ra-2ra-1von KirchmannLazarsfeldH. KrabbeSchubert-Soldern    
 
JULIUS BAHNSEN
(1830-1881)
Ist eine Rechtsphilosophie
überhaupt möglich?


"Mit ihrer Darstellung des weltgeschichtlichen Prozesses hatte es die Hegel'sche Rechtsphilosophie eigentlich nicht weiter gebracht als die euklidische Mathematik mit ihren geometrischen Beweisen: es war wohl das Daß aufgezeigt, aber nicht das Warum: man sah zwar, wie unter einer Glasglocke, das Uhrwerk gehen, aber die eigentliche treibende Feder entzog sich immer noch den Blicken; der Antagonismus der Räder war zwar sichtbar, aber darum noch nicht begreiflich gemacht, solange man sich der einzig richtigen Erkenntnis verschloß, daß tief im Innersten des Gesamtgetriebes ein allein alle Kraft und alles Leben verleihender Wille steckt."

"Vom Unrecht muß man ausgehen - das ist, wie jedes andere Übel und jeder Schmerz, ansich schon wesenhaft klar und unmittelbar verständlich - das Recht selber dagegen für sich ist so wenig rein darstellbar wie gewisse chemische Elemente."

"Gibt es überhaupt eine (absolute) Ethik oder nur gewisse wechselnde evolutionistische Gebilde von transitorischer Geltung, die sich heute partiell anerkannt werden und morgen vor dem minder naiven Bewußtsein bereits als veralteter, abgetaner Wahn darstellen, wie sie vor Jahrtausenden und noch jetzt bei ganzen Rassen nicht einmal ahnungsweise erfaßt waren? Ist, was gegenwärtig noch für ein integrierendes Moment der Normen ethischer Bemessung gilt, nur ein Residuum überwundener Phasen, welches uns in noch unbesiegte Vorurteile bannt?"

"Die Philosophie maße sich also hinfort nicht mehr an, alles in vorher fertig gestellte und parat gehaltene Schemata zwängen und nach dem Rahmen abstrakt logischer Begriffsnetze konstruieren zu wollen - sie macht keine unerfüllbaren Versprechungen mehr von simpler, einheitlicher oder gar exakter und korrekter Unterbringung (Subsumtion) und Ableitung (Deduktion) aller denkbaren oder empirisch irgendwo und irgendwann gegebenen Details."

Seitdem man die Grundgedanken der darwinistischen Entwicklungstheorie auch auf das ethische Gebiet übertragen hat, hat sich auch hier die Tatsache ereignet, daß historische Forschungen zunächst auf kritische und damit bald auch auf skeptische Wege führen. Und seitdem so die naturwissenschaftliche Methode auf Disziplinen angewandt wird, welche bis dahin für außerphysikalische gegolten haben, hat sich auch hier der Warnungsruf verbreitet: "Noch kommt Euer Bündnis mit der Philosophie zu früh!"

Damit wäre dann die Philosophie ihrerseits angewiesen, einstweilen die Hände in den Schoß zu legen und erst die "Resultate" weiterer - je nachdem experimentierender oder "vergleichender" - Untersuchungen abzuwarten, und höchstens auf ihrem allereigensten Feld, als wofür augenblicklich fast ausschließlich nur noch die Erkenntnistheorie angesehen wird, wäre es ihr gestattet, ohne Furcht vor Einspruch von dieser oder jener Seite fortzuarbeiten.

Allein so ein Stillsitzen entspricht sehr wenig dem Wesen, d. h. dem Lebensdrang, dieser unmittelbar vom metaphysischen Bedürfnis vorwärts getriebenen Geistestätigkeit. Ihrer selbstherrlichen Stellung geziemt es gar wenig, ihre Fortschritt abhängig zu machen von der zufälligen Beschäftigung ihrer Gehilfen und sich zum Nichtstun verurteilen zu lassen, bis es diesen gefällig sein wird, ihr neues Material empirisch ermittelter  species facti  [Tathergang - wp] zu unterbreiten. Und auf die Dauer ist es diesen selber auch nicht mehr recht geheuer bei dem Bewußtsein, für noch längere Zeit der Leitung durch die vielseitiger erfahrende Mutter aller eigentlich wissenschaftlichen Bestrebungen entbehren zu sollen.

Insbesondere ist, wie es scheint, über die Vertreter der Rechtskunde ein Gefühl davon gekommen, daß die rechte Klärung und Lichtung in der je länger je mehr voraussichtlich überwältigenden Fülle des sich allmählich ansammelnden geschichtlichen Stoffes von einer außerhalb der eigenen Zunft stehenden Kraft müsse beschafft werden. Denn man hat die Erfahrung machen können, daß die Befangenheit der eigentlichen Fachgelehrten hier in Einseitigkeiten abführt, welche so oder so das Ziel allgemeingültiger Formulierungen mehr verhüllen als erhellen. Was dabei Bankrott machte, war also auch hier wieder jene bloß verallgemeinernde Abstraktion, die auf dem Weg "des entleerenden Hinausdenkens" zu allumspannenden Begriffen zu gelangen hofft, etwas, was heutzutage im Bereich der Jurisprudenz nicht übel als die "räsonnierende" Methode bezeichnet wird.

Die Verlegenheit kann nur umso größer werden, je massenhafter mit der Ausdehnung des abgesuchten Terrains die heimgebrachte Jagdbeute anwachsen muß. Da häuft sich das scheinbar Unvereinbare mehr und mehr, und es wird schon bald nicht mehr möglich scheinen, in dieses Gewirr von Widersprüchen noch irgendeinen gemeinschaftlichen positiven Gedanken hineinzutragen. Es half schon jetzt nicht, daß man sich mit immer vageren Merkmalen begnügte: jede neue Entdeckung sprengte wieder das kaum gestaltete Gefäß, und man mochte es anfangen wie man wollte: jeder jüngere Definitionsversuch scheiterte noch kläglicher als seine Vorgänge - eine Wahrnehmung, welche für das Detail der Jurisprudenz selbst schon anerkannt ist von BEKKER, wo dieser ausführt, daß sich auch gerade vermöge der Vergrößerung des Materials da die Übergänge immer unmerklicher gestalten und so die Fixierung von Artbegriffen immer schwerer fällt, um zuletzt vollends unmöglich zu werden.

Hatte somit auch der historische Vergleich nicht die Rettung gebracht, welche frühere Generationen von der Spekulation vergeblich gehofft hatten, so mag die zweifelnde Frage berechtigt erscheinen, ob denn überhaupt die Möglichkeit einer Rechtsphilosophie vorhanden ist oder ob vielmehr die Bedingungen, sie es auf Seiten des Gegenstandes, sei es auf der der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt, so beschaffen sein, daß auf eine philosophische Bewältigung der von der Rechtsgeschichte gestellten Probleme verzichtet werden muß.

Jedenfalls wird sich so viel ergeben haben: auf dem Weg des bisher noch in allgemeiner Ausübung stehenden wissenschaftlichen Verfahrens läßt sich eine solche Zuversicht nicht fassen. Die vulgär logische Methode konnte und kann dieses an Widersprüchen so überreichen Stoffes ebensowenig mächtig werden wie der Antinomien des naturkundlichen Wissens, und was eine längst in Mißkredit geratene dialektische Behandlungsweise geleistet hat, war auch nicht dazu angetan, das Verständnis mittels Bestrahlung durch ein ruhiges Licht zu fördern - denn dieses Geflimmer hin und her zuckender Reflexe kann das Auge nur blenden und muß schon sehr bald die Sehkraft bis zur völligen Vernichtung abstumpfen.

Zwar rühmt man ja auch heute noch gern der HEGELschen Rechtsphilosophie nach, sie erst habe die Einsicht erschlossen in den Pendelschwung des historischen Werdegangs mit seiner Alternierung [Abwechslung - wp] von Förderung und Retardierung [Verzögerung - wp]. Allein sie hatte es mit ihrer Darstellung des weltgeschichtlichen "Prozesses" eigentlich nicht weiter gebracht als die euklidische Mathematik mit ihren geometrischen Beweisen: es war wohl das  Daß  aufgezeigt, aber nicht das  Warum:  man sah zwar, wie unter einer Glasglocke, das Uhrwerk gehen, aber die eigentliche treibende Feder entzog sich immer noch den Blicken; der Antagonismus der Räder war zwar sichtbar, aber darum noch nicht begreiflich gemacht, solange man sich der einzig richtigen Erkenntnis verschloß, daß tief im Innersten des Gesamtgetriebes ein allein alle Kraft und alles Leben verleihender Wille steckt.

Andererseits jedoch verhielt sich die dieser Erkenntnis zuführende Willensmetaphysik vermöge eines leicht zu durchschauenden Evolutionsgesetzes zunächst wieder spröde gegen alles Dialektische und beruhigte sich deshalb bis auf weiteres bei dem negativen Geständnis: die positive Grundlage des Rechtsbegriffs sei bei dessen privativem Gegenteil zu suchen: vom Unrecht müsse man ausgehen - das sei, wie jedes andere Übel und jeder Schmerz, ansich schon wesenhaft klar und unmittelbar verständlich - das Recht selber dagegen für sich ist so wenig rein darstellbar wie gewisse chemische Elemente.

Mit anderen Worten: die Aporien [Widersprüche - wp] des Rechtslebens gehören zu den ältensten und wirksamsten Faktoren für die Existenz einer Realdialektik, d. h. eben einer mit dialektischen Hebeln arbeitenden Willensmetaphysik, und die Realdialektik ihrerseits leitet einige ihrer fruchtbarsten Anschauungen auf Anregungen aus der Wahrnehmung gewisser "zweiseitiger" Rechtsverhältnisse ab und rechnet es sich zum speziellen Verdienst an, dem Bedingungsbegriff durch die Zurückführung auf seinen rechtshistorischen Ursprung erst zu seiner rechten wissenschaftlichen Würdigung und direkt metaphysischen Geltung verholfen zu haben, so daß immerhin einige Präsumtion dafür vorhanden ist, Recht und Realdialektik würden sich so leidlich zu vertragen wissen und miteinander nicht ganz so übel auskommen.

Was BACON von der Philosophie überhaupt sagt: daß Nippen an ihr vom Guten ab-, aus ihren Tiefen schöpfen dagegen zu diesem zurückführt, das nimmt die Realdialektik in einem ganz besonderen Sinn auch für sich in Anspruch. Denn während die Anderen in der Verzweiflung am halben Widerspruch dahin gebracht werden können, allen Glauben an ethische Mächte einfach aufzugeben, gewinnt sie in der Vollendung des ganzen Widerspruchs den dort gefährdeten Halt unversehrt zurück und wird sich nicht ohne Stolz einer solchen Mission im Dienst der erhaltenden Mächte bewußt. Keine Konsequenz des kritischen Anzweifelns braucht sie zu perhorreszieren [ablehnen - wp] - wahrt sich also den Besitz wissenschaftlicher Unbefangenheit wie nur irgendein "voraussetzungslos" die Meinungen abwägender Skeptizismus; aber sie ist im Voraus dessen sicher und gewiß, daß kein logisch noch so wuchtiger Ansturm kritischer Bedenken den Fundamenten ihrer Ethik irgendetwas anhaben kann.

Mag die "Phänomenalität des sittlichen Bewußtseins" noch so ätzender "Zersetzung ausgesetzt sein: der Realdialektik bleibt unverlierbar, was für die "Fortgeschrittensten" der Evolutionisten nur noch als "Überbleibsel" rückständiger Entwicklungsstufen ein Interesse hat. Denn als echte und aufrichtig gemeinte Willensmetaphysik kriecht sie, wie ich das bereits von zehn Jahren ausgedrückt habe, mit ihrem ethischen Gehalt nicht ins Mauseloch vor den Dekreten irgendeiner bloß intellektualistischen Doktrin - das Ethische ist ihr ein ebenso Unvernichtbares wie alles Andere von wahrhafter Willensnatur auch.

So erledigen sich ihr aus ihren metaphysischen Voraussetzungen die Vorfragen: gibt es überhaupt eine (absolute) Ethik oder nur gewisse wechselnde evolutionistische Gebilde von transitorischer [übergehender - wp] Geltung, die sich heute partiell anerkannt werden und morgen vor dem minder naiven Bewußtsein bereits als veralteter, abgetaner Wahn darstellen, wie sie vor Jahrtausenden und noch jetzt bei ganzen Rassen nicht einmal ahnungsweise erfaßt waren? Ist, was gegenwärtig noch für ein integrierendes Moment der Normen ethischer Bemessung gilt, nur ein Residuum überwundener Phasen, welches uns in noch unbesiegte Vorurteile bannt? haben wir es in den (wir sagen nicht imperativen, sondern nur: deskriptiven) Sätzen der Moral nur mit den Produkten einer logischen Konsequenz aus gewissen Prämissen zu tun, oder gibt es etwas im metaphysischen Wesen Urständiges, aus dessen realdialektischer Natur Herleitbares, was auch die Kernessenz aller ethischen Substanz ausmacht und mithin auch die Aussicht gewährt, dem Recht in irgendeiner Form eine wahrhaft allgemeingültige Bedeutung abzugewinnen?

Was will auch die Frage: ist die Tugend lehrbar? anders als diesen durch die Geschichte allen Denkens sich hindurchziehenden Gegensatz der Doppelantwort auf die psychologische Grundfrage zum Ausdruck bringen: ob das Wollen nur ein sekundäres Produkt der Intellektualfunktion oder vielmehr diese für die bloße Effloreszenz [Blüte - wp] derselben anzusehen sind?

In der Rechtsphilosophie gibt es ja auch eine Richtung, welche das Resultat fester Normen aus einem Ansatz statischer Elemente glaubt errechnen oder nach dem Schema logischer Formulierungen meint konstruieren zu können, wie der mathematisierende Physiker alle krafterfüllten Relationen in hohle Proportionen umsetzt; und das Fiasko, welches dabei herausgekommen ist, ist es ja vorzugsweise gewesen, was gerade die Fachjuristen - auch die, welche das metaphysische Bedürfnis in sich selber sich regen spürten - zur Verzweiflung an der Möglichkeit einer Rechtsphilosophie überhaupt führte. Vor ihrem vergleichenden Blick liegt hochgeschichtet nur der Schutt der Jahrhunderte, und was sie nicht darin zu gewahren wußten, war jener (Gedanken-) Keimansatz, ohne welchen auch alle darwinistischen Potenzen niemals heraustreten aus der Geltung bloßer Bedingungen, die als solche aller wahrhaft schöpferischen (kreativ kausalen) Kraft ewig bar bleiben. Gerade dieses  punctum saliens  [springende Punkt - wp] muß wie erstickt liegen bleiben unter der Massenhaftigkeit der aus allen Ländern und Zeiten herbeigeschleppten Materialsammlungen, solange die philosophische Durchleuchtung unterbleibt, und daß es gilt, dieses  punctum saliens  zu eruieren, heißt nichts anderes, als spähenden Blickes eine großartig wegräumende Nach- und Ausgrabung zu veranstalten und dann die Probe der Richtigkeit des auf solche Weise intuitiv Entdeckten darauf zu machen, ob es auf die ganze breite Mannigfaltigkeit Anwendung leidet.

Der exklusiv historische Standpunkt, welcher alle ursprünglichen Normen perhorresziert [ablehnt - wp], weist auch noch auf Wege einer unstatthaften Fragestellung hinaus. So meint er, sich das Problem stellen zu müssen, ob die rechtlichen oder moralischen Beziehungen einen mehr elementaren Charakter zeigen und ob demgemäß diese an jenen oder jene an diesen ihr (sei es begriffliches, sei es zeitliches) Prius haben - und doch könnte schon die naturwissenschaftliche Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] auf die Vermutung führen, daß, wie man neuerdings Menschen und Affen nicht voneinander, sondern von einer gemeinsamen, auf einer früheren Stufe auseinander getretenen Ahnenschaft ableitet, so auch Recht und Moral selbständige Derivationen [Abweichungen - wp] eines gemeinsamen Urschoßes sein werden, als welcher allerdings der realdialektisch selbstentzweite Wille anzusehen sein möchte. Nur die intuitive Erfassung und - in der Sprache der balneologischen [Heilwirkung des Wassers, Schlamms, Moors - wp] Technik - "Fassung" dieser Quelle läßt die Hoffnung auf eine Bändigung dieses aalglatten Begriffs-Proteus und auf die endliche Schließung dieses Janustores skeptischen Schwankens, welches sich nur umso höher und weiter aufgetan hat, je aufgetürmter und breiter die Fuhren eines historisch verglichenen Gelehrtenapparates heranzogen und demgemäß den  embarras de richesses  [Qual der Wahl - wp] immer verlegenheitsreicher werden ließen.

War die Hoffnung, welche man auf die historische Forschung gebaut hatte, so in einer selber realdialektischen Irone zu einem Verzweiflungsmotiv verkehrt - hatte der historische Zug, welcher durch unsere Zeit, wie diese sich ja gern rühmt, geht, Fundamente, die schon für festgelegt gegolten haben, nur untergraben mittels seiner vielgepriesenen kritischen Methode, statt neue zu errichten: dann war es nicht minder realdialektisch und ironisch, daß die an sich selber desparat gewordene Einzelwissenschaft ihre Zuflucht nahm zu jener Universalbetrachtung, welcher sie selber vor noch nicht allzulanger Zeit unhöflich genug die Tür gewiesen hatte. Die soll zwingen helfen, was sonst alle geistige Beherrschung zu eludieren droht - die wieder Licht schaffen, wo das eingefahrende Stroh alle Speicherfenster verstopft und so überall hin Dunkel verbreitet hat.

Also ein wenig Bescheidenheit und Selbstbescheidung wird die Vorbedingung auf Seiten des "positiven" Wissens sein, wenn man ernsthaft auf den Versuche eines neuen Bündnisses eingehen soll. Der Charakter einer Transaktion und eines Kompromisses wird dem intendierten Kontrakt auch so gewahrt bleiben: die Philosophie ihrerseits verzichtet dabei ja nicht minder auf einen ihrer allerältesten Ansprüche: sie prätendiert [maßt sich an - wp] hinfort nicht mehr, alles in vorher fertig gestellte und parat gehaltene Schemata zwängen und nach dem Rahmen abstrakt logischer Begriffsnetze konstruieren zu wollen - sie macht keine unerfüllbaren Versprechungen mehr von simpler, einheitlicher oder gar exakter und korrekter Unterbringung (Subsumtion) und Ableitung (Deduktion) aller denkbaren oder empirisch irgendwo und irgendwann "gegebenen" Details - sie erklärt vielmehr im Voraus, ihre Aufgabe für gelöst ansehen zu wollen, falls es ihr nur gelingt, ein näheres Ziel zu erreichen, und meint in der Tat mit sich selber, als einer nicht umsonst unternommenen Denkarbeit zufrieden sein zu dürfen, wenn es sich am Ende herausstellt, daß vom Ertrag, welchen die historische Garbenschnitterin eingeheimst hat, kein Körnchen unverwertet zu bleiben braucht, sofern es nämlich an seinem Teil mitwirken mag, anderweitig gewonnene Erkenntnis durch eine fernere Bestätigung noch fester und sicherer zu erhärten. Denn ist das "Konstante in der Variabilität" das eigentliche Objekt metaphysischer Einsicht, so erscheint ja die Konstanz als umso besser garantiert, je buntere Gestaltungen des Variablen sie in sich befaßt.

Unschwer durchschaut z. B. das Richteramt der Philosophie die Unzulänglichkeit gewisser Extraktiv-Begriffe, welche die bloß vernünftige Reflexion sich zurechtgelegt hat. Es blieben dann doch zuviel unzweifelhafte Rechtsgebiete unumspannt, wenn man etwa alles unter das Zauberwort der  Solidarität  zu bannen meint. Und doch hat es gerade für die Realdialektik etwas Verführerisches und stellt damit ihre Unbefangenheit auf eine schwere Probe, daß nach diesem Gedanken der Einzelne am besten für das eigene Wohl sorgt, wenn er das der Anderen nicht außer Acht läßt und in gelegentlichen freien Verzichten handelt, wie wenn er sich von anti-egoistischen Motiven leiten ließe.

Allein - was ist damit z. B. für das Verständnis der allmählichen Beschränkung der  patria potestas  [väterliche Gewalt - wp] gewonnen, die doch im engsten Zusammenhang steht mit dem Geltenlassen der (freien) Individualität überhaupt? Was man an dergleichen den Fortschritt der Humanität nennt, hat doch auch sehr seine zwei Seiten - die neuere Strafgesetzgebung liefert ja nach dieser Richtung schon Karikaturen in Fülle, d. h. ebenso viel Zeugnisse wider die Anwendung abstrakter Prinzipien auf die Gesetzgebung, welche ohne Instinkt so wenig gedeiht wie Kunst und Takt des geselligen Verkehrs.

Doktrinen sind nicht bloß von Übel, sondern auch eine Unnatur - und jede Rechtsphilosophie gerät in Gefahr, ins Doktrinäre, praktische-Regeln-aufstellen-Wollende auszuarten, sobald und solange sie sich auf logische Korrektheit kapriziert - ein weiterer Grund, der sie bei den Männern der Praxis in einen so schwer zu überwindenden Mißkredit gebracht hat.

Hoffentliche aber wahrt sich die Realdialektiv auch noch so viel Selbstbesinnung, um nicht jede Auffassung unbesehens schon deshalb für wahr hinzunehmen, weil sie ihrem Schema des allgemeinen Widerspruchs konform ist. Wirft sie den logischen Formulierungen vor, niemals die Totalität der Einzelfälle erschöpfend umfassen zu können, so hat sie sich ihrerseits nur umso behutsamer vorzusehen, daß sie nicht in denselben Fehler verfällt, welcher bei ihr noch umso bedenklicher sein würde, als ihr die Versuchung viel näher liegt, ganz im Vagen eines bloß Negativen zu verharren.

Sie muß also von vornherein darauf Bedacht nehmen, ihrem Selbstentzweiten einen konkreten Inhalt beizulegen - das "Ja und Nein" des bloßen Widerspruchs auszustatten mit den Bestimmungen individuell lebendiger Beziehungen und nicht etwa alles auf die Unterschiede von Mein und Dein, auf die bloße Abgrenzung der Eigentumssphären zu stellen, sondern sich den Blick offen zu erhalten für die subtileren Maschenzüge zwischen den Knotenpunkten der Individual-Relationen - selbst da, wo deren Vermittlungen ins nicht mehr Wahrnehmbare zu verlaufen drohen, sie beim technischen Detail gewisser prozessualischer oder internationaler Bräuche und Formalitäten, wo man sich meistens ohne nähere genetische Erforschung begnügt mit der Konstatierung eines irgendwie ritualen Ursprungs, wie wenn ein solcher nicht selbst wieder ein Problem implizierte.

Dabei könnte es zwar aussehen, als ob die Fülle des konkreten Materials sich am reichlichsten aus dem empirischen Staatsleben ergeben müßte. Jedoch erweist sich gerade die Verkoppelung der Begriffe von Recht und Staat, welche neuerdings so sehr beliebt geworden ist, als eine wesentliche Erschwerung für die Lösung der nächsten der Rechtsphilosophie gestellten Aufgaben.

Denn offenbar läßt sich noch eher hoffen, eine alle Rechtsbeziehungen umfassende Rechts idee  zu extrahieren, als ein Begriffsschema zu gewinnen, in welches sich die unendlich mannigfaltigen Formen alter und neuer Staatsbildungen spannen ließen. Die Unterschiede und Grenzlinien zwischen Staat und Gesellschaft sind sicherlich noch ungleich vagere und leichter verschwimmende als die zwischen Recht und Moral.

Nehmen wir dabei: "Idee" im Sinne eines unabänderlichen "ewigen" Begriffs, so ist die Aussicht sehr gering, daß jemals ein allgemeingültiger, von allen besonderen Bedingungen unabhängiger Begriff des Staates, also ausgestattet mit den Dignitätsattributen einer Idee, sich sollte ermitteln und mit den unentbehrliche konkreten Bestimmtheiten sollte fundieren lassen.

Denn mag auch die historische Vergleichung ihrem Rechtsbegriff  suo jure  [in seinem eigenen Recht - wp] noch so viel Elastizität vindizieren: irgendwo wird diese Dehnbarkeit an unverrückbaren Schranken urethischer Postulate doch einem: "Bis hierher und nicht weiter!" [no passaran! - wp] begegnen, und mag der ethische Darwinismus an den Entwicklungsmomenten der sittlichen Gesamtgeschichte der Menschheit auch noch so viel Zeitlich-Zufälliges aufweisen: vor irgendeinem letzten Keim der ethischen Verhältnisse muß dennoch das analysierende Bloßlegen vergänglicher Formen Halt machen, so gut wie in der eigentlichen Biologie - und diese unzerstörbaren Zellen des einer ethischen Betrachtung unterstellten Daseins blieben dem bloß zersetzenden oder anatomisierenden Forscher ein ebenso rätselhaftes Faktum wie der rein physikalisch-chemischen Wissenschaft die ersten spontanen Regungen im Protoplasma.

Umgekehrt ergeht es uns dagegen bei dem Versuch, aus den unablässigen Fluktuationen staatlicher Gebilde jenen logisch-psychologischen Niederschlag zu fällen, der als "Begriff" geeignet wird, als sprachlich transportables Gemeingut verwendet zu werden.

Denn hier überwiegt das Wandelbare dermaßen, daß nicht abzusehen ist, wie sich aus einem solchen Gewirr überhaupt ein substantial fester Grundstock herausschälen lassen soll, an welchem nicht zu schütteln, noch zu rütteln wäre. Hier ist es gerade die bunte Menge als ansich gleichberechtigt auftretender  Tatsachen,  welche, noch unmittelbarer als wie wir es bereits oben beim Recht sahen, den gewissenhaften Empiriker einem schwankenden Skeptizismus in die Arme treibt. Hier verschwinden alle scharfen Umrisse für typisch ausgegebener Gestaltungen vor genauerem Hinsehen ebenso unaufhaltsam, wie vor den letzten Konsequenzen einer darwinistischen Anschauung alle Gattungen und Arten Einem unter den Fingern zerrinnen und zerfließen und nichts übrig bleibt als eine individualitätslose Monere [Ermahnung - wp], die in ihrer armseligsten Dürftigkeit dennoch die potentielle Präformation  aller  wirklich gewordenen Lebensformen soll enthalten haben - ein logischer Widerspruch, so dickdrähtig wie möglich, und deshalb über sich selber hinausweisend, entweder in sein striktestes Gegenteil, die reaktionäre Repristination [Wiederbelebung - wp] der Lehre von unzählbar vielen Schöpfungszentren, oder zur Perspektive auf realdialektische Pfade zu Hypothesen einer charakterologischen Henadologie [Lehre von den Willenseinheiten - wp], deren metaphysisch-antilogisches Fundament sie zu einer Versöhnung mit allen realiter "gegebenen" Widersprüchen befähigt.

Wie kläglich plagt sich dagegen der bloße Logiker des Rechts ab, wenn er sich elegant polierte Begriffsrahmen zurechtzimmert und dann hernach gewahr werden muß, wie keiner der Porträtköpfe, die da hineinpassen sollten, ohne Beschneiden oder Dehnen hineingeht. Man denke z. B. an die Qual, welche - zum humoristischen Ergötzen aller in realdialektischer Stimmung dabei stehenden Zuschauer - sich die Männer von der korrekten Theorie allein schon mit dem einzigen Popanz ihrer Souveränitäts-Definitionen bereitet haben. Ob der Eine so, der Andere anders daran herumflickte: der Stiefel wollte doch nimmer passen auf all die verschiedengestalteten Füße, für welche er zugeschnitten sein sollte: EDUARD von HARTMANN kontra LASSON, FELIX DAHN kontra JHERING und ZORN, oder wie die Gegnerpaares sonst heißen mögen: sie repräsentieren alle nur die in der Sache selber liegende Unmöglichkeit zu einer logisch abschließenden Formulierung, und Jeder trat der Wahrheit umso näher, je bereiter er sich zum Verzicht zeigte, diese Probleme überhaupt mit einem logischen Netz zu umspannen.
LITERATUR Julius Bahnsen, Ist eine Rechtsphilosophie überhaupt möglich? und unter welchen Bedingungen, bzw. Einschränkungen?, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 3, Stuttgart 1882