung sei, dieser transsubjektive Grundlage der Elektrizität so nahe als möglich zu kommen. Übrigens sind diese transsubjektiven Vorgänge nicht gänzlich unbekannt; den von allem andern abgesehen, erblickt der Naturforscher in ihnen ohne Zweifel gesetzmäßig geordnete Bewegungsvorgänge, welche die nur abgerissen und bruchstückweise in unsere Sinne fallenden elektrischen Tatsachen lückenlos miteinander verbinden. So ist also jene Hilfsvorstellung Stellvertreter nicht eines gänzlich unbekannten  X,  sondern der unbekannten näheren Eigenschaften eines in gewissen einfachsten Grundzügen als feststehend zu erachtenden Transsubjektiven.

In einem ähnlichen Sinn wird man den Atombegriff als Hilfsvorstellung bezeichnen dürfen - vorausgesetzt, daß man ihn überhaupt zu den Hilfsvorstellungen rechnet und ihn nicht lieber als  Hypothese  über den Aufbau der Materie ansieht. Die Hypothese nämlich schließt die Überzeugung ein, daß  wahrscheinlicher  oder doch  möglicher  Weise die Wirklichkeit dem vorgestellten Inhalt entspricht. Mit der Hilfsvorstellung dagegen ist der Sinn verbunden, daß es in der Wirklickeit etwas ihrem Inhalt Entsprechendes  nicht  gibt. Man darf daher Hilfsvorstellung und Hypothese nicht miteinander vermischen.

Von anderer Art sind die Hilfsvorstellungen, wo z. B. die Mechanik von absolut starren Körpern spricht, die Hydrostatik Flüssigkeiten als unzusammendrückbar betrachtet, die Elektrizitätslehre der Mechanik den Begriff der Arbeit für die Messung der elektrischen Zustände entnimmt, die Meteorologie der Darstellung der empirischen Regelmäßigkeit im zeitlichen Verlauf oder in der räumlichen Verteilung gewisser Witterungserscheinungen ideale Mittelwerte zugrunde legt, usw. Es werden eben  zwei  Arten von Hilfsvorstellungen zu unterscheiden sein. Die einen wollen  Ergebnisse  der Untersuchung ausdrücken, freilich nur in vorläufiger Weise, in der Form der Stellvertretung. Bei den anderen dagegen handelt es sich um vorübergehend eingeführte  Hilfsmittel  der Untersuchung. Im ersteren Falle sieht sich das Denken  infolge  des Kausalitätsbedürfnisses zu gewissen Annahmen genötigt; die Hilfsvorstellungen sind hier  Erklärungen,  die sich dem Denken beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft als notwendig aufdrängen oder doch nahelegen. Die zweite Art dagegen besteht in  willkürlichen Annahmen.  Die hierher gehörigen Begriffe sind keine Ergebnisse des Kausalitätsbedürfnisses, sie antworten nicht auf die Frage: warum?, sie wollen auch nicht einmal als  vorläufige  Erklärungen angesehen werden. Wenn sich die Wissenschaft dennoch solcher Vorstellungen bedient, so geschieht das darum, weil die Untersuchung mittels ihrer den in Frage kommenden Gegenständen einfacher bequemer und erfolgreicher beikommt als ohne sie. Sodann aber sind diese Hilfsbegriffe so gewählt, daß durch ihre subjektiven Bestandteile ein fälschender Einfluß auf den Inhalt der Ergebnisse entweder gar nicht oder nur in unerheblichem Grad ausgeübt wird.

Es leuchtet ein, daß die naturwissenschaftlichen Hilfsvorstellungen der positivistischen Ansicht nicht zur Stütze dienen können. Diese will durch die Umwandlung der Denkergebnisse in Hilfsvorstellungen das Transsubjektive in jeder Hinsicht beseitigen. Im Gegensatz hierzu wollen die naturwissenschaftlichen Hilfsbegriffe der ersten Art ausdrücklich eine Stellvertretung für anzustrebend transsubjektve Erkenntnisse sein. Was nun gar die Hilfsvorstellungen der zweiten Art anlangt, so stehen diese zu der Frage, in welchem Verhältnis zum Transsubjektiven die Ergebnisse stehen, für die sie verwendet werden, überhaupt in keiner Beziehung.

Mit den angegebenen beiden Arten dürften überhaupt die wissenschaftlichen Hilfsvorstellungen, soweit sie berechtigter Natur sind, erschöpfend eingeteilt sein.
LITERATUR: Johannes Volkelt, Das Denken als Hilfsvorstellungs-Tätigkeit und als Anpassungsvorgang (Beiträge zur Kennzeichnung des Positivismus), Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge, Bd. 96, Halle a. d. Saale 1889
    Anmerkungen
    1) SCHUBERT-SOLDERN wirft mir Zweideutigkeit im Gebrauch des Wortes "transsubjektiv" vor und er stützt diesen Vorwurf auf die oben gekennzeichnete Unterscheidung von Bewußtsein und Ich. Bald soll sich damit das Transzendente, d. h. das über meinen Bewußtseinszusammenhang Hinausliegende, bald jedoch das zwar zu meinem "Bewußtseinszusammenhang" (oder zu meinem "ganzen Bewußtsein"), nicht aber zu meinem "individuellen Ich" Gehörende meinen (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 10, Seite 473, 477, 481, 483). Hierauf erwidere ich, daß ich etwas, was zu meinem "ganzen Bewußtsein" oder zu "meinem Bewußtseinszusammenhang", nicht aber zu meinem "individuellen Ich" gehört, überhaupt nicht kenne. Das Transsubjektive bedeutet das Jenseits meines Bewußtseins oder das Jenseits meines Ichs; beides besagt dasselbe. Da demnach von jener Zweideutigkeit im Gebrauch des Wortes "transsubjektiv" bei mir keine Rede ist, so wird natürlich auch der Vorwurf hinfällig, daß die Einführung der Bezeichnung "transsubjektiv" statt ds Wortes "transzendent" ein Hauptgebrechen meiner Erkenntnistheorie sei. Ich habe jenen ungewöhnlichen Ausdruck eingeführt, weil dem Wort "transzendent" üblicherweise der Nebengedanke des letzten Wesens der Dinge, des Unbedingten oder doch des weit, sehr weit die Erfahrung überfliegenden anhaftet.
    2) Auch bei SHUTE (und ebenso bei seinem Anhänger UPHUES) nimmt das Unerfahrbare, soweit er überhaupt auf dergleichen kommt, die Form der Hilfsvorstellung an. Wenn er die Ursache als von unserem Geist ausgewähltes Zeichen des Eintritts einer anderen Erscheinung defininert (Seite 41), oder wenn er in den allgemeinen Sätzen nur Formeln für das Nichtwissen sieht, welches bereit ist, zu glauben, wenn die Gelegenheit sich dazu bietet (Seite 183f), oder wenn er das vermeintliche Wissen von der Zukunft lediglich als ein gänzlich unbewiesenes und unbeweisbares Erwarten zum Zweck der Anpassung an die Umstände betrachtet (Seite 269; vgl. auch Seite 181), so laufen alle diese Wendungen darauf hinaus, die Vorstellungen, soweit sie über die Erfahrung hinausweisen, zu Hilfsvorstellungen herabzusetzen. "Die Aufgabe der Vernunft ist, ein Werkzeug zu sein, nicht ein letzter Richter" (Seite 268). Nur sind hier die Hilfsvorstellungen nicht ein Werkzeug im Dienst der wissenschaftlichen Forschung, sondern im Dienst des Lebens, des Selbsterhaltungstriebes, der Anpassung an die Umstände.
    3) SHUTE hält sich auf das Originelle seiner Auffassung der Kausalität viel zu Gute. Der Sache nach aber findet sich diese Kennzeichen-Theorie schon bei SEXTUS EMPIRICUS (adversus mathematicos, VIII, Seite 151f). Die Ursache ist bei SHUTE das, was jener alte Skeptiker als  semeion hypomestikon  bezeichnet. Auch BERKELEY setzt die Aufgabe des Naturforschers darin, in den Erscheinungen die "Zeichen", die zu unserer Belehrung dienen, aufzusuchen. Die aus den Naturerscheinungen entnommenen allgemeinen Regeln betreffen nicht Ursachen, sondern Zeichen (Principles of human knowledge, § 65, Seite 108). Auch in HUMEs Kausalitätstheorie ist diejenige SHUTEs als ein Moment enthalten.
    4) Vgl. mein Buch "Erfahrung und Denken", Seite 97f
    5) Was SHUTE gegen diesen von ihm vorausgesehenen Einwand Seite 266f vorbringt, ist doch eine allzu bequeme Ausflucht. Übrigens nicht einmal "geschichtliche Tatsachen" dürfte er heranziehen; sondern er dürfte sich immer nur auf seinen eigenen individuellen Erfahrungskreis berufen. Was die Einsicht in die Notwendigkeit solipsistischer Folgerungen betrifft, so ist SHUTE gegenüber KEIBEL und SCHUBERT-SOLDERN ein naiver Realist.
    6) Vgl. die Kritik des Standpunktes von AVENARIUS, die ich meinem Buch über KANTs Erkenntnistheorie, Seite 263f gegeben habe.