ra-2P. EltzbacherMüller-ErzbachA. AffolterK. C. PlanckM. Salomon    
 
ALFRED BOZI
Untersuchungen über die
Prinzipien des Rechts

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"Die Begriffsbestimmungen sind stets als ein besonderer Vorzug des römischen Rechts angesehen worden und die Rechtswissenschaft hat es als ihre Aufgabe betrachtet, durch eine weitere Präzision des Ausdrucks seine Begriffe möglichst noch schärfer zu umgrenzen. Erst das moderne Recht hat einen anderen Standpunkt eingenommen. Selbst wo eine Begriffsbestimmung fast unentbehrlich war, hat sich das Gesetz vielfach darauf beschränkt, die charakteristischen Elemente hervorzuheben."

"Im älteren deutschen Recht galt das Bergwerkseigentum als Zubehör von Grund und Boden. Nach jüngstem Bergrecht, dem preußischen Berggesetz vom 29. Juni 1865 ist zum Aufsuchen abbaufähiger Mineralien jeder befugt und die endgültige Verleihung des Abbaurechts erfolgt durch die Bergbehörde. Diese fungiert dabei lediglich in Ausübung eines staatlichen Hoheitsrechts. Die noch nicht gemuteten abbbaufähigen Mineralien stehen nicht etwa im Staatseigentum, sondern sie sind herrenlos."

"Sicher ist, daß der Entwicklungsgang des Rechts ebensowenig bestimmbar ist wie der Entwicklungsgang der physischen Erscheinungen. Was Wissenschaft und Gesetzgebung hartnäckig festhalten, verschwindet und dasjenige, wogegen beide sich als Ausnahme wehren, wird zum Stammvater eines neuen Geschlechts."

"Wir können uns eine Rechtsentwicklung nur so denken, daß die einzelnen Stammesmitglieder zunächst bewegliche Habe in Gestalt von Jagd- oder Arbeitsgerät, Jagd- oder Kriegsbeute in ausschließlichem Besitz hielten. Aus diesem festgehaltenen Besitz entstand dann das Eigentum. Das Eigentum bezeichnet auch im römischen Recht die erste Stufe der Rechtsbildung."


§ 7. Auslegung.

In der Auslegung nach dem sogenannten "Wert des Ergebnisses" ist bereits oben - § 3 - auf ein induktives Moment in der Gesetzesauslegung hingewiesen: Hier kommt es darauf an, die Bahn zu verfolgen, welche das Recht mit der gesteigerten Berücksichtigung der Anforderungen des praktischen Lebens betreten hat. Es kommen dabei nicht nur Auslegungsvorschriften und konkrete Auslegungsfälle in Betracht, sondern der Gesetzgeber kann seinen Standpunkt auch dadurch zum Ausdruck bringen, daß er die Voraussetzungen einer bestimmten Auslegung schafft. Erweitert er beispielsweise die Zuständigkeit der mit Fachjuristen besetzten ordentlichen Gerichte, so kann er darauf rechnen, daß die Rechtsauslegung mehr nach der wissenschaftlich ausgebildeten deduktiven Methode erfolgen wird, während er umgekehrt mit einer Übertragung der Rechtsprechung an die Laien auch die Berücksichtigung konkreter praktischer Umstände bei der Rechtsauslegung befördert. Nun sind gerade in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Sondergerichte entstanden, welche wie die Kammern für Handelssachen, die Gewerbegerichte und die Kaufmannsgerihte vorwiegend mit Laienpraktikern besetzt sind. Bei den beiden letztgenannten Gerichten dürfen nicht einmal Anwälte auftreten; überhaupt ist das ganze Verfahren auf eine möglichst praktische Erledigung des Rechtsstreites zugeschnitten. Der Gesetzgeber kann weiter die Auslegungsmethoden dadurch indirekt beeinflussen, daß er den Ausbildungsgang der Richter ändert. Hier verdient die Zulassung der Realschulabiturienten zum Rechtsstudium unter dem Gesichtspunkt besondere Erwähnung, daß ein an den Realwissenschaften vorgebildetes Denken auf die empirische Seite der Rechtsvorgänge besonderes Gewicht legen und sich damit von deduktiven Auslegungsmethoden abwenden wird.

Man ist aber nicht auf solche Beispiele mittelbarer Begünstigung der Induktion angewiesen: der induktive Standpunkt kommt auch unmittelbar zum Ausdruck.

Der erste Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches enthielt im § 1 die Auslegungsvorschrift, daß auf Verhältnisse, für welche das Gesetz keine Bestimmungen gibt, die für rechtsähnliche Verhältnisse gegebenen Vorschriften eine entsprechende Anwendung finden und daß in Ermangelung solcher Vorschriften die aus dem Geiste der Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze maßgebend sein sollten. Eine Auslegung nach dem Geist der Rechtsordnung oder die Rechtsanalogie ist deduktiv. Denn sie geht vom Allgemeinen zum Besonderen, die Übertragung der für einen Fall gegebenen Norm auf einen anderen, die Gesetzesanalogie, verfährt dagegen induktiv. Denn sie schreitet vom Besonderen zu einem anderen Besonderen und damit zum Allgemeinen fort. Daß der Entwurf die Gesetzesanalogie, also die induktive Methode, als die prinzipale voranstellte, ist immerhin charakteristisch. Wenn nun auch diese Bestimmungen in das Gesetzbuch selbst nicht übergegangen sind, so hat doch die Gesetzesanalogie gerade in der modernen Rechtsprechung hervorragende Bedeutung gewonnen, und zwar vor allem in der Verbindung mit einem anderen, bei der Gesetzesbildung bereits erwähnten induktiven Prozeß, nämlich der Abstraktion des Allgemeinen aus mehreren für besondere Fälle gegebenen Bestimmungen. Dieser analogisch abstrahierenden Methode ist vor allem die praktische Gestaltung zuzuschreiben, welche die Schadensersatzlehre in der Rechtsprechung des höchsten Gerichtshofes erhalten hat. In der für die Schadensersatzpflicht der Gemeinden bei Straßenunfällen grundlegenden Entscheidung des Reichsgerichts - Bd. 54, Seite 53f - ist aus den zerstreuten Einzelbestimmungen des BGB über die Haftpflicht des Grundstücksbesitzers für eine von seinem Grundstück ausgehende Beschädigung, insbesondere aus § 836, der allgemeine Grundsatz entwickelt, daß entgegen dem Standpunnkt des römischen Rechts jetzt ein jeder auch für eine Beschädigung durch seine Sachen insoweit aufkommen soll, als er solche bei billiger Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen verhüten habe müssen. Dieser Satz enthält geradezu ein Überspannung des induktiven Prinzips. Denn "Billigkeit" ist ein lediglich von Fall zu Fall bestimmbarer Begriff. Der Standpunkt des Reichsgerichts besagt also im Ergebnis nicht mehr als: wo die konkreten Umstände es verlangen, da muß Schadensersatz geleistet werden.

Einen geradezu typischen Fall induktiver Gesetzesauslegung bietet die in Bd. 58, Seite 130f in Zivil-Sachen abgedruckte Entscheidung des Reichsgerichts über die Haftung der Kleinbahnen für den von ihnen verursachten Sachschaden. Diese Entscheidung ist umso interessanter, als sie genau den Fall betrifft, den ich in meinem Bd. 1, Seite 414f dieser Annalen abgedruckten Aufsatz "Recht und Naturwissenschaft", Seite 431f als ein Beispiel möglicher induktiver Rechtsauslegung theoretisch konstruiert hatte. Der höchste Gerichtshof erblickt nämlich ebenso wie jener Aufsatz in verschiedenen Sonderbestimmungen, wonach der Eigentümer fremde Eingriffe in sein Eigentum zurückweisen oder doch Schadensersatz verlangen kann, den Ausdruck eines allgemeinen Rechtssatzes, daß dem Eigentümer in Fällen, wo er eine solche Eigentumsverletzung nicht abwehren kann, eine durch Verschuldensnachweis nicht bedingte Schadensersatzklage zustehen soll.

Ein weiteres Symptom induktiver Rechtsauslegung ist die deklaratorische Bedeutung der gerichtlichen Urteile. Grundsätzlich soll jeder Rechtsstreit von den beteiligten Richtern selbständig entschieden werden, d. h. der Richter soll nicht nur den Tatbestand selbständig feststellen, sondern er soll auch von Fall zu Fall das Recht auslegen. Daß bei der Gesetzesauslegung nun die Praxis der einzelnen Gerichte konstant bleibt, ist bei der Ständigkeit seiner Mitglieder natürlich: ansich aber ist der Richter weder in Tatfragen noch in Rechtsfragen an fremde Entscheidungen gebunden. Die konsequente Befolgung dieses Grundsatzes bedeutet aber einerseits eine erhebliche Belastung der Richter, während andererseits niemand weiß, nach welchen Rechtssätzen er sich zu richten hat. Kann sich der Richter dagegen vorhandenen Entscheidungen anlehnen, so wird er damit der Aufgabe enthoben, den Gesetzessinn von Fall zu Fall selbständig zu ermitteln, es wird also Arbeit gespart, und andererseits wird damit eine wertvolle Gleichmäßigkeit in der Rechtsprechung erzielt. Daraus erklärt sich dann auch die prinzipielle Bedeutung der Entscheidungen anderer Gerichte. Aber auch der Gesetzgeber selbst hat hier fördernd eingegriffen. Nicht nur sind die Senate des Reichsgerichts an die Rechtsauslegungen des Plenums und der anderen Senate gebunden, sondern nach § 28 des Reichsgesetzes über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit und § 79, Abs. 2 der Reichsgrundbuchordnung dürfen auch die Oberlandesgerichte von den in den Entscheidungen niedergelegten Rechtsauslegungen des Reichsgerichts und anderer Oberlandesgerichte nicht selbständig abweichen.

Endlich wird eine induktive Rechtsauslegung nach den Umständen des konkreten Falles durch die ablehnende Stellung begünstigt, welche das Bürgerliche Gesetzbuch gegenüber den Definitionen einnimmt, sowie durch die Aufstellung zahlreicher allgemeiner, die Berücksichtigung der konkreten Umstände fordernder Begriffe.

Die lex 202, Dig. 50, 17 - "omnis definitio in jure civili periculosa est: parum est enim, ut subverti potest" (9) - gehört zu den Regeln welche die Rechtswissenschaft zwar verkündet, welche sie aber niemals befolgt hat. Die Begriffsbestimmungen sind stets als ein besonderer Vorzug des römischen Rechts angesehen worden und die Rechtswissenschaft hat es als ihre Aufgabe betrachtet, durch eine weitere Präzision des Ausdrucks seine Begriffe möglichst noch schärfer zu umgrenzen. Erst das moderne Recht hat einen anderen Standpunkt eingenommen. Selbst wo eine Begriffsbestimmung fast unentbehrlich war, hat sich das Gesetz vielfach darauf beschränkt, die charakteristischen Elemente hervorzuheben. So sagt es beim Kauf nicht etwa nach Art des Allgemeinen Landrechts: "Das Kaufgeschäft ist ein Vertrag, wodurch der eine Kontrahent zur Abtrennung des Eigentums einer Sache und der andere zur Erlegung einer bestimmten Geldsumme dafür sich verpflichtet",

sondern es sagt - BGB § 433 - "Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen. Der Verkäufer eines Rechtes ist verpflichtet, dem Käufer das Recht zu verschaffen, und wenn das Recht zum Besitz einer Sache berechtigt, die Sache zu übergeben. Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzunehmen."

In zahlreichen anderen Fällen aber, wie beispielsweise bei der Ehe, hat sich der Gesetzgeber im Gegensatz zum früheren Recht einfach damit begnügt, Entstehung und Rechtswirkungen zu regeln, wohl wissend, daß es sich hier um soziale Bildungen handelt, welche dem Gesetz der Veränderung unterstehen und welche sich nicht in logische Fesseln schlagen lassen.

Besonders wichtig sind aber die anderen Fälle, in denen der Gesetzgeber das an den Richter gestellte Verlangen, die konkreten Umstände des Falles bei der Gesetzesauslegung zu berücksichtigen, schon in der Wahl des Ausdruck betätigt. Nach § 138, Abs. 1 des BGB sollen Rechtsgeschäfte nichtig sein, die gegen die "guten Sitten" verstoßen. Wer durch Annahme einer Leistung gegen die "guten Sitten" verstoßen hat, soll nach § 817 zur Herausgabe verpflichtet sein. Nach § 826 ist derjenige, der in einer "gegen die guten Sitten" verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, verpflichtet, diesem den Schaden zu ersetzen. Den "guten Sitten" zur Seite steht die "Verkehrssitte", nach welcher zu bestimmen ist, ob durch Stillschweigen auf ein Vertragserbieten ein Vertrag zustande gekommen ist - § 151 -, sowie der "angemessene Betracht", auf welchen die Vertragsstrafe vom Richter herabgesetzt werden kann - § 843 -, die "billige Entschädigung", welche nach § 847 bei rechtswidrigen Körperverletzungen und Freiheitsberaubung als Schmerzensgeld verlangt werden kann. Leider ist die Wissenschaft dem Gesetzesprinzip hier nicht überall gefolgt. Statt solche Begriffe als flüssige, durch die jeweiligen konkreten Umstände ausfüllbare dankbar entgegenzunehmen, betrachtet sie es teilweise als ihre Aufgabe, nunmehr ihrerseits jene Begriffe fest zu umgrenzen und damit der Rechtssprechung die logische Fessel wieder anzulegen, von welcher der Gesetzgeber sie befreien will.


§ 8. Kritik der deduktiven und
induktiven Rechtsauffassung.

Nachdem in den vorhergehenden Paragraphen deduktive und induktive Elemente im Recht verfolgt wurden, erscheint es zunächst angebracht, den Wert einerseits der deduktiven, andererseits der induktiven Methode in ihrer Anwendung auf das Recht zu prüfen. Wir werden dabei die Erfahrung machen, daß die Erbfolge weder immer noch vorwiegend in der Richtung des Erstrebten liegen, oder, prinzipiel ausgedrückt, daß auch hier der Erfolg nicht von der Richtigkeit der Problemstellung abhängt - vgl. PAUL VOLKMANN, Über die Fragen der Existenz etc., Annalen der Naturphilosophie, Bd. 1, Seite 104f -.

So liegt die Bedeutung des Naturrechts nicht etwa in den von ihm entwickelten positiven Rechtssätzen. Denn in dieser Beziehung haben Wissenschaft und Gesetzgebung nur ganz vorübergehend unter dem Einfluß des Naturrechts gestanden. Dagegen hat das Naturrecht, wenngleich es mit Vorliebe aus dem römischen Recht schöpfte, doch dessen Einfluß dadurch mittelbar zurückgedrängt, daß es das römische Recht nicht um seiner selbst willen, sondern wegen seiner angeblichen Übereinstimmung mit allgemeinen Vernunftgesetzen verteidigte; daß es also in der Vernunft eine jener Rechtsquelle übergeordnete Instanz schuf. Die Abhängigkeit der Naturrechtler sowie der ihnen verwandten damaligen Historiker von der Staatsobrigkeit hat weiter die partikuläre Rechtsentwicklung gefördert, indem, wie oben dargelegt, die jeweiligen tatsächlichen Rechtszustände mit den logisch und historisch notwendigen identifiziert wurden.

Über dieser mehr negativen Seite darf aber der nachhaltige Einfluß nicht übersehen werden, den das Naturrecht auf die Systematik des Rechts ausgeübt hat. Was KANT in der "Kritik der reinen Vernunft" - Seite 256 Ausgabe ERDMANN - als einen alten Wunsch bezeichnete, daß man nämlich statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze ihre Prinzipien aufsuchen möge, da darin allein das Geheimnis einer Vereinfachung der Gesetzgebung liegt, das ist mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch Wirklichkeit geworden. Gewiß ist man dabei vorwiegend abstrahierend, also induktiv vorgegangen, aber daß man überhaupt solches Gewicht auf das System legte, damit erfüllte man eine Forderung, welche vor allem das Naturrecht gestellt hatte. Dadurch, daß das Bürgerliche Gesetzbuch das Allgemeine sowohl im Ganzen als auch in seinen Unterabteilungen stets voranstellt, ist es ihm gelungen, nicht nur die Auffindung der jeweilig zutreffenden Bestimmungen zu erleichtern, sondern auch in knapper Form einen inhaltsreicheren Stoff zu bieten, als die früheren viel umfangreicheren Kodifikationen.

Der Einfluß der historischen Schule liegt auf anderem Gebiet. Wenn auch in der sogenannten organischen Rechtsentwicklung und vor allem im dialektischen Prozeß HEGELs der naturrechtliche Gedanke aprioristischer Notwendigkeit verborgen liegt, so bleibt doch der historischen Rechtsauffassung das Verdienst, zunächst den Gedanken der Beweglichkeit und Veränderlichkeit des Rechts zum Ausdruck gebracht und damit wieder jenen allgemeinen Begriffen vorgearbeitet zu haben, durch welche der moderne Gesetzgeber es dem Richter ermöglicht, seine Entscheidung den konkreten Umständen des Falles anzupassen. Man wird der Philosophie HEGELs sogar vereinzelt einen Einfluß auf das positive Recht zuerkennen müssen. Die sozial wichtigen Umwandlungen von Lehen und Erbpackt in uneingeschränktes Eigentum wurden durch seine Dialektik gefördert - Rechtsphilosophie, Seite 96f und 100 -, wie ja auch die oben erörterte moderne Unterscheidung von Kausalgeschäft und Verfügung den Gedanken HEGELs entspricht - a. a. O., Seite 116 -, daß im Vertrag die Willenseinigung als das innerliche Moment von der Leistung als dem äußerlichen unterschieden werden muß.

Andererseits aber darf nicht verkannt werden, daß der naturrechtliche Gedanke von der Apriorität des Rechtsinhaltes sich im modernen Recht völlig überlebt hat und daß für dieses auch der organische Zusammenhang der zeitlich aufeinander folgenden Rechte im Grunde nichts ist als die Begriffsform, unter welcher sich diese tatsächlichen Rechtszustände vereinigen lassen. Das Naturrecht im Sinne eines inhaltlich ein für allemal feststehenden Rechts wird heute nur ganz vereinzelt, und zwar vorwiegend von Schriftstellern verteidigt, welche wie CATHREIN oder LEHMKUHL, auf diesem Weg der Kirche einen über die Staatsgesetzgebung hinausgehenden Einfluß zu sichern glauben. Keinem Gesetzgeber wird es dagegen einfallen, eine Rechtsnorm lediglich ihrer angeblichen Vernünftigkeit wegen in das Gesetz aufzunehmen oder gar den Richtern auf das Naturrecht als seine Rechtsquelle zu verweisen. Wie das BGB über das Naturrecht denkt, ist bereits hervorgehoben.

Auch HEGEL kommt im Ergebnis nicht weiter als zu einer Begründung damaliger Rechtszustände. Hätte dieser Philosoph im Jahr 1900 gelebt, so würde er die Zumutung, einen Kaufvertrag wegen eine Mißverhältnisses zwischen dem Wert des Kaufgegenstandes und dem gezahlten Preis zu widerrufen, ebenso bekämpft haben, wie er diese zu seiner Zeit allgemeingültige Lehre von der sogenannten laesio enormis [übermäßige Schädigung - wp] verteidigte - Rechtsphilosophie § 77 - und für ihn wäre gewiß auch die Bestätigung der Eheschließung durch Familie und Gemeinde ebenso überflüssig gewesen, wie er den Anschauungen seiner Zeit entsprechend ihre Notwendigkeit aus dem sittlichen Charakter der Ehe deduzierte - Rechtsphilosophie § 164 -. HEGELs Eigentumsbegriff, für welchen nur die Qualität wesentlich, die Quantität aber zufällig sein soll, ist für das Rechtsleben unbrauchbar, wie ja auch eine Willensfreiheit, welche sich nur auf dem Gebiet des Quantitätslosen bewegt, ein Phantom ist. Geradezu unbegreiflich ist es aber von unserem Standpunkt, wie HEGELs Lehre von der Strafe als einer "Negation der Negation des Rechts" in der Strafrechtswissenschaft Einfluß gewinnen konnte. Denn da im Sinne HEGELs das Verbrechen unvernünftig ist, so ist es auch unwirklich und nichtig. Dann aber ist nicht abzusehen, weshalb ihm eine Strafe folgen muß, da doch das Unvernünftige ebenso wie ein falscher Schluß von selbst zusammenfällt.

SAVIGNY sagt - System, Bd. 1, Seite 332 -, Bedürfnis und Dasein des Rechts sind die Folge der Unvollkommenheit unseres Zustandes, die mit der gegenwärtigen Stufe unseres Daseins untrennbar verbunden ist. Damit ist der deduktiven Rechtsauffassung unbewußt das Urteil gesprochen. Denn dann wäre das Recht sicher nicht etwas a priori Gegebenes. Denkt man sich das Ideal SAVIGNYs von der Entbehrlichkeit des Rechts aber auch als empirisch unerreichbar, so müßte doch die Bedeutung des Rechts mit jedem Kulturfortschritt abnehmen, sofern man nämlich nicht auf dem mittelalterlichen Standpunkt beharrt, daß die Menschheit sich mit der Kultur von ihrem Ideal entfernt. Andererseits aber beweist die Erfahrung aller Zeiten, daß die Bedeutung des Rechts mit der Kultur ständig gewachsen ist. Auch rechtspolitisch würde diese Auffassung bedauerlich sein. Denn, wozu sollen wir nach einem Zustand streben, von dem wir uns doch immer weiter entfernen; wozu die Segel spannen, wenn uns die Winde nur umso weiter vom Ziel zurücktreiben? Vom Standpunkt eines apriorischen Rechts können die verschwundenen Rechtsbildungen der Vergangenheit nur Verirrungen sein. Da nun aber für die Wahrheit kein anderer Maßstab besteht als die wissenschaftliche Überzeugung, in dieser Beziehung aber die absolute Richtigkeit von jeder aprioristischen Lehre für sich in Anspruch genommen wird, so führt gerade der Apriorismus zu einem Verzicht auf die Erkenntnismöglichkeit, zu einem Skeptizismus und damit zur Selbstauflösung. Die historische Methode vermeidet diesen Widerspruch zwar dadurch, daß sie den jeweiligen Zustand als das notwendige Durchgangsstadium für einen vollkommeneren ansieht, aber damit muß sie doch ebenso wie die naturrechtliche Schule zugeben, daß der frühere Zustand unvollkommen, also irrtümlich war. Der Zweifel an einer Erkenntnismöglichkeit bleibt also bestehen.

Ganz anders die induktive Auffassung! Für sie fallen nicht nur Tatsächlichkeit und Notwendigkeit zusammen, sondern das Tatsächliche ist auch das Vollkommene, allerdings in dem Sinne, daß diese Vollkommenheit relativ, d. h. aus ihrem Verhältnis zu anderen gleichzeitigen Erscheinungen begriffen werden muß. Indem die induktive Methode somit im Mosaikgebilde der gleichzeitigen und im Strom der aufeinanderfolgenden Rechte die jeweiligen höchsten wissenschaftlichen Prinzipien nachweist, hat sie als Wissenschaft das unbestrittene Verdienst, das Recht unserem Verständnis näher zu bringen. Denn Verstehen heißt eben, allgemein wissenschaftliche Prinzipien in tatsächlichen Vorgängen nachweisen.

Unter diesen Prinzipien steht das Gesetz der stetigen Veränderung oben an.

Daß im Zivilrecht wie im Strafrecht die Anschauungen im Laufe der Zeit sich gänzlich geändert haben und daß auch in der Gegenwart über Recht und Unrecht ganz verschiedene Anschauungen bestehen, darf als bekannt vorausgesetzt werden; wichtiger ist es daher, darauf hinzuweisen, wie das Recht jene Veränderungen durch seine eigenen Einrichtungen gefördert hat und an Beispielen aus der Gegenwart den allmählichen Entwicklungsprozeß zu beobachten.

Im alten römischen Recht konnten Rechtsgeschäfte sich nur in ganz bestimmten solennen [feierlichen - wp] Formen vollziehen. Wer beispielsweise Eigentum erwerben wollte, bediente sich dazu der in jure cessio [gerichtliche Abtretung - wp], d. h. eines Scheinprozesses, in welchem er eine bestimmte Sache vor Gericht als sein Eigentum in Anspruch nahm, ohne daß der Gegner widersprach, worauf ihm der judizierende Richter die Sache zusprach. Eine andere Übertragungsart, die Manzipation, war ein feierlicher, in Gegenwart von Zeugen vor dem Magistrat abgeschlossener Scheinkauf. Endlich konnte man auch durch Ersitzung Eigentümer werden. Nun fand in einem römischen Prozeß eine Teilung zwischen Rechts- und Tatfrage statt, ähnlich dem heutigen schwurgerichtlichen Verfahren. In der Form eines Auftrages an die Volksrichter formulierte der römische Beamte in jure die Rechtsfrage, worauf jene lediglich den Tatbestand den Rechtsbegriffen gegenüber zu stellen und je nachdem er unter die Rechtsbegriffe fiel oder nicht, die vorgeschriebenen Folgen auszusprechen hatten. Forderte Beispielsweise der Eigentümer seine Sache von einem anderen zurück, so erteilte der Prätor den Richtern den Auftrag: "Si paret, rem qua de agitur ex jure Quiritium Agerio esse, condemna, si no paret, absolve." [Wenn es sich erweist, daß die Sache nach dem Gesetz zutrifft, ist zu verurteilen, wenn es sich nicht erweist, freizusprechen. - wp] Die Geschworenen hatten dann lediglich zu prüfen, ob dem Kläger eine altrömische Erwerbsart (ex jure Quiritium) zur Seite stand und danach ihr Verdikt zu fällen. Nun kam es vor, daß jemand eine Sache zwar gekauft und auch übergeben erhalten hatte, daß er sich aber nicht auf eine altrömische Erwerbsart berufen konnte. Nach strenger Anschauung mußte ein solcher auf die Eigentumsklage des Verkäufers unterlieen, weil dieser, trotzdem er den Kaufpreis erhalten und die Sache dem Käufer übergeben hatte, formell Eigentümer geblieben war. Damit konnte sich das Rechtsgefühl auf die Dauer umso weniger abfinden, als alle diejeningen, welche kein römisches Bürgerrecht besaßen, gar nicht in der Lage waren, sich das Eigentum in jener solennen, den Vollbürgern vorbehaltenen Form übertragen zu lassen. Der Prätor griff also aus eigener Machtvollkommenheit ein, indem er den an die Richter erlassenen Befehl zur Verurteilung durch die Worte einschränkte: "si non Agerius", d. h. der Kläger, "eam rem Negidio", d. h. dem Beklagten, "vendidit et traditit" [verkauft und geliefert - wp]. Der Prätor tat dies auch nicht etwa bloß in einem einzelnen Fall, sondern er erklärte vor seinem Amtsantritt durch ein Edikt, wie er sich zu stellen gewillt ist, und zwar gewöhnlich, indem er das Edikt seines Amtsvorgängers übernahm und als das seine verkündete. Das prätorische Edikt ist auf diese Weise für die Römer eine dauernde Institution geworden, durch welche das überlieferte Recht im Anschluß an die wechselnden Anforderungen des Verkehrs korrigiert und ergänzt wurde. Später konnte sich nicht nur der Käufer unter Berufung auf Kauf und Übergabe gegen die Eigentumsklage des Verkäufers verteidigen, sondern er konnte selbst gegen diesen die Eigentumsklage durchführen; die Ersitzung wurde erleichtert; das Intestaterbrecht wurde entwickelt, und schließlich wurden die sogenannten actiones bonae fidei bezeichnet, das sind Klagen, welche ohne Rücksicht auf das formale Recht an die faktischen Leistungen selbst die Recht auf entsprechende Gegenleistungen knüpften.

Unser Polizeiverordnungsrecht, welches als rechtsbildendes Institut mit dem prätorischen Edikt einige Ähnlichkeit hat, bezieht sich nur auf öffentlich rechtliche Verhältnisse. Dagegen hat das moderne Recht mit den bereits erwähnten allgemeinen Begriffen der "guten Sitten", der "Billigkeit" u. a. eine den praktischen Bedürfnissen entsprechende Fortbildung des Rechts sanktioniert. Daneben tritt dann die ebenfalls erwähnte deklaratorische Kraft der höchst richterlichen Entscheidungen, welche ebenfalls an ein Institut des römischen Rechts, nämlich an die Rechtsbildung durch die edicta magistratuum erinnert.

Eines der wichtigsten Symptome einer Rechtsänderung ist die Verschiebung der Beweislast. Bezeichnenderweise hat das moderne Recht von diesem Mittel in der Schadensersatzlehre den ausgibigsten Gebrauch gemacht, womit es dann wieder zusammenstimmt, daß dieser Teil des bürgerlichen Rechts nach praktischen Erfahrungen am wenigsten als abgeschlossen gelten darf. Nach gemeinem und preußischem Recht war der Auftraggeber für die vom Beauftragten in Ausführung des Auftrags begangenen schädigenden Handlungen haftbar, wenn entweder die übertragene Handlung selbst unerlaubt war, oder wenn der Auftraggeber bei der Auswahl des Beauftragten schuldhaft gehandelt hatte. Hier war also das Verschuldungsprinzip streng durchgeführt, während das französische Recht im Artikel 1384 des Code civil eine unmittelbare Haftung des Geschäftsherrn für die Handlungen des Geschäftsführers konstruierte. In dieser Allgemeinheit bedeutete die letztere Bestimmung gegenüber dem gemeinen und preußischen Recht offenbar einen Sprung, aber sie bezeichnete doch die Richtung des Entwicklungsgangs. Denn das Bürgerliche Gesetzbuch ist ihr in der Steigerung der Haftung des Geschäftsherrn gefolgt. Für vertragliche Schäden gilt hier der allgemeine Grundsatz des § 278, wonach der Schuldner ein Verschulden der von ihm zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit verwendeten Mittelspersonen in gleicher Weise zu vertreten hat wie ein eigenes Verschulden. Hier konnte das Gesetz aber auch unbedenklich weiter gehen, weil die Praxis ihm bereits vorgearbeitet hatte. Für den außervertragliche Schaden hat es dagegen eine Zwischenbildung geschaffen - § 831 -, indem es den Geschäftsherrn prinzipiell nur für eigenes Verschulden haftbar macht, ihm aber den Entlastungsbeweis aufbürdet, daß er bei der Auswahl und einer etwa erforderlichen Beaufsichtigung des Geschäftsführers sorgfältig verfahren ist. Bei der Haftung der Eltern und Vormünder für unerlaubte Handlungen der ihrer Aufsicht unterstellten Personen hat das Gesetz - § 832 - denselben Weg eingeschlagen. Dagegen hat es für die Tierschaden - § 833 - das Prinzip des französischen Rechts in vollem Umfang angenommen. Es hat damit einen Sprung gemacht, dessen Gefährlichkeit schon jetzt in dem dringenden Verlangen nach einer Gesetzesänderung anerkannt wird.

Übrigens zeigt sich diese, den Entwicklungsprozeß kennzeichnende Verschiebung der Beweislast nicht nur im Gesetz selbst, sondern auch in der Wissenschaft, wie STÖLZELs bekannte Lehre beweist, wonach die vom Schuldner behauptete Bedingtheit oder Befristung seiner Leistung nicht mehr von diesem, sonderm vom Gläubiger dahin zu beweisen ist, daß die Leistung unbedingt und unbefristet versprochen ist.

Als weiteres Veränderungssymptom stehen den Beweisverschiebungen die sogenannten Vermutungen zur Seite, das sind Bestimmungen, nach denen von mehreren Möglichkeiten unter bestimmten Umständen eine als die regelmäßige angesehen werden soll. Dabei kann diese Vermutung natürlich ebensowohl ein Symptom für das Entstehen wie für das Verschwinden von Rechtsbildungen sein.

Nach früherem preußischen Recht war beispielsweise die Besitztitelberichtigung, das ist die Eintragung des Eigentümers im Hypothekenbuch, die Voraussetzung einer Verpfändung des Grundstückes. Für das Eigentum im Übrigen war sie bedeutungslos, weil das Grundstückseigentum damals ebenso wie das Eigentum an beweglichen Sachen nur durch ein entsprechendes Rechtsgeschäft, den Titel, und Übergabe erworben werden konnte. Wer also als Eigentümer sein Grundstück von einem anderen herausverlangte, hatte seinen Erwerbstitel und die Übergabe des Grundstückes darzulegen. Die Praxis knüpfte daran anschließend an die Eintragung im Hypothekenbuch eine Vermutung für das Eigentum. Schließlich wurde durch § 7 des Gesetzes vom 5. Mai 1872 die Legitimation des eingetragenen Eigentümers für alle Eigentumsklagen anerkannt.

Andererseits konnte beispielsweise nach römischem Recht ein Kaufvertrag sowohl vom Käufer wie vom Verkäufer aus dem Gesichtspunkt mit Erfolg angefochten werden, daß der Wert des Kaufgegenstandes und der Kaufpreis um mehr als die Hälfte differierten - laesio enormis -. Das preußische Recht bildete dieses Institut zu einer lediglich im Interesse des Käufers ausgestellten Irrtumsvermutung um, während das BGB den Anfechtungspunkt vollständig beseitigt hat.

Gibt das Gesetz weiter dem Richter das Recht, einen an sich geschuldeten Betrag aus Billigkeitsgründen herabzusetzen, wie es durch § 4 des Gesetzes betreffend die Abzahlungsgeschäfte, vom 16. Mai 1894 und im Anschluß daran durch den § 343 des BGB für die Vertragsstrafe geschehen ist, oder zwängt es bestimmte Rechtsgeschäfte in den Rahmen einer allgemeinen Billigkeit, wie es durch § 74 des Handelsgesetzbuches für die Konkurrenzklausel geschehen ist, so darf man daraus auf eine Rückbildung des entsprechenden Rechtsinstitutes schließen, während beispielsweise die Beschränkung der Einreden gegen den Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes im BGB auf eine allmähliche Anerkennung familienrechtlicher Beziehungen zwischen dem Vater und seinen außerehelichen Kindern hindeuten.

Endlich mag noch auf Zwischenbildungen hingewiesen werden, welche den allmählichen Übergang zwischen den Rechtsbildungen der Vergangenheit und der Gegenwart vermitteln und bisweilen noch rudimentär in die letztere hineinragen.

So hat das BGB im Gegensatz zum römischen, zum älteren deutschen und zum preußischen Recht das privatschriftliche Testament eingeführt. Der Übergang wird aber vermittelt durch das jetzt verschwundene Kodizill [Handschreiben des römischen Kaisers - wp], mit welchem sowohl das römische wie das deutsche Recht rechtsgültige Verfügungen über einzelne Erbschaftsstücke ermöglichte, durch welches sogar das Testament ergänzt werden konnte, sofern der Erblasser sich diese Befugnis im Testament selbst vorbehalten hatte.

Im älteren deutschen Recht galt das Bergwerkseigentum als Zubehör von Grund und Boden. Nach jüngstem Bergrecht, dem preußischen Berggesetz vom 29. Juni 1865 ist zum Aufsuchen abbaufähiger Mineralien jeder befugt und die endgültige Verleihung des Abbaurechts erfolgt durch die Bergbehörde. Diese fungiert dabei lediglich in Ausübung eines staatlichen Hoheitsrechts. Die noch nicht gemuteten abbbaufähigen Mineralien stehen nicht etwa im Staatseigentum, sondern sie sind herrenlos. Zwischen beiden Rechtsbildungen liegt aber das bergrechtliche Regal des Staates, vermöge dessen der letztere mit dem Schürfstein das Recht zur Aufsuchung der Mineralien verlieh, worauf er dann auf den Antrag des Finders (Mutung) das ihm zustehende Bergwerkseigentum auf den Mutenden übertrug. Hier könnte auch noch auf die Entwicklung des Verzugszinsenanspruches, sowie auf den Sicherheitskauf, die Sekuritätszession als in der Bildung begriffene Rechtsinstitutes (10) verwiesen werden, während andererseits das ehemalige Sozialistengesetz eine sprungweise entstandene und daher nicht lebensfähige Rechtsbildung darstellt.

Ist somit die Dauer im Recht nur eine "Dauer im Wechsel, ein ewiges Werden und Vergehen" (11), so wäre es doch auch vergeblich, den Entwicklungsgang anders als in seinem Verhältnis zu den vergangenen und den gegenwärtigen eigenen und fremden Erscheinungen festzustellen. Vielleicht deuten die moderne Grundschuld, die Pfändbarkeit der Früchte auf dem Halm nach den Vorschriften der Mobiliarzwangsvollstreckung - Zivilprozßordnung § 813 -, das Institut der Inhaberpapiere auf eine fortschreitende Mobilisierung des Eigentums, aber andererseits wird in den Fideikomissen [unveräußerliches und unteilbares Vermögen einer Familie - wp], den Rentengütern, dem Anerbenrecht, den Formvorschriften für die Liegenschaftsveräußerung - BGB § 313 - der Gründstückstausch wieder erschwert. Es wäre daher unberechtigt, in jener Mobilisierung mehr als eine vorübergehende Strömung zu erblicken. Sicher ist aber, daß der Entwicklungsgang des Rechts ebensowenig bestimmbar ist wie der Entwicklungsgang der physischen Erscheinungen. Was Wissenschaft und Gesetzgebung hartnäckig festhalten, verschwindet und dasjenige, wogegen beide sich als "Ausnahme" wehren, wird zum Stammvater eines neuen Geschlechts.

Der wichtigste Bestandteil des römischen Rechts, das jus aequum [Recht welches dem Anwender einen Entscheidungsspielraum nach dem Gesichtspunkt der Billigkeit einräumt - wp], hat sich in der Weise entwickelt, daß der Prätor den ausnahmsweise verliehenen Schutz verallgemeinerte. So wurde der formale zivilrechtliche Eigentumsanspruch, von dem schon oben die Rede war, durch Titel und Übergabe verdrängt. Aus der Verallgemeinerung der Fälle, in denen der Prätor einem natürlichen Verwandten den Erbschaftsbesitz - bonorum possessio - verlieh, entwickelte sich das Intestaterbrecht. Bezeichnend ist ferner die Stellung der französischen Rechtswissenschaft gegenüber dem Art. 340, Abs. 1, Code civil: "La recherche de la paternité est interdite" [Die Suche nach der Vaterschaft ist verboten. - wp]. Im Kampf gegen diesen Grundsatz wußte man die einzige vom Gesetz zugelassene Ausnahme, nämlich den Fall der Entführung - Abs. 2 - zu erweitern. In einem Gesetzentwurf vom 16. Februar 1878 wurde die Ausdehnung der Unterhaltspflicht auf den Fall der Verführung versucht. Nach einem Vorschlag vom Mai 1883 sollte der Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes bestehen, sofern die Vaterschaft durch Urkunden, bestimmte Tatsachen oder Zeugenbeweis festgestellt werden könnte. Es folgte der Beschluß des Congrés de la protection de l'enfance vom Mai 1883, wonach die Vaterschaftsklage ohne Beschränkung zulässig sein sollte, sofern nicht die Mutter notorisch leichtfertig ist oder der Mann beweist, daß sie in der kritischen Zeit mit anderen Männern Beziehungen unterhalten hat.

Um schließlich ein Beispiel aus dem Prozeßrecht anzuführen, so ist der moderne Zivilprozeß auf dem Prinzip der mündlichen Verhandlung aufgebaut. Tatsächlich bilden aber die Schriftsätze, die nach dem Gesetz - ZPO § 129 - nur eine Vorbereitung der mündlichen Verhandlung sein sollen, schon jetzt die Unterlage der Beratung. Die Parteien nehmen im Vortrag darauf Bezug, vertagen, wenn die Schriftsätze fehlen und formen den Prozeß mehr und mehr zu einem schriftlichen Verfahren.

Ein natürlicher Zusammenhang der Rechtsbildungen besteht nicht nur in ihrer zeitlichen Folge, sondern die induktive Behandlung zeigt auch, daß gleichzeitige Rechtsbildungen durch Zwischenglieder verbunden werden. So ist das wichtige Institut der Wertpapiere eine Zwischenbildung zwischen persönlichen und dinglichen Rechten. Dem Wechselgläubiger stehen einerseits persönliche Einreden aus dem Schuldverhältnis entgegen, andererseits können ihm solche Einreden aus der Person seiner Vormänner nur in ganz beschränktem Maß mit Erfolg entgegengehalten werden. Wechsel und andere Inhaberpapiere werden durch Übergabe übertragen - BGB § 955 - und nicht wie Forderungen, sondern wie bewegliche Sachen durch Besitznahme gepfändet, ja sogar direkt als "Sachen" bezeichnet - BGB § 1084 -. Übrigens bringen die Inhaberpapiere in ihren verschiedenen Arten, vom Sparkassenbuch, welches nur den Gläubiger legitimiert, bis zur Banknote, einem selbständigen durch Einlösungszwang - Reichsbankgesetz vom 14. März 1875, § 4 - dem Metallgeld gleichstehenden Wertträger, die verschiedenen Übergangsstufen selbst deutlich zum Ausdruck. Bei den durch Indossament [schriftlicher Übertragungsvermerk auf einem Orderpapier - wp] übertragbaren Papieren, dem Konnossement [Wertpapier im Schiffshandel - wp], Lagerschein, Ladeschein, Wechsel, wird das Recht wie bei der Forderungsübertragung erst durch die geschlossene Reihe der Indossamente erworben, während andererseits bei der Aktie die Gläubigerschaft durch den bloßen Besitz begründet wird. Der Wechsel gar kann beide Gestalten annehmen, indem das Gläubigerrecht einerseits durch das Prokura-Indossament an die Perseon des Indossanten gebunden, andererseits durch das Blanko-Indossament an den Wechselbesitz geknüpft werden kann. Endlich mag noch auf die §§ 700 und 1180 des BGB verwiesen werden. Nach § 700 sollen auf den Verwahrungsvertrag die Vorschriften über das Darlehen Anwendung finden, wenn es sich um eine Hinterlegung vertretbarer Sachen handelt und vereinbart ist, daß der Verwahrer Eigentümer der Sachen werden und lediglich verpflichtet sein soll, Sachen von gleicher Art, Güte und Menge zurückzugewähren. Nach § 1180 kann einer Hypothek durch Einigung der Beteiligten statt der bisherigen Forderung eine andere substituiert werden. Es sind dies alles Beispiele von Übergängen eines Rechts in ein anderes. Übergänge, die in der Praxis auch durch die neuerdings erweiterte Zulässigkeit der Klageänderung begünstigt werden. -

Will man auch biologische Begriffe auf das Recht übertragen, so muß man unter einer Biözenose [Lebensgemeinschaft von Tieren und Pflanzen - wp] im Recht den inneren Zusammenhang örtlich und zeitlich verbundener Rechtsbildungen verstehen, und zwar sowohl einen Zusammenhang dieser Rechtsbildungen unter sich als auch mit anderen physischen und sozialen Erscheinungen. So treten in derselben örtlichen Verbindung mehrfach auf: Gütergemeinschaft der Eheleute, Anerbenrecht, Gesamteigentum an den Gemeindegrundstücken, dingliche Verpflichtungen der Grundeigentümer zur Leistung von Diensten. Andererseits findet sich Gütertrennung verbunden mit gleichmäßiger Teilung der Erbschaft, einschließlich des Liegenschaftsvermögens und genossenschaftlicher Vereinigung zur Verfolgung gemeinschaftlicher Zwecke. Die ersteren Rechtsbildungen hängen wieder mit dem landwirtschaftlichen Betrieb und seiner auf Erhaltung des Grundbesitzes gerichteten Tendenz zusammen, während die letzteren durch Vermehrung der kapitalkräftigen Schultern den Handelsinteressen dienen. Zeitlich besteht ein organischer Zusammenhang zwischen den modernen Vorschriften über die Verpflichtung der Gewerbeunternehmer zur Beschaffung gesunder Arbeitsräume - Gewerbeordnung § 123f - dem Recht des Mieters zur sofortigen Auflösung der Mietsräume - BGB § 544 -, der Verpflichtung zur Entrichtung der Arbeitslöhne in bar, der Unpfändbarkeit des Dienstlohnes, dem Verbot, in die Arbeitsbücher oder Arbeitszeugnisse Vermerke aufzunehmen, welche das Fortkommen der Arbeitnehmer gefährden - der Einschränkung der Konkurrenzklausel. Diese Bestimmungen bilden Teile der Arbeiterschutzgesetzgebung, welche wieder mit der Kranken-, Unfall- und Altersversicherung, dem im Gesetz über die Abzahlungsgeschäfte enthaltenen Verbot einer Vereinbarung, daß mangels rechtzeitiger Ratenzahlung die verkauften Sachen zurückgeliefert und die bereits bezahlten Beträge als Vertragsstrafe verfallen sein sollen und in weiterer Ausdehnung mit dem allgemeinen Wahlrecht eine den Schutz der wirtschaftlich Schwachen bezielende Gesetzesgruppe bildet. Endlich wäre diese ganze Gesetzgebung nicht denkbar ohne die Ausbreitung von Handel und Industrie und diese wieder nicht ohne die moderne Technik.

Biogenetisch kann endlich eine Parallele gezogen werden zwischen der Rechtsentwicklung in den Völkern und einer Entwicklung der Rechtsanschauungen in den einzelnen Individuen. Wir können uns eine Rechtsentwicklung nur so denken, daß die einzelnen Stammesmitglieder zunächst bewegliche Habe in Gestalt von Jagd- oder Arbeitsgerät, Jagd- oder Kriegsbeute in ausschließlichem Besitz hielten. Aus diesem festgehaltenen Besitz entstand dann das Eigentum. Das Eigentum bezeichnet auch im römischen Recht die erste Stufe der Rechtsbildung. Erst viel später entsteht das Obligationenrecht, immer noch vom Eigentumsbegriff beeinflußt, dessen Übertragungsarten in der mancipatio [Scheinverkauf - wp] und in jure cessio [gerichtliche Abtretung - wp] noch lange im Forderungsrecht angewendet wurden. Ebenso bezeichnet auch im Kindesalter die Besitzergreifung und die Besitzverteidigung das erwachende Rechtsgefühl. Erst viel später wird das Kind einem anderen Gegenstand gegen ein Rückgabeversprechen überlassen, womit dann die ersten Spuren eines Anspruchsbegriffs gegeben waren.

Schützt somit die induktive Rechtsauffassung mit der Verlegung des Schwerpunktes in die konkrete Erscheinung gegen die Gefahr einer Verflüchtigung des Rechts in inhaltslose Begriffsformen und bringt die induktive Methode durch Erforschung des organischen Zusammenhangs zwischen den einzelnen Rechtsbildungen sowie zwischen dem Recht und den sonstigen sozialen und wirtschaftlichen Erscheinungen das erstere unserem Verständnis näher, so würde doch ein Rechtszustand ohne deduktive Elemente gar nicht denkbar sein. Nicht darin liegt der Schwerpunkt, daß bei rein induktiver Rechtsauffassung niemand wissen würde, was ihm bevorsteht; ob er auf die Erfüllung eines geschlossenen Vertrages zählen oder ob er sein Recht gefahrlos ausüben dürfte, sondern darin, daß eine konsequenz durchgeführte induktive Rechtsauffassung ebenso wie die deduktive Auffassung im Ergebnis zur Auflösung des Rechts führen mußte. Hier wie dort würden die Rechtserscheinungen beseitigt werden, mit dem alleinigen Unterschied, daß bei der deduktiven Auffassung der Nachdruck auf die Beseitigung der Erscheinung, bei der induktiven der Nachdruck auf die Beseitigung ihres Rechtscharakters zu legen wäre.


§ 9. Widerspruch zwischen Begriff und
tatsächlichem Zustand im Recht.

Hiernach kann weder die deduktive Frage nach dem abstrakten Inhalt des Rechts, noch die induktive Frage nach dem Zusammenhang der Rechtserscheinungen für sich allein eine Einsicht in das Wesen des Rechts verschaffen. Es gilt vielmehr nach der Verbindung beider Elemente zu forschen.

Ein einfacher Fall:

Am 4. Januar 1904 gingen der Kaufmann L. und der Postpraktikant W. zu L. auf die Jagd. Der erstere führte einen Jagdhund mit sich, dessen Tüchtigkeit er anzupreisen verstand. Er behauptete, daß ihm für den Hund bereits 200 Mark geboten wurden, daß er ihn dafür aber nicht hergibt. W., dem von dritter Seite bereits mitgeteilt war, daß L. mit den ihm angeblich für seinen Hund gemachten Angeboten zu prahlen pfelgt, erwiderte: "Ich biete Ihnen 150 Mark", worauf L. erklärte, daß er das Angebot akzeptiert. L. klagte auf Zahlung des Kaufpreises, während W. sein Gebot als Scherz bezeichnete und eine Abweisung der Klage verlangte.

Zweifellos handelt es sich hier um einen Rechtsfall. Sieht man von den Nebenbedingungen ab, daß es sich gerade um den Kauf eines Jagdhundes handelt und daß der angeblich vereinbarte Preis 150 Mark betrug, so bleibt wesentlich, daß L. von W. eine Leistung verlangt, welche W. verweigert. Die geforderte Leistung, hier die Zahlung des Kaufpreises, also ein Geben von Sachen, kann ebensowohl darin bestehen, daß er andere etwas unterlassen soll - BGB § 241, Satz 2 -, etwa die Benutzung eines Weges oder die Zufuhr von Rauch oder daß er umgekehrt die Benutzung seines Weges oder die Zuführung von Rauch zu dulden habe. Es kann sich weiter auch um die bloße Änderung eines bestehenden Zustandes mit rechtlichen Wirkungen, beispielsweise um die Begründung eines familienrechtlichen Verhältnisses, wie die Annahme an Kindesstatt, oder um eine Aufhebung oder formale Beseitigung eines solchen Zustandes handeln, wie bei einer Ehescheidung oder der Nichtigkeit einer Ehe.

Das Gemeinsame all dieser Fälle ist der Widerspruch zwischen dem von einem geforderten Zustand und dem tatsächlich vorhandenen Zustand. Der Kaufmann L. hätte sich indessen in seiner Klage vollständiger dahin ausdrücken können, daß er vom Beklagten die Zahlung von 150 Mark verlagt, weil ein Rechtssatz besteht, nämlich der § 433, Abs. 2 des BGB, wonach der Käufer verpflichtet ist, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen. Der Widerspruch, welcher diesen Fall als Rechtsfall charakterisiert, besteht also nicht sowohl zwischen dem gegenwärtigen Zustand und dem vom Kläger begehrten geänderten Zustand als vielmehr zwischen dem ersteren Zustand und einem abstrakten Rechtssatz, nämlich dem Begriff des Kaufvertrages. Damit sind in diesem Rechtsverhältnis drei Elemente nachgewiesen, ein tatsächlicher Zustand, ein Begriff und ein Widerspruch zwischen beiden.

Dieses analytisch gefundene Ergebnis wird nun umgekehrt durch den synthetischen Aufbau eines Rechts bestätigt.

Wenn wir auf den öffentlichen Promenaden einen Spaziergang machen, am öffentlichen Brunnen unseren Dienst löschen, am geöffneten Fenster die frische Luft einatmen, oder wenn wir unserer nächtlichen Ruhe pflegen, so handelt es sich dabei zunächst nicht um eine Rechtsausübung. Sperrt aber ein anderer Promenade und Brunnen durch einen Zaun ab, verdirbt eine vor unserem Fenster errichtete Fabrik durch ihren Staub die Luft oder stört sie durch ihr Geräusch unsere Ruhe, dann sagen wir uns, daß die Benutzung der öffentlichen Einrichtungen jedem freisteht, daß ein Gewerbetreibender nicht befugt ist, uns übermäßigen Staub und Lärm zuzuführen. Mit anderen Worten: Wir erinnern uns der abstrakten Rechtssätze, nämlich des Begriffs der öffentlichen Sachen und der Unverletzlichkeit des Eigentums und empfinden nunmehr den Widerspruch zwischen diesen begrifflichen Normen und dem durch den anderen geschaffenen tatsächlichen Zustand als eine "Rechtsverletzung". Die ungehinderte Benutzung der öffentlichen Wege und die Unverletzlichkeit des Eigentums, die vor der Beeinträchtigung für uns indifferent waren, sind nun unser "Recht".

Mit diesem analytisch und synthetisch nachgewiesenen Widerspruch zwischen Begriff und tatsächlichem Zustand ist das Wesen des Rechts allerdings nicht erschöpft; als weiteres, das Recht insbesondere gegenüber der Moral differenzierendes Moment tritt beispielsweise der Zwang hinzu, welchen die Allgemeinheit ausübt, um jenen Widerspruch im Sinne einer Verwirklichung der begrifflichen Norm zu lösen; aber nicht darauf kommt es hier an, den Rechtsbegriff erschöpfend klar zu legen, als vielmehr darauf, zu zeigen, wie sich begriffliche und tatsächliche Elemente im Recht verbinden.

Den dem Begriff widerstreitenden tatsächlichen Zustand nennen wir Unrecht. Recht und Unrecht sind also notwendige Korrelate, und schon aus diesem Grund muß eine Untersuchung, welche sich auf das Recht im engeren Sinne, nämlich auf das begriffliche Moment beschränkt, lückenhaft bleiben.

Die Jurisprudenz macht die schulmäßige Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Recht, indem sie unter dem ersteren die dem Einzelnen zustehenden Rechtsansprüche, unter dem letzteren aber die Summe der Rechtsregeln versteht, welche in den Gesetzen, dem Gewohnheitsrecht, der Wissenschaft, überhaupt in den Rechtsquellen niedergelegt sind. Man wird mir nun entgegenhalten, daß die vorstehenden Ausführungen sich nur auf das subjektive Recht beziehen und daß ein solches zudem auch ohne eine Verletzung bestehen kann. Was zunächst den letzteren Einwand betrifft, so sprechen wir allerdings in zahlreichen Fällen von "Rechten", wo Rechtsverletzungen noch nicht stattgefunden haben. So haben wir ein "gesetzliches und testamentarisches Erbrecht", die "Forderungsrechte" bilden einen erheblichen Teil der Aktiva eines Kapitalisten. Aber was diese Vermögensbestandteile zu "Rechten" macht, ist doch ihre Realisierbarkeit, für den Fall, daß die tatsächlichen Zustände nicht dem Begriff entsprechen sollten. Das Gleiche gilt von Rechten, welche, wie die Familienrechte, keinen unmittelbaren Vermögenswert besitzen. In ihrer Vorstellung als "Recht" liegt implizit die Vorstellung eines Widerspruches zwischen der begrifflichen Norm und dem tatsächlichen Zustand, ein Widerspruch, der hier allerdings nicht als real, sondern nur als möglich gedacht wird, ohne daß aber an der elementaren Bedeutung dieses Widerspruchs für den Rechtsbegriff dadurch etwas geändert wird.

Was nun aber das objektive Recht betrifft, so sind diese Rechtsregeln eben das Allgemeine und Begriffliche im Recht. Wir können dasselbe in der Form von Rechtsnormen als das Recht einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Volkes oder selbst als internationales Recht gesondert betrachten, aber die Möglichkeit einer Verletzung dieser Rechtsregeln im Sinne der mit ihnen in Widerspruch tretenden tatsächlichen Erscheinungen müssen wir auch hier in unseren Gedankeninhalt aufnehmen.

Nach all dem wäre es vielleicht anschaulicher, statt von einem "Recht" von einem Rechtsprozeß zu reden, im Sinne eines Vorganges, in welchem der zwischen Begriff und tatsächlichem Zustand vorhandene Widerspruch zur Auflösung gelangt.

Der Ausspruch des TACITUS "in pravissima civitate plurimae leges" [Je bösartiger ein Staat ist, umso mehr Gesetze hat er. - wp] verkennt das Wesen dieses Rechtsprozesses. Man wird nicht leugnen, daß wir heute, wo jedes Jahr eine ganze Reihe neuer Gesetze bringt, auf einer Kulturstufe stehen, die vordem niemals erreicht wurde. Dagegen wird man vielleicht darauf hinweisen, daß mit dieser Kultur auch die Straftaten zugenommen haben, daß dies aber offenbar kein Zeichen der Kultur ist.

Streng genommen, ergibt die Statistik lediglich eine Zunahme der Verurteilungen; eine unmittelbare Übertragung ihrer Ergebnisse auf die Statistik der Straftaten übersieht, daß für Verurteilungen noch besondere Momente in Betracht kommen, so vor allem die jeweilige Energie der Strafverfolgung, welche wieder durch die Zuverlässigkeit des Strafverfolgungsapparates und die Zahl der dabei beschäftigten Beamten bedingt ist. Aber zugegeben selbst, daß im allgemeinen eine jährliche Zunahme der Straftaten stattfindet, so darf man daraus doch ganz und gar nicht auf einen sittlichen Rückschritt schließen. Ein solcher Schluß wäre doppelt irrtümlich. Einmal beachtet er nämlich nicht, daß mit einer zahlenmäßigen Vermehrung der Straftaten in ihrer Gesamtheit eine Verminderung besonderer Arten von Straftaten Hand in Hand gehen kann. So ist Raub und Mord heute offenbar viel seltener als in früheren Jahrhunderten. Wenn demungeachtet die Vergehen gegen Leben, Gesundheit und Eigentum im Ganzen zugenommen haben, so liegt das einmal an den vermehrten Gelegenheiten zu solchen Handlungen, sodann aber - und darauf beruth der andere Irrtum des obigen Schlusses - in der Vermehrung der strafrechtlichen Tatbestände.

Erblickt man nämlich das Wesen des Rechts im Widerspruch zwischen abstrakten Regeln als dem Begriff und dem konkreten Zustand, so kann eine Steigerung der Energie des Rechtsprozesses ebenso wie in einer Zunahme der den vorhandenen Begriffen widersprechenden tatsächlichen Erscheinungen auch in einer Vermehrung der für jenen Widerspruch notwendigen begrifflichen Faktoren, der Rechtsregeln, liegen. Betrachtet man von diesem Standpunkt das Strafrecht, so muß es auffallen, daß gerade von in jüngster Zeit höchster Kultur die strafrechtlichen Tatbestände in rapider Weise vermehrt sind. Obenan stehen die Strafbestimmungen der Gewerbeordnung zum Schutz der weiblichen und jugendlichen Arbeiter, die Strafbestimmungen der Versicherungsgesetze, die Telegraphenschutzgesetzgebung, die Bestimmungen gegen unbefugte Entziehung elektrischer Kraft. Ferner gehört hierher die erst durch die moderne Gesetzgebung geschaffene Kategorie der sogenannten Gefährdungsdelikte, wonach derjenige strafbar ist, der die naheligende Möglichkeit und begründete Besorgnis einer Personen- oder Sachbeschädigung schafft. Die große Zahl der aufgrund dieser und ähnlicher Gesetze erfolgten Verurteilungen beruth also nicht auf einem veränderten Verhalten der Beteiligten, sondern darauf, daß durch die Neuschaffung strafrechtlicher Tatbestände, also durch eine Veränderung des begrifflichen Elements zwischen einem bislang als indifferen angesehenen tatsächlichen Verhalten und einem Begriff der oben als Rechtsprozeß bezeichnete Widerspruch geschaffen ist. Beurteilt man von diesem Standpunkt die Verbrechensskala, so wird man wohl begreifen, in welchen Sinn eine Verbrechensvermehrung als eine Begleiterscheinung der Kultur bezeichnet werden könnte. Verlangt man nämlich vom Recht selbst einen erzieherischen Einfluß, so kann dieser doch immer nur dahin gehen, die Widersprüche zwischen dem Verhalten der Menschen und den vorhandenen Rechtsnormen zu vermindern, unbeschadet der gesteigerten Anforderungen, welche das Recht durch ständige Schaffung neuer Begriffe stellt. Im Zivilrecht ist die Sachlage die gleiche. Man braucht nur einen Blick auf die moderne Schadensersatzlehre zu werfen, um ein Bild vom Einfluß zu gewinnen, welchen hier neue Rechtsregeln auf die energetische Steigerung des Rechtsprozesses ausüben. Von den Schadensersatzklagen, welche unter der neuen bürgerlichen Gesetzgebung die Gerichte überhäuft, fällt ein ungeheuerer Prozentsatz auf solche, welche erst durch das neue Recht möglich geworden sind. Dahin gehören vor allem der Tierschaden und die Haftung des Geschäftsherrn für die rechtswidrigen Handlungen der von ihm bestellten Personen in ihrer jetzigen Ausdehnung. In all diesen Fällen hat erst das moderne Gesetz das Recht geschaffen, indem es durch die Aufstellung neuer Begriffe Widersprüche mit den tatsächlichen Zuständen ermöglichte.

Widerspruch zwischen Begriff und tatsächlichem Zustand, Auflösung des Widerspruchs und Schaffung neuer Widersprüche durch Änderung und Neubildung des Begriffs bezeichnen also den Entwicklungsgang des Rechts. In ihm liegt die Verbindung der deduktiven und induktiven Elemente, von welchen oben die Rede war.

Induktiv erfolgt nämlich die Bildung des begrifflichen Faktors, der Rechtsnorm. Daß Rechtsnormen auf deduktivem Weg nicht gewonnen werden können, ist oben dargelegt. Bei ihnen handelt es sich darum, empirische Vorgänge zu verallgemeinern, indem durch fortgesetzte Abstraktion aus der begrifflichen Verbindung mehrerer tatsächlicher Zustände Rechtsbegriffe gebildet werden. So verfährt im Grunde der Gesetzgeber, und Wissenschaft und Auslegung sind nach der Überwindung des Naturrechts ihm mehr und mehr gefolgt. Dort wird eine lange Zeit geübter Gebrauch zur Rechtsregel erhoben, wie bei den Handelsgebräuchen oder wie beim erwähnten Rücktrittsrecht wird aus einzelnen, besondere Verträge betreffenden Bestimmungen ein allgemeines Rechtsinstitut gebildet. Die Auslegung konstruiert wie in der mitgeteilten Entscheidung des Reichsgerichtes über die Schadensersatzpflicht der Kleinbahnen aus zerstreuten Einzelvorschriften allgemeine Rechtsprinzipien und verallgemeinert ihre Entscheidungen zu einer gerichtlichen Praxis, welche der Gesetzgeber wieder dadurch festlegt, daß er die Gerichte auch formell an diese Praxis bindet. Die Wissenschaft möchte endlich gerne an der Deduktion festhalten, aber was sie hier zutage fördert, ist günstigstenfalls eine inhaltslose Kategorie. Indem sie ihre Ergebnisse in der Gesetzgebung und im Gerichtsgebrauch bestätigt findet, hat sie doch unbewußt eben aus diesen Quellen geschöpft. Sie ist also im Grunde doch induktiv verfahren, wie sehr sie auch im Prinzip die Induktion verleugnet. Das "Wesen" des Rechts, welches sie vor der Untersuchung festgestellt wissen will, entnimmt sie tatsächlich aus seinen konkreten Erscheinungen. Man darf daher nicht schließen, daß, weil der Rechtszustand ein geregelter Zustand ist, diese Regelung als etwas Aprioristisches dem Recht zugrunde liegt. Die Regelung ist nichts als die Abstraktion aus empirischen Zuständen.

Deduktive Elemente enthält dagegen der Rechtsprozeß, insofern der empirischen Erscheinung die Rechtsnorm zunächst als etwas Allgemeingültiges gegenübergestellt wird. Denn allein auf diese Weise wird der das Wesen des Rechts ausmachende Widerspruch zwischen Begriff und tatsächlichem Zustand erzeugt. Zwar verlangt der Begriff im Rechtsprozeß, daß die Tatsachen sich ihm fügen, aber damit ist nicht gesagt, daß die Auflösung jenes Widerspruches überall im Sinne dieses Vorgangs erfolgt. Zunächst wird die Rechtsnorm allerdings die Oberhand behalten, aber ihre Siege sind vielfach Pyrrhussiege, und am Ende unterliegt doch die Norm. Das wird durch die Rechtsentwicklung tausendfach bewiesen. Der Eigentümer hat beispielsweise Jahrhunderte lang alle Eingriffe, welche der Nachbar durch Staub- und Geräuschzuführungen verübte, zurückgewiesen. Schließlich mußte er doch unterliegen. Der Eigentumsbegriff wurde modifiziert, und was der Nachbar vergeblich gefordert hatte, das wurde ihm zunächst durch Praxis - REHBEIN, Entscheid. d. Obertr., Bd. 1, Seite 736f Anm. - und schließlich durch die Gesetzgebung - BGB § 906 - in den Grenzen der "Ortsüblichkeit oder einer nicht wesentlichen Beeinträchtigung" des fremden Eigentumes zuerkannt. Noch schneller vollzieht sich die Niederlage der Rechtsnorm in der modernen Tierschadenlehre - BGB § 833 -. Denn hier beschäftigt sich der Reichstag schon jetzt mit einer Änderung des Gesetzes. In anderen Fällen mag allerdings auch die Norm siegen, wenn es z. B. der Strafrechtspflege gelingt, ein Verbrechen mit durchschlagendem Erfolg zu bekämpfen.

Mag nun der Begriff überwunden werden oder siegreich bleiben: Jedenfalls darf bei einem Kulturvolk der Rechtsprozeß nicht erlahmen. Wollen wir nicht in einen Zustand rechtlicher Lethargie versinken, so müssen Gesetzgebung, Auslegung und Wissenschaft stets auf induktivem Weg neue Rechtsnormen schaffen, die dann, deduktiv auf die Erscheinungen angewandt, den Widerspruch zwischen Begriff und den tatsächlichen Zuständen erzeugen, in welchem das Wesen des Rechts beruth.
LITERATUR Alfred Bozi, Untersuchungen über die Prinzipien des Rechts, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 5, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    9) "Jede Definition im Zivilrecht ist gefährlich, denn es gibt sehr wenig, was nicht gestürzt werden kann. Es gibt keine Regel im Zivilrecht, die keiner Ausnahme unterliegt und der geringste Unterschied in den Tatsachen des Falles macht ihre Anwendung unbrauchbar."
    10) HALLBAUER, Recht, Bd. IX, Seite 632f
    11) ADOLF WACH, Rektoratsrede, Seite 2