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OTTO von der PFORDTEN
Konformismus als
Erkenntnisart des Normativen


"Denken ist nicht gleich Sein; aber das in Normen Gedachte muß dem wahren Wesen  konform sein. Nicht das Wirkliche, sondern das Normative ist das Vernünftige; es muß schon im Wesen der Dinge irgendwie beschlossen und angelegt sein."

I.

Das Problem der menschlichen Erkenntnis wird fast immer von rein theoretischen Gesichtspunkten aus untersucht, sei es durch Prüfung unseres Erkenntnisvermögens oder der Bedingungen unter denen sie überhaupt zustande kommt. Auf diesem Weg hat es bisher unmöglich geschienen, zwischen Phänomenalismus bzw. erkenntnistheoretischem Idealismmus und den verschiedenen Formen eines wissenschaftlichen Realismus eine Entscheidung zu treffen. Im Gegensatz zu diesen rein theoretischen Bestrebungen könnte man die folgenden Gedankengänge erkenntnis praktisch  nicht etwa pragmatistisch - nennen; und Erkenntnislehre statt Erkenntnistheorie. Sie wollen a posteriori, dem induktiven Weg einer Einzelwissenschaft folgend, die Frage beantworten, welches der  Erfolg  unserer Erkenntnisarbeit ist - und damit ihr Wert. Ob der Mensch fähig sein würde, die Integralrechnung anzuwenden oder durch Spektralanalyse die Zusammensetzung der Gestirne zu erforschen, ließ sich ja auch nicht a priori feststellen, sondern der Erfolg mußte es erweisen.

Diese Behandlung der Problemstellung ist nicht neu. KANT hat sie in seinen Prolegomena angewandt, wo er die Tatsache der Mathematik und ihrer absoluten Gültigkeit als gegeben zum Ausgangspunkt seiner Schlußfolgerungen macht. Seither sind von den Naturwissenschaften Mathematik und theoretische Physik (Mechanik) häufig zu solchen Schlüssen herangezogen worden, dagegen noch nicht die  Chemie,  die zu KANTs Zeit als Wissenschaft noch gar nicht existierte.

Mathematik und theoretische Physik aber  konnten  nur zum Phänomenalismus führen, weil ihr Wesen rein phänomenaler Art ist. Sie fragen nur nach den Beziehungen und Gesetzen, die zwischen den Dingen walten, nicht nach diesen selbst und bedürfen keines Substanz- noch eines eigentlichen Seinsbegriffs. Jedenfalls bereitet die Eigenart dieser Wissenschaften der phänomenalen Erklärungsweise keine Schwierigkeiten.

Anders die bisher in Erkenntnisfragen so sehr vernachlässigte  Chemie.  Sie beschäftigt sich mit den  Dingen,  nicht nur mit den Erscheinungen und Regelmäßigkeiten und in ihr kommt uch das  Qualitative  der Natur zur Geltung, nicht nur das seit Jahrhunderten einseitig behandelte mathematisch-mechanische  Quantitative. 

Speziell die chemische  Synthese  scheint mir den Beweis zu liefern, daß unsere Begriffsbildung etwas vom wahren Wesen der Dinge erfaßt, also nicht rein subjektiv gedeutet werden kann. Man muß bei einer solchen Synthese drei Stadien unterscheiden: zunächst die aufgrund induktiver Hypothesen gewonnenen  Symbole  für die zu mischenden Stoffe, dann die aufgrund jener Hypothesen angeordnete  Reaktion  jener Stoffe aufeinander, endlich den neuen, nach der Idee unserer Spekulationen erzielten Stoff, das Resultat der Synthese. Dann kann nur das erste und dritte Stadium, isoliert betrachtet, streng phänomenal erklärt werden - aber das zweite, die Reaktion selbst,  nicht mehr.  Und auch das dritte nicht, sobald man es als Resultat des zweiten, des Reaktionsvorgangs, betrachtet.

Bei diesem handelt die Natur nach unseren Symbolen und logischen Schlüssen und gehorcht dabei unseren Intentionen; also muß entweder sie unsere Gedanken erraten - oder wir etwas von ihren Geheimnissen. Ein Bild, eine Erscheinung, ein Phänomen kann man dieses Stadium, die vorausgesagte und gehorsame Reaktion nicht nennen; niemand beobachtet sie und niemand hat hier "Vorstellungen". Bei der chemischen Synthese  dirigieren  wir ein Werden aufgrund unserer Hypothesen, das wir vollständig überblicken; und es gelingt uns selbst in den kompliziertesten Fällen aufgrund jener seltsamen verzweigten Formelgebilde, die Ihnen allen aus der Chemie bekannt sind. Die diesem tausendfachen Erfolg zugrunde liegenden spekulativen Hypothesen über Atome und Moleküle, ihre Bindun, ja ihre Anordnung im Raum sind  nicht  der sinnlichen Erscheinung der Physis entnommen, wie etwa bei der Farbenmischung in der Dreifarbenfotografie, sondern ruhen auf ganz abstrakten Begriffen. Man kann diese metaphysisch nennen, könnte sie aber auch etwa als  entophysisch  von der reinen Metaphysik unterscheiden, weil ihr Gepräge noch etwas von der sinnlichen Erscheinung behalten hat und sie nicht  formlos  gedacht sind. Im Gegensatz zur Mathematik aber bedürfen diese Begriffe eines Seins- oder Substanzbegriffes; denn auch die Energie wird zur  Subsistenz,  wenn man sie zur Erklärung der gesamten chemischen Vorgänge benutzen will.

Diese unsere entphysischen, zunächst hypothetischen, spekulativen Begriffe also respektiert die Natur in tausenden und abertausenden von Fällen gelungener Synthesen; die spezielle Idee, die einer solchen zugrunde liegt, existiert häufig nur im Kopf  eines  Gelehrten, während der die sogenannte Reaktion ausführende Schüler gar nichts davon weiß - und dennoch gelingt diese. Die Dinge  verändern sich  nicht nach einem Plan der Natur, sondern nach dem Plan des denkenden Chemikers; im zweiten Stadium müßte also die Natur von dessen Gedanken in ihrem  Werden  beeinflußt sein, der Chemiker als Schöpfer wirken, wenn seine Begriffe rein subjektiv menschlich wären und ihnen keine Beziehung zum wahren Wesen der Dinge zukäme. Dieses unseren Ideen gehorsame  Werden  ist es, was meines Erachtens nicht mehr rein phänomenalistisch erklärt werden kann, wie es mit der allgemeinen Ordnung eines Kosmos in mathematischen Konstruktionen der Fall ist. Der Unterschied wird vielleicht am deutlichsten, wenn wir mit der chemischen Synthese die Bahnen der Gestirne vergleichen; auf ihr Wandeln ist all unser Denken ohne Einfluß - hier lenken wir Veränderungen der Dinge nach unserem Willen und unseren Ideen. Das wäre unmöglich, wenn diese Ideen, die ja auf induktivem Weg aus der Empirie abstrahiert sind, nicht etwas vom Sein oder Wesen der Dinge getroffen hätten.

Der Phänomenalismus ist eine Erkenntnisart der Anschauung, der Ruhelage, des Seins, aber er ist keine zureichende für das Werden oder Geschehn, zumal wenn wir dieses nach unseren Hypothesen lenken können. Natürlich ist die chemische Synthese dafür nur das schärfste, das am meisten einleuchtende Beispiel und es ist meine Meinung, daß all unser erfolgreiches Beeinflussen eines Werdens in der Natur nicht phänomenal erklärt werden kann. Aber dieses stärkste Beispiel ist es, was ich hier zur Diskussion zu stellen wünschte; mit ihm stehen und fallen die Konsequenzen, die ich daraus ziehe und Ihnen nur ganz kurz skizzieren kann.


II.

Für diese Erkenntnisart habe ich den Namen  Konformismus  vorgeschlagen. Das Wort soll zusammenfassen, daß es eine Außenwelt gibt, die wir erkennen und daß unsere Begriffe in einer  bestimmten, gesicherten  Beziehung zu dem nach wie vor unbekannten Wesen der Erscheinungswelt stehen. Unser Denken ist konform, in irgendeiner Weise entsprechend, dem wahren, letzten Sein der Dinge, die wir in  Konformitäten,  wie z. B. den Begriffen Atom, Molekül usw. erkennen. Die metaphysische Insel bleibt in Nebel gehüllt; aber nicht nur unser Ufer ist realistisch hell erleuchtet, sondern auch die hinüberführende Brücke unserer Konformitäten ist fest, dauerhaft und gesichert. Das soll die Chemie beweisen; aber es gilt dann natürlich für alle Wissenschaften, die der Erkenntnis, nicht nur der Beschreibung dienen und man muß deren Konformitäten und damit ihren Erkenntniswert im einzelnen feststellen.

Eine  erste  Konsequenz ergibt sich für die Logik. Wir verdanken diesen Erfolg der Synthese nicht beliebigen Begriffen, sondern ganz bestimmten; erst als sie gefunden waren, stellte sich der Erfolg der Synthese ein. Also muß man in der Logik ihre regellosen von den gesetzmäßigen, den  normativen  Bestandteilen trennen. Die Unterscheidung von Urteil und Begriff kann da nicht genügen; deshalb habe ich versucht, zwischen  Eindruck  und Begriff zu unterscheiden. Nennt man logische - nicht etwa psychologische - Eindrücke diejenige Zusammenfassung von Urteilen, aus denen kein normativer Begriff, kein wissenschaftlicher Denkwert entstehen kann, so bleibt das naiv-realistische Weltbild an solchen Eindrücken haften und besteht völlig aus ihnen.

Aber auch die Wissenschaft hat mit solchen Eindrücken begonnen; ein Beispiel liefert wiederum die jüngste der exakten Wissenschaften, die Chemie. Die sogenannte  Alchemie  operierte noch durchweg mit unklaren Eindrücken von der sinnlichen Erscheinung der Natur; die ersten Begriffe, die sie prägte, nahmen das den Sinnen direkt gegebene Oxyd für das Einfache, das Metall, weil daraus entstehend, für das Zusammengesetzte.  Diese  Begriffe lieferten keine Synthesen und ergaben keine Konformitäten. Erst durch LAVOISIER kam die Chemie zu richtigen, zum Normativen führenden Begriffen. Auch das logisch-normative Denken geht also, wie die ethischen und ästhetischen Normen, contra naturam - gegen das sinnlich Gegebene, gegen oder hinter die Realität; es ist ein Umformungsprozeß in Richtung auf das wahre Wesen der Dinge.

Den Untergrund des logisch-wissenschaftlich Normativen bildet das Walten der Eindrücke, dessen Gebiet sich ungefähr mit dem von WUNDT in seiner Völkerpsychologie behandelten deckt. Bei der Begründung von Sprache, Mythus und Kunst bedarf es noch keiner normativen Konformitäten; hier ruht noch alles im naiv-realistischen Weltbild. Wie nun die normative Begriffsbildung dann durch das Zusammenwirken Einzelner und Mehrerer zustande kommt, muß speziell untersucht werden; der Erfolg des normativen Denkens erst überspringt die Scheidewand der Nationen - die Eindrücke bleiben innerhalb der Volksgemeinschaft. Von vornherein wird sich nie feststellen lassen, welcher Begriff sich zu einer Konformität eignet; nur daß bloße Eindrücke dazu ungeeignet sind. Erst der Erfolg der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit läßt jene hervortreten und darin besteht ihr Fortschritt: eine Evolution nicht der einfachsten oder bequemsten Begriffsbildung, sondern der durch ihre Leistungen sich als die richtigsten und besten Konformitäten erweisenden Begriffe.

Eine zweite Konsequenz für die  Psychologie  ist die Annahme einer Art schöpferischer Synthese - in engerem Sinne als bei WUNDT, die speziell das Verarbeiten von Eindrücken zu Begriffen ermöglichst. Dann aber das Walten eines  intellektuellen  Imperativs, der uns zwingt, das Normative zu suchen. Unter ihn fällt das Denken in Eindrücken noch nicht, wohl aber die Auswahl unter den Begriffen, die zwar von der Empirie stets geleitet, aber letzten Endes nicht von ihr hervorgerufen sein kann. Das große anthropologische Problem - in LOTZEs Sinn des Wortes - ist nicht das Auftreten bewußter Eindrücke im allgemeinen, sondern das dem Menschen eigentümliche Entstehen normativen, erfolgreichen Denkens.


III.

Die weiteren Konsequenzen betreffen die Gebiete der Ethik und Ästhetik. Hat man erkannt, daß das Auftreten gesicherter Konformitäten zum wahren Wesen der Dinge an den Begriff des  normativen  Denkens geknüpft ist, so liegt der Schluß nahe, auch den anderen normativen Werten - Werte als verwirklichte Normen gedacht - eine ähnliche Bedeutung zuzuschreiben. Nur muß man hier für Erkennen etwa das Wort  Erfassen  gebrauchen. Dann würden wir auch auf dem Gebiet des Guten und Schönen in allen ihren  normativen  Begriffen etwas vom wahren Wesen des Universums erfassen. Kann uns dabei auch keine chemische Synthese leiten, so doch eine Art von Synthese: die Anwendung unserer ethischen und ästhetischen Begriffe in der wirkenden Persönlichkeit, im gestaltenden Leben. Auch hier liegt  das  Moment, das man nicht mehr subjektiv darstellen und erklären kann, in der  Reaktion  selbst, eben dem Vorgang, den wir Umbilden, Wirken, Gestalten nennen. Abstrakte Begriffe, hier auch Ideale genannt, wirken da wie Naturkräfte und erfüllen nicht nur den Einzelnen mit Energie, sondern strömen solche auch auf unzählige Andere aus. Wiederum kann der Phänomenalismus, dessen Konsequenz hier eben der Subjektivismus ist, das  Werden  nicht erklären; er ist nur eine Erkenntnisart - auch des ethischen und ästhetischen - Ruhens und Seins.

Diese  lebendigen  Synthesen sind nur möglich, wenn auch in unserer Erfassung des Guten und Schönen Konformitäten stecken, die hier in der Verwirklichung zu  Werten  werden. Diese unsere normativen Werte, der Extrakt unseres Lebens, können aber nicht wahrer, besser und schöner sein als das Universum selbst; das geheimnisvolle Wesen der Dinge kann nicht durch unsere subjektiven Gebilde übertroffen werden. Denken ist nicht gleich Sein; aber das in Normen Gedachte muß dem wahren Wesen  konform  sein. Nicht das Wirkliche, sondern das Normative ist das Vernünftige; es muß schon im Wesen der Dinge irgendwie beschlossen und angelegt sein. Eine richtige Theorie der Evolution muß die Normen mit einbeziehen und darf sie nicht als zufällige Gelegenheitsprodukte stehen lassen; denn unsere Werte können nicht wertvoller sein als das Universum selbst.


DISKUSSION

ITELSON.

ERNST MALLY bittet um eine genauere Festlegung des Begriffs des "Normativen".

ITELSON.

Dr. CARUS (Chicago): In Antwort auf die Bemerkung von Dr. ITELSON sagte Dr. CARUS, daß ein Unterschied zwischen astronomischen Beobachtungen und chemischen Experimenten in der Tat existiere; derselbe sei jedoch nur darauf begründet, daß unsere Arme und Maschinen nicht lang genug sind, die Gestirne zu erreichen. Die Chemie beweist allerdings hinreichend die objektive Bedeutung des Normativen.

von der PFORDTEN (Schlußwort): Der Vortragende lehnt es ab, den Begriff des Normativen hier zur Diskussion zu stellen, weil das vom Thema weit abführen würde und betont, daß zu seinem Bedauern niemand in der Debatte auf den eigentlichen Kern seiner Ausführungen eingegangen sei.


LITERATUR - Otto von der Pfordten, Konformismus als Erkenntnisart des Normativen, Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie, hg. von Theodor Elsenhans, Heidelberg 1909