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Erkenntnis und Irrtum [Skizzen zur Psychologie der Forschung] [2/2]
Die Wucherung des Vorstellungslebens 1. Die Entwicklung des Vorstellungsllebens bringt zunächhst Vorteile für das organische, insbesondere für das vegetative Leben mit sich. Gewinnt aber das Vorstellungsleben ein zu großes Übergewicht über das Sinnenleben, so kann es gelegentlich auch zum Nachteil des organischen Lebens ausschlagen. Die Seele wird dann zum Parasiten des Leibes, welcher das Öl des Lebens verzehrt, wie HERBART sich gelegentlich ausdrückt. Wir verstehen dies, wenn wir bedenken, daß die Assoziation, auf welcher die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen beruth, wie dies schon durch Beispiele erläutert wurde, Zufälligkeiten unterliegt. Haben günstige Umstände die Vorstellungen so gelenkt, daß ihr Lauf den Tatsachen folgt oder vorauseilt, so gewinnen wir Erkenntnis. Ungünstige Umstände können aber die Aufmerksamkeit auf Unwesentliches lenken und Gedankenverbindungen befördern, welche nicht den Tatsachen entsprechen und irre führen. Gedanken, welche nach wiederholter Prüfung den Tatsachen entsprechend gefunden worden sind, können als Regulativ der Handlung nur fördern. Nimmt man aber unter besonderen Umständen zufällig entstandene Gedankenverbindungen ohne Prüfung als den Tatsachen allgemein entsprechend hin, so ergeben sich daraus schwere Irrtümer, und bei einer Leitung der Handlungen durch dieselben die schlimmsten praktischen Folgen. Dies soll nun hier zunächst durch einige Beispiel aus der Kulturgeschichte erläutert werden. 2. Kinder schlagen nach dem Bild einer unbeliebten Person, geben ihrem Unwillen wohl auch laut in Worten Ausdruck. Sie mißhandeln das Bild des Raubtieres, suchen das Bild das Bild des angegriffenen Tieres vor demselben zu schützen. Mit steigender Entwicklung wird eben das erstarkte Vorstellungsleben selbständig und gewinnt zuweilen das Übergewicht über die Sinne. Es ist anzunehmen, daß wenig kultivierte Menschen, Wilde, sich ähnlich verhalten werden. Wenn nun ein solcher das Bild eines Feindes mißhandelt und verwünscht, der Feind aber nun zufällig wirklich erkrankt oder gar stirbt, so kann er leicht den Gedanken fassen, daß seine Handlungsweise, sein Wunsch, den Tod des Feindes zur Folge gehabt hat. Dieser Glaube wird sich umso leichter halten können, als auf diesem unkontrollierbaren Gebiet der Gegenbeweis sehr schwer zu erbringen ist. In der Tat ist das Verfahren, eine Puppe des Feindes oder einen Körperteil desselben, Haare, Nägel zu mißhandeln und Verwünschungen auszusprechen, ebenso wie der Glaube an die Wirksamkeit dieser Handlung ungemein weit verbreitet. Dr. MARTIUS teilt folgende nächtliche Beobachung aus einer Indianerhütte mit (1):
Daß solche Vorstellungen selbst den gebildeteren Kreisen der antiken Kulturvölker nicht allzufern lagen, ersehen wir z. B. aus der Satire des PETRONIUS (Werwolfgeschichte des Niceros, Hexenabenteuer des Trimalchio). Die ersten 3 Bücher der allerdings zur Unterhaltung dienenden "Metamorphosen" des APULEIUS sind ganz von diesem Stoff erfüllt. LUKIANs beißender Spott über gebildete Leute, die solche Dinge ernst nehmen, bricht in der Erzählung der Unterhaltung beim erkrankten Eukrates rückhaltlos hervor. 3. Im Allgemeinen ist es ja richtig, daß was sinnlich sich nahe berührt, sich auch gedanklich verbindet. Da aber Gedanken durch Assoziation leicht in mannigfaltige und zufällige Verbindung treten, so ist man häufigen Irrtümern ausgesetzt, wenn man umgekehrt auch alles gedanklich Verknüpfte für sinnlich verknüpft hält. Das Wort ist ein Assoziationszentrum, in welchem vielfältige Gedankenfäden zusammenlaufen. Es wird dadurch zur Quelle eines sonderbaren und sehr verbreiteten Aberglaubens, des Wortaberglaubens (3). Wer ein Wort ausspricht, erinnert sich lebhaft des Bezeichneten und aller seiner Beziehungen. Den genannten gefürchteten Feind sieht er herankommen; er hütet sich denselben zu nennen. "Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt." Man will "den Teufel nicht nennen", den "Teufel an die Wand malen". "Dii avertite omen" [Gott wende das Vorzeichen ab! - wp] riefen die Römer, wenn ein Wort von böser Bedeutung gesprochen wurde. Umgekehrt tritt ein ausgesprochener Wunsch lebhafter ins Bewußtsein, erscheint der Verwirklichung näher. Hat der Mensch doch oft den Wunsch anderer erfüllt, und haben ja andere seinem Wort Folge geleistet. Warum sollte nicht irgendein Dämon, den der Naturmensch immer und überall vermutet, auch den ausgesprochenen Wunsch erfüllen? Der Name der Person erscheint dem Wilden als ein Teil derselben; er wird vor dem Feind geheim gehalten, um diesem Keine Macht über die Person, keinen Anknüpfungspunkt für Zaubereien zu geben. Der Name wird bei Krankheiten geändert, um den Dämon der Krankheit zu täuschen. Der Name des Verstorbenen und Worte, die an denselben anklingen, dürfen nicht ausgesprochen werden; sie sind "Tapu". Wer den großen, geheim gehaltenen Namen Gottes kennen würde, meinen die Mohammedaner, würde durch Aussprechen desselben die größten Wunder verrichten. Um Mißbrauch zu vermeiden, muß derselbe geheim gehalten werden. "Den Namen Gottes nicht eitel nennen!" Der Gedanke reicht weit zurück bis in das alte Ägypten. Die schlaue Göttin Isis bezwingt den Gott Re, indem sie ihm durch List das Geheimnis seines eigentlichen Namens entlockt (Adolphe Erman, Ägypten II, Seite 539) Der Wilde weiß, daß seine Glieder seinem Willen folgen und seine Umgebung nach seinem Wunsch ändern; er täuscht sich aber, indem er die genaue Grenze verkennt, die seinem Willen gezogen ist. So sehen wir auch am Sonntag den kegelschiebenden Bauern sich unwillkürlich nach der Seite neigen, nach welcher die längst losgelassene Kugel laufen soll. Und ähnliches beobachtet der Aufmerksame am eifrigen Billardspieler. Die Nichtbeachtung der Grenze, welche wir U genannt haben, ist überhaupt eine Hauptquelle der schon besprochenen und noch zu besprechenden Verirrungen. 4. Ein Mensch liegt schlafend regungslos da und erwacht dann. In der Zwischenzeit hat er aber von einem Gang in ferner Gegend geträumt, wohin sein Leib tatsächlich nicht gekommen ist; vielleicht hat er im Traum auch mit seinem längst verstorbenen Vater verkehrt, mit diesem Gespräche geführt. Nehmen wir den Fall der Ohnmacht, des Scheintodes, des Todes hinzu. Bei naiven Menschen, die wie die Kinder zwischen Träumen und Wachen keine scharfe Grenze ziehen, entsteht notwendig die Vorstellung eines zweiten, schattenhaften Ich des Menschen, welches sich vom Leib trennen und mit demselben wieder vereinigen kann, wobei im ersten Fall der Leib leblos, im zweiten wieder belebt wird. Es bildet sich so die Vorstellung von einer Seele (4), die ein selbständiges Leben führt. Besteht die Vorstellung von einem zweiten schattenhaften leben nach dem Tod länger, so wird sie im Einzelnen ausgemalt. Die Menschen träumen von diesem Leben, von einem Schattenreich, von dem sie so oft reden gehört haben, und die Vorstellungen hiervor werden immer reicher und mannigfaltiger. Eine solche Erzählung des Neuseeländers Te Wharewera teilt TYLOR (5) mit:
Ein Indianerhäuptling am oberen See wünschte, daß man seine schöne Flinte mit ihm begrabe. Nach einer Krankheit von wenigen Tagen schien er zu sterben, doch wurde er, weil man seines Todes nicht sicher war, nicht bestattet. Seine Frau wartete vier Tage bei ihm, er kehrte zum Leben zurück und erzählte seine Geschichte (6).
5. Nach diesen Vorstellungen entspricht also nicht nur jedem Menschen- oder Tierleib, sondern auch jedem Gegenstand eine Seele oder eine Art Geist, der natürlich nach Analogie des eigenen gedacht wird. Der Wilde versteht die Vorgänge, die er in seiner Umgebung hervorbringt am Besten als Wirkungen seines Willens. So faßt er auch alle ihm angenehmen oder unangenehmen Vorkommnisse als Äußerungen eines ihm freundlich oder feindlich gesinnten geistigen Wesens auf. Die stets geschäftige und wuchernde Phantasie des nach einer Unternehmung gierigen oder durch Feinde geängstigten Schwarzafrikaners erblickt in den unbedeutendsten ihm auffallenden Dingen die Spur solcher freundlichen oder feindlichen Geister. Diese Objekte - "Fetische" - werden gesammelt, verehrt und gepflegt, mit Branntwein begossen, wenn sie sich günstig erweisen, wohl auch mißhandelt im Fall der vermeintlichen Ungefügigkeit.
6. Die dualistischen Vorstellungen von Geistern, von einem jenseitigen Leben usw. sind sehr harmlos, solange sie rein theoretisch bleiben und sich auf einem gänzlich unkontrollierbaren Gebiet bewegen. Wenn aber die durch Träume erzeugten Ansichten praktische Folgen haben, zu Handlungen treiben, welche das Wohlbefinden und Leben der Genossen zerstören, ohne auch nur einem den geringsten Nutzen zu bringen, wenn das Unkontrollierbare hinreichende Macht gewinnt, sich mit dem Kontrollierbaren in Widerspruch zu setzen, dann führt dies zu den furchtbarsten Tatsachen der Kulturgeschichte. Wir denken zunächst an die Menschenopfer bei der Leichenfeier der Verstorbenen, um diesen uach nach dem Tod Frauen, Diener, kurz alle Bequemlichkeiten zu verschaffen.
- "Selbst dieses jährliche Gemetzel wird noch durch fast tägliche Hinmordungen ergänzt: jede Handlung, welche der König vollzieht, muß, mag sie noch so trivial sein, pflichtgetreu seinem Vater ins Schattenreich gemeldet werden. Dazu wird ein Unglücklicher, fast immer ein Kriegsgefangener, erwählt." 7. Wo tote Menschen schon nach Mord so lüstern waren, konnten Geister, Dämonen und Gottheiten nicht bescheidener sein.
Diese Dämonen und Gottheiten, die einen eingebildeten Vorteil so teuer gegen einen reellen Schaden verkaufen, sind nun leider sehr mannigfaltiger Art und von ungeheurer Anzahl. HERODOT (10) erzählt vom Zug des XERXES gegen die Griechen:
- "Bei den Milanau-Dajaks auf Borneo wurde bei Erbauung des größten Hauses ein tiefes Loch gegraben, um den ersten Pfosten aufzunehmen, der sodann darüber aufgehängt wurde; dann wurde eine Sklavin in die Aushöhlung gebracht; auf ein Signal wurden die Stricke zerschnitten und der ungeheure Balken stürzte herab und zerschmetterte das Mädchen zu Tode, ein Opfer den Geistern." Die Wassergeister sind ebenso graumsam. "Der Hindu rettet keinen Menschen, welcher im heiligen Ganges ertrinkt." Die Insulaner des malayischen Archipels teilen mit vielen europäischen Völkern den Glauben, daß man einen Ertrinkenden nicht ungestraft retten darf. "Der See, der Fluß will sein Opfer haben." Auch Vulkanen werden Menschen geopfert, d. h. in die Krater geworfen. So ist also die müßige wuchernde menschliche Phantasie eifrig beschäftigt, die natürlichen Übel, die der Mensch ohnehin zu tragen hat, noch ausgiebig zu vermehren. Diese Qualen sind keineswegs nur an die niederste Kultur gebunden. Auch die europäische Menschheit der neueren Zeit hatte noch schwer an denselben zu tragen. Bedenken wir nur, daß die Inquisition, nachdem sie durch Jahrhunderte gewütet, den grausamen Tod von vielen Tausenden von Menschen verschuldet, blühende Staaten und Kulturen zugrunde gerichtet, erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Einstellung ihrer verhängnisvollen Tätigkeit sich gezwungen sah. (12) Den Betroffenen macht es gewiß keinen Unterschied, ob sie für die Erdgeister lebendig begraben werden oder für die Geister der Dogmen verbrannt werden,ob sie dem Aberglauben und dem Despotismus des 'XERXES, den Intrigen der Magier, oder der Herrschsucht und Intoleranz moderner Priester zum Opfer fallen. Unsere Kultur ist der Barbarei noch bedenklich nahe. 8. Wenden wir uns nun freundlicheren Bildern zu. Die spontan spielenden Vorstellungen, die wechselnden Verbindungen der Gedanken, welche unabhängig von der jedesmaligen sinnlichen Leitung und ohne Nötigung durch das materielle Bedürfnis, ja weit über dessen Maß hinaus, ihr Leben betätigen, erheben den Menschen über das Tier. Das Phantasieren über das Erlebte, das Gesehene, die Poesie, ist die erste Erhebung über das *Alltägliche, über das keuchende Lasttragen des Lebens. Mag diese Poesie, kritiklos ins Praktische übersetzt, auch oft schlimme Früchte tragen, wie wir eben gesehen haben, so ist sie doch der Anfang der geistigen Entwicklung. Wenn diese Phantasie sich mit der sinnlichen Erfahrung in Beziehung setzen, in der ernsten Absicht, letztere zu durchleuchten, und sich andererseits von dieser zurechtweisen zu lassen, so ergeben sich stufenweise religiöse, philosophische, wissenschaftliche Vorstellungen (COMTE). Betrachten wir also diese poetische Phantasie, welche geschäftig alles Erlebte ergänzt und modifiziert. 9. Die Knochen großer Tiere, wie Rhinozeros, Mammut usw., welche in der Erde gefunden werden, erzeugen bei den naiven Bewohnern der betreffenden Gegend fast regelmäßig die Vorstellung und die Sage eines Kampfes von Riesen, der hier stattgefunden hat. (13) Eine Sandhose, welche durch die Wüste, eine Wasserhose, welche über das Meer dahinschreitet, wird für den naiven Beobachter zum riesigen Dämon, dem "Dschin" von "Tausend und einer Nacht". Dem Chinesen gelingt es sogar, den Kopf oder Schweif des Drachen zu erkennen, der sich aus den Wolken ins Meer stürzt. Die Sintflutsage der hebräischen Bibel ist, wie aus vielen gemeinsamen Einzelheiten hervorgeht, der älteren babylonischen Sage nachgebildet. Die weite Verbreitung analoger Sagen rührt aber daher, daß dieselben überall fast notwendig entstehen. Wenn auf größeren Höhen versteinerte Muscheln und andere Wassertiere gefunden, gelegentlich auch Boote von nicht mehr gebräuchlicher Form daselbst ausgegraben werden, welche Befunde in der Tat weit verbreitet sind, so muß dem naiven Beobachter, der nichts von Hebungen und Senkungen weiß, dem geologische Betrachtungen fremd sind, der Gedanke einer großen, in ungewöhnliche Höhe reichenden Flut sich aufdrängen (14). Vulkane werden oft als von Geistern gezeizte, von Titanen bewohnte Berge aufgefaßt, deren Bewohner Brände und Steine heraus schleudern. In eigentümlicher Weise legen sich die Kamtschadalen das Vorkommen der Walfischknochen auf Vulkanen zurecht, wobei letztere sie als von Geistern bewohnt fürchten. Die Geister fangen in der Nacht Walfische, kochen dieselben und werfen die Knochen hinaus.
10. Alles, was der primitive Mensch nicht versteht, erscheint ihm in einem eigentümlichen Licht. Wir können diese Beleuchtung nur wiedergewinnen, wenn wir uns lebhaft in die frühe Jugend, in die Kindheit zurückversetzen. Da lernen wir begreifen, wie dem Wilden sein Spiegelbild im Wasser oder das Echo seiner Stimme als etwas Geisterhaftes erscheint (16). Wer hätte als Kind nicht Ähnliches empfunden? Und in der Tat, kann es auch nach dem theoretischen Verständnis etwas Merkwürdigeres geben als dieses körperlose Gesichtsobjekt, oder das einfachste Phonogramm, das unsere Stimme der Luft eingeprägt hat, und das wir nach einigen Sekunden nochmals mit dem Ohr abfassen? Aber leider verliert der zivilisierte Mensch zu seinem Schaden so leicht die Fähigkeit, sich zu wundern. 11. Ein anderer Zug, den die Wilden mit dem Kind gemein haben, ist das Verhalten gegen die Tiere. Dem Wilden sind die Tiere fast seinesgleichen, seine "jüngeren Brüder", mit denen er wie die Kinder spricht. Er wünscht ihre Sprache zu verstehen, um zu erfahren, was sie wissen. Er schreibt ihnen Kräfte zu, welche die seinigen übersteigen (17). Er kann ja nicht wie der Vogel fliegen, wie der Fisch tauchen, wie die Spinne an einem Faden klettern. Als mein etwa vierjähriger Junge einen mächtigen zahmen Raben auf der Schwelle des Hauses sitzen sah, blieb er verwundert vor ihm stehen, und tat ganz ernsthaft die Frage: "Wer ist das?" Die Form der Rede hat ja bei Kindern nicht viel zu bedeuten. aber auch ich konnte mich des Eindrucks einer bedächtigen *Persönlichkeit nicht erwehren, zumal ich kurz zuvor gesehen habe, wie der Vogel einen ihn neckenden Schusterjungen "zurechtgewiesen" hatte. 12. Steht man am Ufer des Meeres, so erscheint dieses als eine flache Scheibe, das Land, wenn man einen weiteren Horizont hat, ebenfalls als eine Scheibe, welche auf dem Meer sozusagen schwimmt. Das Ganze deckt das "Gewölbe" des Himmels. Diese Beobachtungen bilden zugleich die ersten Grundlagen der primitiven Geographie und Astronomie. Daß dieser Anblick auf physiologischen Umständen beruth, erkennt der Beobachter auf einer hohen isolierten Bergspitze oder gar im Luftballon. Er glaubt sich dann in einer bemalten Hohlkugel zu befinden, deren untere Hälfte die Erde, deren obere Hälfte der Himmel darstellt, die der Ballonbewegung entgegen fortzurollen oder zu fließen scheinen. Diese Beobachtung ergibt sich aber zu selten, um auf die populäre Vorstellung Einfluß zu üben. Für den gemeinen Mann bleiben Meer und Erde (physikalisch) eine Scheibe, der Himmel ein Gewölbe. Wenn nun dieser Mann an einer westlichen Meeresküste die glühende Sonne ins Wasser tauchen sieht, so glaubt er, er müsse sie zischen hören. Er hört sie wohl auch wirklich zischen, indem er irgendein zufälliges Geräusch hierauf bezieht. So entsteht die Vorstellung und Sage, welche nach STRABON (18) beim "heiligen Vorgebirge" (St. Vincent) in Iberien (Spanien) in Umlauf war und die Mr. ELLIS in weiter Ferne, auf den Gesellschaftsinseln der Südsee wiedergefunden hat (19). 13. Das Kind und die Völker im Urzustand haben keine Gelegenheit, über solche *naive Vorstellungen hinauszukommen. Das Kind sieht die Sonne hinter einem Hügel auf- oder untergehen und läuft hin, um dieselbe zu fassen. Zwar zeigt sich dann, daß der Hügel nicht der richtige war, daß sich dahinter ein zweiter und dritter erhebt, an dem die Sonne hängt, aber einer wird doch der richtige sein. (20) Der Gedanke, die Sonne mit einem Netz einzufangen, schließt für das Kind keine Unmöglichkeit ein. Die über die Erde weit verbreiteten Märchen vom Sonnenfänger lassen uns eine primitive Kulturstufe vermuten, für welche das, was uns zur angenehmen Beschäftigung der Phantasie erfunden scheint, ganz wohl ernst gemeint sein kann. Ähnlich verhält es sich wahrscheinlich mit anderen Märchen, z. B. jenem von Hans und dem Bohnenstengel, und der ganzen Gruppe analoger Geschichten. Der Himmel erscheint den naiven Sinnen des Kindes keineswegs so hoch, daß es denselben durch Klettern an einem hohen Baum für unerreichbar halten müßte. Und dies ist das gemeinsame, für uns märchenhafte Motiv der genannten Gruppe von Erzählungen (21). Erst nach und nach, mit steigender Kultur, erhalten solche Erzählungen einen leisen Zug von Humor und Ironie, bis sie endlich als Hirngespinste zur bloßen Belustigung behandelt werden. durch die Märchen primitiver Stämme, verbunden mit der Beobachtung der Kinder, erhalten wir einen Einblick in die Anfänge der Kultur, wie derselbe größer und tiefer kaum gedacht werden könnte. 14. Ergreift die Phantasie ergänzend und modifizierend schon die einzelne Beobachtung, so schont sie auch den ganzen Komplex eines historischen Berichtes nicht. Mit einiger Vorsicht läßt sich aber der tatsächliche Kern aus der poetischen Hülle herausschälen, und braucht nicht mit dieser als wertlos weggeworfen zu werden. Als Beispiel sei die Tradition eines zentralamerikanischen Stammes über die Einwanderung aus dem Norden angeführt (22):
15. Aus phantastisch verwobenen Naturbeobachtungen und historischen Traditionen entstehen die Vorstellungen des primitiven Menschen über seine Herkunft, über sein Verhältnis zu den Geistern, das Leben nach dem Tod, kurz die Ansichten, die man gewöhnlich als die religiösen oder mythologischen bezeichnet. Welchen Wert dieselben als poetische Erhebung haben, wurde bereits besprochen. Schon indem der Mensch Hilfe von seinen Göttern und Dämonen erhofft, wird er manche Notlage leichter ertragen, und indem er im Glück auch Schlimmes befürchtet, mag sein Übermut oft in heilsamer Weise gedämpft werden. Diese Ansichten sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Dem Beobachter, der die modernen Religionen kennt, fällt an allen diesen primitiven Systemen auf, daß dieselben, und insbesondere die Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod, nichts mit Lohn und Strafe, nichts mit Vergeltung und überhaupt nichts mit Ethik zu tun haben. 16. Die Ethik des primitiven Menschen, die allerdings von der modernen, den ungleichen Lebensbedingungen entsprechend, sehr verschieden, aber darum nicht minder streng ist, wird ihm von der öffentlichen Meinung vorgeschrieben, welche wohl erkennt, was dem Gemeinwesen dient oder nicht zuträglich ist. Bei Verstößen gegen diese Ethik hat er sich mit dieser öffentlichen Meinung und deren Folgen abzufinden. Sein Verhalten regelt sich in natürlicher Weise nach den Verhältnissen des gegenwärtigen Lebens. Es ist gewiß nicht rational, die Ethik auf in Bezug ihrer Richtigkeit unkontrollierbare Grundlagen zu stellen. Wo aber ein Teil des Volkes zu dauernder Sklaverei verurteilt, der andere Teil bestrebt ist, alles Gute des diesseitigen Lebens für sich zu nehmen, da ist eine Ethik, welche mit Vergeltung nach dem Tod rechnet, für ersteren Teil ein nicht zu unterschätzender Trost, für letzteren Teil recht bequem. Gesünder aber ist eine Ethik, welche, wie die hoch entwickelte chinesische, sich nur auf Tatsächliches gründet. Ethik und Recht gehören zur sozialen Kulturtechnik, und stehen desto höher, je mehr das vulgäre Denken durch wissenschaftliches Denken aus beiden Gebieten verdrängt ist. 17. Es wird wohl auch behauptet, daß manchen Stämmen alle religiösen oder mythologischen Vorstellungen fehlen. Als Beispiel mag folgender Bericht Erwähnung finden. (23)
18. Religion, Philosophie und Naturauffassung sind auf primitiver Entwicklungsstufe untrennbar miteinander verbunden. Wo, wie im antiken Griechenland, eine geschlossene Priesterkaste fehlt, welche ihre Interessen kräftig vertreten könnte, entwickelt sich leichter eine freiere, die Schranken der herkömmlichen religiös-mythologischen Vorstellungen durchbrechende Philosophie. Phantastisch und abenteuerlich ist auch dieses erste Philosophie, wie wir an den Versuchen der Ionier und Pythagoräer sehen. Und wie sollte es auch anders sein. Gilt es doch vor allem, überhaupt eine Weltsicht zu gewinnen, und kann doch die Kritik erst einsetzen, wenn mehrere Versuche, mehrere ungleichwertig scheinende Ansichten zu Vergleich, Widerspruch oder Zustimmung auffordern. Philosophie und Naturwissenschaft ist da noch eins. Die ersten Philosophen sind auch Astronomen, Geometer, Physiker, kurz: Naturforscher. Gelingt es ihnen aber, neben ihrer Weltanschauung von zweifelhaftem Wert auch die Bilder kleinerer Naturausschnitte in vor der Kritik besser standhaltender Weise festzuhalten, so sammeln sich diese, werden allgemeiner anerkannt und bilden die Anfänge einer besonderen Naturwissenschaft. Man denke etwa an die geometrischen Funde des THALES und PYTHAGORAS, an die akustischen Beobachtungen des letzteren. Auch diese beginnende Naturwissenschaft enthält noch reichlich phantastische Elemente. Wir können sie unbedenklich größeren Teils als eine Naturmythologie bezeichnen. Indem nun der sehr vernünftige Versuch gemacht wird, die ganze Natur durch einen dem Forscher leichter verständlichen Teil zu begreifen, wird allmählich eine animistisch-dämonologische Naturmythologie, durch eine Mythologie der Stoffe oder Kräfte, durch eine mechanisch-atomistische oder durch eine dynamische Naturmythologie abgelöst. Häufig bestehen diese verschiedenen Auffassungen auch nebeneinander, und die Spuren derselben reichen bis in die neue Zeit. Man denke an die Lichtteilchen NEWTONs, an die Atome DEMOKRITs und DALTONs, an die Theorien der modernen Chemiker, an die Käfigmoleküle und gyrostatischen [Drehmoment - wp] Systeme, endlich an die modernen Ionen und Elektronen. Die mannigfaltigen physikalischen Stoffhypothesen, die Wirbel des DESCARTES und EULER, die in den neuen elektromagnetischen Strömungs- und Wirbeltheorien wieder aufleben, die Sink- und Quellstellen, welche in die vierte Dimension des Raumes führen, die ultramundanen Körperchen, welche die Gravitation erzeugen usw. usf. mögen noch erwähnt werden. Ich denke, das ist ein Achtung gebietender Hexensabbat von abenteuerlichen modernen Vorstellungen. Diese Ausgeburten der Phantasie kämpfen um ihr Dasein, indem sie sich gegenseitig zu überwuchern suchen. Zahllose diser Phantasiesprossen und Blüten müssen angesichts der Tatsachen von der unerbittlichen Kritik vernichtet werden, bevor eine sich weiter entwickeln kann und längeren Bestand hat. Um diesen Vorgang zu würdigen, bedenke man, daß es gilt, die Naturvorgänge auf die einfachsten begrifflichen Elemente zurückzuführen. Dem Begreifen der Natur muß aber die Erfassung durch die Phantasie vorausgehen, um den Begriffen einen lebendigen anschaulichen Inhalt zu verschaffen. Und eine desto lebhaftere Phantasie ist erforderlich, je ferner die zu lösende Aufgabe dem unmittelbaren biologischen Interesse liegt. ![]()
1) Tylor, Urgeschichte, Seite 173 2) Ennemoser, Geschichte der Magie, Leipzig, 1844. - Roskoff, Geschichte des Teufels, Leipzig 1869. - Soldan, Geschichte der Hexenprozesse, Stuttgart 1843. - Wer bei dieser Lektüre den Humor verlieren sollte, lese zur Erholung Voltaires Artikel: "Bekker, Incubes, Magie, Superstition" in dessen Dictionaire philosophique, und zur völligen Aufheiterung Mises (Gustav Theodor Fechner), Vier Paradoxen, Leipzig 1846 und zwar: "Es gibt Hexerei." 3) Tylor, Urgeschichte, Seite 159. 4) Neben der Vorstellung von einer Schattenseele entwickelt sich aus leicht begreiflichen, dem wachen Leben entnommenen Gründen der Gedanke einer Hauch- und einer Blutseele (vgl. Odyssee, G XI, V. 33-154). Die Schattenseelen gewinnen Erinnerung, indem sie Blut trinken. 5) Tylor, Anfänge der Kultur, Bd. 2, Seite 49. 6) Tylor, a. a. O., Bd. 1, Seite 474. 7) Tylor, a. a. O., Bd. 2, Seite 159 8) Tylor, a. a. O., Bd. 1, Seite 451. 9) Tylor, a. a. O., Bd. 2, Seite 405. Das Tatsächliche findet sich bei Diodor XX, 14. - Bei diesem noch andere Berichte über Menschenopfer. 10) Herodot, VII, C. 113, 114. 11) Tylor, a. a. O., Bd. 1, Seite 106 und folgende. 12) Fridolin Hoffmann, Geschichte der Inquisition, Bonn 1878. - Henry Charles Lea, A history of the inquisition, New York, 1888. 13) Tylor, Urgeschichte, Seite 104-112. Tylor, Anfänge der Kultur, Bd. 1, Seite 288, 289. 14) Tylor, Urgeschichte, Seite 409f. - Ich selbst hörte einmal bei Gelegenheit eines Aufenthaltes am Gardasee von einem Landmann die Ansicht aussprechen, daß der See einst viel höher gestanden hat und der Monte Brione zwischen Riva und Torbole eine Insel gewesen ist, weil man oben Muscheln findet. 15) Tylor, Urgeschichte, Seite 411 16) John Wesley Powell, Truth and Error, Chicago 1898, Seite 348. 17) a. a. O., Seite 384 18) Strabon, III. Iberia, 1. 19) Ich selbst hörte noch als Kind von 4 oder 5 Jahren die Sonne zischen, als sie scheinbar in einen großen Teich tauchte, und wurde deswegen von den Erwachsenen verlacht. Die Erinnerung ist mir aber sehr wertvoll. 20) Auch ich bin als Kind der untergehenden Sonne von Hügel zu Hügel nachgelaufen. 21) Tylor, Urgeschichte, Seite 436f und 443f. 22) Tylor, Urgeschichte, Seite 387. 23) Lubbock, Entstehung der Zivilisation, Jena 1875, Seite 175 |