ra-2A. MerklE. Stampevon JheringPh. HeckF. Somlo    
 
PHILIPP HECK
(1858-1943)
Das Problem der Rechtsgewinnung
- Rektoratsrede in Tübingen zum
Geburtstag des Königs am 25. Februar 1912 -


"Das Problem der Rechtsgewinnung durch Richterspruch steht im Mittelpunkt der juristischen Methodenlehre. Die Rechtswissenschaft ist nach ihrer historischen Entwicklung und ihrer gegenwärtigen Gestalt eine normative und praktische Wissenschaft, wie die Medizin. Das gemeinsame Endziel ist nicht die Befriedigung des Erkenntnistriebs; sondern wir wollen die Wege finden, durch die dem biologischen Rechtsbedürfnis genügt und ein Recht gewonnen wird, wie es das Leben fordert. Das für das Leben bedeutsame Recht ist nun dasjenige, das im Richterspruch verwirklicht wird."

"Es sind zwei verschiedene Anforderungen, die das Leben an die Rechtsordnung stellt, zwei Ideale, nach denen die Rechtsbildung streben soll. Das eine ist das *Ideal der vollen Bestimmtheit und das andere das Ideal der vollen Angemessenheit. Der Gesetzgeber ist nicht imstande, beiden Idealen durch seine eigenen Vorschriften zu genügen. Einmal ist sein Anschauungsvermögen unzulänglich. Er will seine Vorschriften für die Zukunft treffen. Aber die Zukunft ist nicht übersehbar. Die Mannigfaltigkeit des modernen Lebens ist fast unendlich. Die Lebensbedingungen und Lebensprobleme sind einem fortlaufenden Wechsel unterworfen. Zweitens aber sind die Ausdrucksmittel des Gesetzgebers beschränkt. Wenn ein Gesetzgeber die Fälle des Lebens überschauen könnte, so würde er doch nicht imstande sein, seine Gedanken unzweideutig und vollständig wiederzugeben. Die Folge dieser Schwierigkeiten ist, daß auch das beste Gesetz zahllose Lücken aufweist, daß dem Richter Lebenslagen begegnen, die nach den Lebensbedürfnissen und auch nach den allgemeinen Absichten des Gesetzgebers eine rechtliche Regelung finden sollten, bei denen aber keine Gesetzesvorschrift vorliegt oder doch keine bestimmte Entscheidung erkennbar ist."


Hochansehnliche Versammlung!

Die Methode der deutschen Rechtswissenschaft ist seit einigen Jahrzehnten in einer grundlegenden Umgestaltung begriffen. Eine ältere Richtung, welche von ihren Gegners als konstruktive Begriffsjurisprudenz bezeichnet wird, behandelte die Rechtssätze als Konsequenzen juristischer Allgemeinvorstellungen, der Rechtsbegriffe und legte daher das Hauptgewicht auf die Untersuchung und systematische Ordnung dieser Rechtsbegriffe. Die Aufgabe des Richters galt als eine reine Erkenntnistätigkeit. Er war darauf beschränkt den Rechtsfall unter die Rechtsbegriffe zu subsumieren. Eine rechtsschöpferische Tätigkeit war ihm versagt. Dieser Methode ist unter der bahnbrechenden Führung RUDOLF von JHERING eine neuere Richtung entgegengetreten, die den Zusammenhang des Rechts mit den Interessen des Lebens, den Zweck im Recht betont und das teleologische Element in den Vordergrund stellt. Sie wird als Wirklichkeitsjurisprudenz, Lebensjurisprudenz, Interessenjurisprudenz und neuerdings nocht mit anderen Ausdrücken bezeichnet. Die Konsequenz dieser Richtung führt dazu, daß der Richter Gesetzeslücken nach teleologischen Gesichtspunkten ergänzt, daß er also nicht nur unter Gebote zu subsumieren sondern auch subsidiär Gebote zu schaffen hat.

In der akademischen Antrittsrede, die ich vor 10 Jahren in Ihrer Mitte hielt (1), habe ich auf den Gegensatz dieser beiden Richtungen hingewiesen, mich als Anhänger der neuen bekannt und zugleich betont, daß die Konsequenzen der neuen Richtung noch nicht allgemein anerkannt sind, namentlich nicht hinsichtlich der Lückenergänzung durch Interessenprüfung. Das seitdem vergangene Jahrzehnt hat der Rechtswissenschaft eine Hochflut methodischer Erörterungen (2) gebracht, und das Problem der Lücken und ihrer Ergänzungen in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion gerückt. Wir haben zur Zeit eine Richtung in unserer Literatur, die sich als juristischen Modernismus, zum Teil auch als Freirechtsbewegung bezeichnet und eine völlige Neugestaltung der rechtswissenschaftlichen Methode fordert. Die Polemik wird sehr lebhaft geführt und die bisher bestehende Rechtswissenschaft mit sehr scharfen Wendungen bekämpft. An ihre Stelle oder neben sie soll eine psychologische oder soziologische Rechtswissenschaft treten. Der Modernismus ist nun, wenn man ihn genauer prüft, nicht so neu, wie seine Anhänger meinen. Es handelt sich im Grunde um denselben methodischen Gegensatz, den ich soeben erwähnte. Die Angriffe treffen Gegner, die schon im Rückzug begriffen sind. Sachlich neu sind gewisse Folgerungen aus der Grundanschauung für die Stellung des Richters zum Gesetz, die großes Aufsehen erregt und allgemeinen Widerspruch gefunden haben. Formell neu ist die Form der Polemik, die zum Teil mit erheblichen Übertreibungen und unzulässigen Verallgemeinerungen arbeitet. Über diesen Erscheinungen darf nicht übersehen werden, daß die neu aufgenommene Polemik gegen die Begriffsjurisprudenz sachlicht berechtigt ist und sich auf grundlegende Fragen der Rechtswissenschaft bezieht. Auch sind die Nachwirkungen der älteren Methode zur Zeit noch genügend lebendig, um eine prinzipielle Auseinandersetzung zu rechtfertigen. Die Probleme, um die es sich handelt, sind in unserem Kreis nicht neu. Kollege von MAX RÜMELIN hat sie in seinen Reden mehrfach behandelt, namentlich in der Rektoratsrede über WINDSCHEID und in der Rede über das Schweizer Zivilsgesetzbuch (3). Aber ich glaube, daß diese Gegensätze so wichtig sind, so sehr das eigentliche Glaubensbekenntnis des heutigen Juristen berühren, daß es sich rechtfertigt, sie Ihnen nochmals im Zusammenhang vorzuführen (4). Dabei will ich meinen Vortrag in 4 Teile gliedern. Ich will zuerst das Zentralproblem dieser Gegensätze, die Frage nach der Gewinnung des Rechts durch den Richter, in derjenigen Form darlegen, in der es heute der Wissenschaft gestellt ist. Dann werde ich die beiden oben erwähnten Grundrichtungen der Methode der Reihe nach schildern. Zum Schluß will ich auf einige legislative Vorschläge eingehen, welche den Zweck verfolgen, durch eine Abänderung der gesetzlichen Rechtsbildung die richterliche Rechtsgewinnung zu fördern.

I. Das Problem der Rechtsgewinnung durch Richterspruch steht im Mittelpunkt der juristischen Methodenlehre. Die Rechtswissenschaft ist nach ihrer historischen Entwicklung und ihrer gegenwärtigen Gestalt (5) eine normative und praktische Wissenschaft, wie die Medizin. Das gemeinsame Endziel ist nicht die Befriedigung des Erkenntnistriebs; sondern wir wollen die Wege finden, durch die dem biologischen Rechtsbedürfnis genügt und ein Recht gewonnen wird, wie es das Leben fordert. Das für das Leben bedeutsame Recht ist nun dasjenige, das im Richterspruch verwirklicht wird. Das Gesetzesrecht erlangt nur durch den Richterspruch die autoritative Macht, die dem Recht seinen Wert gibt. Das Gesetz wirkt zwar heute auch unmittelbar, aber nur weil man erwartet, daß der Richterspruch ihm folgen wird. Die Bedeutung des Richteramtes für das Rechtsleben ist der richtige Grundgedanke des berühmt gewordenen Vortrags, den mein Vorgänger im Rektoramt von BÜLOW vor 26 Jahren an dieser Stelle gehalten hat (6). Das Gesetz von dem man weiß, daß das Gericht es nicht anwendet, würde seine Bedeutung für das Leben verlieren. Die Grundsätze der richterlichen Fallentscheidung sind ein Gegenstand der Rechtswissenschaft, aber sie sind rückwirkend von Einfluß auf den ganzen wissenschaftlichen Betrieb. Die Wissenschaft des geltenden Rechts will die Tätigkeit des Richters dadurch vorbereiten, daß sie die allgemeinen, nomologischen Grundlagen des Urteils erforscht und systematisch geordnet darstellt. Komplexe von Vorfragen können sich mehr oder weniger aus dem Zusammenhang lösen und zu selbständigen Wissenschaften werden, wie dies bei der Rechtsgeschichte der Fall ist. Soweit aber der Zusammenhang gewahrt bleibt, wird auch die Vorstellung von der schließlichen Verwertung durch den Richter für die Methode der vorbereitenden Tätigkeit bestimmend sein. Dieser Schluß wird durch die Erfahrung bestätigt.

Das Problem der richterlichen Rechtsgewinnung erhält seine gegenwärtige Form durch folgende Umstände: Wir haben auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts eine umfangreiche aber übersehbar Gesetzgebung modernen Ursprungs. Unsere Gerichtsorganisation beruth auf dem Grundsatz, daß das Gesetz den Richter bindet, so weit es ihn binden will. Es fehlt an weiteren allgemeinen Vorschriften über Gesetzesanwendung. Das BGB hat zwar für sachliche Einzelgebiete dem Richter Verhaltensmaßregeln gegeben und vielfach durch allgemeine Ausdrücke, wie Treu und Glauben, gute Sitten, wichtiger Grund, auf wertende Urteile des Richters verwiesen. Aber es gibt keine allgemeinen Vorschriften. Namentlich ist nicht entschieden, ob der Richter nur dazu berufen ist, Lebenslagen unter vorhandene Gesetzesgebote zu subsumieren oder ob er befugt ist, Gesetzeslücken durch eigene Gebote zu ergänzen. Man hat auf solche Vorschriften verzichtet, um für Wissenschaft und Praxis freie Bahn zu geben. Damit ist uns die Aufgabe gestellt, das richtige Recht der Rechtsgewinnung selbst erst zu gewinnen. Solche Aufgaben sind von der Wissenschaft durch eine verstandesgemäße, rationale Erwägung aufgrund der Erfahrung zu lösen. Wir haben uns die vorhandenen  Bedürfnisse  zu vergegenwärtigen und ebenso die möglichen  Formen der Befriedigung. 

Im modernen Leben der Kulturstaaten zeigt sich ein Bedürfnis nach Rechtsnormen, das auf weiten Lebensgebieten und in großer Intensität auftritt. Das Vertrauen auf den mächtigen Schutz des Rechts ist ja die Grundlage, auf der wir alle uns sicher bewegen, in den Geschäften des Alltags wie bei großen Unternehmungen. Dieses Rechtsbedürfnis geht nun zunächst darauf, daß jeder mögliche  Konflikt  durch eine bestimmte im Voraus erkennbare Norm entschieden wird. Wer Geld und Kraft einem Unternehmen weiht, will vorher wissen, ob ihm die Früchte auch durch das Recht gesichert sind. Wer einen Vertrag schließt, will wissen, ob das Recht ihm die Erfüllung gewährleistet. In solchen Fällen braucht und erwartet das Leben eine bestimmte und autoritative Antwort. Oft ist es dabei mehr oder weniger gleichgültig, welchen Inhalt die Norm hat; man kann sich nach ihr richten, man will nur gesichert sein und Streit vermeiden. Oft aber stellt das Leben bestimmte Anforderungen an den Inhalt des Rechts. Das sind diejenigen Fälle, in denen der Laie auch als Unparteiischer zu einem bestimmten Urteil darüber gelangt, was Recht sein sollte. Diese Rechtsgewinnung des Laien ist für uns von Interesse. Der Laie gelangt zu einer Entscheidung entweder aufgrund einer normativen Überlegung oder intuitiv aufgrund seines Rechtsgefühls. Die normative Überlegung vollzieht sich dadurch, daß der Beurteiler sich die Wirkung der in Frage stehenden Entscheidungen auf die Lebensverhältnisse vorstellt, die Wirkungen nach Lebensidealen bewertet und daraufhin die Auswahl trifft. Der Inhalt der Norm, die durch das Rechtsgefühl gefordert wird ist nichts angeborenes, sondern der Niederschlag früherer Erfahrungen und Überlegungen, bei deren Zustandekommen und Eigenart freilich angeborene, individuelle Eigenschaften eine Rolle spielen. Zu betonen ist, daß der Gegensatz der beiden Urteilsformen ein durchaus relativer ist. Auch die normative Überlegung führt stets auf gefühlsmäßig gewonnene Grundlagen zurück. Dies gilt sowohl von der Anschauung der Wirkungen, wie namentlich von den Maßstäben und Lebensidealen, deren Aufbau einer endgültigen verstandesmäßigen Zergliederung meist widerstrebt, und auf individueller Eigentümlichkeit beruth. Der Beurteiler gleicht einem Wanderer, der mit der Laterne durch die Nacht geht. Er kann Licht verbreiten, wo er hintritt, aber im Hintergrund steht immer die dunkle Wand. Das Urteil verschiedener Laien wird daher nur übereinstimmen, soweit die Gemeinschaft der Erfahrung und der biologischen Ideale reicht, aber es muß auseinandergehen, sobald die individuellen Verschiedenheiten eingreifen. Jedermann weiß, wie sehr das kritische Rechtsurteil über denselben Fall nach der Persönlichkeit, der Klassenzugehörigkeit und der Lebenserfahrung zu wechseln pflegt. Für diejenigen Fälle nun, in denen ein übereinstimmendes Urteil zustande kommt, wird verlangt, daß die autoritative Norm diesem Urteil entspricht. Es sind somit zwei verschiedene Anforderungen, die das Leben an die Rechtsordnung stellt, zwei Ideale, nach denen die Rechtsbildung streben soll. Das eine ist das Ideal der vollen Bestimmtheit und das andere das Ideal der vollen Angemessenheit.

Der Gesetzgeber (7) ist nicht imstande, beiden Idealen durch seine eigenen Vorschriften zu genügen. Einmal ist sein  Anschauungsvermögen  unzulänglich. Er will seine Vorschriften für die  Zukunft  treffen. Aber die Zukunft ist nicht übersehbar. Die Mannigfaltigkeit des modernen Lebens ist fast unendlich. Die Lebensbedingungen und Lebensprobleme sind einem fortlaufenden Wechsel unterworfen. Zweitens aber sind die Ausdrucksmittel des Gesetzgebers beschränkt. Wenn ein Gesetzgeber die Fälle des Lebens überschauen könnte, so würde er doch nicht imstande sein, seine Gedanken unzweideutig und vollständig wiederzugeben. Die Folge dieser Schwierigkeiten ist, daß auch das beste Gesetz zahllose  Lücken  aufweist, daß dem Richter Lebenslagen begegnen, die nach den Lebensbedürfnissen und auch nach den allgemeinen Absichten des Gesetzgebers eine rechtliche Regelung finden sollten, bei denen aber keine Gesetzesvorschrift vorliegt oder doch keine bestimmte Entscheidung erkennbar ist (8). Wie soll sich der Richter verhalten? Die verstandesmäßige Erwägung stellt  drei  Hauptformen des Vorgehens zur Auswahl.  Das freie Ermessen, die Beschränkung auf Subsumtion  und die  sinngemäße  abhängige  Gebotsergänzung. 

Die Ergänzung der Lücken durch das  freie Ermessen  des Richters, durch die völlig freie Schaffung der Rechtsnorm ist praktisch denkbar. Der Richter  kann  den Einzelfall in derselben Weise entscheiden wie der Laie. Und es ist möglich, daß seine Entscheidung, wenn sie durch keine Rücksicht auf das generelle Gesetz gehemmt ist, der Eigenart des Falls besonders gut gerecht wird. Aber die Ergebnisse dieser vollkommen freien Rechtsfindung sind ebenso  individuell  bedingt wie beim Laien, ebenso abhängig von persönlicher Erfahrung und Lebensanschauung. Das freie Ermessen des Richters bietet daher keine Garantien für die Gleichförmigkeit der Entscheidungen mehrerer Richter und für die vom Leben geforderte Bestimmtheit des Rechts.

Die zweite Alternative, die Beschränkung des Richters auf Subsumtion würde darin bestehen, daß der Richter jeden Anspruch ablehnt, der nicht durch ein bestimmt erkanntes Gesetzesgebot getragen ist (9).  Das Lückenproblem wird ignoriert.  Interessen, denen kein Gebot zur Seite steht, gelten als Interessen, die der Gesetzgeber nicht schützen  will.  Sie fallen, wie man gesagt hat, in den  rechtsleeren Raum.  Dieses Verfahren wird im  Interesse der Rechtssicherheit  empfohlen. Aber es würde sehr  unbillig  wirken. Zahlreiche Interessen, die allgemein als schutzbedürftig anerkannt sind, würden schutzlos bleiben.

Die dritte Form, die  sinngemäße Gebotsergänzung  beschränkt den Richter nicht auf die Verwirklichung der erkannten Gebote, sondern gestattet ihm die fehlenden Gebote zu ergänzen, den unbestimmten die mangelnde Bestimmtheit zu verleihen. Aber er soll dabei nicht nach Eigenwertung vorgehen, sondern er soll  gebunden  sein an die Absichten des Gesetzgebers, an diejenige Wertung der Lebensideale und Lebensinteressen, die den gesetzlichen Geboten zugrunde liegt. Auf diesem Weg kann eine angemessene Behandlung der Lückenfälle ermöglicht werden, ohne die Rechtssicherheit allzusehr zu gefährden. Die Wirkung der gesetzlichen Wertungen bei der Lückenergänzung sichert bis zu einem gewissen Grad eine gleichförmige Behandlung. Eine völlige Ausschaltung des individuellen Faktors, der Eigenwertung des Richters ist freilich nicht zu erreichen. Die objektiven Wertungen sind oft unsicher oder einander widersprechend, während das Leben eine Entscheidung fordert. In einem solchen Fall werden die  eigenen Lebensideale  des Richters bei der Entscheidung einwirken. Auch die abhängige Gebotsergänzung kann als  rechtsschaffende  Tätigkeit bezeichnet werden (10).

Diese drei Alternativen, das freie Ermessen, die Beschränkung auf die Subsumtion und die sinngemäße Gebotsergänzung werden in der Jurisprudenz der Gegenwart alle drei befürwortet. Die  konservativen  Elemente vertreten die Beschränkung des Richters auf die Subsumtion. Die  neuere  Richtung spricht ihm die Befugnis der abhängigen, wertenden Gebotsergänzung zu. Anhänger der  Freirechtsbewegung  bevorzugen die Entscheidung nach freiem Ermessen.

II. Die ältere Methodenlehre des gemeinen Rechts hatte den Richter, wie oben hervorgehoben, auf die Subsumtion unter Rechtsgebote, auf die Anwendung objektiver Rechtsnormen beschränkt und jede Befugnis zur Gebotsergänzung verneint. Tatsächlich wurde aber die abhängige Gebotsergänzung geübt, in der Form der Gesetzes- und der Rechtsanalogie. In dieser Form wurde auch die wertende Ergänzung in großem Umfang gehandhabt. Neben und über ihr stand aber als besonderes Verfahren die Lückenergänzung durch die Konstruktion von Rechtsbegriffen (11), die man auch als technische Begriffsjurisprudenz oder als Inversionsmethode bezeichnet.

Dieses Verfahren bestand darin, daß man die Allgemeinvorstellungen, welche die Wissenschaft aus den einzelnen Gesetzesgeboten abstrahierte, als Quelle für die Gewinnung fehltender Gebote verwendete. Die Wissenschaft ordnet den überlieferten Gesetzesinhalt zu Zwecken der Übersicht in ein System. Die gemeinsamen Elemente werden zu allgemeinen und immer allgemeineren Begriffen zusammengefaßt. Diese Begriffe werden genau definiert. So wird z. B. au den einzelnen, vom Recht als wirksam anerkannten Geschäften, der allgemeine Begriff des Rechtsgeschäfts gebildet. Diese Begriffe wurden nun zur Ausfüllung von Lücken verwendet, indem man aus der Definition die Entscheidung des neuen Falls ableitete. Deshalb kann man dieses Verfahren auch als Inversionsmethode bezeichnen. Das Verhältnis des Speziellen zum Allgemeinen wird bei der Lückenergänzung umgekehrt. Ein gesetzlich nicht besonders geregeltes Geschäft wurde z. B. als wirksam anerkannt, wenn es der aufgestellten Definition von  Rechtsgeschäft  entsprach, sonst nicht. Die Bedürfnisse des Lebens wurden bei der Bildung des Begriffs, noch bei der nachfolgenden Subsumtion berücksichtigt. Auf diese Weise konnte eine Fortbildung des Rechts durch rein logische Operationen bewirkt werden ohne Bedürfnis- und Zweckberücksichtigung. Die Eigenart dieses Verfahrens wird Ihnen vielleicht am deutlichsten werden, wenn ich eine Analogie aus dem politischen Leben (12) heranziehe. Die Parteien pflegen konkrete politische Wünsche in Programmsätze, auch in Schlagworte zusammenzufassen. Die Beobachtung zeigt nun, daß diese Programmsätze und Schlagworte leicht eine selbständige produktive Bedeutung erlangen, und daß ganz neu auftauchende, ursprünglich nicht berücksichtigte Fragen, von manchen Parteigenossen nicht auf ihre Bedeutung für die Lebensideale neu geprüft, sondern nach ihrer Vereinbarkeit mit dem formulierten Programm beurteilt werden. Die einmal akzeptierte Formel dient nicht nur zur Zusammenfassung vorher gebildeter Wünsche, sondern sie produziert neue Stellungnahmen. Die Lückenergänzung durch Begriffskonstruktion ist nun im Grunde Schlagwortverwertung, erhoben zur wissenschaftlichen Methode.

Die anschaulichste Schilderung dieses Verfahrens hat JHERING in seinem "Geist des römischen Rechts" gegeben (13), und zwar nicht in Ablehnung, sondern in begeisterter Anerkennung. Es ist in hohem Grad kennzeichnend für die Herrschaft dieser Methode in unserer Rechtswissenschaft, daß selbst JHERING, der dem Interessenbegriff zur Anerkennung verhalf, und mit Nachdruck die Überschätzung des logischen Elements in der Jurisprudenz bekämpfte, doch nicht imstande war, sich vom Bann der überlieferten Methode frei zu machen.

JHERING unterscheidet zwei Formen der Jurisprudenz, eine niedere und eine höhere. Die niedere Jurisprudenz beschäftigt sich mit der Interpretation der Rechtsgebote, der Klarlegung ihres Inhalts, der Hebung der Dunkelheiten und Unbestimmtheiten, der Hervorhebung der Prinzipien und der Ableitung der Konsequenzen, und schließlich mit der Zusammenfassung des Stoffs durch Ordnungsbegriffe. Die Denkoperationen dieser Art seien logisch nicht verschieden von den Operationen anderer Wissenschaften, die sich mit der Deutung menschlicher Äußerungen beschäftigen.

Die höhere Jurisprudenz, die Eigenart des juristischen Denkens, beginnt nach JHERING mit der Verselbständigung der Rechtsbegriffe, mit ihrer Behandlung als "juristische Körper". Durch diese Verselbständigung werden die Rechtsinstitute aus Zusammenfassungen von Rechtssätzen oder Rechtssatzelementen zu Existenzen, logischen Individualitäten, die mit der Vorstellung des individuellen Seins und Lebens erfüllt werden. Die weiteren Aufgaben der höheren Jurisprudenz bestehen dann in der genauen Untersuchung der Struktur, der Eigenschaften und Beziehungen der juristischen Körper, die aus den zusammengefaßten Rechtssätzen entnommen werden. Als Beispiele solcher Strukturuntersuchungen nennt JHERING u. a. zwei einstmals viel erörterte Probleme, die Frae, ob beim Miteigentum mehrerer Personen an derselben Sache, die Sache oder das Recht, oder der Inhalt des Rechts als geteilt zu denken ist, und ob beim römischen Gesamtschuldverhältnis der Korrealität das Verhältnis vorzustellen sei als mehrere Obligationen mit demselben Inhalt, oder als eine Obligation mit mehreren Subjekten. Das Ergebnis solcher Strukturuntersuchungen wird nun in der Begriffsbestimmung, der Definition, konzentriert zum Ausdruck gebracht. Für diese Operation stellt JHERING besondere Gesetze auf: das Gesetz der Deckung des positiven Stoffes, das Gesetz des Nichtwiderspruchs und das der juristischen Schönheit. Der Endzweck dieser Operationen besteht nun nach JHERING darin, daß die einmal gewonnene Formel unverrückbar festgehalten, der Anwendung des Rechts und namentlich auch der Ausfüllung von Lücken zugrunde gelegt wird. Nach der gewonnenen Formel sind die Rechtsfälle zu entscheiden. JHERING hebt selbst hervor, daß ein solches Verfahren vom Standpunkt der niederen Jurisprudenz aus gar nicht zu begründen ist. Für die höhere Jurisprudenz ergebe es sich als notwendige Konsequenz. Man müsse mit der Selbständigkeit der Begriffe ernst machen. Ihre Natur und innere Dialektik liefere dann das Material zur Ergänzung. Deshalb feiert JHERING das Ergebnis dieser Konstruktionen, das System, als eine unversiegbare Quelle neuen Stoffs. Diese Lehre von der höheren Jurisprudenz hat JHERING auch in den späteren Auflagen des Werkes festgehalten und nur dahin modifiziert, daß die Begriffskonsequenz vor Utilitätsrücksichten Halt machen soll. An der grundsätzlichen Zulüssigkeit der Lückenergänzung durch Begriffskonstruktion hat JHERING nie gezweifelt.

Ungeachtet der Autorität JHERINGs, und ungeachtet der umfassenden Anwendung, welche das geschilderte Verfahren gefunden hat und auch heute noch findet, ist es doch sicher, daß diese Verkörperung der Rechtsbegriffe und ihre Verwertung durchaus abzulehnen sind. Es ist ein eigentümlicher Wandel der Anschauungen, daß wir diejenige Betätigung, die JHERING mit einer gewissen Nichtachtung als niedere Jurisprudenz bezeichnet, heute allein als Wissenschaft anerkennen und in der  höheren  Jurisprudenz nur eine Verirrung sehen. Der Fehler des Verfahrens besteht nun nicht allein, wie fast allgemein angenommen wird, in einem scholastischen Begriffsrealismus. Gewiß handelt es sich bei vielen Vertretern dieser Richtung, und namentlich bei den getreuen Anhängern der historischen Schule um wirklichen Begriffsrealismus. Aber JHERING und die neueren Juristen, die dieses Verfahren handhaben, denken nicht daran, den dogmatischen Begriffen eine vorwissenschaftliche Existenz zuzuschreiben. Die Verkörperung der Begriffe ist bei ihm nicht ein auf irrtümlichen Vorstellungen beruhender Erkenntnisversuch, sondern ein bewußt schaffender Vorgang, eine Methode der Rechtsgewinnung, der richterlichen Fallentscheidung und ihrer wissenschaftlichen Vorbereitung. Die Methode ist deshalb auch nicht zu beurteilen nach den Kritierien der Wahrheit, sondern nach den Forderungen, die an die richterliche Rechtsgewinnung zu stellen sind. Diesen Anforderungen entspricht sie nicht. Sie entspricht nicht dem Postulat der Angemessenheit, denn diejenigen Lebensbedürfnisse, welche bei der Ergänzung der Lücke in Frage kommen, werden bei keiner der beiden Operationen berücksichtigt. Deshalb entscheidet bei einem konsequenten Vorgehen nur der Zufall darüber, ob das Ergebnis den Bedürfnissen entspricht oder nicht. Die Methode genügt aber ebensowenig dem Postulat der Rechtssicherheit. Die Erfahrung zeigt, daß sehr verschiedene Konstruktionen möglich sind, und die nähere Untersuchung der juristischen Begriffsbildung, auf die ich hier nicht eingehen kann, ergibt, daß bei der systematischen Ordnung und Darstellung der Rechtsgebote in besonders hohem Grad freies Ermessen mitspielt. Der einzige Vorzug, den diese Methode bietet, ist die Jllusion eines ganz objektiven Verfahrens, die dem gläubigen Richter zuteil wird. Die schwierige und verantwortungsvolle Erforschung des sachlich richtigen wird erspart. Es ist das ein Vorzug, der in ähnlicher Weise auch der Verwertung politischer Schlagworte zur Lösung neuer Fragen nachgerühmt werden kann. Dieser Vorzug darf nicht dazu führen, an der Methode festzuhalten, denn er verschwindet für denjenigen, der die Schwächen der Methode erkannt hat. Die Begriffsjurisprudenz gleicht einem Zauber, der nur demjenigen hilft, der an ihn glaubt (14).

Die Methode der Begriffsjurisprudenz läßt sich nicht durch rationale Erwägungen rechtfertigen. Sie ist auch nicht durch solche Erwägungen entstanden, sondern geschichtlich zu erklären. Ihre Entstehung wird meistens der historischen Rechtsschule zur Last gelegt. Es ist auch sicher, daß die Lehre von der historischen Rechtsschule von der Entstehung des Rechts aus dem Volksgeist die Begriffsjurisprudenz sehr begünstigt hat. Der Volksgeist ist für die Begründer dieser Schule nicht eine kollektive Bezeichnung für die übereinstimmenden und sich gegenseitig beeinflussenden Bewußtseinsinhalte der das Volk bildenden Individuen, sondern eine psychische Einheit höherer Art. Als naturgemäßer Ausdruck des Volksgeistes erscheint das Gewohnheitsrecht und auch der Gesetzgeber und die Wissenschaft sind Organe des Volksgeistes. Der Bewußtseinsinhalt dieses Volksgeistes wird nun nicht beschränkt auf Wertideen oder gefühlsmäßige Werturteile, wie wir sie im Bewußtsein der Laien finden, sondern der Volksgeist soll auch juristische Vorstellungen bilden, Rechtsbegriffe, wie  Eigentum, Obligation, Rechtsgeschäft  usw. Die Wissenschaft fördere durch ihre Begriffs- und Systembildung diese Anschauungen nur in deutlicher Form zutage. Durch solche Auffassungen konnte es als gerechtfertigt erscheinen, die wissenschaftlichen Begriffe als kausale Realitäten aufzufassen und als Grundlage der Lückenergänzung zu verwerten. Gerade die Begründer der historischen Rechtsschule haben diese Ergänzung der Lücken aus dem System theoretisch vertreten (15) und praktisch gehandhabt. Sie sind für die Verbreitung des Verfahrens mit verantwortlich.

Aber die Methode der Begriffsjurisprudenz selbst wurzelt doch tiefer und ist auch älter als die historische Rechtsschule. Ihre tieferen Wurzeln sind einmal eine allgemein menschliche Neigung zur Formelverwertung und zweitens die besondere Form, welche das Problem der Rechtsgewinnung durch die Rezeption des römischen Rechts erhalten hatte (16). Die römischen Juristen selbst haben die Bedürfnisse des Lebens in freier Weise berücksichtigt, aber rezipiert wurde nicht die Methode der römischen Juristen, sondern das Gesetzbuch JUSTINIANs. Und JUSTINIAN selbst hatte sich die Auslegung vorbehalten. Von der Anerkennung einer richterlichen Ergänzungsbefugnis konnte nicht die Rede sein. Dazu kam die eigenartige Beschaffenheit des rezipierten Gesetzbuchs. Die allgemeinen Regeln und Begriffe, die das römische Recht bildeten, werden nur zum geringsten Teil in allgemeiner Fassung und abstrakter Form überliefert. Ganz überwiegend liegen nur einzelne Entscheidungen vor, Responsa der Juristen, Reskripte der Kaiser. Deshalb mußte die richterliche Fallentscheidung bei Anwendung des  Corpus juris  in der Regel in zwei Operationen zerfallen. Zuerst war es notwendig, von den erhaltenen Einzelentscheidungen ausgehend, die allgemeinen Regeln und Begriffe zu rekonstruieren, die einstens in der empirischen Wirklichkeit des römischen Lebens die erhaltenen Responsa und Reskripte verursacht hatten. Dann erst konnten die so rekonstruierten Regeln und Begriffe absteigend die Norm für den Entscheidungsfall ergeben. Dieser Dualismus der Induktion und Deduktion geht den Denkoperationen bei der konstruktiven Lückenergänzung parallel. Die Methode der Begriffsjurisprudenz ist daher zu verstehen als die unberechtigte Verallgemeinerung eines für bestimmte Aufgaben berechtigten Verfahrens. Die Verallgemeinerung lag umso näher, als der Umfang des rekonstruierbaren römischen Rechts sehr schwer zu übersehen war, sehr viel schwerer als bei einem modernen Gesetzbuch. Es ist kein Zufall, daß die Methode der Begriffsjurisprudenz gerade auf dem Gebiet des gemeinen Rechts ihre Ausbildung erfahren hat.

Die höhere Jurisprudenz JHERINGs hat sich tatsächlich das ganze 19. Jahrhundert hindurch einer weitgehenden Anwendung erfreut. Aber keiner Alleinherrschaft. Neben ihr hat stets eine starke Nebenströmung bestanden, welche die praktischen Resultate, den Lebenswert der Ergebnisse im Auge behielt. Ein Mittel dazu bot die Analogie, die Anwendung eines Rechtssatzes auf ähnliche Fälle. Da die Merkmale der Ähnlichkeit in der Theorie nicht genau bestimmt waren, so konnte das Ergebnis der Begriffskonsequenz entsprechen oder den Lebensbedürfnissen dienen, je nachdem man das Gewicht auf die Möglichkeit der Subsumtion unter einen gemeinsamen Oberbegriff oder auf die Übereinstimmung der Interessenlage legte. Diese praktische Strömung ließ sich mit der konstruktiven Methode auch dadurch vereinigen, daß man von mehreren möglichen Formulierungen diejenige wählte, deren Konsequenzen zweckmäßig erschienen. In diesem Fall war die Begriffsjurisprudenz nur das äußere Kleid, in dem die teleologische Gebotsergänzung auftrat. Trotz dieser Nebenströmung war die Einwirkung der Begriffsjurisprudenz eine sehr bedeutsame. Sie hat in einer großen Zahl von Fällen die angemessene Anwendung und Ausbildung unseres Rechts verhindert oder doch erschwert. Als Beispiel nenne ich die Streitfrage über die bindende Kraft der Offerte. Nehmen wir den Fall, daß ein Verkäufer ein briefliches Angebot macht und hinzufügt, daß er sich 8 Tage lang für gebunden erachte, kann er trotzdem sofort widerrufen mit der Wirkung, daß der Vertrag nicht zustande kommt, selbst wenn der Käufer vor Empfang des Widerrufs seines Annahmeerklärung abgeschickt hat, so daß sich Widerruf und Annahmebrief kreuzen? Ich glaube, daß jeder Laie die Geltung des Vertrags für die einzig angemessen Lösung erklären und hinzufügen wird, daß ein Widerruf während der Wartefrist überhaupt wirkungslos sein sollte. Die römischen Quellen boten kein Hindernis für diese Lösung, weil sie den Vertragsschluß unter Abwesenden überhaupt nicht speziell erörterten. Trotzdem ist es in der Theorie des gemeinen Rechts nicht gelungen, die Anerkennung der bindenden Kraft der Offerte durchzusetzen. Das Haupthindernis bot die begriffliche Vorstellung von den Merkmalen des Vertrags. Eine Übereinstimmung der beiden Willen wurde gefordert. Das Merkmal schien aber zu fehlen, wenn der Annahmewille erst wirklich wurde, nachdem der Wille des Offerenten weggefallen war. Das Dogma von der Widerruflichkeit der Offerte blieb bestehen, auch nachdem das ADHGB die bindende Kraft der Offerte für den Bereich des Handels gesetzlich anerkannt hatte. BRINZ, ein hervorragender Vertreter der gemeinrechtlichen Wissenschaft, bemerkt dazu (17), das HGB habe "in der Tat zuwege gebracht, den Offerenten zu binden." Aber es sei nicht zu verkennen, "daß diese gesetzliche Bestimmung die Bindung bloß (!) als Mittel zum Zweck verwendet." Der Zweck sei die Regelung der Frage in einer allen Bedürfnissen entsprechenden Weise, was keine Theorie erreicht. Auf diesem Weg sei dem HGB nicht zu folgen. Sie sehen: Selbst der Gesetzgeber erhält einen leisen Tadel dafür, daß er eine allen Bedürfnissen entsprechende Regelung getroffen hat, statt aus einem wissenschaftlichen Begriff weniger praktische Folgerungen zu ziehen.

Die technische Begriffsjurisprudenz hat nun aber auch auf die Methode der dogmatischen Rechtswissenschaft einen fühlbaren und ungünstigen Einfluß ausgeübt. Ich will zwei Wirkungen hervorheben:

Bei der Darstellung des geltenden Rechts ist die Betrachtung und Darstellung des Gebotsgehalts zu sehr in den Vordergrund getreten. Dagegen ist die Erforschung der Gebotszwecke und vor allem der Rechtswirkung, der funktionellen Seite des Rechts vor JHERING stiefmütterlich behandelt worden. Gleiches gilt für die Erforschung der Lebensverhältnisse und Lebensprobleme. Gewiß hat die praktische Unterströmung auch auf diesen Gebieten vieles geleistet. Aber für das Gesamtbild der gemeinrechtlichen Wissenschaft ist dieser Mangel bezeichnend. Mit ihm steht in Zusammenhang, daß die Arbeit  de lege ferenda  [nach künftigem Recht - wp] stark vernachlässigt wurde (18). Es ist beschämend, wie gering die Vorarbeiten sind, welche die gemeinrechtliche Wissenschaft für das BGB vor der Publikation des ersten Entwurfs geliefert hatte.

Zweitens hat die unberechtigte Bedeutung, welche die höhere Jurisprudenz der Bildung und der Formulierung der Begriffe für die Rechtsgewinnung beilegt, zu einer Überschätzung und einer unrichtigen Behandlung der Begriffsbildung und Begriffsbestimmung geführt. Die Aufgaben der normativen Entscheidung, der Erkenntnis ihrer empirischen Grundlagen und schließlich der Darstellung der Ergebnisse durch eine begriffliche Zusammenfassung und Formung sind drei erkenntnistheoretisch scharf zu entscheidende Probleme. Die Inversionsmethode hat die Verschiedenheit verdeckt und zu einer häufig vorkommenden Verwechslung geführt. Die Schriftsteller, welche die "juristische Natur" eines Rechtsinstituts untersuchten, wie der Kunstausdruck lautete, wurden sich vielfach nicht darüber klar, welche Art der Aufgabe sie lösen wollten. Durch diesen Mangel an methodischer Selbstbesinnung entstanden endlose Streitfragen, an deren Lösung viel Scharfsinn vergeblich verbraucht wurde. Es darf nicht verschwiegen werden, daß manche zu ihrer Zeit hoch angesehene Untersuchungen der gemeinrechtlichen Literatur für die Vertreter der neueren Richtung unverwendbar geworden sind, nicht nur so weit die gesetzlichen Grundlagen des Rechts sich verändert haben, sondern darüber hinaus, weil wir die ganze Fragestellung und Arbeitsmethode ablehnen müssen. Ich nenne als Beispiel die umfangreiche Literatur über die juristische Natur der Reallast.

Als unparteiischen Zeugen für die Verbreitung und die Dauer dieser begriffsjuristischen Methode kann ich WILHELM WUNDT (19) anführen. WUNDT gibt in seiner Logik eine Schilderung der juristischen Methode die vorwiegend an der Begriffsjurisprudenz orientiert ist. WUNDT verweist auf die Schilderung der Methode durch JHERING ohne sie zu beanstanden und bemerkt, daß bei der juristischen Definiton eine "Verdichtung der Begriffe" stattfindet, bei der zahlreiche neue Rechtssätze zutage gefördert werden. WUNDT (20) hebt andererseits hervor, daß die Rechtswissenschaft über der logischen Aufgabe ihre übrigen Aufgaben verabsäumt habe, so daß ein einseitig dialektischer und formalistischer Betrieb entstanden sei und er fügt hinzu:
    "Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so hat für diesen Zustand die Stunde geschlagen. Wenn sie erst wirklich gekommen ist, dann dürfte es sich ereignen, daß die Rechtswissenschaft nicht mehr wie es heute namentlich bei denen geschieht, die sich ihr widmen wollen, als die leichteste, sondern als eine der schwersten Wissenschaften gelten wird, weil sie in Wahrheit vielleicht die umfassendsten realen Kenntnisse voraussetzt."
III. Die Umwandlung der juristischen Methode, welche WUNDT erwartete, ist nun tatsächlich in erheblichem Umfang eingetreten, wenngleich die theoretischen Anschauungen noch ziemlich weit auseinandergehen. In der Hauptsache ist die immer vorhandene praktische Strömung zur Vorherrschaft gelangt. Es darf heute bereits als überwiegende Meinung gelten, daß das Gesetz nicht nur Blankette [Freistellen, Ermessensspielräume - wp], Delegationen an den Richter enthält, sondern auch zahlreiche ungewollte Lücken, in denen der Richter das fehlende Gebot nach praktischen, d. h. teleologischen Gesichtspunkten zu ergänzen und insoweit die Rechtsnorm zu schaffen hat.

Die Gründe dieses Umschwungs sind zum Teil schon in den Fortschritten der Sozialwissenschaften zu suchen, welche die Lehre der historischen Schule von der rechtsbildenden Kraft des Volksgeistes zumindest in einer für die Begriffsjurisprudenz relevanten Form beseitigt haben. Bedeutsamer war wohl der Eindruck der großen legislativen Arbeiten des 19. Jahrhunderts, namentlich der Abfassung des BGB, an der die Wissenschaft und der ganze Juristenstand seit der Veröffentlichung des ersten Entwurfs regen Anteil genommen hat. Diese legislativen Vorgänge haben zwei Erkenntnissen allgemeine Verbreitung verschafft. Der moderne Gesetzgeber findet für die Probleme, die er zu lösen hat, keine Rechtsbegriffe vor, die er einfach zu ihren Folgerungen entwickelt, er sucht nach denjenigen Normen, die nach richtiger Erwägung geeignet sind, die geschichtlich gegebenen, auch durch intuitive Faktoren bedingten Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Aber er kann dieses Ziel nur unvollständig erreichen. Das legislative Denken ist notwendigerweise ungenügend, namentlich dann, wenn es sich um die neue Kodifikation eines großen Gebietes handelt. Auch das beste Gesetz zeigt Lücken und Widersprüche, welche eine ergänzende Tätigkeit fordern. Für die Art der Ergänzung war bedeutsam, daß unser BGB in großem Umfang auf das richterliche Ermessen verweist, ausdrücklich durch Blankettgesetze oder durch den Gebrauch von Blankettbegriffen, allgemeinen Begriffen, "Treu und Glauben, gute Sitten, wichtiger Grund, Mißbrauch des Rechts" u. a. Es läge nahe anznehmen, daß ein Gesetzgeber, der dem Richter bei so zahlreichen Aufgaben ein weitgehendes Vertrauen schenkt, auch die Ergänzung ungewollter Lücken durch richterliche Wertung wünschen würde. Ebenso bedeutsam wurde der Umstand, daß das neueste und wohl am besten gelungene Zivilsgesetzbuch, das Schweizer Zivilgesetzbuch in Artikel 1 die Befugnisse des Rechts zur Gebotsergänzung ausdrücklich anerkennt. An der Spitze des Gesetzes steht der Grundsatz:
    "Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht richten und wo auch ein solches fehlt,  nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen wird. 

    Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung."
Das BGB enthält keine entsprechende Vorschrift, aber es mehr sich die Stimmen dafür, daß der deutsche Richter die gleiche Norm zu beobachten hat (21).

Der allgemeine Gedanke der teleologischen Gebotsergänzung hat Raum für Richtungen, die unter sich sehr verschieden sind und namentlich auch für Möglichkeiten praktisch verschiedenen Verhaltens. Sehr oft tritt z. B. die Frage auf, ob ein durch Gebot nicht gedecktes, nach den allgemeinen Rechtsanschauungen schutzwürdiges Interesse deshalb ungedeckt ist, weil eine Lücke vorliegt oder aber deshalb, weil es durch streng positives Recht den Interessen der Rechtssicherheit geopfert ist. Die Ideale der Rechtssicherhei und der Angemessenheit sind in Einzelfällen sehr schwer gegeneinander abzuwägen. Eine Betrachtung all der verschiedenen Ansichtsformen muß ich mir versagen. Namentlich ist es mir nicht möglich, mich heute mit STAMMLER auseinanderzusetzen. STAMMLER hat in groß angelegten Werken das Problem der Rechtsgewinnung behandelt, er gibt eine Logik der normativen Überlegung, aber bei aller Achtung vor seiner geistigen Kraft, kann ich doch den Ergebnissen nicht zustimmen. Etwas näher eingehen will ich auf zwei Richtungen: auf die Freirechtsbewegung und auf die Interessenjurisprudenz.

Als Vertreter der Freirechtsbewegung bezeichnen sich Forscher verschiedener Anschauung (22), weil das gemeinsame Losungswort in verschiedenem Sinn genommen wird. Das Wort "freie Rechtsfindung" ist von dem Österreicher EHRLICH geprägt worden, um die von einem Gesetz nicht geleitete Fallentscheidung zu bezeichnen (23). Spätere haben eine Begriffsübertragung vorgenommen und die Bezeichnung "Freirechtsmethode" der ganzen erheblich älteren teleologischen Jurisprudenz beigelegt. (24) Im Interesse der Klarheit empfiehlt es sich, die ursprüngliche, dem Wortsinn allein entsprechende Bedeutung beizubehalten. Die Freirechtsbewegung in diesem Sinne ist somit durch die Tendenz charakterisiert den bisherigen Einfluß des Gesetzes  de lege ferenda  oder  de lege lata  [nach geltendem Recht - wp], allgemein oder unter gewissen Bedingungen zugunsten des richterlichen Ermessens zurückzudrängen.

Diese Tendenz tritt in der Untersuchung EHRLICHs, die den Ausgangspunkt der Bewegung bildet, deutlich hervor. EHRLICH geht von der Grundanschauung aus,  daß der Einzelfall am besten entschieden wird, wenn ihn der Richter ungebunden durch generelle Vorschriften nur in seiner Eigenart würdigen kann.  Diese originäre Form der Rechtssprechung allein bezeichnet EHRLICH als "freie Rechtsfindung". Die Polemik gegen die technische Begriffsjurisprudenz spielt bei ihm keine Rolle. Die grundsätzliche Bevorzugung der freien Rechtsfindung vor der gesetzlichen Regelung klingt auch durch bei FUCHS, SCHMÖLDER (1907 Die Billigkeit als Grundlage des bürgerlichen Rechts), GMELIN (1910 Quo usque) und wird besonders unvorsichtig ausgedrückt bei KULEMANN (25), wobei allerdings bei FUCHS die Bekämpfung der Begriffsjurisprudenz im Vordergrund steht. Der Hinweis EHRLICHs auf die Möglichkeit und die Verbreitung einer solchen Fallentscheidung ist sehr verdienstlich. Aber ich glaube doch, daß er den Lebenswert der freien Rechtsfindung zu hoch, den Lebenswert der gesetzlichen Regelung zu gering einschätzt. Es ist richtig, daß das Gesetz wie jede Ordnung auch  Härten führen kann,  und zuzugeben, daß ein freigestellter idealer Richter in vielen Fällen eine angemessenere Entscheidung finden könnte. Aber wir können die Rechtsvorschriften nur für die  normalen,  die Regel bildenden Verhältnisse treffen. Und in den Regelfällen dürfte die sinngemäße Anwendung und Ergänzung des Gesetzes doch zu angemesseneren Ergebnissen führen, als die völlig freie Rechtsgewinnung. Der weitschauende Richterkönig ist nicht die Regel, und der mächtige Eindruck des Einzelfalls hat auch seine Gefahren. Besonders dann, wenn auf den fraglichen Lebensgebieten innerhalb der Bevölkerung gegensätzliche Anschauungen vertreten sind (26). Der normale Richter wird Gefahr laufen, parteiisch zu werden oder parteiisch zu scheinen. Sodann aber ist das Ideal der Angemessenheit nicht das einzige Ideal der Rechtspflege. Auf vielen Lebensgebieten ist die Rechtssicherheit weit wichtiger, die Streitvermeidung noch wünschenswerter als die richtige Streitentscheidung (27). Deshalb ist die prinzipielle Bevorzugung des freien Ermessens meines Erachtens abzulehnen. Die Vorzüge der Einzelwürdigung und der gesetzlichen, typischen Regelung lassen sich nur für die einzelnen Lebensgebiete abwägen.

Das Verhalten des Richters nach geltendem Recht wird bei EHRLICH nur gestreift. Er will freie Rechtsfindung eintreten lassen, soweit keine klare Entscheidung des Gesetzes vorliegt (28). Dem entspricht die anderwärts vertretene Formel, daß der Richter an den bestimmten Wortlaut gebunden ist, jenseits desselben aber freies Ermessen eingreift (29). KANTOROWICZ (30) und STAMPE (31) sind dahin verstanden worden, daß sie dem Richter die Befugnis zur Gesetzesänderung zusprechen. KANTOROWICZ hat diese Auffassung als unrichtig bezeichnet (32), STAMPE aber die Forderung auch in seiner neuesten Schrift vertreten (33). Ein Recht des Richters auf Abänderung des Gesetzes ist nun mit dem Postulat der Rechtssicherheit und mit der Autonomie der Rechtsgemeinschaft nicht vereinbar. Die Forderung hat auch so allgemeinen Widerspruch (34) gefunden, daß eine eingehendere Polemik überflüssig ist. Aber auch die zu zweit erwähnte Formel ist zu verwerfen (35).

Soweit die Forscher, die sich der Freirechtsschule zurechnen, nichts anderes wollen, als teleologische aber gesetzestreue Jurisprudenz (36), ist ihnen in sachlicher Hinsicht zuzustimmen. Aber es bleibt noch zu wünschen, daß sie die neue Bezeichnung für diese schon früher vorhandene Richtung wieder fallen lassen. Das Schlagwort "Freirechtsmethode" ist nicht geeignet, diejenige Rechtssprechung zu kennzeichnen, welche auch den mittelbaren Gesetzesinhalt beachtet und sich bei der Gebotsergänzung nach den gesetzlichen Werten richtet. Diese Gebotsergänzung ist eine gebundene, fortdauernd durch das Gesetz beeinflußte. Deshalb ist der Ausdruck freie Rechtsfindung ebensowenig passend wie die gleichfalls gebrauchte Bezeichnung "judizieren  sine lege"  [ohne Gesetz - wp]. (37)

Die Interessenjurisprudenz im eigentlichen Sinn, auf die ich nunmehr eingehe, ist eine schon ältere (38) Form der teleologischen Jurisprudenz. Sie wird auf dem Gebiet des Privatrechts von MAX RÜMELIN, STAMPE und von mir, außerdem neuerdings von einer Reihe jüngerer Forscher (39), theoretisch vertreten und wird tatsächlich in großem Umfang geübt. Die unterscheidende Eigenart dieser Richtung besteht darin, daß sie den Interessenbegriff und die mit ihm zusammenhängenden Vorstellungsreihen: Interessenabwägung, Interessenlage, Interessengehalt u. a. als methodische Hilfsbegriffe verwendet. Sie braucht diese Begriffe bei der Analyse der normativen Probleme und beim Aufbau der normativen Überlegung. Die Verwendung dieser Hilfsbegriffe ist nun meines Erachtens für ein tieferes Eindringen nicht zu entbehren. Zu Beginn meines Vortrags habe ich von den Forderungen gesprochen, die das  Leben  an die Rechtsgewinnung stellt. Diese Wendung ist natürlich ungenau. Das Leben ist nur ein zusammenfassender Ausdruck für die lebenden Individuen. Aber auch der Ausdruck  Forderung  ist ungenau. Die Individuen haben anderes zu tun, als fortdauernd zu fordern. Wenn es möglich wäre, eine fotografisches Momentbild aufzunehmen, das den Bewußtseinsinhalt aller Individuen wiedergäbe, so würden wir auf der Platte nur in wenigen Fällen präsente Forderungen dieses Inhalts finden. Die Forderungen sind nichts dauerndes. Dauernd sind nur die Begehrungsdispositionen, praktisch ausgedrückt: latente Wünsche oder Neigungen, die nicht fortdauern in unserem Bewußtsein gegenwärtig sind, aber durch irgendwelche Reizvorgänge wachgerufen ein aktuelles Begehren erzeugen. Das Begehren selbst ist ein psychischer Vorgang, der jedem bekannt ist und dessen weitere Zurückführung auf noch genauer bekannte Vorstellungen weder möglich noch notwendig ist. Die Begehrungsdispositionen können wir nicht unmittelbar beobachten. Wir erschließen sie nur aus den verursachten Handlungen oder daraus, daß soziale Grundlagen vorhanden sind, die nach der Erfahrung des Lebens solche Dispositionen zu erzeugen pflegen. Der Sprachgebrauch der Gegenwart bezeichnet nun diese Begehrungsdispositionen, soweit sie sich auf Kulturgüter beziehen, und die begleitenden Vorstellungen, die Grundlagen und die Objekte, als  Interessen Dabei gebrauchen wir das Wort  Interesse  für jede kulturelle Begehrungsdisposition, ohne Rücksicht auf die besondere Art des begehrten Objekts. Wir reden heute nicht nur von materiellen, sondern ebenso von idealen, religiösen, nationalen, ethischen Interessen. Die sachliche Besonderheit der Interessenjurisprudenz besteht in dem grundsätzlichen Bestreben, die Gebotsvorstellungen, die das Recht bilden, auf das Ineinandergreifen dieser Begehrungsdispositionen zurückzuführen und die Lücken unter Berücksichtigung aller berührten Begehrungsdispositionen auszufüllen. Dieses sachliche Bestreben rechtfertigt sich dadurch, daß die Rechtsbildung empirisch durch Begehrungsdispositionen bestimmt wird (40) und die Rechtsprechung danach strebt den im Leben auftretenden Begehrungen zu genügen. In formeller Hinsicht ist für diese Richtung der Gebrauch des Wortes  Interesse  und seiner Ableitungen bezeichnend. Natürlich ist ohne weiteres zuzugeben, daß das Wort  Interesse  im Alltag mehrdeutig gebraucht wird. Dies gilt aber für alle Worte der Alltagssprache und ganz besonders für diejenigen, welche psychische Elemente bezeichnen. Die Wissenschaft muß überall die Unbestimmtheit des sprachlichen Materials durch Zusammenfügungen und Zusätze beseitigen und sie kann es auch. Das Wort  Interesse  bietet vor allen anderen den Vorzug, daß es die Elemente, auf die es uns ankommt, mit umfaßt und in dieser Beziehung schon Bürgerrecht hat. Andere besser geeignete Ausdrücke bieten sich nicht. Bedürfnis, Bestrebung, Wert und Zweck betonen viel zu sehr das aktuelle Element. Namentlich können wir das Wort  Zweck,  ohne den Sprachgebrauch zu vergewaltigen und Mißverständnisse zu wecken, nur für das bei einer Handlung vorgestellte Begehrungsobjekt gebrauchen, nicht für die einzelnen bei der Überlegung einwirkdende Begehrungstendenzen. Bezeichnend ist wiederum eine Alltagserfahrung auf politischem Gebiet. Ich glaube nicht, daß es irgendeine Schilderung politischer Vorgänge und Betrachtungen gibt, bei der nicht von Interessen die Rede ist. Diejenigen, welche sich gegen die Interessenpolitik wenden, wollen auch nicht, daß die Berücksichtigung von Interessen oder die Berufung auf Interessen aufhören soll, sondern nur, daß die Sonderinteressen bestimmter Gruppenklassen vor gemeinsamen Interessen zurücktreten. Wenn wir berechtigt sind, in politischen Vorgängen die soziale Vergrößerung des psychischen Vorgangs der Rechtsgewinnung zu erblicken, so läßt die Verwendung des Interessenbegriffs auf diesem Gebiet darauf schließen, daß sie auch bei der feineren Analyse anderer Fälle der Rechtsgewinnung sich als unentbehrlich herausstellen wird (41). Bei diesem Sprachgebrauch werden natürlich Begehrungen der verschiedensten Art mit Berücksichtigt. Die Interessenjurisprudenz gebraucht das Wort  Interesse  im weitesten Sinne, in dem es heute üblich ist. Nur in diesem weitesten Sinn unter Einbeziehung der idealen Interessen ist das Wort für die methodischen Zwecke der Rechtswissenschaft verwendbar und nur in diesem Sinne ist es auch verwendet worden. Ich muß das nachdrücklich bemerken, weil jede qualitative Einschränkung zu einem vollständigen Mißverständnis dieser Methode führen muß und schon geführt hat.

Die Verwendung der Interessenbegriffe für die richterliche Fallentscheidung kann an dieser Stelle nicht näher geschildert werden. Ich will mich auf einzelne Züge beschränken, um Mißverständnissen entgegenzutreten (42). Hervorzuheben ist, daß jede Fallentscheidung als eine Abgrenzung einander gegenüberstehender Interessen aufzufassen und durch eine Abwägung dieser Interessen (43) nach Werturteilen und Wertideen zu gewinnen ist. Diese Regel gilt vom Laienurteil und der freien Rechtsfindung ebenso wie von der Gesetzesanwendung und der abhängigen Gebotsergänzung. Der Unterschied besteht nur darin, daß bei der völlig freien Rechtsfindung es die eigenen Wertideen und Werturteile der Laien oder des Richters sind, die den Maßstab für die Abwägung liefern, während bei der Gesetzesanwendung und der abhängigen Gebotsergänzung der Richter an diejenigen Werturteile gebunden ist, die sich aus dem Gesetz ergeben und eventuell an diejenigen, die in der Rechtsgemeinschaft herrschen, so daß die Eigenwertung des Richters nur ganz subsidiär eingreift. Die Übertragung des Werturteils vollzieht sich durch eine Vergleichung des entscheidungsbedürftigen Interessenkonflikts mit dem autoritativ entschiedenen. Deshalb hat der Richter nicht die konkreten Interessen in der Gesamtheit des wirklichen Bestandes zu erfassen, sondern diejenigen Merkmale herauszuheben, welche in der Rechtsordnung gewertet sind. Nicht die quantitative Messung entscheidet, sondern die Einordnung in die durch das Gesetz beachteten Typen (44). Auch die abhängige Ergänzung von Gebotslücken durch Interessenabwägung vollzieht sich logisch gewürdigt durch einen Subsumtionsschluß (45). Nur werden nicht die den Gebotsvorstellungen des Gesetzgebers entsprechenden Merkmale aufgesucht, sondern es werden Interessenlagen verglichen. Der einfachste Fall der Lückenergänzung durch Interessenabwägung nach einem gesetzlichen Werturteil ist bei der analogen Gesetzesanwendung gegeben, sobald man die aufzufindende Rechtsähnlichkeit in der Übereinstimmung der beiden Interessenlagen erkennt. Daneben können sich auch andere erheblich kompliziertere Probleme der Lückenergänzung ergeben (46). Das Eigenartige des Vorgehens besteht immer in der Interessenforschung, der Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Interessenlage bei der Auffassung der konkreten Sachlage wie bei der Auffassung des Gesetzesinhalts.

Die Prüfung der Gesetze auf ihren Gehalt an Interessenabwägungen hat selbstredend den  Zweck  des einzelnen Gesetzes ins Auge zu fassen. Die Zweckvorstellung geht immer auf Begehrungsdispositionen zurück. Aber die Interessenforschung fällt nicht mit der Frage nach dem Gesetzeszweck zusammen, sofern man Zweck im gewöhnlichen und psychologischen Sinn des Wortes auffaßt. Vielmehr geht die Interessenforschung tiefer. Sie sucht die einzelnen Elemente herauszuheben, deren Zusammenwirken die Zweckvorstellung des Gesetzgebers und die Wahl seiner Mittel, die Gebotsvorstellungen, bewirkt haben. Deshalb ist sie besonders auf dem Gebiet des Privatrechts weit ergiebiger als die Zweckforschung. Der Zweck des Gesetzes ist bei vielen inhaltlich verschiedenen Geboten derselbe. Es gibt zahllose Fälle, in denen die Interessen der Rechtsgemeinschaft sich darauf beschränken, daß überhaupt eine Entscheidungsnorm vorhanden ist. Dahin gehören z. B. die meisten dispositiven Bestimmungen des Rechts der Rechtsgeschäfte. Als Zweck dieser Vorschriften läßt sich nur der allgemeine Ordnungszweck bezeichnen. Die Verschiedenheit des Inhalts der einzelnen Gesetzesgebote beruth auf der Verschiedenheit der Interessen, die gegeneinander abzugrenzen sind. Nicht die Zweckbetrachtung, sondern nur die Interessenforschung bietet in diesen Fällen Werturteile [somlo], die für die Ergänzung und Fortbildung des Rechts verwendbar sind. Auch bei den privatrechtlichen Gesetzesvorschriften beschränkt sich die Zergliederung nicht auf den Nachweis der privaten Interessen, die durch die Entscheidung gegeneinander abgewogen werden, sondern erstreckt sich auf die mitwirkenden Gemeinschaftsinteressen, insbesondere auch die Interessen an der Praktikabilität des Rechts. Auch die Positivität einzelner Vorschriften beruth auf Gemeinschaftsinteressen, sie ist bei der Untersuchung aufzuweisen und als Hindernis analoger Ausdehnung zu beachten (47). Auch sonst können die Ergebnisse mannigfach sein. Es kann sich herausstellen, daß ein Gesetzesgebot nicht auf selbständiger Abwägung der Lebensinteressen beruth, sondern aus fremdem oder früherem Recht übernommen ist. Auch in diesen Fällen ist die Interessenfrage weiter zu verfolgen. Die übernommene Vorschrift ist auf ihren Interessengehalt zu prüfen und das Übernahmeinteresse in seiner etwaigen Eigenart festzustellen. Die Untersuchung kann weiter ergeben, daß der Gesetzgeber sich nicht durch eine Abwägung von Interessen, sondern durch Konsequenzen aus rezipierten Gebotsvorstellungen hat leiten lassen. Auch der Gesetzgeber ist der Schlagwortwirkung ausgesetzt. Dann hat der Richter nicht noch weitere Konsequenzen zu ziehen, sondern nur den Interessengehalt der in der Begriffsverwendung enthalten sein kann, zu verwerten (48). Die Kausalfrage kann schließlich wie jede historische Untersuchung zu unsicheren Ergebnissen führen oder ganz ergebnislos bleiben. Ein Argument gegen die Methode läßt sich daraus nicht entnehmen. Wenn sich nicht erkennen läßt, welche Interessenlagen gewertet sind, so bleibt das betreffende Gebot für die Ergänzung des Rechts außer Betracht. Ein völliges Versagen der Interessenfrage bildet übrigens bei modernen Gesetzen eine seltene Ausnahme.

Nur ist dabei zu beachten, daß allein die Gesetzesgebote auf selbständigen Interessenabwägungen beruhen. Die Masse der Rechtssätze besteht nicht aus Geboten, sondern aus Rechtsaussagen, aus näheren Bestimmungen von Gebotselementen (49). Diese Rechtsaussagen enthalten auch nur Bestandteile von Interessenabwägungen. Ihr Interessengehalt ist nur zu erkennen, wenn man sie transponiert, in die erläuterten Gebote einsetzt (50). Solche Transponierungen sind sehr oft notwendig und ein unentbehrliches Hilfsmittel der Interessenforschung.

Die Veränderung, welche die Auffassung der richterlichen Fallentscheidung erfahren hat, muß natürlich auch die Methode der wissenschaftlichen Arbeit beeinflussen (51). Die Konsequenzen sind freilich noch nicht alle gezogen. Auch fehlt es noch vielfach an einer scharfen Unterscheidung der normativen Aufgaben von den Erkenntnisproblemen einerseits, den Darstellungsproblemen andererseits.

Die praktische Rechtswissenschaft hat in weitem Umfang  normative  Aufgaben (52). Wenn der Richter nicht nur Tatbestände unter vorhandene Gebotsvorstellungen logisch zu subsumieren, sondern diese Gebote nach Werturteilen zu ergänzen hat, dann muß ihm die Rechtswissenschaft diese schwierige Aufgabe dadurch erleichtern, daß sie die Lücken voraussieht, die Ergänzung vorschlägt und dem Richter die maßgebenden Erwägungen unterbreitet. Eine Kasuistik (53) in diesem Sinn ist nicht, wie manchmal geglaubt wird, ein Mangel), sondern ein Vorzug der wissenschaftlichen Monographie (54).

Die kognitive Tätigkeit, die zur Erreichung des normativen Ziels erforderlich ist, hat zunächst einen doppelten Gegenstand. Einmal ist das geltende Recht zu erkennen. Aber nicht nur in Hinsicht auf den Inhalt der maßgebenden Gebotsvorstellungen. Vielmehr muß mit besonderem Nachdruck gefordert werden, daß die Wissenschaft die Wertungen des Gesetzes, die Interessengrundlage der gesetzlichen Bestimmungen erforscht und hervorhebt. Jeder Rechtssatz ist auf seinen Interessengehalt zu prüfen. Zweitens ist aber zu fordern, daß die Rechtswissenschaft auch das Leben erforscht, die Lebenslagen und Lebensbedürfnisse, die Wirkung des Rechts auf das Leben, die funktionelle Seite der Rechtsinstitute. Eine weitere Förderung können die normativen Aufgaben erfahren durch Rechtsgeschichte, durch Rechtsvergleichung und durch legislative Kritik (Erörterung der lege ferenda) (55).

In der Betonung der Interessenforschung bei Rechtserkenntnis und Lebenserkenntnis liegt der berechtigte Kern des stark betonten Verlangens nach einer soziologischen Rechtswissenschaft, einer Rechtssoziologie oder einer die dogmatische Rechtswissenschaft ergänzenden soziologischen Rechtswissenschaft. Diesen berechtigten Kern umgeben allerdings verschiedene unklare Wünsche (56). Eine Unklarheit scheint mir auch darin zu liegen, daß gerade die Vertreter des Modernismus (57) die objektive Theorie der Gesetzesauslegung vertreten, die Forderung, daß der Ausleger nicht nach dem empirischen Willen der gesetzgebenden Menschen zu forschen hat, sondern daß er das Gesetz auffassen soll nach dem Sprachgebrauch und den Bedürfnissen der Anwendungszeit. Dieser verbreiteten Ansicht kann ich nicht zustimmen. Wenn wir mit der Unterwerfung des Richters unter den Willen der Gemeinschaft Ernst machen wollen, dann müssen wir auch nach den empirischen, wirklichen Vorstellungen der mit der Gesetzgebeung beauftragten Menschen fragen. Jede andere Behandlung würde die Treffsicherheit der Gesetzgebung mindern und damit die Aufgabe der Gesetzgebung wesentlich erschweren. Die Theorie der objektiven Auslegung verschmilzt kognitive und normative Aufgaben, sie ist methodengeschichtlich aufzufassen (58) als ein Surrogat der Lehre von der Gebotsergänzung, als ein Versuch, das Dogma von der Beschränkung des Richters auf die Subsumtion mit der Erkenntnis in Einklang zu bringen, daß die empirisch wirklichen Gedanken der Gesetzgeber nicht ausreichen, um ihre Aufgaben zu lösen.

Was die Darstellung anbetrifft, so ist eine grundlegende Umgestaltung der systematischen Anordnung, in der wir das bürgerliche Recht behandeln, nicht zu erwarten. So wichtig auch die funktionelle Betrachtung der Institute, ihrer Wirkungen und legislativen Aufgaben auch ist, so dürfte doch für die Anordnung des Stoffes die bisherige Gliederung, wenn auch nicht unverändert, den Vorzug verdienen. Unser heutiges System beruth in seinen letzten Grundlagen auf Bedürfnissen der Orientierung, die von den Veränderungen der Methode unberührt bleiben. Wohl ist aber zu verlangen, daß die Ergebnisse der Interessenforschung, die soziologischen Elemente fortdauernd in die Darstellung eingearbeitet werden. Der Zusammenhang des Rechts mit den Lebensinteressen muß überall auf das Nachdrücklichste betont werden. Ferner ist zu erwarten und zu wünschen, daß der Darstellungszweck bei der systematischen Einordnung und bei der Definition bestimmter im Auge behalten wird, als dies bisher manchmal geschehen ist. Bei einer monographischen Bearbeitung eines Instituts ist die Einordung in das System der Gebotsbegriffe nicht der Beginn, sondern der Schlußstein der wissenschaftlichen Arbeit (59). Auch die ergänzenden Normen, die während der Arbeit gewonnen werden, sind mit zu berücksichtigen. Die gleichen Anforderungen gelten für die zusammenfassende Definition (60).

Mit besonderem Nachdruck ist vor der Meinung zu warnen, als ob die neuere Richtung dazu führe, die Anforderungen an die Klarheit der juristischen Begriffsbildung herabzusetzen (61). Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch, daß man die verschiedenen Aufgaben der Rechtsergänzung, der Erkenntnis und der Darstellung scharf auseinanderhält, wird es erst möglich jede einzelne von ihnen methodisch richtig zu behandeln.

IV. Die Umwandlung der juristischen Methode, die wir besprochen haben, wird, meines Erachtens, dazu führen, die Ergebnisse der Rechtssprechung dem Bedürfnis des Lebens in einem höheren Grad anzupassen als es bisher der Fall war. Aber eine vollständige Anpassung kann nicht erreicht werden. Der Richter bleibt an das Gesetz gebunden, auch wo es verfehlt ist. Und an solchen verfehlten Bestimmungen fehlt es nirgends. Namentlich ist das BGB reich an unzureichenden Normen, zumal der erste Entwurf unter dem Einfluß der klassischen Schule redigiert worden ist. Ebensowenig gibt irgendeine Methode der Rechtssprechung eine vollständige Garantie für die Gleichmäßigkeit und Voraussehbarkeit der richterlichen Entscheidungen. Wenn die Vertreter der soziologischen Jurisprudenz es als einen Mangel der älteren Methode bezeichnen, daß selbst die Entscheidungen des Reichsgerichts oft nur Mehrheitsbeschlüsse sind, die von der Minderheit dauernd mißbilligt werden (62), so wird sich dieser Mangel durch keine Änderung der Methode heben lassen. Auch über die Ergebnisse der wertenden Rechtsfindung, auch bei der Interessenabwägung nach Wertideen werden stets Meinungsverschiedenheit bestehen. Denn im Hintergrund der normativen Überlegung stehen Elemente der Eigenwertung, die individuell bedingt sind. Ja, das Ideal der Rechtssicherheit kann eher gefährdet erscheinen, weil die bewußte Gebotsergänzung besonders große Anforderungen an die Umsicht und geistige Freiheit des Richters stellt und diese Eigenschaften in individuell verschiedenem Grad vertreten sind. Gewiß ist zu erwarten, daß die Praxis des Reichsgerichts die Zweifel einschränken wird. Aber das Eingreifen des Reichsgerichts ist vom Zufall abhängig. Zahlreiche und in ihrer Gesamtheit wichtige Streitfragen gelangen überhaupt nicht vor das Reichsgericht, weil es sich um Lebensverhältnisse handelt, bei denen hohe Revisionssummen nicht vorkommen. Und zu einer Änderung der unangemessenen Gesetzesnorm ist das Reichsgericht nicht befugt. Eine Abhilfe kann auch nicht vom Weg der ordentlichen Gesetzgebung erwartet werden. Der Apparat der ordentlichen Gesetzgebung ist so kompliziert, daß er nur für besonders wichtige Angelegenheiten in Bewegung gesetzt werden kann. Die Parlamente sind aber für absehbare Zeit mit wichtigen Angelegenheiten überlastet. Dagegen handelt es sich bei den Normen des Privatrechts regelmäßig um ansich unwichtige Einzelheiten, um Detailfehler, die gar keine politische Bedeutung haben, isoliert betrachtet, unwichtig sind, aber doch in ihrer Gesamtheit die Leistungen erheblich beeinträchtigen, die das Leben von unserer Rechtsordnung fordert. Es würde eine Vergeudung von Staatskräften sein, wenn man wegen einer solchen Filigranarbeit denselben Apparat in Bewegung setzen wollte, der bei politischen Angelegenheiten notwendig und gerechtfertigt ist. Auch sind unsere Parlamente für eine solche juristische Detailarbeit gar nicht geeignet. Bei unseren modernen Gesetzen sind es vielfach gerade die Änderungen, welche der Entwurf in der parlamentarischen Beratung erfahren hat, die der Rechtsanwendung besondere Schwierigkeiten bereiten.

Diese Erwägungen haben dazu geführt, daß von den Vertretern der Reformbewegung auch Vorschläge gemacht worden sind, die auf eine Umgestaltung er autoritativen Rechtsgewinnung gerichtet sind. Es sind drei verschiedene Gedanken, die eine Vertretung gefunden haben. Einmal ist von Vertretern der Freirechtsbewegung vorgeschlagen worden, dem größten Teil unseres Privatrechts die Gesetzeskraft zu nehmen, das BGB, wie man sich ausgedrückt hat, auf die Bedeutung eines Lehrbuchs herabzudrücken. Zweitens habe ich in einem Vortrag in der juristischen Gesellschaft in Berlin am 7. Februar 1906 vorgeschlagen, die Fortbildung des Privatrechts im Wege der parlamentarisch kontrollierten Rechtsverordnung zu gestatten (63). Mit diesem Gedanken berührt sich die Schaffung eines Reichsamtes für Auslegung, die von ZEILER seit 1907 in mehreren Aufsätzen befürwortet wird (64).

Auf den ersten Vorschlag will ich nicht näher eingehen. Er läuft darauf hinaus, die vollkommen freie Rechtsfindung mit Befugnis der Abänderung von Gesetzeswertungen gesetzlich einzuführen und scheitert an dem Postulat der Rechtssicherheit, wie bereits früher dargelegt wurde.

Mein eigener Vorschlag gründet sich auf die Unterscheidung der politischen und der unpolitischen Gesetzgebungsprobleme, auf die ich schon hingewiesen habe (65). Für die politischen Probleme, bei denen die Interessen an bestimmte Bevölkerungskreise gebunden aneinander gegenüberstehen, ist der Weg der parlamentarischen Gesetzgebung bestimmt und geeignet. Er soll ihnen unverkürzt erhalten bleiben. Nur für die unpolitischen Probleme, die technischen Aufgaben, die juristische Filigranarbeit, deren Gelingen allen Kreisen gleichmäßig nützt, soll ein einfacherer Weg der Lösung eröffnet werden. Zum Teil ist dies bereits geschehen. Auch auf dem Gebiet des Privatrechts mehren sich die Fälle in denen die Fortbildung des Rechts und seine Ausgestaltung im Einzelnen dem Verordnungsweg überlassen wird (66). Aber die einfache Überweisung ist nur zulässig, wo der unpolitische Charakter schon durch die Beschaffenheit der Probleme ganz zweifellos gegeben ist. Diese Voraussetzung trifft aber in sehr vielen Fällen nicht zu. Oft ist es erst der Inhalt der legislativen Anordnung, der erkennen läßt, ob die Anordnung politische Interessen berührt oder nicht. Für solche Fälle bietet sich der naturgemäße Ausweg, daß die beabsichtigte Änderung zunächst von einer Behörde zu publizieren ist und daß sie erst dann wirksam wird, wenn im Laufe der Prüfungsfrist kein Einspruch im Parlament erhoben wird. Wird sie beanstandet, so fällt sie zusammen und es bleibt beim alten Recht. Dieses Recht der Beanstandung ist jedenfalls schon einer kleinen Minorität von Abgeordneten, z. B. 5 Reichstagsabgeordneten zu geben. Daneben könnten noch andere Instanzen in Frage kommen, ewta die ständige Deputation des Juristentages. Doch dürfte schon das erste Einspruchsrecht genügen, um alle Änderungen politischer Tragweite auszuschließen. Die Parlamente sollen nicht in ihrem Einfluß geschwächt, sondern in ihrer Leistungsfähigkeit dadurch gekräftigt werden, daß ihnen gewissermaßen die Möglichkeit einer stillschweigenden Gesetzgebung gewährt wird. Die Einrichtung würde kein vollständiges Novum darstellen. Sie enthält einmal eine Anpassung der römischen Einrichtung des prätorischen Edikts an moderne Verältnisse. Sie findet aber auch ein Vorbild in England. Der Zivilprozeß ist dort nur in ganz geringem Umfang durch ein parlamentarisch beratenes Gesetz geregelt. In der Hauptsache erfolgt die Regelung durch Normen,  rules,  welche von einer Kommission vorgeschlagen werden und Gesetzeskraft behalten, wenn vom Parlament kein Widerspruch erhoben wird. (67)

Der Vorschlag von ZEILER geht dahin, einer neu zu schaffenden Reichsbehörde die Befugnis zu einer bindenden Gesetzesauslegung zu geben. Dabei ist nicht beabsichtigt, eine Befragung des Amtes im laufenden Prozeß vorzuschreiben. Sondern das Amt soll eine abstrakte Rechtsbelehrung erteilen, gewissermaßen moderne Weistümer [historische Rechtsquellen - wp], die aber nach ihrer Publikation die Gerichte binden sollen. Der Unterschied von meinem Gedanken besteht darin, daß einerseits die Befugnis zur Gesetzesänderung andererseits die Einspruchskontrolle wegfällt. Ich kann mich nicht davon überzeugen, daß diese Abweichungen zu billigen sind. Sicher ist, daß sie die Wirksamkeit der Einrichtung schwächen. Jeder mißlungene Gesetzesparagraph wird seine störende Wirkung auf die Dauer beibehalten. Sodann aber unterschätzt ZEILER die großen Schwierigkeiten zwischen Gesetzesauslegung und Gesetzesänderung reinlich zu scheiden. Die Grenzen sind durchaus flüssig. Wer soll entscheiden, ob ein konkretes Weistum eine Auslegung oder eine Änderung enthält. Sollte der Richter, der das Weistum anwendet, seine Gültigkeit prüfen müssen, so wird ihm eine Aufgabe zugemutet, die kaum zu lösen ist und die Sicherheit der Rechtssprechung wird wieder gefährdet. Nimmt man dem Richter das Prüfungsrecht, so hat das Amt, wenn auch nicht das Recht, so doch die Macht der Gesetzesänderung. Und diese Macht kann ihm ohne parlamentarische Kontrolle nicht zugestanden werden. Mit der parlamentarischen Kontrolle ist aber auch das Recht der Gesetzesänderung bedenkenfrei. Deshalb glaube ich, daß der frühere Vorschlag den Vorzug verdient.

Die Handhabung des Verordnungsrechts denke ich mir nicht in der Weise, daß das Reichsjustizamt materiell und ausschließlich oder vorzugsweise die Initiative zu den Rechtsvorschlägen üben soll. Die große Aufgabe der allmählichen Vervollkommnung unseres Rechts soll nicht von einer Behörde gelöst werden, sondern durch das Zusammenwirken aller im Volk vorhandenen Kräfte. Das Reichsjustizamt soll nur den Schlüssel zu einem Tor halten, durch welches unzweifelhafte Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung, unabweisliche Forderungen veränderter Lebensverhältnisse in unsere Rechtsordnung eindringen können. Das Reichsjustizamt soll eine Sammelstelle sein, bei der die Vorschläge einlaufen, gesichtet, geprüft und eventuell formuliert werden.

Als sachliches Bedenken gegen den Vorschlag könnte nur geltend gemacht werden, daß er die Stabilität des Rechts gefährden würde. Die Beständigkeit des Rechts ist nun sicher ein hohes Gut. Ein Wechsel des Rechts ist, wenn man von der Wertung der beiden Rechte absieht, sicher ein Mißstand. Ferner genügt nicht, daß ein gutes Recht besteht, es muß auch bekannt sein. Es bedarf der literarischen Bearbeitung. Die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs hat auch die Schattenseiten einer Übergangszeit deutlich hervortreten lassen. Und nun wird anscheinend vorgeschlagen, diese Zustände zu verewigen, den fortlaufenden Wechsel des Rechts zum System zu erheben. Wenn mein Vorschlag diese Wirkung haben könnte, würde ich ihn nicht vertreten. Aber es handelt sich eben nicht um eine Gesamtkodifikation, sondern um eine allmähliche Ausfeilung des Rechts, um Ausbau wie er auch jetzt durch Judikatur und Wissenschaft vollzogen wird, nur weniger vollkommen und weniger regelmäßig. Jeder Jurist muß auch heute der Rechtssprechung des Reichsgerichts folgen und aus den Fallentscheidungen die Ergänzungsnormen herausarbeiten. Die Verordnungen des Reichsjustizamtes würden in derselben Weise nachzutragen sein. Dafür würde die ermöglichte Verbesserung des Gesetzes auch entlastend wirken und gerade die unerquicklichen Streitfragen beseitigen, die durch eine mißglückte Gesetzesfassung entstehen. Je genauer sich die Rechtsordnung dem Lebensbedürfnis anpaßt, umso selbstverständlicher und klarer erscheint sie. Einer allzu rührigen Reformtätigkeit wird schon durch das Einspruchsrecht und dadurch vorgebeugt, daß die Aufgabe dem Reichsjustizamt und nicht einer besonderen Behörde übertragen wird. Ein besonderes Reichsamt würde leicht die Verpflichtung fühlen, seine Existenzberechtigung durch Reformvorschläge zu beweisen. Eine solche amtliche Unruhe ist beim Reichsjustizamt nicht zu befürchten. Das Reichsjustizamt ist durchaus in der Lage, die Vorzüge der Stabilität und der neu in Aussicht genommenen Änderung sachlich richtig abzuwägen. Einen besonders gewichtigen Gegengrund gegen das Stabilitätsbedenken bieten die Erfahrungen, die bisher auf den Gebieten vereinfachter Rechtsbildung gemacht worden sind. Die englischen Rules haben sich durchaus bewährt. Niemand denkt an ihren Ersatz durch ein parlamentarisches Gesetz. Und auch auf denjenigen Gebieten, die heute durch Verordnung z. B. durch die Eisenbahnverkehrsordnung oder wie dies z. B. auf dem Gebiet der Seeversicherung der Fall ist, durch Vereinbarungen der Interessenten geregelt werden, ist von einer störenden Unruhe nirgends wahrzunehmen.

Die Vorteile, die ich von diesem Vorschlag erwarte, bestehen einmal in der Aussicht für die Gewinnung eines technisch möglichst vollkommenen Gesetzesrechts. Die angemessene und völlig klare Fassung von Gebotsvorschriften läßt sich nur durch eine allmähliche Feilung und stete Hebung hervortretender Mängel erreichen. Das zeigt die Geschichte eines jeden Entwurfs und das zeigen die historischen Vorbilder namentlich auch das prätorische Edikt. Zudem aber bietet dieser Weg auch die besten Garantien für die Förderung der Rechtswissenschaft und der Technik der richterlichen Fallentscheidung. Es ist eine alte Weisheit, daß derjenige sich in Gehorsam zu üben hat, der später befehlen soll. Aber man kann den Spruch auch umkehren. Die Arbeit  de lege ferenda  ist die beste Schule für das Verständnis und die Ergänzung der  lex lata  [geltendes Recht - wp]. Nun steht es ja heute auch auf dem Gebiet des Privatrechts jedem frei, Vorschläge  de lege ferenda  auszuarbeiten. Aber wir haben keine Aussicht, daß solche Vorschläge zur Verwirklichung gelangen. Diese Resignation hat in der Vergangenheit lähmend gewirkt und wird es auch in Zukunft tun, wenn wir nicht einen leichteren Weg der Rechtsfortbildung eröffnen. Tun wir dies, dann dürfen wir erwarten, daß der frische Zug, den die Kodifikation des bürgerlichen Rechts in unsere Wissenschaft gebracht hat, dauernd erhalten bleibt. Was wir brauchen ist nicht die völlig freie Rechtsfindung des Richters, sondern ein technisch vollendetes, zeitgemäßes Gesetz, eine sinngemäße Anwendung und eine methodisch klare Wissenschaft, welche auch die Kritik und die Fortbildung des Rechts in den Kreis ihrer Aufgaben einbezieht.

Das Ideal einer vollkommen angemessenen und vollkommen bestimmten Rechtsgewinnung können wir nicht erreichen aber wir können uns diesem Ideal noch erheblich nähern.


Unsere Betrachtung hat uns mehrfach an die Grenzen des juristischen Könnens geführt. Aber diese Grenzen sind noch enger zu ziehen. Das letzte Ziel des Rechts, die Sicherung der Lebensgüter, die Verbindung der Menschen zu streitlosem Zusammenwirken, läßt sich mit den Mitteln des Rechts allein nicht erreichen. Dazu bedarf es des Eingreifens ethischer Faktoren, die in der Tiefe der Persönlichkeit wurzeln.

Unser Württemberger Land erfreut sich glücklicher Verfassungszustände. Die Streitigkeiten zwischen der Krone und der Volksvertretung, von denen unsere Geschichte berichtet, sind längst verstummt. In vollem Einklang wirken Volk und Regierung. Wir danken dies nicht nur den Normen des Verfassungsrechts und ihrer richtigen Anwendung, sondern auch der gerechten und wohlwollenden Gesinnung unseres Monarchen. Seine Persönlichkeit hat ihm die Herzen seiner Untertanen gewonnen. Bei der Feier seiner silbernen Hochzeit in diesem Jahr ist diese Liebe und Verehrung machtvoll zutage getreten. Auch der Universität ist er stets ein huldvoller Freund und Förderer gewesen. Der Feier des heutigen Tages, die das ganze Land in festlicher Freude begeht, schließen auch wir uns mit vollem Herzen an.
 Gott erhalte, Gott schütze unsern König und Herrn! 




Anhang
Belegstellen

Die methodischen Grundanschauungen, die in den vorstehenden Ausführungen dargelegt sind, habe ich von Anbeginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit an vertreten. Meine Überzeugung von ihrer Richtigkeit und ihrer weittragenden Bedeutung hat sich während meiner Lehrtätigkeit und meiner wissenschaftlichen Arbeit fortdauernd bewährt. Da meine früheren Stellungnahmen in monographischen Arbeiten verstreut sind, so will ich einige Belegstellen geben:

1. Im Vorwort zu meinem Buch über die große Haverei (68) führe ich aus:
    "Der nachfolgenden Arbeit war in erster Linie eine wissenschaftliche, und zwar eine methodische Aufgabe gestellt.

    Diejenige Auffassung des Rechts, welche  seine Abhängigkeit von den menschlichen Bedürfnissen, die Bedeutung des Zweckmoments  betont, ist keineswegs allgemein anerkannt und in ihren Konsequenzen gewürdigt. Der Verfasser hat sie einer eingehenden monographischen Darstellung zugrunde gelegt, um dadurch ihren Wert nach verschiedenen Seite auf die Probe und andererseits klar zu stellen. Die Arbeit hat ihm selbst nur Bestätigung und Bestärkung in dieser Grundanschauung gebracht. Auch das zweite Ziel würde erreicht sein, falls sie auf andere, wenngleich in bescheidenstem Umfang ebenso wirken sollte.

    Die Wahl des Themas rechtfertigt sich durch die wenig erschöpfende Behandlung, die es in der deutschen Literatur gefunden hat, sodann durch die Sicherheit, mit welcher sich jene Abhängigkeit gerade im Seerecht prüfen läßt. Die Anordnung und die Behandlung der einzelnen Fragen war durch den methodischen Standpunkt vorgezeichnet. Wer die Rechtssätze als logische Folgerungen aus allgemeinen Prinzipien auffaßt, wird ihre begriffliche Konstruktion vorausschicken und  dann  vom gewonnenen Ergebnis aus die einzelnen Normen entwickeln bzw. durch Ableitung weiterer Folgen ergänzen. Der Verfasser mußte sich an erster Stelle die praktische Bedeutung des Instituts, seine Vorzüge und seine Gefahren durch eine Anschauung der Verhältnisse vergegenwärtigen und die positiven Bestimmungen derart erläutern und vervollständigen, daß nach Möglichkeit die Vorteile gesichert, die Nachteile vermieden werden. Erst  nach  Erledigung dieser Aufgabe durfte sich eine begriffliche Bestimmung und systematische Einordnung anschließen."
2. Die wissenschaftliche Aufgabe bestimme ich dann näher wie folgt:
    "Einmal ist eine  Darstellung des geltenden Rechts  in möglichst umfassender  Kasuistik  gegeben.

    Auch auf den durch Gesetz geregelten Gebieten muß der Richter, sobald der Sinn der gesetzlichen Worte und Wendungen unsicher ist, diejenige Auslegung wählen, welche zum zweckmäßigsten Ergebnis führt. Ein solches Verfahren bedingte eine vollkommene Beherrschung der maßgebenden Verhältnisse und Erwägungen. Es ist deshalb Aufgabe des Spezialforschers, die Zweifelsfälle vorauszusehen und unter Mitteilung der erheblichen Momente die Entscheidung vorzuschlagen. - Zweitens wird versucht, mit der Darstellung des geltenden Rechts eine Kritik zu verbinden.

    Der Verfasser steht nicht an zu bekennen, daß ihm die wichtigste Aufgabe der Rechtswissenschaft gerade die Untersuchung  de lege ferenda,  die Ebnung des Bodens für eine zukünftige Gesetzgebung zu sein scheint."
3. Beim Problem der analogen Ausdehnung der großen Haverei (69) führte ich die Grundanschauung im Hinblick auf die Analogie wie folgt aus:
    "Bei unserer Untersuchung sind wir davon ausgegangen, daß das objektive Recht nicht ein lückenloses, durch Selbstentwicklung entstandenes System von Rechtsbegriffen ist, oder eine durch die Natur der Sache gegebene Ordnung, die der Jurist bloß zu finden, bloß der Verborgenheit zu entreissen hätte, daß es vielmehr Versuche der Menschheit enthält, ihren Bedürfnissen entsprechende Rechtssätze aufzustellen, Versuche, die nicht im entferntesten für die vorkommenen Kombinationen ausreichen. Der Richter und ebenso der vorarbeitende Forscher muß die Lücken durch eine eigene Schöpfung ausfüllen. Er hat  de lege ferenda  zu entscheiden, sobald die  lex lata  die Antwort versagt. Für das Gebiet des gemeinen Rechts wird allerdings die Erkenntnis dieser Wahrheit und ihre praktische Verwertung durch die eigentümliche Beschaffenheit des  Corpus juris  außerordentlich erschwert.

    Die analoge Ausdehnung eines Rechtssatzes ist eine Unterart der Normen schaffenden Tätigkeit, und zwar diejenige, bei welcher der Richter sich an einen durch Recht oder Gewohnheit geltenden Rechtssatz anlehnt. Die Anlehnung kann aus zwei Gründen geboten sein. Der Richter steht selbstverständlich bei der Erfindung von Normen nicht so frei wie der Gesetzgeber. Auch für ihn sind die Bedürfnisse des Lebens unmittelbar maßgebend. Auch bei ihrer Würdigung, beim Werturteil hat er sich an die Urteile zu halten, welche durch andere Bestimmungen des für ihn maßgebenden Rechts gefällts sind. Nur in Ermangelung derselben entscheidet sein persönliches Empfinden. Die Billigung eines Postulats durch einen bestehenden Rechtssatz kann daher für die Befriedigung derselben Bedürfnisse in anderen Sachlagen maßgebend werden. Sie wird umso mehr ins Gewicht fallen, je gleichartiger die Verhältnisse sind. Sodann kommt es nicht selten vor, daß dieselben Bedürfnisse durch verschiedene Mittel der Rechtstechnik befriedigt werden können. Dann hat sich der Richter zugunsten bereits angewendeter zu entscheiden. Nicht nur weil und soweit in der Anwendung ein Werturteil liegt, sondern auch deswegen, weil dieses Verfahren die notwendige Kontinuität in der Normgebung sichert."
4. Den von STAMPE mit Recht betonten Gegensatz der Lückenergänzung durch Konstruktion und durch Interessenprüfung habe ich bei einer anderen Gelegenheit (70), nämlich bei einer Besprechung der Wertpapierkontroversen wie folgt dargestellt:
    "Der erste Gegensatz betrifft die  Aufgabe und die Methode der juristischen Konstruktion. 

    Nicht selten wird die Konstruktion dazu verwendet, um Lücken des positiven Rechts auszufüllen. Man sucht die feststehenden Rechtssätze möglichst erschöpfend in eine Formel zusammenzufassen (Begebungsvertrag, Emission, Kreation usw.) und verwendet dann die gefundene Formel als Ausgangspunkt für die Entscheidung im positiven Recht nicht geregelter Fragen. Ein Beispiel dieser  Lückenergänzung  durch  Konstruktion  bietet die Abhandlung CARLINs im letzten Band dieser Zeitschrift und ebenso die angezeigte Arbeit.

    Referent kann diesem Verfahren nicht zustimmen. Von der Grundauffassung ausgehend, daß die juristischen Formeln und Begriffe keine reale Existenz besitzen, sondern nur dazu bestimmt sind, die realen Erscheinungen kurz zu  bezeichnen  und sie handlich zu  ordnen,  glaubt er zu dem Schluß gelangen zu müssen, daß die juristische Konstruktion die Ergänzung der Rechtslücken nicht ermöglicht, sondern voraussetzt.

    Die Ergänzung selbst muß erfolgen durch eine  Prüfung der beteiligten Interessen  und bei Konflikt derselben durch Abwägung ihres legislativen Wertes. Allerdings unter Berücksichtigung des feststehenden Rechts. Denn fast jede Norm enthält die Entscheidung eines Interessenkonflikts, somit ein Werturteil, welches der Übertragung auf andere gleichliegende Konfliktsfälle fähig und bedürftig ist.

    Das Ergebnis der Konstruktion kann verschieden ausfallen, je nachdem der eine oder andere der beiden Zwecke in den Vordergrund gestellt wird.

    Sucht man vor allem nach einer Bezeichnung, so liegt es nahe, ihre Genauigkeit zu betonen. Für diese Methode, welche sich als  determinative  oder  erschöpfende Konstruktion  bezeichnen läßt, ist das Gesetz der Deckung des positiven Stoffes aufgestellt. Ihre strengsten Anhänger erkennen nur solche Formeln an, die ausnahmslos zutreffen.

    Für die Einordnung in ein System ist vorzugsweise die Berücksichtigung und Hervorhebung des Normalfalls wichtig und empfiehlt sich eine mehr  typische Konstruktion.  Von diesem Standpunkt aus steht der Aufstellung eines Prinzips nicht im Weg, daß es in einzelnen, aber an Bedeutung zurücktretenden Fällen Modifikationen oder Ausnahmen erleidet."
Weitere Ausführungen finden sich im  Archiv für bürgerliches Recht,  Bd. 4, Seite 7f, speziell Seite 41f und  Zeitschrift für Handelsrecht,  Bd. 38, Seite 306f.
LITERATUR Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, Tübingen 1912
    Anmerkungen
    1) Archiv für zivilistische Praxis, 1902, Seite 438f
    2) Die wichtigsten Schriften sind im Anhang [hier nicht veröffentlicht - wp] nach den Erscheinungsjahren und innerhalb der Jahre in alphabetischer Ordnung angeführt. Diese Schriften werden mit dem Jahr zitiert werden.
    3) MAX RÜMELIN 1907 "Bernhard Windscheid und sein Einfluß auf Privatrecht und Privatrechtswissenschaft" und 1908 "Das neue schweizerische Zivilgesetzbuch und seine Bedeutung für uns, Tübinger Kanzlerrede.
    4) In sachlicher Hinsicht beschränkt sich die Erörterung auf die zivilistische Methodenlehre.
    5) Die Einzelwissenschaften sind Individualbegriffe im Sinne RICKERTs. Eine Untersuchung des Rechts mit anderem Endzweck ist natürlich möglich aber sie wird etwas anderes ergeben, als diejenige Wissenschaft, die wir Rechtswissenschaft nennen und sie wird die praktische Rechtswissenchaft nicht entbehrlich machen. Vgl. aber THOMA, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 1910, Seite 215.
    6) OSKAR von BÜLOW, Gesetz und Richteramt, 1885
    7) Auch Gewohnheitsrecht und Verkehrssitte sind lückenhaft und unbestimmt. Sie müssen bei allen selteneren und bei allen neueren Problemen versagen.
    8) Vgl. über den Begriff der Lücken die Ausführungen von MAX RÜMELIN, Schweiz. Zivilgesetz. 1908, Seite 27f. Die Polemik von SOMLO (1911 Die Anwendung des Rechts in  Grünhuts Zeitschrift,  Bd. 38, Seite 1f) beruth auf einer Beschränkung der Fragestellung.
    9) Vgl. BERGBOHM, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I (1892), Seite 372f. BRINZ, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 15, Seite 164, ANSCHÜTZ (134). ZITELMANN (1903 Lücken im Recht) bezeichnet die Theorie von BRINZ als einen Gedankenblitz, der zu spät gezündet hat. Aber er nimmt selbst an, daß der Richter die Befugnis hat, den negativen Grundsatz  "abzuändern". 
    10) Vgl. RÜMELIN (1907 a. a. o.), Seite 28f.
    11) Vgl. über die konstruktive Begriffsjurisprudenz und über die verschiedenen Formen: MAX RÜMELIN (1907), Seite 40f; ferner BRÜTT (1907 Die Kunst der Rechtsanwendung), Seite 73f.
    12) Politische Betätigung ist nichts anderes als Teilnahme an der Rechtsbildung. Allerdings bei besonders wichtigen Fragen. Aber gerade solche Haupt- und Staatsaktionen haben für den Sozialpsychologen eine besondere Bedeutung. Sie zeigen die normalen Vorgänge in Vergrößerung und ersetzen einigermaßen das Mikroskop.
    13) RUDOLF von JHERING, Geist des römischen Rechts, Bd. II, 1, Seite 357f (dritte Auflage). Wenn RUMPF (1906 Gesetz und Richter - Versuch einer Methodik der Rechtsanwendung) Seite 35f meint, daß die Polemik der neueren Richtung sich nicht gegen diese Konstruktion im Sinne JHERINGs richtet, so ist dies ein Irrtum.
    14) Deshalb wird sie auch nicht durch den Schein der Objektivität gerechtfertigt, den sie dem Urteil für das Publikum verleihen kann und der von WURZEL (1904 Das juristische Denken) und RUNDSTEIN (1910 "Freie Rechtsfindung und Differenzierung des Rechtsbewußtseins", Archiv für bürgerliches Recht, Bd. 34, Seite 1f. Verhandlungen im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie Bd. 3, Seite 526f.), Seite 37 gerühmt wird. Kein Richter wird wissentlich Gründe anführen, die er als unzutreffend erkannt hat.
    15) Vgl. SAVIGNY, System I, § 42, Seite 262f; § 46 vgl. aber auch Seite 214, 217. Bezeichnend ist auch, daß SAGIGNY bei der Auslegung die Beachtung des inneren Wertes der Ergebnisse als "besonders gefährlich" bezeichnet. Vgl. Seite 225, 238, 240. Die Gesamtwürdigung, die SAVIGNY bei KANTOROWICZ gefunden hat (Recht und Wirtschaft I, H. 2 u. 3) kann ich freilich nicht billigen.
    16) Vgl. KISS (1911 "Gesetzesauslegung und ungeschriebenes Recht", Jherings Jahrbuch, Bd. 58, Seite 413f)
    17) BRINZ, Pandekten (zweite Auflage) Bd. 4, Seite 306f
    18) MAX RÜMELIN (1907), Seite 20, 21
    19) WILHELM WUNDT, Logik, dritte Auflage, Bd. III, Seite 568f, 617, 618, 621.
    20) WUNDT, a. a. O., Seite 595.
    21) Der zweite deutsche Richtertag hat aufgrund eines ausgezeichneten Referates von Oberlandesgerichtsrat STAFFEL (1911 "Die Stellung des Richters gegenüber dem Gesetz, besonders im Hinblick auf die Freirechtsbewegung", Deutsche Richterzeitung, Seite 724f) folgenden Beschluß gefaßt. "Die richterliche Gewalt ist dem Gesetz unterworfen. Der Richter hat deshalb niemals die Befugnis vom Gesetz abzuweichen. Die Zweifelhaftigkeit des Gesetzes berechtigt den Richter nicht, nach seinem Ermessen zu entscheiden, vielmehr ist der Zweifel durch Auslegung und zutreffendenfalls durch Analogie zu lösen. Ist ein Gesetz verschiedener Auslegung fähig, so ist der Richter ermächtigt, derjenigen Auslegung, welche dem Rechtsbewußtsein und dem Verkehrsbedürfnis am besten entspricht, den Vorzug zu geben. Eine Entscheidung dieser Art soll der Richter offen mit der Bevorzugung begründen. Er soll vermeiden, die wahren Gründe durch eine künstliche Argumentation zu verdecken."
    22) Die Zahl der mit größeren Arbeiten hervorgetretenen Forscher, die ihre eigene Methode technisch als Freirechtsmethode bezeichnen ist gering. Es sind dies KANTOROWICZ (1906 "Der Kampf um die Rechtswissenschaft" und 1911 "Rechtswissenschaft und Soziologie"), STAMPE (1907 "Unsere Rechts- und Begriffsbildung", 1911 "Die Freirechtsbewegung") und BEROLZHEIMER (1911 "Die Gefahren einer Gefühlsjurisprudenz in der Gegenwart", Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 4, Seite 595f). FUCHS bezeichnet seine Methoden als "soziologisch".
    23) Die Negation, die im Wort "frei" enthalten ist, bezieht sich bei EHRLICH auf die bindende Gesetzeswirkung,  nicht  auf die Begriffskonsequenz der Inversionsmethode.
    24) Diese Übertragung hat KANTOROWICZ vorgenommen (1907 a. a. O.). STAMPE ist ihm gefolgt (1911 a. a. O.). Einen dritten abweichenden Inhalt hat BEROLZHEIMER (1911 a. a. O.) dem Wort beigelegt (Korrektur des Gesetzes durch die Idee der Freiheit).
    25) RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht, I, Seite 145f. Er forder de lege ferenda die Umgestaltung der Gerichte aus lediglich rechtschaffenden Behörden zu Organen der Rechtsschaffung  in grundsätzlicher Gleichstellung mit dem Gesetzgeber.  Gemeint ist wohl nur die Erweiterung der richterlichen Gebotsergänzung und nicht die Befugnis der Gesetzesablehnung oder Aufhebung, die eigentlich in den Worten mit eingeschlossen sein würde.
    26) Diese Gefahren werden mit Recht betont von RUNDSTEIN (1910 a. a. O.), Seite 32f
    27) Die Erzeugnisse der Kautelarjurisprudenz [Vorbehalts- / wp], Vertragsformulare und Geschäftsbedingungen, enthalten durchweg viel ausführlichere Regelungen, als das Gesetz. Nirgends tritt das Bestreben hervor, durch ersatzlose Beseitigung der dispositiven Gesetzesvorschriften Spielraum für die freie Würdigung des Einzelfalls zu beschaffen.
    28) Das Problem des geltenden Rechts ist nicht eingehender behandelt. Die Regel wird Seite 21 aufgestellt, dabei ist aber die Analogie abgelehnt. Vgl. Seite 20, ferner 25 und 29.
    29) Vgl. zum Beispiel GMELIN (1910 a. a. O.).
    30) Vgl. GNAEUS FLAVIUS (1906 a. a. O.), Seite 41. "Von diesem (dem Gesetz) darf und soll er (der Richter) absehen erstens, sobald das Gesetz ihm eine zweifellose Entscheidung nicht zu bieten scheint; zweitens, wenn er seiner freien und gewissenhaften Überzeugung nach, nicht wahrscheinlich ist, daß die zur Zeit der Entscheidung bestehende Staatsgewalt die Entscheidung so getroffen haben würde, wie es das Gesetz verlangt. In beiden Fällen soll er die Entscheidung treffen, die, seiner Überzeugung nach, die gegenwärtige Staatsgewalt, falls der einzelne Fall ihr vorgeschwebt hätte, getroffen haben würde. Vermag er sich eine solche Überzeugung nicht herzustellen, so soll er nach freiem Recht entscheiden. Schließlich in verzweifelt verwickelten oder nur quantitativ fraglichen Fällen, wie Schadensersatz für immateriellen Schaden soll - und muß er - nach Willkür entscheiden." Die Anweisung kann anders verstanden werden als KANTOROWICZ gemeint hat. Es ist nicht nur wahrscheinlich, sondern meines Erachtens sicher, daß "die zur Zeit bestehende Reichsgewalt" das Problem der Reichsfinanzreform anders gelöst hätte, als es gelöst ist. Nach dem objektiven Sinn der Anweisung würden die Organe der Rechtsanwendung vor einer ganzen Reihe "verzweifelt verwickelter Fälle" stehen.
    31) STAMPE 1905 a. a. O. und 1907 a. a. O.
    32) 1911 und  Deutsche Richterzeitung,  Bd. III, Seite 258, die  contra legem fabula. 
    33) STAMPE (1911 a. a. O.). STAMPE hält es z. B. für wünschenswert, daß die Mobiliarhypothek im Weg der Rechtssprechung durch das Reichsgericht wieder eingeführt wird.
    34) Auch der 2. deutsche Richtertag hat sich mit voller Entschiedenheit ausgesprochen. Vgl. oben Anm. 21
    35) Sie gibt einerseits zuviel, andererseits zuwenig. Der Richter muß auch bei der Gebotsergänzung an die im Gesetz enthaltenen Wertungen gebunden sein. Dies fordern die Autonomie der Rechtsgemeinschaft, die Rechtssicherheit und das Postulat der Gleichbehandlung gleich liegender Fälle. Andererseits ist es nicht Willkür, sondern sinngemäße Gebotsausführung, wenn die herrschende Lehre auch ein Abgehen vom Wortlaut, dem Ergebnis rein sprachlicher Auslegung, gestattet. Es kann dies notwendig werden bei einem Eingreifen der sonstigen Mittel historischer Auslegung (Zusammenhang, Entstehungsgeschichte), bei Gebotsfehlern und beim Wechsel relevanter Zeitumstände. Die Grenzen sind oft schwer zu ziehen, aber niemals nach der oben erwähnten Formel.
    36) Dies gilt von KANTOROWICZ nach seinen neueren Ausführungen (1911 a. a. O.), zum Teil auch von STAMPE (1911 a. a. O.).
    37) KANTOROWICZ (1911 a. a. O.)
    38) Vgl. Anhang
    39) Die Abgrenzung ist außerordentlich schwer zu ziehen, da eine gelegentliche Verwendung der Interessenbegriffe sich bei jedem Vertreter der teleologischen Jurisprudenz findet. Besonders betont wird sie wohl von HEDEMANN, MAUCZKA, MÜLLER-ERZBACH, REICHEL und WÜSTENDÖRFER.
    40) Die nähere Bestimmung und Begrenzung dieser These kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Sie gilt nicht nur für das Gesetz, sondern auch für die Gewohnheit, für die gefühlsmäßige Bildung wie für die normative Überlegung. Deshalb kann die Interessentheorie nicht darum abgelehnt werden, weil das Recht ein Produkt des Rechtsgefühls ist (LÖNING 1907 "Über Wurzel und Wesen des Rechts") oder der Volksvernunft (GIERKE). Sie ist beiden Thesen gegenüber neutral.
    41) Die Probleme der Rechtsbildung politischer Bedeutung sind nicht durch einen schrofferen Gegensatz der beteiligten Interessen, sondern dadurch ausgezeichnet, daß diese Interessen mit Bevölkerungskreisen dauernd verbunden sind. Beim Vertragsschluß unter Abwesenden stehen sich die Interessen des Offerenten und des Akzeptanten so schroff wie möglich gegenüber. Aber im Zeitpunkt der Normgebung kann niemand wissen, ob er von der Norm dereinst als Offerent oder als Akzeptant betroffen wird.
    42) Besonders auffallend sind die Mißverständnisse bei KANTOROWICZ (1911 a. a. O.) Seite 17. Sie haben ihn an der Erkenntnis gehindert, daß die Grundgedanken der Methodenlehre, die er als Freirechtslehre jetzt vorträgt, namentlich auch die Lehre von der Schaffung von Rechtsnormen durch den Richter, schon seit längerer Zeit von der Interessenjurisprudenz vertreten und betätigt werden. Dabei arbeitet KANTOROWICZ an einer Dogmengeschichte der modernen Richtung, die nächstens erscheinen soll.
    43) KANTOROWICZ meint die Interessenabwägung, die HECK, RÜMELIN u. a. vertreten, gehöre in das "Gebiet der  Tatfrage",  a. a. O., Seite 18. Nun ist natürlich Voraussetzung  jeder  Fallentscheidung die  Vorstellung  eines Tatbestandes. Aber diese Notwendigkeit ist von der Methode der Rechtsgewinnung ganz unabhängig und gibt nicht das geringste Recht dazu, die Fallentscheidung nach den Grundsätzen der Interessenjurisprudenz der Tatfrage zuzuweisen und etwa die Fallentscheidung auf dem Weg einer freien Rechtsfindung der Rechtsfrage.
    44) KANTOROWICZ sagt, die Vertreter der Interessenjurisprudenz meinten eine Art  Interessenabwägung.  "Aber auch die beiden dann gegebenen Möglichkeiten" seien "abzulehnen". Die beiden Möglichkeiten sollen der generelle Vorzug des sozial Schwächeren sein und der generelle Vorzug des sozial Stärkeren. Als "richtige Antwort" wird gegenübergestellt  "die Beurteilung der Interessen daraufhin, inwieweit die Förderung des einen oder des anderen den Zwecken der Rechtsordnung gemäß sei."  Die uns zugeschriebene "Interessenabwägung" ist lediglich ein Phantasieprodukt. Weder bei RÜMELIN noch bei mir noch bei einem anderen deutschen Vertreter der Richtung findet sich der geringste Anhaltspunkt für diese Auffassung. Die "richtige Antwort" haben wir vor KANTOROWICZ gehabt.
    45) KANTOROWICZ betont (a. a. O. Seite 18), daß die Interessenabwägung (Fallentscheidung) zu unterscheiden sei von der Untersuchung der Rechtsnormen auf ihren Interessengehalt (Zweckforschung). Das ist ebenso richtig wie elementar. Wenn aber KANTOROWICZ hinzufügt, "was bisher nicht geschieht", so ist das unrichtig. In den zahlreichen Arbeiten der Interessenjurisprudenz findet sich nirgends eine Verwechslung. Dafür sind beide Operationen getrennt aufgeführt bei HECK (1909 "Deutsche Juristenzeitung, Seite 1019f, dazu HECK Seite 1457) IV und V, 1).
    46) Als Beispiele der Lückenergänzung durch Interessenabwägung auf dem Gebiet des BGB, nenne ich meine Ausführungen in dem Aufsatz "Gesellschaftsbeschlüsse und Willensmängel", Festschrift für GIERKE, Seite 331f und 340f.
    47) Es ist deshalb völlig unberechtigt, wenn die Interessenjurisprudenz als  "Gefühlsjurisprudenz"  bekämpft wird, wie die z. B. bei BRÜTT (1907), Seite 104 und bei BEROLZHEIMER (1911) geschieht. Die relative Einschätzung der Postulate der Rechtssicherheit und der Angemessenheit ist vom Prinzip der Interessenforschung unabhängig. Die Verwendung derselben Hilfsbegriffe schließt prinzipiell verschiedene Stellungnahmen zu diesen Fragen nicht aus. STAMPE gehört seiner Begriffsbildung nach zur Richtung der Interessenjurisprudenz, während er die Bindung des Richters ganz anders beurteilt, als es diejenigen Vertreter dieser Richtungen tun, die sich zu dieser Frage geäußert haben. Vgl. HECK, Deutsche Juristenzeitung (1905)
    48) Das Hypothekenrecht des BGB ist z. B. von der Vorstellung beeinflußt, daß die Hypothek ein accessorisches Recht sei. Diese Vorstellung hat dazu geführt, daß nach § 1153f das Gesetz nur eine Abtretung der Forderung kennt und die Hypothek selbst nicht als Gegenstand des Abtretungsgeschäfts behandelt. Es wäre verfehlt, daraus zu folgern, daß bei einer solchen Abtretung ein Irrtum über die Hypothek nicht als Irrtum über den Inhalt der Erklärung zu behandeln ist. Eine neue Abwägung der bei der Irrtumsanfechtung beteiligten Interessen ist durch die gesetzliche Konstruktion der Hypotheken-Abtretung nicht beabsichtigt worden. Vgl. über die Bedeutung der gesetzlichen Begriffsverwendung im allgemeinen RÜMELIN (1907), Seite 47.
    49) Für den Gesamtkomplex des Rechts ist die Gebotstheorie festzuhalten.
    50) § 100 BGB bestimmt: "Nutzungen sind die Früchte einer Sache oder eines Rechts sowie die Vorteile, welche der Gebrauch der Sache oder des Rechts gewährt." Solange man diesen Rechtssatz isoliert betrachtet, läßt sich schlechterdings nicht sagen, welche Interessen bei seiner Entstehung gegeneinander abgewogen wurden. Aber dieser Ausspruch würde auch kein juristisches Interesse bieten, keine praktische Bedeutung besitzen, wenn nicht das Gesetz in anderen Vorschriften von Nutzungen reden würde. Das ist natürlich der Fall. § 987 verpflichtet z. B. den Besitzer einer fremden Sache, dem Eigentümer die Nutzungen herauszugeben, die er nach dem Eindruck der Rechtshängigkeit zieht. Wenn man den Inhalt des § 100 in § 987 einsetzt, dann erhält § 100 praktische Bedeutung. Dann wird aber auch deutlich, daß § 100 bei derjenigen Interessenabgrenzung mitwirkt, die durch § 987 vollzogen wird.
    51) Die Umgestaltung wird meines Erachtens nicht richtig gekennzeichnet, wenn WIELAND (1910 Die historische und kritische Methode der Rechtswissenschaft) die Methode der Geschichtswissenschaft nach der Auffassung RICKERTs als Vorbild aufstellt. Eine "wertbeziehende" Wissenschaft ist die Rechtswissenschaft immer gewesen. Aber die neuere Richtung geht darüber hinaus und stellt neben die Wertbeziehung noch die Aufgabe einer selbständigen Wertung. Die Auffassung WIELANDs ist durch die objektive Theorie der Gesetzesauslegung bedingt.
    52) Vgl. Anhang, Nr. 2
    53) Die Kasuistik kann von zwei sehr verschiedenen Standpunkten aus entbehrlich erscheinen. Die ältere Richtung konnte sich mit der Feststellung der allgemeinen Begriffe begnügen, weil die kognitive Subsumtion als eine einfache Aufgabe galt, die der Praxis zu überlassen war. Aber auch vom Standpunkt der Freirechtsbewegung aus kann die Vorarbeit als untunlich erscheinen, weil der Richter aus der Totalität des Einzelfalls sein Recht gewinnt und die Totalität nicht voraussehbar ist. Es ist daher konsequenz, wenn EHRLICH (1903), Seite 38, von der freien Wissenschaft sagt: "Gewiß ist es nicht Sache der Wissenschaft nach Art der hergebrachten zivilistischen Monographie, dem Richter die Entscheidung eines jeden einzelnen Falles vorzukauen, der etwa an ihn herantreten könnte. Den einzelnen Fall wird in den meisten Fällen der Richter viel besser beurteilen können als der Schriftsteller." Teilen kann ich diese Ansicht freilich nicht.
    54) Die Grenzen lassen sich nicht generell ziehen. Meiner großen Haverei [vermögensrechtliche Abwicklung einer Havarie - wp] ist der Vorwurf gemacht worden, daß sie zu ausführlich ist. Dabei wird der methodische Zweck nicht gewürdigt. Es mußte mir darauf ankommen, die Ergänzungsbedürftigkeit des Gesetzesinhalts und die Verwendbarkeit der teleologischen Gesichtspunkte für ein konkretes Gebiet in möglichstem Umfang nachzuweisen.
    55) Die drei Hilfsgebiete, auch die  Rechtsvergleichung,  sind in meiner Darstellung der großen Haverei berücksichtigt worden.
    56) Dahin gehört auch der Wunsch nach einem Ersatz der Rechtswissenschaft durch eine Soziologie oder nach der unmittelbaren Verwendung des von einer allgemeinen Soziologie erbrachten Materials. Die Rechtswissenschaft verfolgt normative Endziele und nur der Jurist kann das für seine Endziele wesentliche aus der Fülle der Wirklichkeit aussondern. Den richtigen Standpunkt vertritt KANTOROWICZ (1911 a. a. O.). Es ist ihm beizustimmen, wenn er eine von der allgemeinen Soziologie verschiedene "Rechtssoziologie" fordert. Diese Rechtssoziologie entspricht der im Text als zweite kognitive Aufgabe bezeichneten Lebenserforschung. KORNFELD (1911 "Soziale Machtverhältnisse") will die Rechtswissenschaft ihres normativen Charakters entkleiden und zu einer Soziologie des Rechts umgestalten. Die Lösung der normativen Aufgaben will er als Technik bezeichnen. Gegen die Ausarbeitung einer Soziologie des Rechts ist nichts einzuwenden, aber der Vorschlag der Namensänderung abzulehnen. Die normativen Aufgaben sind so wichtig und so umfassend, daß ihre Theorie stets den Rang einer Wissenschaft behaupten wird.
    57) Vgl. KANTOROWICZ (1911), STAMPE (1911), WIELAND, FUCHS ("Klassische Einwendungen gegen die soziologische Rechtslehre" in Holdheims Monatsschrift, Bd. 20, Seite 82f) u. a. Die objektive Theorie der Gesetzesauslegung hat in der Theorie, nicht in der Praxis sehr weitgehende Anerkennung gefunden. Umso erfreulicher ist es, daß sich neuerdings gewichtige Stimmen gegen diese Theorie ausgesprochen haben. Vgl. MAX RÜMELIN (1908), Seite 37, BIERLING (1911), Seite 256f, STAFFEL (1911), Seite 737.
    58) Die Rücksicht auf den Standpunkt der Laien (KRAUS, Grünhuts Zeitschrift, Bd. 32, Seite 610) ist für die Theorie nicht kausal gewesen und fällt nicht ins Gewicht. Die isolierte Gesetzesvorschrift kann einen objektiven Laiensinn haben, aber nicht das Gesetz in seinem Zusammenhang.
    59) Vgl. die Anordnung bei der großen Haverei Anhang und bei den Gesellschaftsbeschlüssen (Festschrift für Gierke).
    60) Den schroffsten Gegensatz zu den im Text vertretenen Anschauungen bilden die Ansichten von KELSEN über die Gesetze der juristischen Konstruktion (1911). KELSEN steht noch durchaus im Bann der älteren Auffassung.
    61) SOHM, (1909 Deutsche Juristenzeitung, Seite 114) vermutet, daß ich die Rechtsbegriffe durch "nationalökonomische Begriffe" ersetzen will. Ich kann weder einsehen, wie dies möglich sein sollte, noch auch inwiefern meine Arbeiten zu einer solchen Vermutung Anlaß gegeben haben können.
    62) KANTOROWICZ (1911), Seite 17; FUCHS (1911), Seite 87 und öfter.
    63) Die Wiedergabe meines Vortrags im Jahresbericht ist so sehr durch Druckfehler und Auslassungen entstellt, daß sie vielfach keinen Sinn ergibt.
    64) Zusammengefaßt in der Abhandlung von A. ZEILER, Eine Gerichtshof bindende Gesetzesauslegung (1911)
    65) Vgl. Anm. 41
    66) Vgl. z. B. Reichsgesetz über den Versicherungsvertrag vom 30. 5. 1908, § 188
    67) GERLAND, Englische Gerichtsverfassung, Seite 285f
    68) PHILIPP HECK, Die große Haverei, Berlin 1889
    69) a. a. O. Seite 589f
    70) Zeitschrift für Handelsrecht, Bd. 37, 1890, Seite 277f