ra-2P. EltzbacherMüller-ErzbachA. AffolterK. C. PlanckM. Salomon    
 
ALFRED BOZI
Untersuchungen über die
Prinzipien des Rechts

[1/2]

"Neben dem systematischen Aufbau des allgemeinen Landrechts zeigt sich der Einfluß der naturrechtlichen Anschauung vor allem im Glauben an die Unfehlbarkeit des Gesetzbuches, welche zunächst dazu führte, daß Friedrich der Große die Interpretation des Gesetzes verbot, in der Erwartung, daß bei der Simplizität der Sache die Rechtsgelehrten ihr geheimnisvolles Ansehen verlieren und um ihren Subtilitätenkram gebracht werden würden, auch das ganze Korps der Advokaten unnütz werden würde."

Nach gemeinüblichem Sprachgebrauch sind die Prinzipien die letzten Grundlagen der Erscheinungen. In diesem Sinne spricht man von den Elementen als den "Prinzipien" der stofflichen Körper, vom einem Gesetz "Handle so, daß die Maxime deines Willens zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden kann", als dem "Prinzip" der Moral und etwa von der Vergeltung als dem "Prinzip" des Strafrechts. In einem anderen Sinn kann man unter einem Prinzip die allgemeinste Verständnisform der Erscheinungen verstehen, und zwar kann dabei der Nachdruck entweder auf "die" oder auf "Verständnisform" gelegt werden. Das Erstere setzt voraus, daß eine bestimmte Verständnisform als die einzig wahre angesehen wird. Die Aufgabe der Wissenschaft wäre dann, diese eine Form zu ermitteln. In diesem Sinn dürfte das Substanzprinzip, das Entwicklungsprinzip oder das energetische Prinzip zu verstehen sein. Endlich kann man noch bescheidener sein: man kann sich nämlich an der Zurückführung aller Erscheinungen auf einen allgemeinen Begriff genügen lassen, ohne dabei die ausschließliche Brauchbarkeit dieses einen Begriffs zu behaupten. Dieser Standpunkt wird der geschichtlichen Tatsache gerecht, daß die Vertreter der Wissenschaft immer von der Richtigkeit ihrer Prinzipien überzeugt gewesen sind, daß aber demungeachtet ein Prinzip das andere abgelöst hat. Es würde also mannigfache Prinzipien oder Verständnisformen für das Weltall geben, deren jedes nur eine relative, d. h. durch den jeweiligen Stand der Kultur bedingte Geltung hätte; der Maßstab für die Brauchbarkeit läge in der möglichst restlosen Umfassung aller Erscheinungen und der Beweis für diese Brauchbarkeit könnte nur experimentell, d. h. durch die Anwendung des Prinzipes auf die verschiedensten wissenschaftlichen Gebiete erbracht werden.

Ich habe mir nun die Aufgabe gestellt, die wichtigsten Rechtsprinzipien durch Wissenschaft, Gesetzgebung und Gesetzesauslegung zu verfolgen und dieselben, in eine deduktive und eine induktive Gruppe gesondert, auf das Rechtsmaterial anzuwenden. Endlich habe ich versucht, in der Verbindung deduktiv gewonnener begrifflicher und induktiv gewonnener empirischer Elemente ein neues Rechtsprinzip zu formulieren.


§ 1. Der deduktive Rechtsinhalt
- Wissenschaft -

Die naivste Art deduktiver Rechtsauffassung liegt in den religiösen Rechtssystemen, wie sie im Anschluß an den Pentateuch von AUGUSTIN, MELANCHTHON und später von STAHL (1) entwickelt sind. Als absoluter Rechtsinhalt erscheint danach der im Dekalog niedergelegte göttliche Wille. Daneben suchte man schon früh das Recht wissenschaftlich abzuleiten und in allerlei abstrakten Begriffen, wie Vernunft, Freiheit, Nutzen, Zweck, soziale Veranlagung, eine der positiven Rechtssatzung übergeornete Instanz zu schaffen. Aus der Vernunft unmittelbar leiten die Stoiker das Recht ab. Sie stellten den Begriff der lex nata und der lex naturae als der "omni in re consensio omnium gentium" [worüber alle Menschen übereinstimmen - wp] - CICERO, Tusc. I, 13 - auf, welcher als "jus gentium", "jus naturale", "quod natura omnia animalia docuit [was die Natur allen Tieren beigebracht hat - wp] - 1. 1, § 3, Dig. I, 1 -, "quod naturalis ratio inter omnes homines constituit" [nach der natürlichen Vernunft, wie sie für alle Menschen maßgebend ist - wp] - § 1, Inst. I, 2 - in die römische Rechtswissenschaft übergegangen ist. Nachdem dann im Mittelalter die gesamte Wissenschaft unter kirchlich dogmatischem Einfluß gestanden hatte, entwickelte der Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts das "Naturrecht" im Sinne einer letzten Quelle allen positiven Rechts - HUGO GROTIUS -. SPINOZA versteht darunter "ipsam naturae potentiam", d. h. jedes Ding hat soviel Recht, wie es Macht hat, zu sein und zu handeln, womit dann wieder gesagt ist, daß jeder des anderen Macht zu respektieren hat und daß er "timore majoris damni" [Angst vor größerem Schaden - wp] davon abgehalten wird, einem anderen Schaden zuzufügen. Damit, daß an die Stelle dieses Machtbegriffs später die Vernunft tritt, erhält das Naturrecht seine höchste Ausbildung. Das Gesetz ist die "norma rationalis actionum", welche bereits vom römischen Recht in dessen drei Grundsätzen dem neminem laedere, dem suum cuique tribuere [niemandem schaden, jedem das Seine - wp] und dem honeste vivere [lebe ehrenhaft - wp] niedergelegt ist. - LEIBNIZ -. Die lex naturalis ist "qua rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atqua natura agnoscit" [durch ausreichenden menschlichen Verstand in der Lage, das Wesen und die Natur der Dinge zu erkennen - wp]. In einer Verallgemeinerung von SPINOZAs Machtbegriff wurde dann von KANT der Interessenausgleich zum Rechtsprinzip erhoben. Nach ihm ist das Recht der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann. Das Rechtsverhältnis ist ein Verhältnis wechselseitiger Beschränkung; das Rechtsgesetz legt uns die Pflicht auf, alle anderen freien Wesen in alen Fällen als solche anzuerkennen und damit die eigenen Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des anderen zu beschränken. - J. G. FICHTE -. AHRENS (2) prätendiert [erhebt den Anspruch - wp] der Rechtsphilosophie geradezu die Aufgabe, als Wesen und Bestimmung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft das oberste Rechtsprinzip abzuleiten und dasselbe zu einem System der Rechtswissenschaft für alle Gebiete des privaten und öffentlichen Rechts zu entwickeln. Er stimmt darin mit SCHOPENHAUER (3) überein, der im Naturrecht eine von aller positiven Satzung unabhängige Rechtslehre mit dem obersten Grundsatz, niemanden zu verletzen, konstruiert.

Der wieder erwachte Einfluß KANTs macht sich neuerdings im STAMMLERs "richtigen Recht" (4) geltend.

STAMMLERs Methode läßt sich in kantischer Ausdrucksweise zusammenfassen in die Frage: Wie ist reines Recht a priori möglich? Dieses reine Recht kommt zwar nur im empirischen Recht zur Erscheinung und wird auch nur in ihm erkannt, aber es entspringt nicht aus der Erfahrung, sondern ist umgekehrt die begriffliche Voraussetzung eines tatsächlich vorhandenen Rechtszustandes (5). Jenes allem empirischen Recht zugrunde liegende aprioristische Moment ist zunächst im allgemeinen die Richtigkeit des Rechts im Sinne eines zur Herbeiführung eines vorgesetzten Zwecks richtigen Mittels, daneben aber im Besonderen die Erreichung dieses Zwecks durch gesellschaftliches Zusammenwirken. Mag ein empirisches Recht diesen oder jenen Befehl enthalten, mag es Gütertrennung oder Gütergemeinschaft, Individualeigentum oder Kollektiveigentum fordern: Immer handelt es sich um ein richtiges Mittel zur Erreichung eines Zweckes auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Regelung. Diese letztere ist die absolute Grundlage einer gesellschaftlichen Regelung. Diese letztere ist die absolute Grundlage allen Recht. Man sieht also, daß das Aprioristische im Recht bei STAMMLER lediglich formale Natur hat, während der Rechtsinhalt in das empirisch Bedingte verwiesen wird. Damit wird aber nicht die Möglichkeit verneint, durch das Aprioristische den empirischen Rechtsinhalt zu beeinflussen. Die gesellschaftliche Regelung ist nämlich die Ermöglichung eines gesellschaftlichen Zusammenwirkens, so daß nach den Voraussetzungen gefragt werden muß, unter welchen ein solches Zusammenwirken empirisch möglich ist. Einer solchen Möglichkeit würde eine schrankenlose Ausnutzung des anderen Teils beispielsweise widerstreiten, ebenso wie andererseits die Selbständigkeit der eigenen Persönlichkeit respektiert werden muß. Das sind die Gesetze des Achtens und Teilnehmens. Das rechtliche Verhältnis zwischen Menschen muß so geordnet sein, daß überall gesellschaftliches Zusammenwirken bestehen kann. Endlich darf die gesellschaftliche Verbindung nicht als ein einziger großer Kreis gedacht werden, sondern als ein System konzentrischer Kreise, so daß in allen Rechtskonflikten die Beteiligten sich in einer mehr oder weniger begrenzten Gemeinschaft befinden. Hat also beispielsweise jemand ohne vorherige Vereinbarung über das Honorar nicht einfach nach der dem Patienten unbekannten Taxe des Arztes berechnet werden, sondern Arzt und Patient sind in einer Gemeinschaft zu denken, in welcher jeder von beiden noch existenzfähig bleibt. Das "richtige Recht" verlangt also, daß neben dem objektiven Wert der ärztlichen Leistung noch die Vermögensverhältnisse des Patienten beachtet werden. Dadurch, daß der Gesetzgeber nun vielfach zwingende Rechtsnormmen aufgestellt und damit den Richter der Aufgabe enthoben hat, auf das "richtige Recht" zurückzugehen, hört das Recht nicht auf, "richtiges Recht" zu sein, da ja der Gesetzgeber selbst seine Normen nach dem Prinzip des "richtigen Rechts" gebildet hat. Wo dagegen solche bestimmte Rechtsnormen fehlen, da ist es der Begriff des richtigen Rechts im dargelegten Sinn, durch welchen sich der Richter leiten lassen muß.

Man sieht, daß der ursprüngliche naturrechtliche Gedanke, nämlich die Apriorität des materialen Rechtsinhaltes, hier tatsächlich bereits verlassen ist. Denn wieweit das Prinzip der gegenseitigen Achtung und die Existenznotwendigkeit beider Teile ein Entgegenkommen nach der einen oder anderen Richtung verlangt, läßt sich nur aus der Erfahrung entnehmen. Die KANT-STAMMLERsche Auffassung ebnet damit den Boden für eine philosophische Betrachtung des Rechtsstoffes nach empirischen Grundsätzen, so sehr sie sich auch prinzipiell dagegen sträubt, das Wesen des Rechts in einen erfahrungsmäßigen Erscheinungen zu erblicken.


§ 2. Gesetzgebung

Die Deduktion ist aber nicht nur ein rechtsphilosophisches Prinzip, sondern sie hat auch das positive Recht beeinflußt.

Ich sehe davon ab, daß die griechischen Philosophen, vor allem PLATO und vor ihm PYTHAGORAS, es als ihre Aufgabe ansahen, aus allgemeinen Begriffen heraus ideale Staatsverfassungen zu konstruieren, ja daß man ihnen sogar die Ausarbeitung von Gesetzbüchern übertrug, eine Erscheinung, die übrigens in den unter der französischen Revolution berufenen Gesetzgebungskommissionen wiederkehrt. Dagegen hat die Anschauung, welche im römischen Recht die ein- für allemal feststehende unabänderliche Grundlage des Rechts erblickte zur sogenannten Rezeption des römischen Rechts geführt und damit das abendländische, vor allem das deutsche Rechtsleben, nachhaltig beeinflußt. Nur aus jener Anschauung erklärt es sich, daß ein auf fremdem Boden erzeugtes, mit fremdartigen Kulturanschauungen durchsetztes Recht selbst ohne einen Formalakt der Gesetzgebung, allein durch die Gelehrten nach Deutschland verpflanzt werden konnte, wo es dann das heimische Recht verdrängte oder romanisierte.

Im Naturrecht hat die deduktive Rechtsauffassung weiter auf das preußische Landrecht einen unverkennbaren Einfluß ausgeübt. Während für die Römer das "jus gentium" ein praktisches Mittel war, das Buchstabenrecht den Anforderungen eines entwickelten Wirtschaftslebens anzupassen - 1. 64, Dig. 12, 6 -, hatte das Naturrecht in der Gestalt von WOLFFs Lehre für die Schöpfer des allgemeinen Landrechts die Bedeutung einer unveränderlichen Rechtsquelle, aus welcher die Vernunft nur zu schöpfen brauchte, um aller Rechtsunsicherheit ein- für allemal ein Ende zu bereiten. Das Werk, dessen Redaktion FRIEDRICH der Große dem Großkanzler COCCEJI übertragen hatte, sollte sich bloß "auf die Vernunft und auf die Landesverfassungen" gründen - Kab. Ordre vom 31. Mai 1740 -; aus dem corpus juris sollte das Wesentliche, mit dem Naturrecht und der Verfassung Übereinstimmende abstrahier, ein Lehrbuch sollte abgefaßt werden, dessen erster Teil nichts als abstraktes Naturrecht enthalten sollte - Kab. Ordre vom 14. April 1780 -. Das Gesetzbuch selbst wurde dann systematisch auf den Satz aufgebaut, daß die natürliche Freiheit, sein eigenes Wohl ohne Kränkung der Rechte eines anderen zu suchen und zu fördern, die Grundlage allen Rechts ist. - Einl. z. A. L. R. § 85 -. Man ging also von der Person als dem Träger der Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft - § 1 A. L. R. I, 1 - aus und bestimmte das Gebiet, in welchem diese Person ihre Freiheit zu bestätigen hat, indem man die Kreise allmählich erweiterte. Hier ergab sich eine Unterscheidung, je nachdem die Person in ihrem Verhältnis zu anderen Personen, also in ihrer privatrechtlichen Stellung oder in ihrer Stellung zur Allgemeinheit, also in ihrer gesellschaftlichen Beziehung in den Vordergrund gestellt wurde. Demgemäß zerfiel das Gesetzbuch in zwei Teile. Das Gebiet für die privatrechtliche Betätigung der persönlichen Freiheit war das Eigentum. Folgerichtig wurde dieses zum Mittelpunkt des ganzen privatrechtlichen Systems erhoben und als Betätigungssphären der persönlichen Freiheit wurden dann in logischer Konsequenz auch die Forderungen als Eigentumsobjekte unter dem Begriff der Sache vereinigt - § 1, T. I, Tit. 2 -. Die Rechtsgeschäfte wurden teils zu "Titeln zur Erwerbung des Eigentums", teils zu Mitteln, das Eigentum zu erhalten oder es zu beendigen. Die Miete wurde zu einem Recht auf fremdes Eigentum. In streng logischer Durchführung des obersten Prinzips wurde der natürliche und wirtschaftliche Zusammenhang der Rechtsbildung auseinandergerissen. So wurden die Testamente als "Titel zur Erwerbung des Eigentums, welche aus Verordnungen von Todeswegen entstehen" den "Titeln zur Erwerbung des Eigentum, welche sich in Verträgen unter Lebendigen gründen" zur Seite gestellt und damit von der gesetzlichen Erbfolgeordnung getrennt, welche im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen, insbesondere den familienrechtlichen Verbindungen im zweiten Titel des zweiten Teiles behandelt wurde. Miete und Pacht wurden als Rechte "zum Gebrauch und zur Nutzung fremden Eigentums" im 21. Titel des ersten Teils behandelt Damit wurden sie von dem im 11. Titel als Titel zur Erwerbung des Eigentums unter Lebendigen behandelten Kaufvertrag getrennt, obgleich der Unterschied, daß der Kauvertrag auf eine Übertragung des vollen Eigentums, Miete und Pacht aber auch einer Übertragung seines Gebrauchs und seiner Nutzung gerichtet sind, das Wesen der Sache nicht berührt, in diesem vielmehr, nämlich darin, daß in beiden Fällen Sachen gegen eine Vergütung gewährt werden, beide Vertragsgruppen eng verbunden sind.

Man wird die rechtsphilosophische Anschauung, welche die Beziehungen der Staatsangehörigen untereinander und zur Allgemeinheit unter dem Gesichtspunkt einer gleichmäßig beschränkten individuellen Freiheit auffaßt, kaum mißlingen: Wie unpraktisch aber die konsequent deduktive Durchführung dieses Standpunktes war, erhellt sich daraus, daß die Wissenschaft das landrechtliche System schleunigst verlassen hat und daß keine einziges bedeutenderes Lehrbuch des preußischen Landrechts in der systematischen Einteilung des Gesetzbuches geschrieben ist.

Neben dem systematischen Aufbau des allgemeinen Landrechts zeigt sich der Einfluß der naturrechtlichen Anschauung vor allem im Glauben an die Unfehlbarkeit des Gesetzbuches, welche zunächst dazu führte, daß FRIEDRICH der Große die Interpretation des Gesetzes verbot, in der Erwartung, daß bei der Simplizität der Sache die Rechtsgelehrten ihr geheimnisvolles Ansehen verlieren und um ihren Subtilitätenkram gebracht werden würden, auch das ganze Korps der Advokaten unnütz werden würde. Man glaubte eben in der Vernunft die unfehlbare Quelle des Rechts gefunden zu haben, und wenn von diesem Auslegungsverbot im Gesetz selbst nur soviel zurückgeblieben ist, daß bei künftigen Entscheidungen auf Meinungen der Rechtsgelehrten oder ältere Aussprüche der Richter keine Rücksicht genommen werden soll, sowie, daß der Richter über Lücken im Gesetz dem Chef der Justiz sofort Anzeige zu erstatten habe, so beweist dch schon die bekannte Kasuistik des ganzen Gesetzbuches, daß der Gesetzgeber an dem Glauben, jeden Fall durch ein Gesetz a priori regeln zu können, festgehalten hat.

Auch im französischen und österreichischen Recht sind die Spuren naturrechtlicher Anschauungen nachweisbar.


§ 3. Auslegung.

Unter einer deduktiven Gesetzesauslegung verstehe ich eine Auslegung des Gesetzes lediglich aus den ihn ihm selbst niedergelegten Begriffen. Wie die deduktive Rechtsbildung alles positive Recht aus einem über dem Gesetz schwebenden allgemeinen Begriff ableitet, so erblick die deduktive Rechtsauslegung im Gesetz selbst eine nie versagende Norm, sofern dasselbe nur logisch, also nach dem Gesetz der abstrakten Vernunft, verstanden wird. Der Gesetzgeber ist für diese Auffassung unfehlbar; seine Bestimmungen sind lückenlos, und der Richter, der "unter dem Vorwand des Stillschweigens, der Dunkelheit oder der unzureichenden Bestimmung des Gesetzes" - Code civ. Art. 4 - ein Urteil zu sprechen sich weigern würde, wäre pflichtvergessen. Allein man begnügte sich nicht mit einer solchen deduktiven Auslegungsmethode ansich, sondern man legte sie auch im Einzelnen fest, insofern ein- für allemal feststehende Auslegungsregeln entwickelt wurden, und zwar folgerichtig anhand des römischen Rechts, dessen Apriorität man nicht bezweifelte.

Der Auslegende soll sich auf den Standpunkt des Gesetzgebers stellen. Dieser redet grammatisch korrekt; im Einzelnen wie im System denkt er logisch vollkommen. Deshalb muß die Auslegung nach den Regeln der Grammatik, Logik und Systematik erfolgen. Hinzu tritt die historische Auslegung, wobei aber unter der Geschichte stets nur die Entwicklung des betreffenden Gesetzes, nicht die unten zu erörternde organische Rechtsentwicklung überhaupt verstanden wird. In den meisten Fällen wird man den Sinn des Gesetzes auf diese Weise unfehlbar ermitteln. Kommt man aber noch nicht zum Ziel, so heißt es "non est novum, ut priores leges ad posteriores trahantur" [Man soll eine alte Rechtsregel auf alles anwenden, was als neue species unter dieselbe fällt. - wp], eventuell auch umgekehrt "et posteriores leges ad priores pertinet, nisi contrarae sunt" [Die einschlägigen Gesetze beziehen sich auf frühere, es sei denn das Gegenteil ist der Fall. - wp], übrigens nur eine Verschiebung der Zweifelspunkte, da es nun darauf ankommen wird, zu ermitteln, ob "leges contrariae" sind. Lassen auch die früheren und späteren Gesetze im Stich, so wird nach der "ratio leges", dem Grund des Gesetzes gefragt. Die letzte Zuflucht ist der sogenannte Wert des Ergebnisses - in re dubia benigniorem interpretationem sequi non minus justum est quam tutius [daß in zweifelhaften Fällen, wo es weder der ausdehnenden noch der einschränkenden Erklärung an Gründen fehlt, jedoch keine derselben etwas Überwiegendes für sich hat, der Richter mehr geneigt sein muß, die gelindere Meinung vorzuziehen, d. h. diejenige Erklärung anzunehmen, die am meisten mit dem Gesetz übereinstimmt oder zumindest von der Strenge am meisten entfernt ist. - wp], womit aber schon der Boden der Deduktion zugunsten einer die konkreten Verhältnisse des Falles berücksichtigenden induktiven Rechtsauslegung verlassen wird. Daß das "Allgemeine Landrecht" für die Auslegung der Gesetze bestimmte Grundsätze aufstellte - vgl. Einl. §§ 46f. - entspricht durchaus seinem Willen, zweifellose Rechtssicherheit zu schaffen. Die moderne Gesetzgebung hat sich von solchen Regeln dagegen emanzipiert. Die Motive zum "Bürgerlichen Gesetzbuch - Bd. I, Seite 14f - kennen zwar noch die für die logische Auslegung wichtigen Aussprüche, die "allgemeinen Rechtswahrheiten", welche in den Quellen des römischen Rechts enthalten sind; sie wollen das Gesetz aus sich selbst und dem in ihm enthaltenen Rechtssystem ohne Berücksichtigung außerhalb des positiven Rechts liegender Momente ergänzt wissen, aber die Tatsache, daß selbst die einzige, die Analogie betreffende Auslegungsvorschrift des ersten Entwurfs - § 1 - in das Gesetz keine Aufnahme gefunden hat, beweist, daß der Gesetzgeber nicht selbst zur Auslegung Stellung zu geben gewillt ist. Das Reichsgericht hielt dem ungeachtet bis in die jüngste Zeit mindestens im Prinzip an der deduktiven Auslegungsmethode fest. Es stellte sich den Gesetzgeber als ein ideal logisches Wesen vor, der, eines Widerspruchs unfähig, nichts ohne Absicht tut oder unterläßt und berief sich auf seine ständige Judikatur, wonach nur "der durch die Gesetzesworte selbst getragene Wille des Gesetzgebers" als geltendes Recht anzuerkennen ist. In der bekannten Elektrizitätsdiebstahlsfrage hat es sich bei der Auslegung des § 242 des Strafgesetzbuches an den römischen Sachbegriff geklammert und von diesem Standpunkt die Eigenschaft der Elektrizität als einer "Sache" mit dem Erfolg verneint, daß sofort ein Gesetz erlassen wurde, welches den Elektrizitätsdiebstahl unter Strafe stellte.


§ 4. Der induktive Rechtsinhalt
- Wissenschaft -

Für eine induktive Rechtsauffassung liegt das rechtsbildende Moment nicht in einem allgemeinen Begriff, sondern in den Erscheinungen des Rechts, also in den konkreten Bestimmungen der Gesetze und den Entscheidungen der Gerichte. Beide können ebensowohl in zeitlicher Reihenfolge als in einem örtlichen Nebeneinander betrachtet werden. Damit ergibt sich die Unterlage, einerseits für die historische Rechtsbetrachtung, andererseits für die vergleichende Rechtswissenschaft im Sinne einer Kombination parallel laufender Rechtsbildungen. In einer prinzipiellen Untersuchung sind beide zu sondern, während Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung tatsächlich zusammen arbeiten, ebenso wie eine physiologische Betrachtung organischer Bildungen sowohl paläontologisch wie auch vergleichend anatomisch verfährt. Die


- historische Rechtsauffassung -

zerfällt wiederung in zwei Richtungen, in die Rechtsauffassung der alten Halle'schen Schule und in die modern-historische Rechtsauffassung SAVIGNYs. Beide betrachten das Recht als etwas allmählich Gewordenes, aber die geistige Verwandtschaft der Halle'schen Schule mit der deduktiven naturrechtlichen Auffassung zeigt sich darin, daß die Rechtsentwicklung im damaligen Rechtszustand im Wesentlichen als abgeschlossen angesehen wurde. Wie die Naturrechtler, so stellten sich auch die damaligen Historiker beispielsweise die Aufgabe, die im Anschluß an die Reformation neu entstandenen staatsrechtlichen Bildungen zu rechtfertigen. So wurde im Dienst der protestantischen Landesherren die Lehre von den jura circa adiaphora [Gesetze über die Gleichgültigkeit - wp] entwickelt, wodurch jenen das Recht vindiziert wurde, in allen nicht unmittelbar durch die Bibel geregelten kirchlichen Fragen selbständig zu entscheiden. Es wurde bewiesen, daß dieses Recht ein ursprüngliches und von der Reformation unabhängiges ist. Im Kampf um die politische Selbständigkeit der Partikularstaaten gegenüber dem Kaiser wies man auf der einen Seite in der Lehre von den feuda oblata [Opferpflichten - wp] die selbständige Territorialgewalt des Landesherrn als den historisch gerechtfertigten Zustand nach, während auf der anderen der kaiserlichen Seite in der Lehre von den feuda data [Lehenspflicht - wp] umgekehrt das Lehnsverhältnis als der ursprüngliche Zustand historisch verteidigt wurde. Das Schicksal dieser Anschauunen war schon wegen ihres engen Zusammenhanges mit den jeweiligen örtlichen politischen Verhältnissen durch den Zusammenbruch der letzteren besiegelt. Dagegen übt de modern historische Schule noch heute einen nachhaltigen Einfluß aus. Diese Schule steht im Zusammenhang mit der HEGEL'schen Rechtsphilosophie. Ausgehend von der Identität des Wirklichen und Vernünftigen - Vorrede zur Rechtsphilosophie Seite 17 -, sowie von der Auffassung des Vernünftigen als eines den Erscheinungen zugrunde liegenden logischen Prozesses, erblickt HEGEL die Aufgabe der Rechtsphilosophie darin, das Recht als etwas sich Entwickelndes, diese Entwicklung aber als einen mit logischer Notwendigkeit sich vollziehenden Prozeß gedacht, darzustellen. Was für HEGEL der logische Prozeß ist, das erscheint bei SAVIGNY als der "organische Zusammenhang" der aufeinander folgenden Rechtsbildungen. Weder Zufall nocht Willkür, noch die jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse können das Recht erzeugen, sondern dieses entwickelt sich analog der Sprache selbständig im Bewußtsein des Volkes oder seiner als Träger der Rechtsbildung berufenen Vertreter, der Juristen. Das Recht befindet sich zwar in stetem Fluß, aber diese Bewegung ist eine Vervollkommnung, deren Keim das Recht selbst in sich birgt. Das Wesen der Rechtsentwicklung liegt daher einerseits in ihrer Notwendigkeit, andererseits aber in der Gleichstellung dieser Notwendigkeit nicht mit einer bloßen Tatsächlichkeit, sondern mit dem Vernunftgesetz. Dieser Auffassung entspricht es dann auch, daß gerade SAVIGNY an den oben wiedergegebenen aprioristischen Auslegungsregeln festhält - System, Bd. I, Seite 42f - und daß er dabei die konkrete Zweckmäßigkeit erst an letzter Stelle berücksichtigt.


- Vergleichende Rechtswissenschaft -

Solange die europäische Kultur in der Überzeugung von ihrer einzigen Vollkommenheit die Weltanschauung anderer Völker nach der mehr oder weniger genauen Übereinstimmung mit den eigenen Anschauungen zu bewerten gewohnt war, solange konnte für sie auch die Rechtsanschauungen fremder Völker nur als beklagenswerte Mißbildungen in Betracht kommen. Nachdem aber die Altertums- und Völkerforschung den Beweis erbracht haben, daß gerade diejeningen Bestandteile unserer Kultur, mit denen man sich besonders zu brüsten pflegte, keineswegs autochthon [einheimisch - wp], sondern von anderen Völkern übernommen sind, seitdem ist auch das Studium des Rechtslebens fremder Völker eine wichtige Aufgabe geworden. Wenn die Hirtenvölker des Himalaya in Vielmännerei leben, andererseits aber wieder ganze Völkergruppen an der Vielweiberei festhalten, so sind das nicht etwa "moralische Verirrungen", sondern es sind soziale Erscheinungen, welche mit den sonstigen Verhältnissen der betreffenden Völker eng zusammenhängen, und es ist sehr wohl erklärlich, daß die Bewohner unfruchtbarer Ländereigebiete nicht nur an der Vielmännerei festhalten, sondern daß sie auch durch andere Mittel wie künstliche Herbeiführung von Fehlgeburten und Kindertötung die Bevölkerungszahl unter einem bestimmten Niveau zu halten bestrebt sind. Allerdings ist das Material bei der Kürze der Zeit noch beschränkt, aber nicht in der Fülle des Stoffes liegt das Wesentliche, sondern darin, daß die Rechtsphilosophie statt aus aprioristischen Begriffen aus konkreten Erscheinungen das Wesen des Rechts begründet.

Der Begründer der vergleichenden Rechtswissenschaft ist ALBERT HERMANN POST (6), ihr bekanntester Vertreter der Gegenwart KOHLER (7). Nach POST dürfen die Rechtsbildungen nicht in nationaler Begrenzung betrachtet werden. Darin liegt sein prinzipieller Gegensatz zur historischen Methode, während er sich von STAMMLER beispielsweise dadurch unterscheidet, daß er das Recht nicht als eine transzendentale Voraussetzung der Gesellschaft, sondern als ein gesellschaftliches Erzeugnis ansieht. Das Recht muß möglichst bis in die ursprünglichsten ethnologischen Bildungen verfolgt und es muß der inhaltliche Zusammenhang der Rechtsbildungen mit den Daseinsbedingungen der Völkerschaften erforscht werden. Darin erblickt die vergleichende Rechtswissenschaft die Aufgabe der Rechtsphilosophie.


§ 5. Gesetzgebung
- Erhebung tatsächlicher Zustände
zu Rechtszuständen -

In der Gesetzgebung können induktive Rechtsbildungen in doppelter Weise entstehen: Entweder kann der Gesetzgeber tatsächliche Zustände als solche zu Rechtszuständen erheben, oder er kann durch Kombination geradezu Rechtssätze bilden.

Unter der ersten Art haben stets Ersitzung und Besitz besondere Bedeutung beansprucht. Die erstere bringt den induktiven Grundgedanken besonders plastisch zum Ausdruck, weil sie sich erst allmählich aus einem rechtsbeweisenden zu einem rechtsbegründenden Institut entwickelt hat. Darin liegt auch der Grund, weshalb sie hier dem Besitz vorangestellt wird.

Bei den Römern diente die Ersitzung zunächst lediglich dazu, dem wahren Eigentümer den schwierigen Eigentumsbeweis zu erleichtern. Wer ein Grundstück zwei Jahre lang, oder wer eine bewegliche Sache ein Jahr lang in Besitz gehabt hatte und während dieser sich in gutem Glauben für den Eigentümer gehalten hatte, der konnte die Klagerechte des wahren Eigentümers ausüben. Diese Bestimmung war besonders geeignet, die umständlichen altrömischen Eigentumsübertragungen durch einfachere Formen zu ersetzen. Die Juristen nahmen daher die Fortbildung in die Hand, indem sie zunächst die Rechtsfrage nach der notwendigen Dauer des guten Glaubens aufwarfen und diese Frage mit dem Satz "mala fides superveniens non nocet" [schlechter Glaube, der sich nachträglich einstellt, schadet nicht - wp] in dem Sinne entschieden, daß es genügt, wenn der gute Glaube beim Besitzerwerb vorhanden ist und daß es der Ersitzung nicht entgegensteht, wenn der Besitzer etwa nachher zu der Überzeugung kommt, daß er nicht der Eigentümer ist. Damit war der erste Schritt zur Anerkennung der Ersitzung als eines rechtsbildenden Institutes getan und damit wurde sie dann weiter ein sehr gebräuchliches Mittel, Eigentum zu erwerben, ja selbst bürgerliche Ehen zu schließen, indem der Mann die Frau ein Jahr lang in seinem Haus behielt.

Das preußische Recht behandelte die Ersitzung als "erwerbende Verjährung" im Zusammenhang mit der erlöschenden Verjährung, welche lediglich die Vermutung bewirkte, daß die ehemals entstandene Verbindlichkeit auf die eine oder andere Weise gehoben ist. Die erwerbende Verjährung galt zwar als rechtsbegründendes Institut, aber im Gegensatz zum römischen Recht mußte der Besitzer während der ganzen Dauer der Ersitzung bona fide [in gutem Glauben - wp] sein. Dabei kam der Gesetzgeber dem Verkehrsbedürfnis, welches das entscheidende Gewicht natürlich auf die bloße Tatsache des Besitzes legte, wieder entgegen, indem er den Beweis des bösen Glaubens erschwerte und außergerichtlichen Erklärungen des Gegners überhaupt eine Bedeutung versagte. Aber nun nahmen Wissenschaft und Praxis die Sache in die Hand und bildeten dadurch, daß sie die zerstreuten kasuistischen Bestimmungen des Gesetzes miteinander verbanden und möglichst immer zu Ungunsten des Prinzips, welches auf den guten Glauben Gewicht legte, auslegten, das ganze Institut im modernen Sinne aus. Der § 107 a. a. O., wonach derjenige, der etwas tut oder sich gefallen läßt, was ihm nachteilig ist oder zur Einschränkung seiner Rechte gereicht, die Vermutung gegen sich haben soll, daß er sich für verpflichtet hält, wurde herangezogen, um denjenigen, der eine Grundgerechtigkeit ersessen zu haben behauptete, von dem ihm nach § 11 a. a. O. obliegenden Beweis, daß er die Grundgerechtigkeit tatsächlich als sein Recht und nicht vermöge einer Vergünstigung in Besitz genommen und ausgeübt hat, zu befreien (8). Das Obertribunal nahm an, daß der durch die einmalige Ausübung fehlerfrei erworbene Besitz nicht dadurch verloren geht, daß er bittweise fortgesetzt wird, alles Umstände, durch welche das psychologische Moment des guten Glaubens eingeschränkt und der Schwerpunt in das bloß tatsächliche Moment der Besitzausübung verschoben wurde.

Das französische Recht - Code civil Art. 2219 - bezeichnet die Verjährung als ein Mittel, um durch den Ablauf einer gewissen Zeitfrist unter den im Gesetz festgelegten Bedingungen etwas zu erwerben oder sich zu befreien. Die hier und im preußischen Recht anerkannte Rechtsentwicklung nach der Richtung einer ausschließlichen Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse ist im Bürgerlichen Gesetzbuch zum vorläufigen Abschluß gelangt. Anspruchsverjährung und Ersitzung beruhen hier auf dem gemeinsamen Grundgedanken, daß tatsächliche Zustände allein vermöge ihres längere Zeit unangefochtenen Bestehens als Rechtszustände anerkannt werden. Guter Glaube auf Seiten desjenigen, zu dessen Gunsten die Anspruchsverjährung erfolgt, ist nicht erforderlich. Dem Ersitzenden steht zwar die Einrede der mala fides [böser Glaube - wp] entgegen, aber die gegenteilige Entwicklungstendenz des Gesetzes kommt deutlich darin zum Ausdruck, daß die Bestimmung des ersten Entwurfes, von den dem Eigentumserwerb entgegenstehenden Umständen die Ersitzung hindert, gestrichen und die Einrede auf die positive Kenntnis von einem Rechtsmangel beschränkt ist. Die rechtsbildende Kraft der tatsächlichen Zustände ist ferner damit, daß die Ersitzung unter den Erwerbsarten des Eigentums an beweglichen Sachen ausgeführt ist, unzweideutig anerkennt. Allerdings kennt das moderne Recht eine Ersitzung unbeweglicher Sachen nicht, aber das hängt einerseits mit dem Grundbuchsystem zusammen, während andererseits der Umstand, daß der Inhalt des Grundbuches ohne Rücksicht auf das materielle Recht für jeden gutgläubigen Dritten als der wahre Rechtszustand gilt - § 892 des BGB - ein weiteres Symptom für die Abhängigkeit der Rechtszustände von den tatsächlichen Zuständen darstellt. -

Der tatsächliche Zustand, welcher in der Ersitzung zum Rechtszustand des Eigentums erhoben wird, ist der Besitz. Umkleidet nun der Gesetzgeber den letzteren schon ansich mit rechtlichen Wirkungen und läßt sich der Nachweis erbringen, daß dies im Laufe der Zeit in erhöhtem Maße geschieht, so ist damit ein weiteres Moment dafür erbracht, daß die Rechtsentwicklung durch die tatsächlichen Zustände bestimmt wird und nicht umgekehrt.

Die ersten Spuren eines rechtlichen Schutzes tatsächlicher Verhältnisse ohne Rücksicht auf ihre "Berechtigung" liegen in den Prätorischen Interdikten. Wurde über das Eigentum an einer Sache gestritten, so erforderte schon die öffentliche Ordnung, daß zunächst für die Dauer des Rechtsstreites ein Zustand als der provisorisch berechtigte anerkannt wurde. Ähnlich wie in solchen Fällen heute das Prozeßgericht einstweilige Verfügungen erlassen kann, konnte auch der römische Prätor den Zustand provisorisch ordnen, indem er der einen oder anderen Partei den Besitz des Streitgegenstandes überwies. Aufgrund dieser Anordnung konnte nun dieser Besitz gefordert oder die Herausgabe einer Sache verweigert werden. Es war also bereits ein tatsächlicher Zustand, wenn auch nur provisorisch zum Rechtszustand erhoben, zumal der Prätor demjenigen in erster Linie den Besitz zu belassen pflegte, welcher ihn bereits eine Zeitlang geübt hatte. Im Anschluß hieran entstanden später die sogenannten possessorischen Rechtsmittel, d. h. Prozesse, in welchen lediglich um den Besitz gestritten wurde, welche aber die Eigentumsklage in der Praxis verdrängten, weil sie schneller zum Ziel führten.

Das Bürgerliche Gesetzbuch steht im Wesentlichen auf dem Boden des bisherigen Rechts, bringt aber den Grundgedanken: "Wer hat, muß vorab geschützt werden" möglicherweise noch schärfer zum Ausdruck. Im Gegensatz zum ersten Entwurf - § 797 -, welcher zum Besitzerwerb den Besitzwillen, d. h. den Willen, die Sache als die seinige zu haben, erforderte, wird nach § 854 des Gesetzes der Besitz einer Sache durch die bloße Erlangung der tatsächlichen Gewalt über dieser erworben. Der Besitzer darf sich durch Selbsthilfe in seinem Besitz behaupten und der Beklagte kann sich der Besitzklage gegenüber nicht auf sein Eigentum berufen. Von besonderer Bedeutung ist die Vererblichkeit des Besitzes und der Grundsatz des § 1006, Abs. 1, wonach für den Besitzer einer beweglichen Sache die Vermittlung gilt, daß er Eigentümer der Sache ist. Die mit dieser Vermutung verbundene Verschiebung der Beweislast ist überall im modernen Recht ein typisches Symptom neuer Rechtsbildungen zugunsten desjenigen, welcher von der Beweislast befreit wird.

Die rechtsbildende Kraft der Tatsachen tritt weiter hervor, wo Zustände rechtlich anerkannt werden, deren Entstehung vom Gesetzgeber mißbilligt wird. So verneint der Gesetzgeber grundsätzlich die Rechtsverbindlichkeit der Spielschulden - BGB § 762 - und der Schuld aus dem Ehemäklervertrag - § 656 Satz 1 -. Ist aber einmal eine Zahlung erfolgt, so kann das Geleistete nicht unter Berufung auf die Rechtsunverbindlichkeit des Vertrages zurückgefordert werden. Bezeichnenderweise werden derartige Bestimmungen gerade mit dem Hinweis auf das "Interesse der Rechtssicherheit" gerechtfertigt. Hier gilt also als "Rechtssicherheit", was in seiner Entstehung eine Rechtsunsicherheit war.

In einzelnen Fällen beurteilt der Gesetzgeber "nach den Umständen", nach "billigem Ermessen" oder nach "Ortsgebrauch", ob und in welchem Umfang überhaupt Ansprüche entstanden sind. So sind Kinder unter sieben Jahren und Geisteskranke für den von ihnen verursachten Schaden ansich nicht verantwortlich - BGB § 827f -. Sie sollen aber, falls der Ersatz nicht von einem aufsichtspflichten Dritten erlangt werden kann, den Schaden insoweit ersetzen, als die "Billigkeit nach den Umständen", insbesondere "nach den Verhältnissen der Beteiligten" eine Schadloshaltung erfordert und dem Beschädiger nicht die notwendigen Unterhaltsmittel entzogen werden. Eine von einem regelmäßigen Verfahren abweichende Art des Pfandverkaufs kann verlangt werden, wenn sie "nach billigem Ermessen" den Interessen der Beteiligten entspricht - BGB § 1246 -. Der Handlungsgehilfe hat, im Mangel besonderer Vereinbarungen, die "dem Ortsgebrauch entsprechenden Dienste" zu leisten, sowie die "dem Ortsgebrauch entsprechende Vergütung" zu beanspruchen; die Verhängung von Disziplinarstrafen, welche "das Ehrgefühl oder die guten Sitten verletzen", ist gegenüber dem Lehrling unzulässig, u. a.

Zu den Anerkennungen tatsächlicher Zustände als Rechtszustände, lediglich um ihrer Tatsächlichkeit willen, sind endlich auch diejenigen Fälle zu zählen, wo der Gesetzgeber innerhalb ein und derselben Rechtsbildung den rechtlichen Schwerpunkt auf die in die physische Erscheinung tretenden Elemente verschiebt.

So galt nach gemeinem Recht die Regel "periculum est emtoris". Ging also eine verkaufte Sache vor der Übergabe zugrunde, so traf der Schaden den Käufer. War hier für den Gefahrübergang das psychisches Moment der Willensübereinstimmung entscheidend, so verlegte das BGB § 446, Abs. 1, Satz 1 im Anschluß an das Preußische Recht - den Schwerpunkt des eigentlichen Rechtsgeschäfts in den physischen Akt der Übergabe. Bis zu dieser bleibt heute die Gefahr beim Verkäufer, und im Gegensatz zum gemeinen Recht verliert dieser den Anspruch auf den Kaufpreis, wenn die verkaufte Sache vor der Übergabe ohne Verschulden des Käufers zugrunde geht - BGB § 323 Abs. 1 -. Dieser Satz steht aber nicht für sich allein; der ihm zugrunde liegende Gedanke, daß die nach dem Vertragsschluß ohne Verschulden des Berechtigten eingetretene Unmöglichkeit der Leistung zu Lasten des Verpflichteten geht, ist in der angezogenen Bestimmung zum Grundprinzip für alle gegenseitigen Verträge erhoben.

In seinem Grundgedanken, nämlich in der gesteigerten Bewertung des konkreten physischen Aktes, kommt er ferner in dem Standpunkt zum Ausdruck, welchen das BGB in der Unterscheidung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäften einnimmt.

Ein Kaufvertrag kommt dadurch zustande, daß der eine, der Verkäufer sich verpflichtet, dem anderen, dem Käufer, eine bestimmte Sache zu übertragen, während der Käufer dafür dem Verkäufer einen bestimmten Preis zu zahlen hat. Soll die Eigentumsübertragung ohne Gegenleistung erfolgen, so liegt eine Schenkung vor; soll sie zwar gegen Entgelt, aber nur zum vorübergehenden Gebrauch erfolgen, so nennt man das Vertragsverhältnis Miete. Mit dieser Willenseinigung ist der rechtliche Vorgang zunächst abgeschlossen, nicht der wirtschaftliche. Wirtschaftlich ist die Willenseinigung ansich bedeutungslos; hier kommt es darauf an, ob die beabsichtigte Änderung in der Vermögenslage auch erfolgt, ob das Eigentum tatsächlich übertragen, ob die Verpflichtung erfüllt wird. Damit ist der Standpunkt des Rechts zunächst festgelegt: Die Erfüllung ist vom Gesichtspunkt des unterliegenden Vertrages zu beurteilen; Eigentum kann nur übertragen werden, wenn ein rechtsgültiger Vertrag vorhanden ist. Das ist die alte Lehre vom modus acquirendi und dem Erwerbstitel. Das Recht kann aber auch der wirtschaftlichen Seite folgen: Es kann den physischen Übertragungsakt unter Loslösung vom Vertrag zu einem selbständigen Rechtsgeschäft erheben, während gleichzeitig der obligatorische Vertrag zu einem Motiv des ersteren herabgedrückt wird. Dies ist der Standpunkt des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Die Vornahme eines solchen dinglichen Übertragungsaktes, nämlich bei beweglichen Sachen die Übergabe, bei umbeweglichen die an die Stelle der Übergabe getretene Eintragungsbewilligung, faß das BGB unter der technischen Bezeichung der "Verfügung" zusammen. Diese "Verfügung" begrenzt dann wieder im ehelichen Güterrecht die vermögensrechtliche Sphäre des Ehegatten, indem die Frau sich zwar im Gegensatz zum früheren Recht durch Verträge verpflichten kann, nicht aber berechtigt ist, eingebrachtes Gut durch eine "Verfügung" der Verwaltung und Nutznießung des Mannes zu entziehen.

Es sind dies alles Fälle, in denen der Gesetzgeber konkrete tatsächliche Zustände zu Rechtszuständen erhoben oder ihre bereits anerkannte rechtliche Bedeutung erhöht hat. Ihnen zur Seite steht die


§ 6. Induktive Bildung von Rechtsnormen

An induktiv entstandenen Rechtsnormen ist das Gesetzesmaterial besonders reich. Man muß auch hier zwei Kategorien unterscheiden, nämlich einmal die Niederlegung einer bereits vorhandenen tatsächlichen Übung in einen Gesetzessatz, sodann die Bildung allgemeiner Rechtssätze aus bereits vorhandenen Einzelbestimmungen, teils durch Abstraktion aus solchen, teils durch unmittelbare Verallgemeinerung der für einen besonderen Fall gegebenen Bestimmung.

Daß bei der ersten Art dieser Rechtsbildungen das Handelsrecht eine führende Stellung einnimmt, erklärt sich aus der Bedeutung des wirtschaftlichen Verkehrs überhaupt. Grundlegende Bestimmungen des modernen bürgerlichen Rechts sind im unmittelbaren Anshluß an bereits bestehende Handelsgebräuche vom Handelsrecht ausgebildet und von hier weiter in das Bürgerliche Gesetzbuch übernommen. Als Beispiel für diesen noch fortdauernde rechtsbildende Kraft des Handelsrechts sei u. a. auf die wichtige Bestimmung über den Spezifikationskauf hingewiesen, durch welche bei Säumigkeit des Käufers in der näheren Bezeichnung der von ihm nur allgemein bestellten Waren (10 kg Nägel; 100 Sack Körnerfrucht) das Auswahlrecht auf den Verkäufer übergeleitet wird, eine Rechtsanschauung, welche, wie - Reichsgerichtsentscheidungen, Bd. 37, Seite 24f - des Näheren dargelegt, schon innerhalb des früheren Rechts ohne eine gesetzliche Bestimmung im Interesse eines gesicherten Handelsverkehrs anerkannt wurde, welche aber erst im § 375 des neuen Handelsgesetzbuches einen gesetzlichen Ausdruck gefunden hat. Die gleiche Entstehung aus der Praxis wird für den § 171 des Handelsgesetzbuches über die unmittelbare Haftung des Kommanditisten auf Höhe seiner nicht geleisteten Einlage gegenüber den Gesellschaftsgläubigern durch die Bd. 51, Seite 33f abgedruckte Entscheidung desselben Gerichtshofes bezeugt.

Neben dem Handelsrecht mag ebenfalls beispielsweise auf das Vorbehaltsurteil des § 302 der Zivilprozeßordnung vom 17. Mai 1898, sowie auf den § 330 des BGB über den unmittelbaren Rechtserwerb des Versicherten und Abfindungsberechtigten aus Lebensversicherungen und Gutsübertragungen hingewiesen werden. Hatte der Beklagte der erwiesenen Klageforderung eine Gegenforderung aufrechnungsweise entgegengesetzt, welche mit jener nicht in einem rechtlichen Zusammenhang stand, so konnte, falls die letztere noch nicht zur Entscheidung reif war, schon nach der Zivilprozeßordnung vom 30. Januar 1877 über die Klageforderung vorab entschieden werden; streitig blieb aber, ob dieses Urteil endgültig war, oder ob der Rechtsstreit in der Weise anhängig bliebt, daß der Kläger, falls die Gegenforderung nachher erwiesen wurde, in demselben Verfahren zur Rückzahlung der beigetriebenen Beträge verurteilt werden konnte. In der Praxis wurde letzteres angenommen und die neue Gesetzgebung hat diese Anschauung im jetzigen § 302 der Zivilprozeßordnung zum Gesetz erhoben.

In folgerichtiger Durchführung des Grundsatzes, daß aus Verträgen Rechte nur für die vertragschließenden Personen selbst entstehen können, hatte das Recht dritten Personen, zu deren Gunsten Verträge geschlossen waren, unmittelbare Klagerechte versagt. Aber damit wurde man den Vertragszwecken, vor allem bei Lebensversicherungen und bei Verträgen, durch welche ganz Vermögen unter Festlegung von Renten für unabgefundene Verwandte übertragen wurden, nicht gerecht. In solchen Fällen gewährte daher die Praxis dem Dritten mit Hilfe der Konstruktion seiner Vertretung durch die Vertragschließenden ein unmittelbares Klagerecht. Diesen tatsächlichen Zustand hat das Bürgerliche Gesetzbuch gesetzlich anerkannt.

Auch die nach BGB §§ 322,274 zulässige Verurteilung des Beklagten zur Erfüllung Zug um Zug bei gegenseitigen Verträgen ist nichts als ein Niederschlag der damaligen Praxis, und endlich ist auch die moderne Grundschuld, d. h. eine Belastung des Grundstücks ohne gleichzeitige persönliche Haftung des Eigentümers - BGB § 1191 - nur eine Konsequenz des tatsächlichen Zustandes, daß der Realgläubiger regelmäßig nur auf die Sicherheit des Pfandobjekts Gewicht legt. Daß übrigens auch die Hypothek auf dem besten Weg ist, sich zu einer bloßen Realschuld auszubilden, ergibt ihre moderne Gestaltung in der Eigentümerhypothek, bei welcher entgegen dem für persönliche Schuldverbindlichkeiten geltenden Grundsatz, daß durch eine Vereinigung von Gläubiger und Schuldner in einer Person die Verbindlichkeit erlischt, der Eigentümer, welcher die Forderung bezahlt, sein eigener Hypothekargläubiger wird und die Hypothek nur erlischt, wenn die Befriedigung des Gläubigers im Weg der Zwangsvollstreckung aus dem belasteten Grundstück erfolgt.

Zur zweiten Kategorie, den durch Abstraktion entstandenen Rechtsbildungen gehören schon die Rechtsbegriffe der Person und Sache. Denn man kann sich die Rechtsentwicklung nur so denken, daß zunächst bestimmte Individuen in Beziehung zu bestimmten Gegenständen rechtlich geschützt wurden und daß erst allmählich durch unwillkürliche Abstraktion für den Träger eines Rechts der Personenbegriff und für den Gegenstand seines Rechts der allgemeine Sachbegriff entstand. Diese Abstraktion, deren abgeschlossenes Ergebnis uns hier vorliegt, läßt sich nun bei den Schuldverhältnissen als ein noch in der Entwicklung begriffener Vorgang nachweisen.

Auch die Schuldverhältnisse dienen nämlich konkreten Zwecken. Diese konkreten Zwecke sind in der Form des "Schuldgrundes" zunächst Bestandteile des Schuldverhältnisses selbst. Ich kann mich verpflichten, einem anderen eine bestimmte Summe zu zahlen, weil ich das Eigentum an einer Sache erwerben will, sei es, daß diese Sache bereits vorhanden ist - Kauf -, sei es, daß der andere sie zunächst herstellen muß - Werkvertrag -. Ich kann mich weiter zur Zahlung verpflichten, weil ich eine fremde Sache eine Zeitlang gebrauchen will - Miete - oder umgekehrt, weil ich für meine Sachen keinen Platz habe und deshalb vorziehe, sie bei einem anderen niederzulegen - Verwahrung -. In all diesen Fällen bin ich verpflichtet, weil ich einen bestimmten Verpflichtungsgrund hatte. Das Verpflichtungsverhältnis wird durch die "causa obligationis" bestimmt. Von diesem Verpflichtungsgrund ist bereits oben die Rede gewesen, aber nur für das Verhältnis des Vertrages zu seiner Erfüllung: Hier kommt es darauf an, die Mannigfaltigkeit der einzelnen Rechtsgeschäfte nach der Art ihres Verpflichtungsgrundes hervorzuheben.

Alle diese Rechtsgeschäfte haben das Gemeinsame, daß der Erklärende sich überhaupt aus einem Schuldgrund verpflichtet, und wie das Recht von einzelnen individuell bestimmten Menschen zur Person ansich und von den Sachindividuen zur Sache ansich fortgeschritten ist, so kann es sich auch von einzelnen bestimmten Verpflichtungsgründen zum Verpflichtungsgrund ansich durcharbeiten. Diesen Schritt hat nun das BGB im Anschluß an die Doktrin und einige Partikulargesetzgebungen getan. Nach § 780 des BGB kann eine Leistung in der Weise gültig gesprochen werden, daß das Versprechen selbst die Verpflichtung begründet, und während die Schuldanerkenntnis vordem nur Beweismittel für eine bestimmte Schuld sein konnte, kann nunmher durch eine Schuldanerkenntnis eine von einem anderen Schuldgrund unabhängige Verbindlichkeit begründet werden. Hier liegen offenbar induktive Rechtsbildungen vor. Man darf dieselben auch nicht etwa als eine Erweiterung der Wechselrecht anerkannten Skripturobligation auffassen. Wohl ist auch der Wechsel eine Rechtsbildung des abstrahierenden Geistes, aber bei diesem hat die Schriftform eine ganz andere Bedeutung wie beim sogenannten abstrakten Schuldversprechen. Denn dort ist die Verbindlichkeit an das vorhandene Schriftstück gebunden; hier aber soll die Schriftform ähnlich wie bei Veräußerungsverträgen über Liegenschaften - BGB § 313 - nur die Ernsthaftigkeit des Verpflichtungswillens gewährleisten. Die Verbindlichkeit bleibt daher bestehen, auch wenn das Schriftstück abhanden gekommen ist, sofern nur der Beweis für die schriftliche Abgabe der Erklärung erbracht wird, während der Wechsel grundsätzlich im Original präsentiert werden muß.

Ähnlich erklären sich die Vorschriften des BGB über Rücktritt - §§ 346f -. Das frühere Recht kannte allgemeine Vorschriften über die Aufhebung von Schuldverhältnissen durch Rücktritt nicht, sondern behandelte den Rücktritt bei den einzelnen Rechtsgeschäften, vorzugsweise beim Kauf. Das moderne Recht hat dagegen unter Herausschälung des Allgemeinen aus diesen Einzelbestimmungen in den allgemeinen Teil der Schuldverhältnisse einen besonderen Titel über den vertragsmäßigen Rücktritt eingefügt. Dieser Titel findet schon wegen seiner Stellung im System auf alle Vertragsverhältnisse Anwendung, hat aber dadurch noch eine allgemeinere Bedeutung erlangt, daß seine Vorschriften mehrfach auch auf das gesetzliche Rücktrittsrecht angewendet werden.

Endlich noch ein Beispiel für die Verallgemeinerung einzelner Bestimmungen durch die Erweiterung ihres Anwendungsgebietes.

Das Handelsgesetzbuch alter Fassung enthielt im zweiten Titel des vierten Buches Vorschriften über den Handelskauf und darunter in den Artikeln 354 bis 356 die wichtige Bestimmung, daß bei Verzug eines Kontrahenten der andere Kontrahent das Recht hat, vom Vertrag zurückzutreten oder Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu fordern unter der Voraussetzung, daß er dem säumigen Kontrahenten seine Absicht angezeigt und ihm dabei noch eine angemessene Frist zur Nachholung des Versäumten gewährt hatte. Das BGB hat diese Bestimmung unter die allgemeinen Vorschriften über gegenseitige Verträge aufgenommen - §§ 320f -, ihr Anwendungsgebiet sogar darüber hinaus auf rechtskräftig zuerkannte Leistungsansprüche überhaupt erweitert - § 283 - und damit ein äußerst praktisches Mittel gewonnen, um vertragsmäßige Leistungsansprüche überzuleiten.
LITERATUR Alfred Bozi, Untersuchungen über die Prinzipien des Rechts, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 5, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    1) FRIEDRICH JULIUS STAHL, Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, Heidelberg 1830.
    2) AHRENS, Naturrecht I, Seite 1
    3) KANT, Grundlagen der Moral § 17.
    4) STAMMLER, Die Lehre vom richtigen Recht, 1902
    5) vgl. hierzu KANTs "Kritik der reinen Vernunft", Einleitung Seite 26 (Ausgabe ERDMANN).
    6) POST, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis, Oldenburg 1880.
    7) KOHLER, Rechtsphilosophie und Universalgeschichte in von HOLTZENDORFFs "Enzyklopädie". Dort sind auch die anderen Schriften KOHLERs und die sonstige Literatu angeführt. Vgl. auch WOLTMANs Politische Anthropologie.
    8) REHBEIN und REINCKE, Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, Anm. 2 zu § 11.